Jonathan Tropper
Mein fast perfektes Leben
Roman
Aus dem Englischen von
Birgit Moosmüller
Knaur e-books
Im Knaur Taschenbuch Verlag ist bereits
folgendes Buch des Autors erschienen:
Zeit für Plan B
Jonathan Tropper wurde am 19. Februar 1970 in New York City geboren. Er studierte an der NYU Literatur und Literarisches Schreiben und lebt heute mit seiner Frau und seinen drei Kindern in New Rochelle (New York). Er arbeitet hauptberuflich als Schriftsteller und hält Schreibseminare an der Universität.
Mehr Informationen über den Autor und seine Romane finden Sie auf der Website: www.mein-fast-perfektes-leben.de
Die amerikanische Originalausgabe dieses Buchs erschien 2007
unter dem Titel How to Talk to a Widower bei Bantam Dell,
A division of Random House, Inc., New York.
Dieses Buch ist ein Roman. Alle Figuren und Handlungen sind
frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden oder toten Personen,
Orten oder Ereignissen sind rein zufällig.
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Copyright © 2007 by Jonathan Tropper
Copyright © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe bei Knaur Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Angela Troni
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic, München
ISBN 978-3-426-55507-1
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In Liebe
für Alexa Rose
die mir in den frühen Morgenstunden Gesellschaft leistet –
»In the Wee Small Hours«, wie Sinatra sagen würde.
Russ ist zugekifft. Man sieht es am Weiß seiner Augen, das im flackernden gelben Licht der Verandalampe eher wie ein glasiges Rosa wirkt, und an seinen dunklen, vergrößerten Pupillen. Ein weiteres Indiz ist die Art, wie er die Augenlider träge auf halbmast hängen hat und sich lässig an den schlecht gelaunten Polizisten lehnt, der ihn vor meiner Haustür in aufrechter Position zu halten versucht. Als wären sie zwei Trinkkumpane, die nach der letzten Runde in die Nacht hinausgewankt sind. Es ist kurz nach Mitternacht, und als es vorhin an der Tür läutete, lag ich in meiner üblichen Position auf der Couch. Zwar nur im Halbschlaf, dafür aber im Vollrausch. Ich war damit beschäftigt, mich selbst zu quälen, indem ich aufs Geratewohl Erinnerungen aus meinem Gedächtnis hervorkramte wie Streichhölzer aus einer Schachtel, um sie nacheinander aufflammen zu lassen und mich schlaftrunken damit in Brand zu stecken.
»Was ist passiert?«, frage ich.
»Er und ein paar andere Jungs sind sich unten beim Seven-Eleven in die Haare geraten«, erklärt der Polizist, ohne Russ’ Oberarm loszulassen. Erst jetzt sehe ich die Schrammen und Blutergüsse in Russ’ Gesicht, den bösen, sichelförmigen Kratzer an seinem Hals. Sein schwarzes T-Shirt ist nicht mehr zu retten, es ist völlig verzogen und am Hals zerfetzt. Außerdem blutet er am Ohr, offenbar hat jemand an einem seiner Ohrringe gerissen.
»Alles in Ordnung?«, frage ich Russ.
»Leck mich, Doug.«
Es ist eine Weile her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Er hat sich inzwischen eine Art Bart wachsen lassen, einen kleinen stoppeligen Fleck gleich unterhalb der Unterlippe.
»Sie sind nicht sein Vater?«, fragt mich der Polizist.
»Nein, bin ich nicht.« Ich reibe mir mit den Fäusten über die Augen, versuche einen klaren Kopf zu bekommen. Ich war gerade im Begriff gewesen, mich vom Whiskey endgültig in den Schlaf singen zu lassen, und selbst in der so abrupt zerborstenen Stille kommt es mir noch vor, als spiele sich das alles unter Wasser ab.
»Er hat gesagt, Sie seien sein Vater.«
»Er hat mich sozusagen verstoßen«, bemerkt Russ in bitterem Ton.
»Ich bin sein Stiefvater«, erkläre ich. »Zumindest war ich das mal.«
»Sie waren es mal.« Der Polizist zieht ein Gesicht, als hätte er gerade zu viel Wasabi-Paste erwischt, und mustert mich eindringlich. Er ist ein großer, kräftiger Mann – was man auch sein muss, um jemanden wie Russ zu stützen, der mit seinen sechzehn Jahren bereits über eins achtzig groß und recht breit und stämmig gebaut ist. »Sie sehen so jung aus, dass sie genauso gut sein Bruder sein könnten.«
»Ich war mit seiner Mutter verheiratet«, antworte ich.
»Und wo ist sie?«
»Sie hat uns verlassen.«
»Damit meint er, dass sie tot ist«, sagt Russ verächtlich. Er hebt die Hand und beschreibt einen Bogen nach unten. Dabei pfeift er und zischt laut durch die Zähne, um den Soundeffekt einer Explosion zu erzeugen. »Puff – und tschüs!«
»Halt den Mund, Russ.«
»Stopf ihn mir doch, Doug.«
Der Polizist umklammert Russ’ Arm noch fester. »Sei still, mein Sohn.«
»Ich bin nicht Ihr Sohn!«, faucht Russ, während er vergeblich versucht, sich aus dem eisernen Griff des Beamten zu befreien. »Ich bin überhaupt niemands Sohn!«
Der Polizist drückt ihn mühelos gegen den Türpfosten, damit er nicht weiter um sich schlagen kann, und wendet sich wieder mir zu. »Und der Vater?«
»Keine Ahnung.« Ich sehe Russ an. »Wo ist Jim?«
Der Junge zuckt mit den Achseln. »Für ein paar Tage runter nach Florida.«
»Und Angie?«
»Sie ist mit.«
»Die beiden haben dich allein gelassen?«
»Nur für zwei Nächte. Sie kommen morgen zurück.«
»Angie«, wiederholt der Polizist.
»Die Frau seines Vaters.«
Der Beamte wirkt langsam ein wenig genervt, als bereiteten wir ihm Kopfschmerzen. Ich würde ihm die Sachlage gerne erklären, ihm begreiflich machen, dass das alles gar nicht so chaotisch ist, wie es klingt, aber dann fällt mir ein, dass es tatsächlich so chaotisch ist.
»Der Junge lebt also nicht hier?«
»Nicht mehr. Früher schon«, antworte ich. »Das war das Haus seiner Mutter.«
»Hören Sie«, sagt der Polizist. Er ist mittleren Alters und hat einen bereits ergrauenden Oberlippenbart, dessen Form mich an eine Raupe erinnert. Seine Augen wirken müde. »Was auch immer er geraucht hat, ich habe nichts davon bei ihm gefunden. Meine Schicht ist fast vorbei, und ich bin nicht besonders scharf darauf, mich wegen einer dämlichen Parkplatzschlägerei noch eine Stunde lang mit dem Jungen herumzuärgern. Ich habe selbst drei Söhne. Im Moment macht er gerade einen auf harter Mann, aber vorhin im Streifenwagen hat er mich weinend gebeten, ihn hierher zu bringen. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder ich nehme ihn mit aufs Revier und erstatte wegen einer Handvoll von Verstößen Anzeige, oder Sie lassen ihn rein und versprechen mir, dass so etwas nie wieder vorkommen wird.«
Russ starrt mich finster an, als wäre das alles meine Schuld.
