Franz Werfel
Höret die Stimme
Roman
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Dies ist die Geschichte Jirmijahs aus Anathot, des Propheten Jeremias also, aber es ist zugleich ein Meneteckel, ein Mahnwort gegen alle unverantwortlich herrschende Gewalt. Franz Werfel hat den Roman vom Leben und Leiden des großen Propheten eingebettet in eine Rahmenhandlung aus der Zeit der Entstehung des Romans, 1936, und ihn damit weit über das religiöse Thema hinausgehoben; er hat – der als Imperativ wirkende Titel verdeutlicht das – in einer Zeit totalitärer Herrschaft in Deutschland einen verschlüsselten Aufruf verfaßt, Widerstand zu leisten, aufzubegehren gegen die Staatsgewalt, gegen Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit der Mächtigen.
So gesehen wird der Nebukadnezar des Romans leicht mit Adolf Hitler vergleichbar, werden die Leiden Jeremias’ als die der Juden Deutschlands verstanden, wird die Zerstörung Jerusalems und des Tempels 586 v. Chr. als apokalyptisches Bild für die Zukunft Europas zur Zeit des Nationalsozialismus erkennbar. Werfel reagierte mit diesem Bekenntnis aber auch zugleich auf Vorwürfe gegenüber seiner, des Juden, offen geäußerter Sympathie für das katholische Christentum wie gegenüber der Tatsache, daß er zu den Aktivitäten der neuen Machthaber in Deutschland lange geschwiegen hatte.
Covergestaltung: Katharina Schmidt
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Hinweise zur Zitierfähigkeit dieser Ausgabe:
Textgrundlage dieser Ausgabe ist »Werfel, Franz: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Höret die Stimme. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2009, 3. Auflage.«
Die grauen Zahlen in geschweiften Klammern markieren den Beginn einer neuen Seite in der genannten Buchausgabe. Die Seitenzahlen vor den Anmerkungen beziehen sich ebenfalls auf diese Ausgabe.
ISBN 978-3-10-400173-9
Clayton Jeeves schwieg. Es war ein gespanntes und störrisches Schweigen, mit dem er das Gespräch der anderen begleitete, dessen schwebend leichter Ton im Widerspruch zum Gewicht seines Inhalts stand.
Sie saßen auf der Terrasse der Gastwirtschaft und tranken mit der gedankenvoll behaglichen Schlaffheit der frühen Nachmittagsstunde ihren Kaffee. Die Terrasse war weit ins Wasser vorgebaut. Konnte man aber diese dickflüssig schwärzliche Flut ohne Atem überhaupt noch Wasser nennen? Das unbestimmbare Element des Toten Meeres – nicht mehr ganz Flüssigkeit und noch nicht fester Stoff – dehnte sich schwerfällig hinaus, wo die österlichen Strahlen einer jungen Sonne in ihren Dunstgewändern ein wechselndes Schaugefecht darboten. Die südliche Ferne tat weh, ließ sich nicht fassen. Die Gebirge aber im Osten und Westen, die den Asphaltsee einklemmen, gaben dem Auge Halt. Waren es Berge oder versteinerte Wolken, kristallisierter Dampf der kochenden Bäche, die sich in das Becken von Sodom und Gomorrha ergießen? Das nahe Gebirg besaß noch einige Wirklichkeit, schien in dieser Erde zu wurzeln, die so anders ist als die Erde sonst. (Von dem bedrängenden Eindruck dieser Anders- und Einzigartigkeit vermochte sich das Gespräch der fünf Menschen nicht zu lösen.) Je weiter aber die Felsgebilde Moabs ins Unfaßbare hinausrückten, um so rascher verloren sie ihre überzeugende Berghaftigkeit. Durchscheinende Vesten aus Rauchtopas, Juwelentürme überragten die östliche Küste, geisterhafte Formungen aus Glasfluß, Salz und unbekannten Materien, in flaschengrünen, veilchenfarbenen, aquamarinhellen Tönen. Und es schien, daß die Gebirge all diese zauberischen Farben nicht von der Gnade der Lichtbrechung geliehen bekamen, sondern aus sich selbst, aus ihrer innersten Natur heraus Kristall und Juwel waren.
Milde Wärme herrschte, durchaus angenehm für weitgereiste Engländer, die schon ganz andere Klimate kennengelernt hatten als dieses, das mit einem treibhaushaften Lächeln ein wenig »Tropen« spielt. Schön war es, hier auf der Terrasse eine Stunde nach Tisch im Freien zu sitzen wie ohne Zukunft. Im Rücken der Gesellschaft erstreckte sich die schmale Ufersteppe des Toten Meeres mit ihren verschrumpften Kameldisteln und niedrigen Sidr-Sträuchern, über und über bereift von Gips- und blitzenden Salzkristallen. Dicht hinter dem dürren Kragen dieser Steppe begann die Jordan-Aue, das üppige Mündungsgebiet des heiligen Flüßleins, eine freundliche Wildnis voll grünbehäuteter Sümpfe und Tümpel, voll Schilfrohr und Weidendickicht, von glänzenden vogelumkreisten Pappeln überwölkt. Hier hatte man vorhin die berühmte Furt besucht, wo Johannes die Taufe an Jesus vollzogen haben soll. Griechische Pilger, in ihre weißen Sterbehemden gehüllt, waren eben mit einem Autobus angekommen, um nach geheiligtem Brauch in dem ziemlich reißenden Jordan ein Tauchbad zu nehmen. Frauen knieten am Ufer nieder und füllten, ernst und ängstlich niederblickend, die mitgebrachten Blechgefäße mit dem gelblichen Taufwasser an. Der Archäologe Burton, der an den Ausgrabungen in Jericho mitwirkte, hatte stumm auf die Blechgefäße hingedeutet, die insgesamt die Aufschrift »Vacuum Oil« trugen. Miss Dorothy Cowell hatte diesen weltweiten Widerspruch, der die Jahrtausende verband und trennte, in einem raschen Lachen gespiegelt.