»So etwas wird nie wieder vorkommen«, sage ich.
»Gut.« Der Polizist lässt den Jungen los. Russ stößt den Arm des Mannes mit einer heftigen Bewegung weg und stürmt in sein Zimmer hinauf. Dabei wirft er mir einen Blick zu, aus dem so viel unverhohlener Hass spricht, dass er die dicke, neblige Schicht meiner alkoholbedingten Benommenheit wie eine Harpune durchbohrt.
»Danke, Officer«, sage ich zu dem Beamten. »Er ist eigentlich ein guter Junge, er hat bloß ein hartes Jahr hinter sich.«
»Nur damit Sie es wissen«, antwortet der Polizist, während er wieder auf die Veranda hinaustritt. »Das ist nicht das erste Mal, dass er in Schwierigkeiten steckt.«
»Was für Schwierigkeiten meinen Sie?«
Er zuckt mit den Achseln. »Das Übliche. Vor allem Schlägereien. Kleinere Sachbeschädigungen. Und sein erster Joint war das sicher auch nicht. Der Junge bewegt sich gerade in eine ungute Richtung. Ich weiß nicht, welche Rolle Sie in seinem Leben spielen, aber irgendjemand muss dafür sorgen, dass er sich nachts nicht mehr so lange herumtreibt. Vielleicht braucht er ja auch ein wenig psychologischen Beistand.«
»Ich werde mit seinem Vater sprechen«, sage ich.
»Nächstes Mal ist er fällig.«
»Verstehe. Noch mal danke.«
Der Polizist wirft mir einen letzten skeptischen Blick zu, ehe er geht. Ich weiß genau, was er sieht: einen ungepflegten, unrasierten Typen mit blutunterlaufenen Augen, der noch dazu ziemlich besoffen zu sein scheint. Da wäre ich auch skeptisch. »Das mit Ihrer Frau tut mir leid«, sagt er.
»Ja«, antworte ich, ehe ich die Tür hinter ihm schließe. »Mir auch.«
Oben ist Russ in der Dunkelheit seines ehemaligen Zimmers unter die Bettdecke gekrochen. Alles ist noch so, wie er es zurückgelassen hat, genau wie in den meisten anderen Räumen. Ich habe in dem Jahr, seit Hailey gestorben ist, so gut wie nichts verändert. Das Haus ist wie ein Standbild des Lebens, das wir einmal hatten, festgehalten in dem Moment, bevor es zerstört wurde. Auf dem Gang brennt Licht. Ich bleibe vor seinem Zimmer stehen, mein Schatten fällt auf die Falten seiner Bettdecke. Krampfhaft überlege ich, was ich jetzt zu diesem seltsamen, zornigen Jungen sagen könnte, mit dem ich mich eigentlich irgendwie verbunden fühlen sollte.
»Ich höre dich atmen«, murmelt er, ohne das Gesicht vom Kissen zu heben.
»Entschuldige.« Ich trete in sein Zimmer. »Worum ging es denn bei der Rauferei?«
»Um gar nichts. Diese Arschlöcher haben einfach angefangen, uns blöd anzumachen.«
»Waren es welche von deiner Schule?«
»Nein, ältere Jungs.«
»Ich schätze, es ist gar nicht so leicht, sich zu prügeln, wenn man zugekifft ist.«
»Stimmt.« Er dreht sich um und hebt höhnisch grinsend den Kopf. »Hältst du dich wirklich für berufen, mir eine Standpauke über die Gefahren von Drogen zu halten, Captain Jack?«
Ich seufze.
»Siehst du? Habe ich es mir doch gedacht!« Er rollt sich zurück auf sein Kissen und vergräbt das Gesicht zwischen den Armen. »Hör zu«, murmelt er, »ich habe einen verdammt anstrengenden Abend hinter mir, also wenn du nichts dagegen hast …«
»Ich habe sie auch verloren, Russ«, sage ich.
Er stößt ein Geräusch aus, das ein verächtliches Lachen, aber auch ein unterdrücktes Schluchzen sein könnte, ich bin mir nicht ganz sicher. »Mach einfach die Tür zu, wenn du gehst«, flüstert er.
Kein Mensch weiß genau, wann er sterben muss. Aber vielleicht weiß irgendetwas in uns es doch, eine Art zellulares Bewusstsein, das den kosmischen Countdown spürt und entsprechend zu planen beginnt. Am letzten Abend ihres Lebens überraschte Hailey mich in einem blutroten, tief ausgeschnittenen Kleid, das genau an den richtigen Stellen hauteng anlag. Es war fast, als wüsste sie, was kommen würde und dass das unsere letzte gemeinsame Nacht sein sollte. Als hätte sie beschlossen, dafür zu sorgen, dass die Erinnerung an sie nicht so schnell verblassen würde.
Ich musste sie die ganze Zeit ansehen, mein Blick verweilte länger als üblich auf den vertrauten Kurven und Konturen ihres Körpers, der nach einer Schwangerschaft und vierzig Lebensjahren immer noch geschmeidig und straff war. Ich bewunderte ihr Dekolleté, den sanften Schwung ihrer Schlüsselbeine, den seidigen Schimmer ihrer hellen Haut. In dem Moment begehrte ich sie auf eine Weise, wie man jemanden, mit dem man seit fast drei Jahren schläft, normalerweise nicht mehr begehrt. Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich über die praktischen Probleme nachdachte, die es mit sich brachte, wenn wir beide vom Tisch verschwanden und uns in der Toilette auf einen Quickie trafen. Ich stellte mir vor, wie wir uns in einer engen Kabine einschlossen und zwischen tiefen Küssen über unsere Kühnheit lachten. Wie ich sie gegen die Wand drückte und ihr das rote Kleid bis über die Taille hochschob. Wie sie ihre glatten nackten Beine um mich schlang und mich in sich hineinzog. Das kommt dabei heraus, wenn man zu viele Jahre allein lebt und Pay-TV hat.
Doch obwohl mich meine Fantasien so sehr erregten, dass sich gewisse unter dem Tisch befindliche Regionen meines Körpers unwohl zu fühlen begannen, wusste ich, dass es nicht passieren würde. Zum einen konnten wir unmöglich beide vom Tisch verschwinden, ohne dass es auffiel. Außerdem war ich neunundzwanzig und Hailey vierzig. Obwohl ich fand, dass wir guten Sex hatten, wahrscheinlich besseren als die meisten anderen Paare, waren Quickies auf öffentlichen Toiletten einfach nicht mehr Bestandteil unseres Repertoires. Genau genommen waren sie es nie gewesen, da ich eine ziemliche Phobie habe, was Keime betrifft, und der Austausch von Körperflüssigkeiten im Beisein aller möglichen Bakterien mehr wäre, als ich ertragen könnte.