Immer wieder traten in der Unterhaltung plötzliche Pausen ein. Dann schloß sich jedesmal um das verstummende Gespräch wie Wasser um einen versunkenen Stein eine überaus vernehmbare Stille, die mit keiner andern Stille der Welt zu vergleichen war. Dieser von durchsichtigen Geistergebirgen eingesäumte Ort schien aus dem ewigen Meeresrauschen des Universums ausgespart zu sein, um der Stimme entgegenzuharren, die von diesem allgemeinen Rauschen übertönt wird. Die Arbeiter der Asphaltwerke hielten Mittagsrast. Drang manchmal ein kehliger Menschenlaut von fern herüber, so war es, als schaudre die schwere lauschende Fläche des Sees unter ihrem gespielten Gleichmut zusammen. Ja dort hinten, einige Meilen fern, lag die schöne Jericho-Oase mit ihren Zitronen-, Orangen- und Grapefruithainen, ihren gesegneten Quellen, ihrem Scherbenberg aus grauer Vorzeit (in dem auch Mr.Burton wühlte), ihren arabischen Lehmhütten und hochtrabend betitelten Hotels. Selbst hier noch war der süße umhüllende Blütenduft zu spüren, den die Oase verströmte. Von Zeit zu Zeit aber wurde die Luft merkwürdig schwer, als wolle sie zu einer geleeartigen Speise gerinnen, die man nicht einatmen, sondern kauen muß. Nur an dieser plötzlichen Schwere der Luft ließ es sich erkennen, daß man in einer der tiefsten Mulden der Erde saß, die Oberfläche aller Ozeane mehr als vierhundert Meter hoch über den Köpfen.
»… Mittelpunkt der Welt …«
Die fünf – vier Männer und eine Frau – lösten ihre Blicke überrascht von den Juwelengebirgen des Toten Meeres und sahen einander an, als hätte nicht einer von ihnen diese Worte gesprochen, sondern eine feierlich gelassene Stimme außerhalb ihres Kreises. Dorothy Cowell lag, ein wenig abseits, in einem Strecksessel. Die Männer hatten ihre Stühle von dem Tisch mit seinen halbgeleerten Karaffen, Gläsern und Tassen weggerückt. Alle trugen schwarze Sonnenbrillen bis auf Clayton Jeeves, der äußerst kurzsichtig war und helle scharfe Gläser vor seinen langwimprigen Augen hatte. Er saß nicht nur in sein verstocktes Schweigen, sondern auch in diese sanftmütige Kurzsichtigkeit eingehüllt, die ihn von den andern entfernte und sehr schüchtern erscheinen ließ. Doch weder Cartwright noch Burton oder Major Shepston schenkten diesem Schweigen irgendeine störende Aufmerksamkeit. Nur Dorothy Cowells Blicke streiften Jeeves von Zeit zu Zeit. Wahrscheinlich fühlte sie sich verantwortlich. Sie hatte den jungen Schriftsteller mit den drei andern Herren vor einigen Tagen bekannt gemacht und gestern in der Halle des King David Hotel die Anregung zu diesem gemeinsamen Ausflug an das Tote Meer gegeben. Vielleicht dachte sie, Jeeves durch diesen Ausflug in Gesellschaft ungewöhnlicher Männer »herauszureißen«. Es war ein wohlgelungener Tag. Man ruhte in dieser kaum mehr irdischen Landschaft wie in die Tiefe eines geheimnisvollen Trichters gebannt. Ein Gefühl, das in den Worten vom Mittelpunkt der Welt seinen tastenden Ausdruck gefunden hatte. Professor Cartwright, der älteste in dieser Runde, rückte den Tropenhut, den er wegen seines völlig nackten Schädels trug, aus der Stirne, ehe er meinte: »Überall, wo wahre Religion entsteht, ist ein Mittelpunkt der Welt … Ähnliche Empfindungen hat man in Benares zum Beispiel …«
Cartwright unterbrach sich. Über sein farblos ordnungsuchendes Gesicht zog der Schein einer Korrektur. Er besaß übrigens mehr als jeder andre das Recht, über solche Gegenstände zu reden. Nach langjähriger Forschertätigkeit an verschiedenen Sanskrit-Instituten kehrte er soeben aus Indien nach London zurück.
»Mein Vergleich stimmt nicht …« verbesserte er sich. »Überall anders sind Pandämonien aller Art entstanden, Kulte und Philosophien; Religion im genauesten Sinne aber nur hier in diesem kleinen Lande … Und darum wird es schon der gottgewollte Mittelpunkt der Welt sein …«
Major Shepston, ein kleiner magerer Mann, der neben Cartwright saß, legte sein bräunliches Gesicht in hundert Falten.
»Eines steht jedenfalls fest«, meinte er bedächtig. »Der biblische Gott dieses Ländchens ist Weltsieger geblieben über alle andern Götter … Im Christentum und Islam … Bis auf weiteres wenigstens …«
»Keine Furcht«, lachte Burton, »in dieser sehr geweckten Generation und in den drei nächsten schläft gewiß kein Unbekannter Gott …«
Major Shepston sah plötzlich sehr betroffen drein, als sei er von seinen eigenen Ausführungen unangenehm berührt, zu denen ihn das Wort vom Mittelpunkt der Welt hingerissen hatte. Nach einer Weile fügte er wie zur Entschuldigung hinzu:
»Wenn man in diesem Lande so lange lebt wie ich, wissen Sie …« Shepston lebte und wirkte tatsächlich schon mehr als zehn Jahre in Palästina. Er war in amtlicher Eigenschaft dem Hochkommissär zugeordnet, kannte jeden Winkel zwischen Hermon und Sinaiwüste und liebte diese Welt so sehr, daß er sich zweimal schon geweigert hatte, sie um einer Beförderung willen zu verlassen. Sein gebräuntes ausgedörrtes Gesicht mit dem kleinen grauen Schnurrbart machte ihn älter, als er war. Der Archäologe Burton wiederum sah weit jünger aus, als seine Jahre es erlaubten. Auf seinem gewaltigen Körper saß ein erstauntes Milchgesicht, das nur durch die Fülle ausgeblaßter Sommersprossen, die Blatternarben glichen, etwas wie die Verwitterung der Erwachsenheit gewann. Seine hohe Stimme neigte leicht zur Feierlichkeit.