Während der Heimfahrt ließ ich eine Hand über die glatte Haut ihres Oberschenkels gleiten, immer weiter hinauf, und als wir endlich in unsere Garage bogen, war ihre Hand bereits in meiner Hose. Ich zog ihr in der Dunkelheit das Kleid hoch und setzte sie auf die Motorhaube, die von der Fahrt noch heiß war und knisterte. Plötzlich war es auch zwischen uns heiß und knisternd, und wir kamen uns vor wie Teenager, mit dem einzigen Unterschied, dass wir die Sache bereits beherrschten und der Wagen uns tatsächlich gehörte.
Wir müssen eine Spur wie aus Sternenstaub hinter uns hergezogen haben, als wir kurze Zeit später das Haus betraten, denn Russ blickte von seinem Videospiel hoch, sah uns ganz seltsam an und meinte dann kopfschüttelnd, wir sollten uns doch bitte ein Zimmer suchen.
»Nicht nötig«, antwortete Hailey, während sie mich an der Hand nahm und Richtung Treppe zog. »Wir haben schon eines.«
»Ist ja widerlich!«, meinte er, und nachdem er sein Urteil abgegeben hatte, fuhr er damit fort, lässig die Untoten auf seinem Bildschirm zu eliminieren.
Hailey und ich aber gingen nach oben, um dort die Gesetze Gottes und des Staates New York zu brechen, und wir taten es wie im Rausch, mit frisch aufgeflammter Leidenschaft. Wir küssten und leckten, tranken und verschlangen einander. Als gäbe es kein Morgen.
Wir waren erst knapp zwei Jahre verheiratet gewesen. Ich hatte die Stadt verlassen und war zu Hailey und Russ in das kleine Haus im Kolonialstil gezogen, in dem sie mit ihrem ersten Ehemann Jim gelebt hatte, bis sie dahintergekommen war, dass er sie betrog, und ihn hinausgeworfen hatte. Und ich war gerade erst dabei gewesen, mich an mein neues Leben zu gewöhnen. Daran, dass ich nicht mehr als Single durch die City tigerte, sondern als verheirateter Mann in einem Vorort wohnte. Daran, dass ich nun der Stiefvater eines mürrischen Teenagers war, als jüngstes Mitglied im Temple-Israel-Softballteam spielte und neue gesellschaftliche Verpflichtungen hatte: Abendessen, Grillfeste und Schulaufführungen. Ich war gerade erst dabei, mich an all das zu gewöhnen, als sie in ein Flugzeug stieg, um einen Kunden in Kalifornien zu besuchen, und der Pilot irgendwo über Colorado aus irgendeinem Grund oben und unten verwechselte.
Manchmal erscheint mir dieses Leben, das wir gerade erst zu führen begannen, wie ein flüchtiger Traum, und ich muss mich selbst davon überzeugen, dass es tatsächlich real war. Ich hatte eine Frau, sage ich mir immer wieder. Ihr Name war Hailey. Ich habe sie verloren – und mich dazu.
Aber darüber wollen wir jetzt nicht sprechen, denn um darüber zu sprechen, müsste ich erst mal darüber nachdenken, und ich habe das Ganze im Lauf des letzten Jahres schon zu Tode gedacht. Teile meines Gehirns sind immer noch unermüdlich damit befasst. Eine ganze Abteilung für Forschung und Entwicklung ist ausschließlich damit beschäftigt, neue Wege zu finden, wie ich leiden und trauern und mich selbst bedauern kann. Glauben Sie mir, die sind richtig gut in dem, was sie tun. Also lassen wir sie in Ruhe weitermachen.
An den meisten Tagen haben wir Kaninchen auf unserem Rasen. Kleine braune mit grau gesprenkeltem Rücken und einem weißen Büschel am Hintern, das aussieht wie fransige Baumwolle. Nein, genauer gesagt habe ich morgens meist Kaninchen auf meinem Rasen. Es gibt kein wir, schon seit einem Jahr nicht mehr. Manchmal vergesse ich diese Tatsache, was seltsam ist, weil ich für gewöhnlich an nichts anderes denken kann. Es ist jetzt mein Haus. Mein Rasen. Und es sind meine gottverdammten Kaninchen.
Nach landläufiger Meinung ist es ja ganz bezaubernd, wenn Kaninchen auf dem Rasen herumhoppeln, ein absolutes Kaufattribut und der unumstößliche Beweis dafür, dass man es geschafft hat, die City hinter sich zu lassen und sich in die exklusive Landluft des vorstädtischen Westchester zurückzuziehen. Mag sein, dass wir genügend Minivans und Geländewagen fahren, um mit links die polaren Eiskappen wegzuschmelzen; unsere imposanten, achtzig Jahre alten Häuser mit so vielen Glasfaserkabeln ausstatten, dass wir damit den ganzen Planeten erdrosseln könnten; auf jedem zur Verfügung stehenden Fleckchen Wiese Baumärkte, Wal-Marts und andere Einkaufszentren aus dem Boden schießen lassen. Trotzdem laufen in unserem Garten diese elenden Kaninchen herum, also ist daran nicht zu rütteln: Wir sind eins mit der Natur.
New Radford ist so ziemlich genau das, was man sich unter einem Vorort der höheren Mittelklasse vorstellt. Jeder hat schon mal ein Buch darüber gelesen oder einen Film darüber gesehen. Es ist alles da: die Originalhäuser aus der Tudor-Zeit oder im Kolonialstil der dreißiger Jahre, unter deren Dächern Familien wachsen und Ehen zerbrechen; deutsche Luxuswagen, die in den Auffahrten zur Schau gestellt sind wie auf den Werbefotos der Illustrierten; gelangweilt dreinblickende Kinder in der ausgewaschenen Farbpalette von Abercrombie & Fitch, die sich auf Parkplätzen zusammenrotten; Scharen von Pendlern, die morgens wie Vieh in die U-Bahn-Waggons gepfercht Richtung Manhattan verfrachtet werden; Minivans und Midlife-Krisen, die die Landschaft sprenkeln wie Sommersprossen. In jeder Straße treffen morgens Dutzende von klapprigen Pick-ups ein, gefahren von Immigranten, die mit der Gestaltung und Pflege der Gärten betraut sind und dafür sorgen, dass die Rasenflächen kurz und üppig grün, die Hecken entlang der Grundstücksgrenzen dicht und respekteinflößend hoch bleiben.
Zweifellos ist die Explosion der Kaninchenbevölkerung auf die erwähnten üppigen Rasenflächen zurückzuführen. Hin und wieder sehe ich ein Exemplar aus der Hecke kommen und über den Rasen hoppeln, aber für gewöhnlich finde ich sie bereits mitten im Garten vor, wo sie reglos wie Statuen auf ihren Hinterläufen sitzen. Nur ihre kleinen Nasenflügel beben fast unmerklich, als wären sie an ein unter dem Rasen befindliches Stromnetz angeschlossen. Wie ich festgestellt habe, ist das für gewöhnlich die beste Zeit, um etwas nach ihnen zu werfen.
Bugs, Thumper, Roger, Peter, Velveteen. Ich benenne sie nach ihren Artgenossen aus irgendwelchen Kinderbüchern. Anschließend tue ich alles in meiner Macht Stehende, um ihnen den Schädel einzuwerfen, denn sie führen mir vor Augen, wo ich selbst gerade bin: gestrandet in diesem Leben, das ich niemals geplant hatte. Dann werde ich wütend auf Hailey, und danach traurig, weil ich wütend auf sie bin, und dann wieder wütend, weil ich traurig bin, bis am Ende irgendwann wie ein Turbinenmotor mein allgegenwärtiges Selbstmitleid einsetzt. Das Ganze ist wie ein erbärmliches, nie endendes Waschprogramm, bei dem sich die schmutzige Wäsche dreht und dreht, ohne jemals sauber zu werden. Deswegen werfe ich nach den Kaninchen.
Als Wurfgeschosse verwende ich hauptsächlich kleine Steine. Ich habe dafür auf der Veranda vor dem Haus einen Vorrat gelagert, der aussieht wie das Wüstengrab eines Cowboys. Im Notfall aber nehme ich alles, was mir gerade in die Finger kommt, zum Beispiel eine volle Bierdose oder irgendwelche Gartengerätschaften. Einmal habe ich eine leere Bushmill-Flasche nach ihnen geworfen, die mit dem Hals voraus im Gras landete, und zwar mit einer solchen Wucht, dass sie ein paar Tage steckenblieb. Als hätte ich einen Whiskey-Ableger gepflanzt.
Oh, keine Sorge. Bis jetzt ist es mir nicht gelungen, einen von den kleinen Mistkerlen zu treffen. Die Karnickel wissen das und zucken höchstens mit dem Ohr, wenn meine Geschosse einen Meter hinter oder neben ihnen auf dem Rasen einschlagen. Manchmal sehen sie mich auch nur herausfordernd an, als wollten sie sich über mich lustig machen. Ihre Kaninchen-Knopfaugen scheinen zu sagen: Ist das alles, was du draufhast? Mann, sogar meine Großmutter wirft besser als du.
Ich denke mir neue Namen für sie aus. Energiebündel-Bunny, Playboy-Bunny, Osterhäschen, Harvey. Eines nenne ich das Dumme-Kaninchen-Tricks-sind-für-große-Kinder-nix-Karnickel, ein anderes erinnert mich an das weiße Kaninchen mit der Taschenuhr aus Alice im Wunderland.
Ich sitze gerade mit einem Stein in der Hand auf der Veranda vor meinem Haus und ziele auf ein Exemplar, das auf die Zufahrt gehoppelt ist, als mein Handy klingelt. Es ist meine Mutter, die sich vergewissern möchte, ob ich an dem Familienessen anlässlich der bevorstehenden Hochzeit meiner kleinen Schwester Debbie teilnehme.
»Du kommst doch zum Essen?«, beginnt sie.
Nicht einmal der Teufel persönlich wird mich dazu bringen, zu diesem Essen zu erscheinen. »Weiß noch nicht«, antworte ich. Das Kaninchen macht einen zögernden Hüpfer in meine Richtung. Harvey. Ich ziele kurz und werfe meinen Stein. Zu hoch und zu weit. Harvey würdigt ihn nicht mal eines Seitenblickes.
»Was gibt es da nicht zu wissen? Hast du plötzlich so viel zu tun?«
»Mir ist einfach nicht nach Feiern zumute.«
Debbie heiratet Mike Sandleman, einen früheren Freund von mir. Sie hatte das große Glück, ihn bei mir zu Hause kennenzulernen, als ich für Hailey die jüdische Totenwache Schiva abhielt, was ich ursprünglich gar nicht vorgehabt hatte.
Ich war eigentlich nie ein wirklich praktizierender Jude. Ben Smilchensky, der in der Beth-Torah-Schule neben mir saß, brachte immer Batman-Comics mit, die wir zwischen die Seiten unserer Aleph-Bet-Lehrbücher legten, und das war für mich mehr oder weniger der Anfang vom Ende. Es erschien mir absurd, jetzt plötzlich einen auf religiös zu machen, ausgerechnet in dem Moment, als Gott endlich die Karten auf den Tisch gelegt und enthüllt hatte, dass er nicht wirklich existierte. Ich wusste das, weil ich dabei gewesen war. Ich hatte neben Russ auf dem Friedhof gestanden und aus zehn Kilometern Höhe beobachtet, wie Haileys Sarg auf zwei von Hand gehaltenen Stoffriemen ins Grab hinuntergelassen wurde. Obwohl ich dort oben schwebte, konnte ich das Ächzen und Schaben des Sarges hören, der gegen die harten, steinigen Wände des frisch ausgehobenen Grabes schlug, und dann das scharfe Geräusch, mit dem die ersten Schaufeln der von Brocken durchsetzten Erde auf dem trockenen, hohlen Holz landeten.
Sie war unter der Erde. Meine Hailey war unter der Erde, in einem Grab, das mir wie eine klaffende Wunde vorgekommen war. Einem Grab auf dem Emunah-Friedhof, der gleich hinter dem Speichersee liegt, nur knapp einen Kilometer vom Sprain Brook Parkway entfernt, wo wir im Herbst so gerne entlanggefahren waren, um uns anzusehen, wie die Blätter die Farbe wechselten. Hailey nannte es einmal scherzhaft unseren »Laubausflug«, und ab diesem Tag trugen unsere herbstlichen Fahrten ins Grüne diesen Namen. Nun aber lag sie unter der Erde, und ich wusste, dass ich unsere Laubausflüge nie vergessen und den Herbst von nun an immer als schmerzhaft empfinden würde. Wahrscheinlich blieb mir nichts anderes übrig, als irgendwo in den Westen zu ziehen, an einen Ort, wo die Jahreszeiten weniger ausgeprägt waren.
Erzählen Sie mir also bitte nichts von Gott.
Trotzdem beharrte meine Zwillingsschwester Claire darauf, dass das Schiva-Ritual gut für Russ wäre, und auch wenn ich nicht an Gott glaube, so glaube ich doch an Schuld. Kein Mensch möchte es sich mit der Ewigkeit verscherzen, selbst wenn es sie gar nicht gibt. Wir saßen also Schiva für Hailey, und es war genauso schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Den ganzen Tag hockten Russ und ich mit schwitzendem Hintern auf den niedrigen Plastikstühlen, die uns das Bestattungsinstitut zur Verfügung gestellt hatte, und nickten der endlosen Parade von Gaffern zu, die sich durch unsere Wohnzimmer schoben: Freunde, Nachbarn und Verwandte, die kurz auf den wackeligen Plastikleihstühlen Platz nahmen und ein paar lahme Floskeln von sich gaben, ehe sie ins Esszimmer hinüberwechselten, um etwas vom Büfett zu ergattern. Ja, es gab ein Büfett: Bagels, Räucherlachs, Salate, Quiche und klebriges ungarisches Gebäck, lauter Spenden von Haileys Freunden aus der Temple-Israel-Gemeinde. Die Leute müssen schließlich verköstigt werden. Was das betrifft, ist ein Trauerfall ein Anlass wie jeder andere. Und meine kleine Schwester erschien zu unserer Totenwache aufgetakelt wie für einen Barbesuch in Soho, mit einem Minirock und einem Push-up-BH, der die gerundeten Ansätze ihrer mittelgroßen Brüste über den Horizont ihres V-Ausschnitt-Pullovers hinaufschob wie zwei aufgehende Sonnen.