»Ich arbeite«, gestand er, »zwar noch nicht zehn Jahre in diesem Lande, aber immerhin schon über zehn Monate. Und mir ergeht es noch immer wie am ersten Tage. Wenn man diese uralten Orte mit ihren heilig vertrauten Namen betritt … Ein unvergleichlicher Schauder ist das … Ich bin kein Neuling und war schon bei vielen Grabungen in Hellas und Ägypten beteiligt … Die Erde hier ist nicht so üppig, so hingebend wie dort. Sie ist wortkarg, ja beinahe stumm, sie hält ihre Geheimnisse fest. Der kleinste Fund schon erregt Herzklopfen … Vielleicht liegt darin der Unterschied. Es ist der Unterschied zwischen Homer und Bibel …«
Und Burton schloß knabenhaft träumerisch:
»Oder wenn Sie wollen, der Unterschied zwischen Gymnasialzeit und Kindheit …«
»Homer und Bibel, Gymnasium und Kindheit! Ziemlich gut ausgedrückt, Schatzgräber«, brummte Shepston wohlwollend. »Wenn ein Knabe dieser aufgeklärten Zeit die Bibel noch mit der Kindheit identifiziert, wie muß es da erst den älteren Jahrgängen ergangen sein, die aus dem besten Puritanismus herkamen … Ich hätte dafür ein gutes Beispiel. Aber das ist eine Geschichte aus dem Krieg. Und wenn andre Leute Geschichten aus dem Krieg erzählen, stehe ich auf und entferne mich …«
Professor Cartwright ermunterte gelassen. Wenn er sprach, bewegten sich seine schmalen Lippen kaum:
»Wir sind alle überzeugt, daß Sie kein Heldenstück zum besten geben werden, Shepston …«
»Es ist nicht einmal eine Geschichte«, entschied der Major wegwerfend, »sondern nichts als eine nackte Tatsache ohne Pointe. Doch auf mich hat sie einen gewissen Eindruck gemacht. Sie betrifft Allenby, den Marschall … Ich war nämlich schon während des Krieges hier in Palästina. Bei der großen Vorrückung unsrer Armee hat man mich dem Stab als Ordonnanzoffizier zugeteilt. Die vierte türkische Armee hatte sehr starke Stellungen in der Ebene Jezreel auf der Linie Meggiddo – Affulle bezogen. Wir verbrachten die letzte Nacht vor unserem großen Angriff in dem Städtchen Dschenin. Sie kennen gewiß alle diesen Ort von der Fahrt nach Nazareth. Um zwei Uhr nachts etwa läßt mich der Marschall wecken und zu sich rufen. Er hat die Schwäche besessen, hie und da gerne mit mir zu plaudern. Ich glaube natürlich, es handle sich diesmal um eine dienstliche Aufgabe – der Angriff war für fünf Uhr morgens angesetzt –, und mache mich feldmäßig fertig …«
Vom Strecksessel her erklang die lachende Stimme der Frau:
»Also doch, ein kühner Ritt wenigstens!«
»Ganz im Gegenteil, Miss Cowell«, beruhigte sie Shepston bissig. »Der Marschall saß zwar über eine Karte gebeugt, aber es war durchaus nicht die große Generalstabskarte, in der unsre Stellungen eingezeichnet standen, sondern ein Atlas des biblischen Palästina. Und auf dem großen Tisch lag sonst nichts andres aufgeschlagen als zwei Exemplare der Heiligen Schrift. Es war ein nacktes elendes Zimmer in einem arabischen Hause, in dem Allenby einsam wachte. Er forderte mich auf, ihm kurze Zeit Gesellschaft zu leisten, er könne nicht schlafen, allzu viele Gedanken gingen ihm im Kopf herum. Ich erwartete gespannt, etwas von den Sorgen zu hören, die den Geist des verantwortlichen Feldherrn in der Nacht vor der Entscheidung martern. Die Lage war ziemlich flau. Wir hatten den Marsch durch die Wüste, wochenlange Entbehrungen und schwere Verluste hinter uns. Die eigene Artillerie war beängstigend schwach, und in den letzten Monaten hatte der Feind die seine durch deutsche und österreichische Batterien bedeutend verstärkt. Der Suezkanal stand morgen auf dem Spiel, vielleicht das ganze Empire … Nun, von all diesen brennenden Fragen des nahenden Entscheidungstages kam kein Laut über die Lippen des Marschalls. Hingegen stellte er mit mir in seiner langsam strengen Art eine Prüfung an: Wie oft, mein Lieber, kommt Meggiddo und die Ebene Jezreel in der Kriegsgeschichte der Heiligen Schrift vor? Was wissen Sie darüber? Ich wußte ganz und gar nichts darüber, meldete es sofort mit der nötigen dienstlichen Zerknirschung und gab damit dem guten Alten die erwünschte Gelegenheit, mich ausgiebig zu belehren. Fünf oder sechs alttestamentarische Schlachten hatten, wenn ich nicht irre, in derselben Ebene stattgefunden, wo wir uns morgen schlagen sollten. Nur von diesen biblischen Affären sprach der Marschall und erwähnte gar nicht Napoleons Sieg am Berge Tabor, obgleich dieser doch ein bekanntes strategisches Beispiel auf allen Kriegsschulen bildet. Besonders eine Persönlichkeit und ein Kampf schienen ihn in jener denkwürdigen Nacht ausnehmend zu fesseln, vielleicht gerade deshalb, weil dieser Kampf traurig ausfiel … Sie sind der Historiker, Burton, helfen Sie mir! Wie heißt jener biblische König, der mit seinem kleinen Heer die gewaltige Übermacht Ägyptens bei Meggiddo angegriffen hat …?«
»König Josijah«, sagte der Archäologe nachsichtig, »derselbe, unter dem der Prophet Jeremias seine Wirksamkeit begann …«
»Ja, es stimmt, König Josijah! …« Shepston hatte sich selbst schon ungeduldig gemacht. »Sie sehen, es ist wirklich eine nackte Tatsache ohne jede Pointe. Nichts andres, als daß ein englischer Heerführer knapp vor einer der wichtigsten Aktionen des Weltkrieges seine Gedanken nicht dem gefährlichen Morgen, sondern der Bibel zuwendet. Vielleicht hat er sich durch diese Betrachtungen nur abgelenkt oder seine weiterarbeitenden wahren Gedanken hinter ihnen verborgen. Doch noch wahrscheinlicher ist es, daß der alte Allenby in der biblischen Geschichte, die für ihn Gotteswort und absolut heilige Geschichte war, gleichnisweise Stärkung und Trost für alle Fälle gesucht hat …«
Burton lächelte mit allen Sommersprossen seines Kindergesichtes:
»Großbritannien hat somit nach mehr als drei Jahrtausenden die achte oder neunte Schlacht von Meggiddo gewonnen. Eine solide Tradition! …«
»Man könnte aus Shepstons Geschichte ohne Pointe noch weitere Schlüsse ziehen«, warf Cartwright mit seiner besonnenen Stimme ein, ohne die Lippen zu bewegen. »Der bibeltreue General Allenby hat mit der Eroberung Palästinas eine sehr legitime Tat vollbracht, da ja das englische Volk selbst seine mythische Herkunft von den zehn verlorenen Stämmen Israels ableitet.«
Bei diesen Worten Cartwrights erhob sich Dorothy Cowell. Sie war ziemlich jung, noch keine dreißig Jahre alt, und trotz des entzaubernden Berufes einer Journalistin – man kannte sie in den Wandelgängen des Völkerbundpalastes sehr genau – eine außerordentlich hübsche Person. Ihr tiefschwarzes Haar, das von einer schmalen grauen Strähne durchzogen war, stand in reizvollem Gegensatz zu den großen blauen Augen, in denen ein energisches Feuer flutete und ebbte. Diese Augen ruhten jetzt eine Sekunde lang mit versteckter Unruhe auf Clayton Jeeves. Der Schriftsteller hielt sein kurzsichtiges Antlitz den Gesprächen, an denen er nicht teilnahm, lauschend voll zugewandt. An seiner gespannten, eingesponnen steifen Haltung hatte sich nichts verändert. Und dennoch war er auf einmal verfallen und schien einen Riesenbissen Verzweiflung mit Mühe hinabzuschlingen. Dorothy bemerkte es und glaubte den Grund des plötzlichen Verfalles zu erkennen. Das Unglück, das Jeeves vor wenigen Monaten getroffen hatte, mochte ihn wieder überwältigt haben. Sie trat zwischen ihn und Burton, vermutlich um ihrem Schützling zu helfen, um ihn zum Reden zu bringen.
»Die verlorenen Stämme …« wiederholte Dorothy melodisch und schaltete eine kleine Pause ein … »Wenn Sie genaue Auskunft über die verschiedenen Achtzehner-, Zwölfer- und Fünferkomitees in Genf haben wollen, werde ich Sie nicht enttäuschen … In der antiken Geschichte aber fühle ich mich bedeutend unsicherer … Der impertinent gelehrte Jeeves hier wird es bestätigen …«
Der Angeredete hob nicht einmal die Augen zu Dorothy. Die etwas spitze Heiterkeit der Journalistin hatte die Schatten nicht verjagt. Hingegen stand Burton auf, faßte Dorothy Cowell am Arm, führte sie zwei Schritte landwärts und deutete in die Richtung der Jordan-Aue, die in zartem Glast verschwamm:
»Dort! Haben Sie noch die Taufstelle vor Augen, wo wir den griechischen Pilgern begegnet sind?«
»Ich sehe diese schrecklichen modernen Ölkannen«, blinzelte Dorothy, »in die das heilige Wasser gefüllt wurde …«
Burtons Stimme klang hoch und feierlich:
»Ein hoffnungsvolles Symbol für uns, die wir alle solch schreckliche moderne Gefäße sind und dennoch mit dem Heiligen angefüllt werden könnten …« Der historische Schwärmer war jetzt in vollem Zuge. Das Milchgesicht auf dem Riesenkörper begann zu glühen. Seine Hand wies in die Richtung Jerichos, wo vor mehr als dreiunddreißig Jahrhunderten einige unansehnliche Nomadenstämme den Jordan überschritten hatten, um ihr zugelobtes Land in Besitz zu nehmen. Miss Cowell war plötzlich einem monomanischen Vortrag ausgesetzt, der die mutmaßliche Landnahme Palästinas durch jenes seltsame Nomadenvolk schilderte. Armseligen, schlechtbewaffneten Horden war es gelungen, eine in jedem Sinne hundertfach überlegene Urbevölkerung zu überwinden und sich einzuverleiben. Freilich, sie brachten etwas so Ungeheures mit, wie es die menschliche Geschichte vorher und nachher nie wieder erreicht hat. Einen einzigen Schöpfergott, der sie erschaffen und den sie erschaffen hatten … Zitate aus dem Alten Testament und aus ägyptischen Inschriften schmückten diese Darstellung. Ehe aber Burton noch zu Ende war, seufzte Dorothy gereizt:
»Die Historiker blicken auf uns Journalisten verächtlich herab. Doch ich sage Ihnen, Burton, wenn unsereins über ein zeitgenössisches Ereignis solch einen überfüllten Bericht erstattete wie Sie, keine Zeitung würde ihn drucken …«
»Sie vergessen«, schlug Burton zurück, »daß wir weniger lügen dürfen als ihr …«