Schon in guten Zeiten möchte kein Mann den Busen seiner Schwester sehen, aber dass die meine ihre Brüste ausgerechnet in dem Haus, in dem ich um meine Frau trauerte, wie zwei Waffen herumschwang, hatte für mich etwas besonders Beleidigendes. Das Ende vom Lied war jedenfalls, dass sie irgendwann mit meinem Kumpel Mike ins Arbeitszimmer verschwand, und deswegen werden Sie es mir sicher verzeihen, wenn mir ihr Glück nicht übermäßig am Herzen liegt. Wäre Hailey nicht gestorben, hätten sich die beiden nie kennengelernt. Nun aber wird ihr ganzes Lebensglück, ihre Heirat, ihre zukünftige Kinderschar eine Folge von Haileys Tod sein. Obwohl ich vom Verstand her akzeptieren kann, dass sie deswegen trotzdem keine Mitschuld daran tragen, profitieren sie doch von seinen Auswirkungen, und es erscheint mir einfach nicht richtig, wenn man das Unglück eines anderen Menschen als Grundstein verwendet, um darauf das eigene Lebensglück aufzubauen.
»Es geht dabei gar nicht so sehr ums Feiern«, wendet meine Mutter ein. »Sondern darum, Zeit mit deiner Familie zu verbringen.«
»Ja«, gebe ich ihr recht, ohne Harvey aus den Augen zu lassen. »Aber danach ist mir eigentlich auch nicht zumute.«
»Wie schrecklich, so etwas zu seiner Mutter zu sagen.«
»Genau aus dem Grund habe ich zuerst das mit dem Feiern gesagt.«
»Ha!« Meine Mutter gehört zu den Menschen, die tatsächlich »Ha« sagen, statt zu lachen, als würde sie Comic-Sprechblasen von sich geben. »Wenn du einen auf Schlaumeier machen kannst, dann kannst du auch zum Essen kommen.«
Meine Mutter hält das für Logik.
»Ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage bin«, widerspreche ich.
Sie seufzt theatralisch. Vor meinem geistigen Auge sehe ich das Wort »Seufz« zart gedruckt in einer weiteren Sprechblase über ihrem Kopf schweben. »Doug«, sagt sie. »Du kannst nicht den Rest deines Lebens traurig sein.«
»Vielleicht doch.«
»O Doug! Es ist nun schon ein Jahr her. Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, dich wieder in die Welt hinauszuwagen?«
»Du hast recht, Mom. Es ist erst ein Jahr her.«
»Du gehst nie aus dem Haus.«
»Es gefällt mir hier.«
Es hat keinen Sinn, jemandem wie meiner Mutter zu erklären, wie wichtig Selbstmitleid sein kann. Man hat es, oder man hat es nicht. Jeder reagiert anders. Meine Mutter zum Beispiel nimmt Tabletten, winzige gelbe Pillen, die sie immer in eine kleine Flasche umfüllt, auf der ein verblasstes Etikett behauptet, es handle sich um harmlose Advil-Kopfschmerztabletten. Ich weiß nicht, welchen Wirkstoff die Dinger enthalten, und meine Mutter wird es mir nie verraten. Medikamente zu nehmen ist für sie wie Inzest, ein dunkles Familiengeheimnis, das die Nachbarn auf keinen Fall erfahren dürfen. Claire taufte sie die Vil-Pillen, weil meine Mutter, die das Fläschchen immer bei sich trägt, es im Lauf der Jahre so oft in die Hand genommen hat, dass das »Ad« irgendwann vom Etikett abgerieben war. Zu der Zeit stibitzten Claire und ich gelegentlich ein paar aus ihrer Tasche und spülten sie mit Wein hinunter, in der Hoffnung, davon high zu werden. Ich weiß nicht, ob meine Mutter je merkte, dass ihr ein paar Pillen fehlten, jedenfalls verlor sie nie ein Wort darüber. Da mein Vater die Rezepte schrieb – wozu er zu dem Zeitpunkt noch in der Lage war –, verfügte sie über eine nie versiegende Quelle.
»Wenn du so bist, kann man einfach nicht mit dir reden«, verkündet meine Mutter.
»Trotzdem hörst du nicht zu reden auf.«
»Ich mache mir eben Sorgen um dich. Du kannst mich deswegen ja verklagen.«
»Ich glaube, ich werde mich auf eine einstweilige Verfügung beschränken.«
»Haha! Es gibt auf diesem Planeten keine höhere Instanz als ein liebendes Mutterherz.«
»Wie geht es Dad?«
»Er hat Gott sei Dank einen von seinen besseren Tagen.«
»Das freut mich.«
»Wie geht es Russell?«
»Gut. Allerdings habe ich ihn schon ein paar Tage nicht mehr gesehen.« Genauer gesagt seit dem Abend, als der Polizist ihn mir vor die Tür gestellt hatte. Zugekifft, blutend und voller Hass auf mich.
»Der arme Junge. Du kannst ihn mitbringen, wenn du magst.«
»Wohin?«
»Zum Abendessen. Von was, glaubst du, reden wir gerade?«
»Ich dachte, wir hätten schon ein neues Thema gefunden.«
»Du bist derjenige, der endlich etwas Neues finden muss.«
»Ja. Deswegen möchte ich dieses Gespräch jetzt auch beenden. Wir hören uns, Mom.«
»Debbie wird am Boden zerstört sein, wenn du nicht kommst.«
»Irgendwie glaube ich, dass Debbies wunderbares Leben trotzdem weitergehen wird.«
Meine Mutter weiß, dass es besser ist, auf diese Bemerkung nicht einzugehen. »Sag mir jetzt einfach, dass du darüber nachdenken wirst.«
»Das wäre gelogen.«
»Seit wann hast du ein Problem damit, deine Mutter zu belügen?«
Ich seufze. »Ich werde darüber nachdenken.«
»Mehr verlange ich ja gar nicht.« Sie fügt noch etwas hinzu, aber ich höre es nicht mehr, weil ich mein Handy soeben auf Harvey abgefeuert habe, der endlich aus dem Schatten der riesigen Esche in meinem Vorgarten gehoppelt ist. Das Telefon knallt gegen den Baum und explodiert. Plastikteile fliegen wie der Inhalt einer Streubombe über den Rasen. Das Kaninchen sieht mich an, als wäre ich ein absoluter Vollidiot, und meine Mutter redet wahrscheinlich noch immer, obwohl sie keiner mehr hören kann.