»Und dabei hat die Wissenschaft den kostbaren Vorzug, unkontrolliert und undementiert lügen zu können …«
Dorothy Cowell hatte den Sieg und das letzte Wort behalten. Mit der Hartnäckigkeit aller unabhängigen und etwas herrschsüchtigen Frauen aber wich sie nicht vom Gegenstand:
»So, und jetzt weiß ich noch immer nicht, warum sich die angelsächsische Nation auf die verlorenen Stämme zurückführt …«
Professor Cartwright erwog vermittelnd:
»Die Römer haben ihren Ursprung ohne zureichendere Gründe von den Trojanern hergeleitet. Es ist eine Mythe wie jede andere. Aber hinter jeder Mythe steckt irgend etwas …«
»Ganz gewiß steckt etwas dahinter«, klagte Dorothy. »Wir sitzen jetzt schon mehrere Stunden am Ufer dieses herrlichen Toten Meeres und reden immer wieder von denselben Dingen, als ob es unsre eigenen bitteren Probleme nicht gäbe … Dabei ist mein heutiges Tagewerk noch nicht beendet, denn Clayton Jeeves hat mich eingeladen, den Tempelplatz unter seiner Führung zu besichtigen … Ihr seid ja alle besessen von diesem Heiligen Land …«
»Wahrhaftig! Dorothy hat recht«, sagte der Archäologe und ließ sich auf seinen Stuhl niederfallen. »Es ist oft das reinste Déjà vu …«
Ein scharfer Lärm ertönte plötzlich. Alle sahen sich nach diesem Lärm um, den der schweigsame Zuhörer Jeeves mit dem Ausklopfen seiner Pfeife verursacht hatte. Der Schriftsteller erwiderte den fragenden Blick Dorothys mit einem kleinen Lächeln, das ungefähr sagen wollte: Nur keine Teilnahme. Es ist weiter nichts! … Seine Stirne glänzte feucht. Die schwarzen Haare, die ihm in einem seltsamen Dreieck tief in die Stirne wuchsen, waren in Unordnung geraten. Jeeves trug im Gegensatz zu den anderen hellgekleideten Herren einen dunkelblauen Anzug und am linken Ärmel einen Trauerflor, der über den Ellenbogen herabgerutscht war, was ungeschickt, doch auch rührend wirkte. Die unvermittelte Aufmerksamkeit, die er erregt hatte, schien sein Unbehagen noch zu vermehren. Er senkte den Kopf ein wenig. Seine Augenbrauen bildeten einen geraden Balken.
»Hier ist der Ausdruck Déjà vu gefallen …«
Mit diesen Worten beendete Professor Cartwright die kurze Stille. Er nahm endlich den Tropenhut, der ihn schon lange gestört hatte, vom Kopf und legte ihn auf seine Knie, die in weißen Hosen staken. Man sah jetzt, daß sein Schädel wirklich vollkommen haarlos war, vom Scheitel bis zum Nacken. Seine Augenbrauen, die nur als nackte Wülste vorhanden waren, ersetzten zwei feingezogene Schminkstriche. Er glich gewissen Bildwerken ägyptischer Priester.
»Mein lieber Burton«, fuhr Cartwright mit schwach bewegten Lippen fort, »Sie haben von der rätselhaften und kurzlebigen Empfindung gesprochen, die uns dann und wann überkommt, wenn wir einen bestimmten Augenblick, eine bestimmte Situation, die wir gerade durchleben, schon einmal erlebt zu haben glauben. Für einen Augenblick ist die Zeit aufgehoben, das Nacheinander der Welt zerstört. Und darin liegt das Verwirrende, ja Schreckhafte dieses Erlebnisses, das man mit einer unsympathischen Bezeichnung Déjà vu nennt. Sogenannte psychologische Erklärungen gibt es dafür mancherlei. Ich aber hatte die Auszeichnung, mich mit einem sehr weisen Mann des Ostens gerade über diese Erscheinung unterreden zu dürfen … Ist Ihnen im Leben vielleicht schon einmal das Wort Akâsha begegnet?«
Burton schob die Sonnenbrille in die Stirn und kniff seine Augen abwehrend zu:
»Akâsha?! Das klingt stark nach Theosophie …«
»Sehr richtig, Mr.Burton, die Theosophen bedienen sich mit besonderer Vorliebe der Veden. Und Akâsha ist ein kaum übersetzbarer Begriff aus den Veden. Mein sehr weiser Freund hat ihn in der mir unvergeßlichen Unterredung als einen mentalen Stoff definiert, als eine Entfaltung der Uremanation, die unmittelbar der schaffenden Gottheit entströmt, um nach dem Weltgesetz in immer dichtere Zustände hinabzusinken, vom Lichtstrahl etwa übers Wasserstoffatom zu den festen Körpern. Nach der Überlieferung handelt es sich um eine übersinnliche Materie, die ungezählte Weltalter früher, älter und gottnäher ist als das Licht. Mein Freund, der übrigens auch über die vollkommenste wissenschaftliche Bildung verfügt, gebrauchte das Wort Bilder-Äther oder Erscheinungs-Äther …«
Cartwright stockte. Alle hingen an dem kugelglatten Kopf mit den gemalten Augenbrauen. Die unbeteiligte, gleichsam mathematische Ruhe, mit der er sprach, übte bannende Wirkung. Nur Clayton Jeeves hielt mit einer gequälten Drehung sein Gesicht abgewandt, das erstemal während dieser Gespräche. Vielleicht wollte ihm Cartwright für seinen Widerstand eine Rüge erteilen, indem er meinte:
»Es wird gleich klarwerden, wohin ich ziele …«
»Bilder-Äther …« wiederholte Major Shepston, fast stöhnend. Das Wort schien ihn anzustrengen und mit Unruhe zu erfüllen.