Meine Mutter hat mich davor gewarnt, Hailey zu heiraten. Als ich fünf Jahre alt war, hat sie mich auch davor gewarnt, mich auf eine öffentliche Toilette zu setzen, weil ich mir sonst eine unheilbare Geschlechtskrankheit zuzöge. Außerdem redete sie mir damals ein, dass ich jedes Mal, wenn ein Bus vorbeifahre, die Luft anhalten müsse, weil die Abgase sonst meine Lunge schwarz machten. Und dass Fast Food meist aus püriertem Rattenfleisch hergestellt werde. Das alles hatte zur Folge, dass ich mit sechsundzwanzig – so alt war ich, als ich sie über meine Heiratspläne informierte – gewisse Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit hegte.
»Du kannst diese Frau unmöglich heiraten!«, belehrte sie mich beim Abendessen mit einer Überzeugung, unter deren Gewicht sich sogar ihre exakt nachgezogenen Augenbrauen krümmten.
Ich war mit dem Zug aus Manhattan nach Forest Heights hinaufgefahren, um meine Leute zu besuchen und sie an der guten Nachricht teilhaben zu lassen, dass ihr bis dato nutzlosester Sprössling doch tatsächlich zu heiraten plane. Sie nahmen es nicht gut auf.
»Das wird in einer totalen Katastrophe enden!«, erklärte meine Mutter niedergeschlagen, wobei sie ihr Weinglas so fest umklammert hielt, dass ich befürchtete, sie könnte es zerbrechen und sich die frisch manikürten Hände zerschneiden.
»Du kennst sie doch kaum.«
»Ich kenne sie gut genug. Sie ist zu alt.«
Meine Mutter hatte in ihrer Jugend einen gewissen Erfolg als Bühnenschauspielerin. Zumindest war sie für ihre Darstellung der Adelaide in Guys and Dolls für einen Tony Award vorgeschlagen worden, und obwohl das letzte Theaterprogramm in ihrem Sammelalbum älter war als ich, hatte sie wie die meisten Mimen im Ruhestand nie wirklich mit der Schauspielerei aufgehört. Sie war immer am Deklamieren, immer am Darstellen, immer um ihr Publikum bemüht – mit großen, ausdrucksstarken Augen und einem Mund, der stets darauf wartete, sich auf ein Stichwort zu einer bestimmten Emotion zu verziehen, in die sie dann ihre ganze Theatralik legen konnte.
»Sie ist erst sechsunddreißig.«
»Sechsunddreißig und schon geschieden. Genau das, was sich jede Mutter für ihren Sohn wünscht!« Die Geschiedenen kamen auf Mutters langer Liste gestörter Menschen gleich nach den Pädophilen.
»Ihr Mann hat sie betrogen«, erklärte ich und ärgerte mich sofort über meinen defensiven Ton.
»Woran lag das deiner Meinung nach wohl?«
»Verdammt, Mom, ich weiß es nicht. Vielleicht daran, dass er ein schwanzgesteuerter Idiot ist?«
»Doug!«, meldete sich mein Vater reflexartig zu Wort und wedelte dabei mit der Hand über den Esstisch – nur für den Fall, dass ich seine Rüge überhört hatte. »Wir essen gerade!«
Mehr Beteiligung am Gespräch war von seiner Seite nicht zu erwarten, wobei man allerdings hätte meinen können, als Leiter der urologischen Abteilung einer größeren New Yorker Klinik müsste er das Wort »Schwanz« sogar beim Abendessen verkraften.
»Entschuldige, Dad. Ich wollte dich nicht wecken.«
»Sprich nicht so mit deinem Vater!«
»Dann sprich du auch nicht so mit mir!«
»Wie denn?«
»Wie mit einem kleinen Kind. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, in Gottes Namen!«
»Kein Grund, vulgär zu werden.«
»Ich fand, die Situation verlangte danach.«
Meine Mutter kippte ihr Glas Merlot hinunter, als wäre es ein Fingerhut voll Whiskey. Ohne darüber nachzudenken, hielt sie es meinem Vater anschließend zum Nachfüllen hin. »Stan«, sagte sie müde. »Rede du mit ihm.«
Mein Vater legte seine Gabel weg und kaute nachdenklich auf seinem Rostbraten herum, dreißigmal pro Bissen. Als kleiner Junge hatte ich manchmal mitgezählt, um mir die Zeit zu vertreiben, und imaginäre Summen darauf gesetzt, dass er an dem bestimmten Abend nur neunundzwanzigmal kauen würde. Die Tatsache, dass ich jedes Mal verlor, ist – ebenso wie alles andere in meinem Leben – ein Beweis dafür, was für ein Glückspilz ich doch bin. Selbst wenn ich gegen mich selbst wettete, brachte ich es noch irgendwie fertig, zu verlieren.
»Du bist nicht gerade für deine vernünftigen Entscheidungen berühmt, Doug«, erklärte mein Vater.
Genau. Zumindest das habe ich gelernt: Man kann sein Leben lang nett zu allen sein, ein liebender Sohn, ein einigermaßen anständiger Student, der nie harte Drogen nimmt oder irgendjemandes Tochter schwängert, ein rundherum guter Kerl, der mit allen Geschöpfen Gottes in Harmonie zusammenlebt. Aber fahre ein einziges Mal einen gestohlenen Mercedes direkt vor dem Polizeirevier zu Schrott, und sie werden dafür sorgen, dass du es nie wieder vergisst. Meine Mutter war zutiefst entsetzt und voller Panik wegen der Nachbarn, wobei ihre Angst in diesem Fall sogar berechtigt war, da es sich ausgerechnet um den Wagen des Nachbarn handelte. Aber für solche Fälle hat man schließlich eine Versicherung, oder etwa nicht? Wenn man nie einen Schaden einreicht, hat die Versicherungsgesellschaft gewonnen.
»Und du bist nicht gerade dafür berühmt, dass du deinen Kindern emotional den Rücken stärkst«, antwortete ich meinem Vater.
»Daran nehme ich jetzt aber Anstoß, Doug.«
Stanley Parker wurde nicht sauer. Er »nahm Anstoß«. Er hatte sein Medizinstudium an einer Eliteuniversität absolviert und war mit fünfundsechzig noch gut in Schuss, ein respektabler Mann mit üppigem silbergrauem Haar und einer Brille mit Goldrand, der trotz seines warmherzig wirkenden Mentadent-Lächelns stets eine gewisse Distanz wahrte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals von ihm in den Arm genommen worden zu sein. Immerhin hatte er mir anlässlich meines College-Abschlusses herzlich die Hand geschüttelt, was sogar auf einem Foto dokumentiert war.