»All diese Namen«, gab Cartwright zu, »sind ja nur schlechte Umschreibungen, die das Unvorstellbare ins Vorstellbare ziehen sollen. Wir können uns zum Beispiel ganz gut vorstellen, daß der Lichtstrahl auf seiner hurtigen Fahrt von Stern zu Stern jene Bilder und Ereignisse, die er mit sich trägt, bis zu einem gewissen Grade verewigt oder zeitlos macht. Akâsha aber, diesen übersinnlichen Stoff, können wir uns nicht vorstellen, denn Akâsha ist das Vor-Licht, das Ur-Licht. Nach der Lehre meines Freundes enthält Akâsha in jeder seiner Partikeln alle Erscheinungen und Geschehnisse des Kosmos auf unbegreifliche Weise gleichzeitig und allräumlich. Wenn man sich zu hinkenden Vergleichen entschließt, so könnte man von einem geheimnisvollen Filmarchiv, einer lückenlosen Photomontage, der allumfassenden Chronik, dem kosmischen Protokoll, der ewig vergegenwärtigenden Erinnerung des Weltengeistes sprechen. Da Akâsha weit mehr noch als das Licht alles durchdringt, so durchdringt es auch uns. Auch unser persönliches Gedächtnis besteht nur kraft Akâshas. Ohne Akâsha gäbe es keinen Trieb zur Geschichtsschreibung. Was Sie Déjà vu nennen, lieber Burton, erklärt mein östlicher Freund mit einer plötzlichen Verdichtung Akâshas, die in unserem Geiste vergeblich zu Bewußtsein kommen will …«
»Mir fällt ein Buch ein«, sagte Dorothy Cowell mit halbgeschlossenen Augen, »es heißt ›An Adventure‹ …«
Sie wartete einen Augenblick. Da niemand das erwähnte Buch zu kennen schien, wagte sie sich weiter:
»Zwei Engländerinnen sind die Verfasser. Eine gewisse Anne Moberley; den Namen der andern habe ich vergessen. Ich denke mir zwei alte Damen strenger Herkunft, nüchtern, energisch, über jeden Verdacht von Hysterie und mystischer Schwärmerei erhaben. Sie erzählen demgemäß in einem trocken dokumentarischen Stil, wie sie einst einen Spaziergang durch den Park von Versailles nichtsahnend unternehmen, wobei sie plötzlich auf eine Gruppe von höfischen Schäfern und Schäferinnen stoßen … Die Geschichte spielt, glaube ich, an einem Frühlingstag des Jahres 1905 … Die Hofgesellschaft in der Schäferkleidung des Rokoko ist äußerst real, benimmt sich in keiner Weise gespenstisch, sondern plaudert und scherzt mit unbekümmerter Lebendigkeit. Nichts weist auf ein Phantom hin, obgleich es sich ja zweifellos um ein Phantom handelt, nur um ein gründlich ausgebildetes. Die beiden achtbaren Damen sehen jeden Knopf, jede Spange, jede Schnalle im banalen Tageslicht, sie unterscheiden die Gesichter, sie beschreiben Form und Lage gewisser entschwundener Baulichkeiten, die plötzlich genau dastehen, so zum Beispiel den berühmten Kuhstall Marie Antoinettes … Ihre Angaben werden von Fachleuten überprüft. Alles stimmt auf Elle und Zoll … Seltsamerweise wiederholt sich beim nächsten Besuch der Engländerinnen im Schloßpark das erstaunliche Abenteuer noch einmal … Das Buch hat Aufsehen gemacht … Ich weiß nicht, Mr.Cartwright, ob diese wahre Gespenstergeschichte hierher paßt …«
»Die andre Autorin von ›An Adventure‹ heißt Eleanor Jourdain«, erklärte Professor Cartwright milde. »Ich danke Ihnen, Miß Cowell, Ihre Gespenstergeschichte paßt ausgezeichnet hierher … Es gibt nämlich Örtlichkeiten, die mit Geschichte gesättigt sind, Mittelpunkte der Welt. Dort sammelt sich Akâsha, der geheime Bilder-Äther der Chronik. Dort durchdringt das Gewesene das Seiende und wird eins mit ihm, in lauernder Bereitschaft zur Auferstehung. Vielleicht erklären sich auch unsere Gespräche heute am Toten Meere damit. Denn nirgends durchdringt das Gewesene das Seiende so tief wie hier …«
Major Shepston stützte sein braunes, ausgedörrtes Gesicht düster in beide Hände:
»Demnach ist diese Welt voll von ihren Toten … Zu denken, daß der Mensch einmal durch Mißbrauch jener Chronik zum systematischen Totenbeschwörer werden könnte … Schrecklich … Schrecklich …«
»Sehen Sie nur, ich bitte, sehen Sie dort …«
Dieser hochgestimmte Ausruf kam von Burton, der aufgesprungen war, sich um seine Achse drehte und mit ausgestrecktem Arm in die Landschaft wies. Die Welt hatte sich mit der weiterrückenden Sonne wirklich eindrucksmächtig verwandelt. Die Gebirge des Toten Meeres waren erloschen. Nicht mehr funkelten Bastionen aus Kristall, Juwelentürme aus der Ferne herüber, sondern schiefrige Schatten spiegelten ihre unnennbare Schwermut im Gewässer der göttlichen Strafe. Alles Licht aber sammelte sich über einem nackten schrundigen Felskegel, der sich im Nordwesten der Oase von Jericho erhob. Die Sonne stand gerade über dem Gipfel und verzauberte die Materie des Felsens in ein übernatürliches Schleiergebilde von hauchgrauer Zartheit mit violetten Faltenwürfen. Es war wirklich so, als hätte ein geheimnisvoller Äther, Akâsha gleich, den Stein durchdrungen und entwirklicht.
»Sehen Sie doch den Berg Quarantana«, sprach Burton langsam, »den Berg der Versuchung, auf dem Christus vierzig Tage lang fastete, ehe der Satan zu ihm trat, um ihn zu versuchen …«
Alle schauten und schwiegen. Vielleicht fürchteten sie, jemand werde jetzt etwas sagen, das zu weit ging. Anstatt dessen aber erscholl eine Stimme, die ihre ungeduldige Rauheit kaum bemeistern konnte:
»Ich glaube, wir müssen rasch aufbrechen, wenn wir noch rechtzeitig in Jerusalem sein wollen, Dorothy …«
Clayton Jeeves hatte endlich gesprochen. Auf einmal bekamen auch alle andern Eile. Major Shepston rief den Kellner. Dann ging man über die salzblitzende Ufersteppe des Toten Meeres zum wartenden Wagen. Dorothy Cowell und Clayton Jeeves blieben ein paar Schritte zurück.
»Was haben Sie nur gehabt, heute?« forschte die Frau.
»Nichts«, sagte Jeeves.
»Haben Sie unsere Gespräche so verstört?«
»Ja«, sagte Jeeves.
Sie sah ihn aufmerksam von der Seite an:
»Es ist schwer mit Ihnen …«
Major Shepston besaß einen ziemlich geräumigen Wagen. Da er von seiner Verwundung im Kriege eine Schwäche des rechten Armes zurückbehalten hatte, konnte er ihn nicht selbst führen. Clayton Jeeves hatte schon bei der Morgenfahrt den Wunsch ausgesprochen, vorne beim Lenker zu sitzen. Auch jetzt wählte er, ohne erst zu fragen, denselben Platz. Dorothy Cowell, Cartwright, Burton und der Major konnten daher den durch die Glasscheibe von ihnen Abgesonderten ruhig zum Gegenstand ihres Gespräches machen, ohne von ihm gehört zu werden. Wer weiß aber, ob Jeeves sie gehört hätte, wäre er selbst unter ihnen gesessen. Seine gepeinigte Seele war in ein wirres Selbstgespräch verloren. Die drei Herren wußten von Clayton Jeeves so gut wie gar nichts. Sie hatten ihn ja erst vor wenigen Tagen durch Dorothy Cowell kennengelernt, die sich seiner mütterlich anzunehmen schien. Übrigens war ihr gestern die ehrerbietige Bemerkung entfallen, daß sie in Jeeves nicht nur einen hochbegabten Schriftsteller, sondern einen echten Dichter sehe, wenngleich sich dieses Urteil nur auf ganz spärliche Veröffentlichungen stützen könne. Professor Cartwright und Major Shepston hatten sofort wie zur Abwehr eingestanden, daß sie nicht die geringste schöngeistige Ader besäßen. Burton las zwar mit Vorliebe Gedichte, begnügte sich aber als Altertumsnarr und Ästhet, der er war, mit den Versen von Pindar bis Swinburne und hätte es für eine entehrende Zumutung gehalten, in der neuen oder gar neuesten Literatur bewandert zu sein. Doch nicht die schriftstellerische Begabung war es, die das Interesse der Männer an Clayton Jeeves erweckte. Sein von innen her verschattetes Gesicht, das unmögliche Schweigen heute, dieses eingesponnene Dasitzen, das sich, ohne feindselig zu sein, scharf distanzierte, kurz die beunruhigende Gesamtwirkung seiner Person zwang sie jetzt, aus der gebotenen Reserve ihrer Erziehung zu treten und ganz gegen Art und Gewohnheit Fragen über diesen Fremdling an Dorothy Cowell zu richten. Selbstverständlich war es Burton, der den beiden Älteren die Rolle des Neugierigen abnahm. Es entspann sich also um die Person Jeeves’ ein sonderbares Quintett, in dem er selbst, wenn auch nur als inneren Monolog, die führende Stimme entwickelte. Der Motor, der gewaltige Steigungen zu überwinden hatte, heulte dazu einen wehen Cantus firmus. Und die tragische Öde der Wüste Judäa mit ihren rot- und braungetönten Steinrunzeln, Felswunden, Kanten und Schluchten, ein äußeres Abbild innerer Zerrissenheit, zog als bedeutsame Begleitung vorbei.
Die Wiedergabe eines Selbstgespräches bleibt stets mit einer gewissen Unwahrhaftigkeit verbunden. Der Mensch redet sich selbst weder mit »ich« noch mit »du« an. Der Träger des inneren Lebens ist weder der Gedanke noch das Wort, obgleich auch diese beiden am inneren Leben mitwirken. Lange noch bevor die Seele ihre Spannungen in Sprache umbildet, erleidet sie die unabsehbare Flucht der Bilder. Und auch die Bilder sind bei weitem noch nicht die letzte Schicht der sinnenden Innerlichkeit. Man könnte in der Tat an einen mentalen Stoff, gleich Cartwrights Akâsha, glauben, an ein zartes Grundgewebe, auf dem die Bilder und Vorstellungen des Seelenlebens sich entwickeln. Cartwright aber und die andern im Fond des Wagens dachten jetzt nicht mehr an Akâsha noch auch an jene Gespräche, die der Anblick einer Landschaft aus ihnen hervorgelockt hatte, die an der Grenzmark zwischen Hier und Dort zu liegen scheint. Mit der geistigen Wandlungskraft weltgewandter Leute hatten sie die Metaphysik abgeschüttelt und saßen trockenen Verstandes da. Jeeves allein konnte sich von der Nachwirkung der Gespräche am Toten Meer, denen er die Teilnahme verweigert hatte, noch nicht befreien. Regungslos verharrte er neben dem Wagenführer und blickte geradeaus in Land und Wüste Judäa.