»Hör zu«, sagte ich und wünschte in dem Moment, ich hätte auf meinen Instinkt gehört. Der hatte mir nämlich geraten, zu Hause zu bleiben und ihnen die Neuigkeit telefonisch mitzuteilen. Derselbe Instinkt aber hatte mich damals glauben lassen, eine Spritztour mit dem Mercedes des Nachbarn würde meine Angebetete dazu bringen, mit mir zu schlafen. Dem war nicht so gewesen, und auch in den darauffolgenden Jahren hatte besagter Instinkt mir keine besonders weisen Ratschläge erteilt, so dass ich mir irgendwann angewöhnt hatte, ihn mehr oder weniger zu ignorieren. »Ich liebe Hailey, und was wir miteinander haben, funktioniert. Sie ist schön, sie ist klug, sie ist eine großartige Mutter, und ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich mal eine so wundervolle Frau finde.«
Meine Mutter schnappte entsetzt nach Luft, woraufhin der Wein in ihrem Glas über den Rand schwappte und die Tischdecke rot färbte. Sie sollte in meiner Gegenwart besser nur Chardonnay trinken. »Sie hat ein Kind?«, krächzte sie. Dann presste sie die Hand an die Brust, schloss die Augen und begann zu keuchen, als hätte ihr soeben jemand ein Messer in die Rippen gerammt.
Ich lächelte. »Herzlichen Glückwunsch, Großmutter!«
»O mein Gott!«, kreischte sie.
»Genau«, antwortete ich und stand auf. »Ich hatte schon so ein Gefühl, dass du das sagen würdest.«
Das Letzte, was ich hörte, ehe ich aus dem Haus floh, war die Stimme meiner Mutter, die mit meinem Vater schimpfte, als wäre das alles seine Schuld. »Stanley!«, rief sie. »Das wird in einer absoluten Katastrophe enden!« Womit sie versehentlich die Richtigkeit einer ihrer Lieblingslebensweisheiten unter Beweis stellte: dass selbst eine stehengebliebene Uhr zweimal am Tag die richtige Zeit zeigt.
Vom richtigen Umgang mit Witwern
Von Doug Parker
Nach Haileys Tod habe ich etwas verloren. Ich weiß nicht so recht, wie ich es nennen soll, aber es handelt sich dabei um jenen Mechanismus, der einen davon abhält, die Wahrheit zu sagen, wenn man von jemandem gefragt wird, wie es einem gehe. Jenes lebenswichtige Ventil, das unsere tieferen, echteren Gefühle sicher unter Verschluss hält. Ich weiß auch nicht genau, wann es mir abhandengekommen ist oder wie ich es zurückbekommen soll, aber wenn es um Takt, Höflichkeit und Diskretion geht, bin ich im Moment ein Alptraum, der nur darauf wartet, über die Menschheit hereinzubrechen, und zwar immer wieder.
Gesellschaftlich gesehen macht mich das zu einer Belastung für meine Mitmenschen.
Neulich stand ich in der Drogerie gerade am Schalter für die verschreibungspflichtigen Medikamente, um meinen Vorrat an Schlaftabletten aufzustocken, als mich eine Freundin von Hailey entdeckte.
»Doug!« Sie kam zu mir herüber und drückte meinen Unterarm. Die Diamanten an ihrem Ehering kratzten über meine Haut wie die Zähne eines kleinen Tiers. »Ich wollte dich schon längst mal wieder anrufen. Wie geht es dir?«
Inzwischen kenne ich das Drehbuch und habe meinen Text gelernt. In einer solchen Situation wird von mir erwartet, dass ich sage, es gehe mir gut oder zumindest einigermaßen oder den Umständen entsprechend, man habe eben bessere und schlechtere Tage. Ich hatte auch wirklich vor, etwas Derartiges zu antworten, aber stattdessen hielt ich das orangefarbene Pillenfläschchen hoch und sagte: »Ich nehme all diese verdammten Tabletten und kann nachts trotzdem nicht schlafen, deswegen nehme ich noch mehr Tabletten, die mir dann Alpträume verursachen, aus denen ich nicht aufwachen kann, weil mich die verdammten Tabletten nicht lassen. Wenn ich am Ende doch aufwache, bin ich noch müder als vorher, außerdem möchte ich eigentlich gar nicht aufwachen, weil ich dann nur an Hailey denken muss und sofort wieder einschlafen möchte. Und wie geht es dir?«
Sichtlich nervös blickte sie den Gang auf und ab, während sie krampfhaft überlegte, wie sie mir entkommen konnte. Sie tat mir leid, aber noch mehr tat ich mir selbst leid. Deswegen schüttelte ich nur den Kopf und winkte ihr zu, als würde sie gerade draußen auf der anderen Straßenseite vorbeigehen und nicht so nahe vor mir stehen, dass ich die großen Poren unter ihren Augen sehen konnte. Rasch verließ ich den Laden.
So etwas passiert mir jetzt dauernd.
Meine Schwester Claire behauptet, ich täte das absichtlich, es sei meine Art, die Leute auf Abstand zu halten. Wahrscheinlich ist da auch etwas dran, aber ich schwöre, dass ich es eigentlich gar nicht will. Es bricht einfach ohne Vorwarnung aus mir heraus, wie ein plötzliches, heftiges Niesen.
Vor ein paar Wochen stand ein Zeuge Jehovas vor meiner Tür, oder vielleicht war er auch einer von den Juden für Jesus oder irgendein anderer Fanatiker auf Glückspillen, der mir mit einer Broschüre in der Hand Gott andrehen wollte. Jedenfalls lächelte er so breit wie eine Zeichentrickfigur und fragte mich: »Haben Sie Gott schon in Ihr Leben gelassen?«
»Gott kann mich mal!«
Er lächelte mich weiter selig an, als hätte ich ihm gerade ein Kompliment zu seinem schäbigen Billiganzug gemacht. »Ich habe auch mal so empfunden, Bruder.«
»Sie sind nicht mein Bruder!«, fauchte ich ihn an. »Und Sie haben nie so empfunden! Wenn Sie nämlich jemals so empfunden hätten, würden Sie immer noch so empfinden, denn das geht nicht vorbei. Dann würden Sie definitiv nicht mit diesem breiten, schleimigen Grinsen im Gesicht an die Türen von wildfremden Menschen klopfen!«
»Hey!«, sagte er bestürzt. »Lassen Sie mich los!«
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich ihn an seiner schmalen Krawatte gepackt und zu mir herangezogen hatte, so dass wir mittlerweile Nase an Nase standen und ich meine Spucke auf seinem Kinn erkennen konnte. Außerdem sah ich, dass er höchstens Anfang zwanzig war und sich vor Angst fast in die Hosen machte. Ich ließ ihn los und forderte ihn auf zu verschwinden, woraufhin er wie ein geprügelter Hund die Treppe hinunterschlich. Einen Moment lang hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber dann rief er: »Du blödes Arschloch!«, und zeigte mir den Stinkefinger. Unter normalen Umständen hätte ich das wahrscheinlich sogar lustig gefunden, doch seit geraumer Zeit fand ich überhaupt nichts mehr lustig. Wenigstens hatte er nun eine Geschichte auf Lager, die er den anderen Klinkenputzern Gottes erzählen konnte, wenn sie bei Kaffee und Donuts in ihrem heiligen Hauptquartier zusammensaßen.
Kürzlich fiel mir in einem Baumarkt, in dem ich nur schnell ein paar Glühbirnen kaufen wollte, ein Pärchen auf. Die beiden waren etwa in meinem Alter und sahen sich gerade Farbmuster an. Die Frau war hübsch und zierlich, er ein drahtiger Typ, der bereits einen Glatzenansatz hatte. Sie trugen beide Khakihosen und wirkten auf eine stille Art ineinander verliebt. Ich hörte sie über den Raum sprechen, den sie streichen wollten, und über die Farbe des Teppichs, der Couchgarnitur und des Holzschränkchens, in dem ihr Fernseher stand. Die Frau hatte ein Stück von dem Vorhangstoff mitgebracht, zu dem die Wandfarbe ebenfalls passen sollte. Hailey hätte das auch so gemacht. Die beiden zeigten sich gegenseitig verschiedene Farbmuster und hielten sie an den Vorhangstoff.
Ich stellte mir vor, wie sie es sich zu Hause in ihrem taupefarbenen Zimmer auf ihren pilzbraunen Kissen gemütlich machen und sich ineinander verschlungen eine Fernsehsendung ansehen würden. Da ging mir plötzlich durch den Kopf, dass sie sich schon morgen verlieren konnten, dass einer von ihnen oder auch beide tot sein konnten, noch ehe die frische Farbe an ihren Wänden richtig trocken war. Als ich den bestürzten Blick der Frau sah, wurde mir bewusst, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte. Der Mann trat vor, als wollte er Streit mit mir anfangen, wobei genau genommen ich angefangen hatte, aber dann griff er nur in seine Tasche und reichte mir ein knittriges Papiertaschentuch. Erst jetzt merkte ich, dass ich weinte.
Es ist nun ja schon ein Jahr her, und meine Familie und Freunde sind offenbar der Meinung, dass meine Trauer damit ihr Verfalldatum erreicht haben müsste. Als bräuchte man nur eine Runde durch alle vier Jahreszeiten zu absolvieren, um anschließend wieder bereit zu sein für ein neues Leben, frisch befüllbar wie ein leeres Fass. Es sei an der Zeit, dass ich mich wieder in die Welt hinauswagte, sagen sie. Deswegen ruft mich meine Mutter auch regelmäßig an, um mir die neusten Mädchen anzupreisen, die sie oder ihre Freundinnen auf ihren Reisen kennengelernt haben. Aber mal ehrlich, welches weibliche Wesen möchte schon mit einem depressiven neunundzwanzigjährigen Witwer ausgehen, der weder einen richtigen Beruf noch konkrete Ziele hat?
Vor meinem geistigen Auge sehe ich seltsame, magere Frauen mit großen Brillengläsern, die sackförmige bäuerliche Kleider tragen und Scharen von Katzen haben, mit denen sie sprechen, als wären es ihre Kinder. Oder es sind traurige, schwergewichtige Frauen, die sich vor Nervosität übertrieben fröhlich oder selbstironisch geben und durch ihr dickes Make-up schwitzen, während sie auf ihrer fortwährenden Suche nach einem Orgasmus, der nicht auf Batterien beruht, den Bodensatz des zur Verfügung stehenden Männerpools durchwühlen. Oder es handelt sich um geschiedene, gestörte, misstrauische Männerhasserinnen, die lediglich nach einem neuen Spucknapf für ihre Galle Ausschau halten. Oder solche, die in ihrer Angst und Einsamkeit ertrinken und sich an den ersten Mann klammern, der möglicherweise bereit sein könnte, ihr Bett und ihre Hypothekenraten mit ihnen zu teilen. Und dann gibt es da noch die Fetischistinnen, weibliche Vampire, die sich vom Blut der Trauer ernähren. Sie wollen mir die Tränen vom Gesicht lecken und meine ungeheure Traurigkeit in ihr eigenes geschwollenes Herz aufsaugen. Doch obwohl ich auf diese Weise früher als erwartet vernascht werden könnte, habe ich einen ziemlich ausgeprägten Besitzanspruch auf meine Trauer entwickelt und bin noch nicht recht bereit, jemanden daran teilhaben zu lassen.
Selbst wenn ich dazu bereit wäre – was ich nicht bin –, hätte ich immer noch jenes uralte Problem, dass ich zu keinem der Vereine gehören möchte, die mich gerne als Mitglied hätten.
Der Himmel treibt Spielchen mit mir. Es ist einer jener aufdringlich schönen Frühlingstage, die sich einfach eine Spur zu sehr ins Zeug legen, so dass man ihnen am liebsten ins Gesicht klatschen würde. Der Himmel leuchtet blauer, als es eigentlich erlaubt ist. Sein Blau wirkt widerlich anmaßend, als wollte es einem vor Augen führen, was für ein Verbrechen gegen die Menschheit es doch ist, an einem solchen Tag zu Hause zu bleiben. Dabei weiß ich gar nicht, wo ich hinsollte. Rund um mich herum sind Gärtner damit beschäftigt, Rasenflächen zu mähen und Hecken zu trimmen, überall hört man das mechanisierte Zischen sich drehender Sprinkler, und für alle, die neu zu uns stoßen, ist es ein schöner Tag. Aber Hailey ist tot, und ich weiß nicht, was ich tun oder wo ich hingehen soll.
Ich bin gerade damit beschäftigt, die Plastiksplitter meines Handys aus dem Rasen zu zupfen, als ein dunkler verbeulter Nissan mit getönten Scheiben vor dem Haus hält. Aggressive, disharmonische Hip-Hop-Klänge und eine dicke Wolke marihuanageschwängerter Zigarettenqualm findet den Weg ins Freie, als Russ aussteigt. Er wirkt so groß und bullig wie sein Vater, trägt weite Shorts, Flipflops, ein ausgebleichtes Kampfstern-Galactica-T-Shirt und hat einen iPod um den Arm geschnallt.
Er und seine Freunde klatschen die Hände aneinander und rufen sich über die Musik hinweg fröhliche Obszönitäten zu. Hinten fliegt ein halb voller Pappbecher durch ein offenes Fenster und ergießt sich über den Gehsteig. Es sieht aus wie die Blutspritzer an einem Tatort. Russ haut grinsend aufs Dach, dann braust der Wagen davon, biegt mit quietschenden Reifen um die Ecke. Ich warte auf das Krachen, aber es bleibt aus. Russ hat in letzter Zeit ziemlich schlechte Gesellschaft: Selbstverstümmler mit glasigen Augen und gepiercten Brauen, langen Zottelmähnen und gefälschten Ausweisen. Jungs, die nachts ziellos herumfahren und nach Gelegenheiten suchen, irgendetwas kaputt zu machen, oder stundenlang auf leeren Parkplätzen herumhängen, billiges Bier in sich hineinschütten, düsteren Punkrock in ohrenbetäubender Lautstärke hören und über die ganzen Arschlöcher an ihrer Highschool lästern.