Ich bin krank – mit dieser Einsicht begann der Ablauf seiner Selbstbesinnung –, ich war immer krank, von Kindheit an, aber die Art der Krankheit verstehe ich erst seit gestern, seit meinem Besuch bei dem Nervenarzt in Jerusalem … Wäre ich übrigens ein Hypochonder, ja nur ein gewöhnlicher Kranker, so hätte ich nicht als dreiunddreißigjähriger Mensch gestern zum erstenmal meine Zustände einem Arzte gebeichtet … Mit meiner Mutter habe ich niemals darüber gesprochen … Und Leonora gegenüber habe ich erst kurze Zeit vor ihrem Tode eine Andeutung gemacht … (Merkwürdig, ich gab ihr, als wir uns verlobten, den Namen Leonora, und jetzt als Tote scheint sie vor mir in ihren alten Namen Mildred zurückzuweichen …) Sie war die einzige, die mit mir diese Last getragen hätte, obgleich sie meine vorsichtigen Andeutungen damals nicht sehr ernst nahm … Gewiß, Schwindsucht zum Beispiel wäre eine ärgere Last … Und doch, ich fühle, wie ich von Tag zu Tag immer hoffnungsloser verkohle, wie ich fremder werde, mir selbst und allen andern … Nie wieder werde ich eine Zeile schreiben können, denn das Bewußtsein der Krankheit raubt mir die Teilnahme am Leben … Lächerlich erscheint mir alles, was meine Zeitgenossen ergreift, ihre bohrenden Bücher langweilen mich, sternenweit bin ich von ihnen entfernt … Ist das schon der geistige Tod? … Wie widerlich habe ich mich heute am Toten Meere benommen … Diese Leute konnten ja nicht ahnen, daß sie mit der verfluchten Erwähnung des Déjà vu meine Wunde berührten … Sie konnten nicht wissen, daß mich derartige Gespräche in Furcht stürzen und erbittern … Ich hätte dem Arzt doch erzählen sollen, daß die stundenlange Depression, die mich vor einem Anfall quält, jedesmal mit dem Gefühl zusammenhängt »Das habe ich schon erlebt« und mit der gräßlichen und vergeblichen Bemühung, herauszubekommen, was eigentlich dieses sei, was ich schon einmal erlebt habe … Und heute ist wieder Donnerstag … Die letzten vier Donnerstage nacheinander ist es gekommen, immer gegen Abend … Heute soll es nicht wieder geschehen, darum habe ich mich mit Dorothy verabredet, ihr den Tempelplatz zu zeigen, denn in Gesellschaft ist es noch niemals über mich gekommen … Achtung! Warum bin ich dessen so sicher … Ich bin ja dessen gar nicht sicher … Seit Leonoras Tod, je weiter sie sich von mir entfernt, um so ärger ist es geworden, von Woche zu Woche … In den drei Jahren, die wir miteinander lebten, war ich so gut wie frei davon; hätte ich jene Andeutung nicht gemacht, sie hätte nichts gewußt … Leonora war mein Heil, und vor seinem Heil schämt man sich nicht … Daß ich mich dessen so schäme, ist sehr schlimm … Bin ich nicht geistig eitel genug, mich damit zu trösten, daß es immerhin eine edle Krankheit ist …? Im Altertum hieß sie sogar die Heilige Krankheit. Die größten Menschen litten an ihr, Propheten, der Apostel Paulus, Dostojewski … Sie holten sogar aus dieser Krankheit ihre größte Kraft … Ich hole nur Erschöpfung und Lähmung aus ihr. Doch vielleicht hängt das auch mit dieser geistflüchtigen Zeit zusammen, die sich wie eine wütende Bulldogge in die sogenannte Realität verbeißt und ganz andrer Gesundheiten und Krankheiten bedarf als der meinigen … Der Arzt hat übrigens den Ausdruck »Epilepsie« nicht gebraucht, sondern ihn nur fühlen lassen … Also auch er hat sich vor diesem Wort geschämt … Es ist ja wahr, ich bin noch niemals auf der Straße bewußtlos zusammengebrochen, habe keinen Schaum vor dem Mund, krampfe den Daumen nicht ein … Weniger eine echte Ohnmacht nennt es dieser Doktor, als eine durch Blutleere im Hirn hervorgerufene tiefe »Absence« … Ein schönes Wort, »Absence« … Vielleicht wäre eine pöbelhafte Ohnmacht erträglicher als diese Absence, diese unfaßbare Leere, dieses völlige Um-sein-Ich-gekommen-Sein, das schrecklicher ist als alle Vernichtung … Nein, nein, entsetzlicher Gedanke, Gott helfe mir, nur das nicht, nur keine Ohnmacht, kein Hinfallen heute vor Dorothy … Schon die Angst davor bringt es immer näher, und ich kann nicht wegdenken davon … Wie war es nur damals, als es mich mit sechs Jahren das erstemal überfiel …? Mutter fuhr mit mir in ein kleines Seebad. Der Anblick des Meeres löste es aus, diese ungeheuer bis zur Mitte des Himmels aufgetürmte Gottesmauer … Damals bin ich lange ohnmächtig gewesen … Ein sehr nervöses Kind, sagte die Besitzerin der Pension, wo mich Mutter verzweifelt zu Bette brachte … Ich erinnere mich aber genau, daß es nicht der Anblick allein war, sondern eine Frage dazu, die mich würgte: Warum bleibt dieses Ungeheuer, dieser gewaltige Gott in seinen Grenzen, warum macht er vor einem lächerlichen Sandstreifen halt, warum bricht er nicht vor und packt meine Mutter und mich …? Mein kleiner Geist war durch die finstere Mauer des nordischen Meeres Gottes ansichtig geworden und verging. Damit begann meine Krankheit … Und nun habe ich nach einer Ewigkeit das furchtbare Meergefühl meiner frühen Kindheit in der Bibel wiedergefunden, im Buche Jeremias … Es sind Verse von gewaltiger Schönheit … Ich werde sie jetzt leise vor mich hinsprechen, vielleicht helfen sie mir …
»… Der ich dem Meere den Strand zum Ufer setzte, darin es allezeit bleiben muß, darüber es nicht schreiten darf; und ob’s schon wallet, so vermag es doch nichts; und ob seine Wogen auch toben, so dürfen sie doch nicht darüber hinausfahren …«
Jeeves räusperte sich, denn der Chauffeur blinzelte schon das zweitemal zu ihm herüber. Dann wandte er den Kopf zur Seite, um seine nassen Augen zu verbergen. Der Wagen keuchte und krampfte sich ein besonders steiles Straßenstück empor.
»Wie das, er heißt nicht Jeeves?« fragte Major Shepston, der
Dorothy nicht genau verstanden hatte. Sie machte ihre Eröffnungen mit sehr gedämpfter Stimme, als könnte sie trotz der schalldichten Glasscheibe vorne gehört werden:
»Nein, so ist es nicht. Er heißt natürlich Jeeves … Mr.Jeeves, der zweite Gatte seiner Mutter, hat ihn adoptiert, als er ein dreijähriges Kind war. Er hat niemals einen anderen Namen getragen. Und doch, sein Vater war nicht Mr.Jeeves, sondern ein Mr.Paderborner …«
»Ich habe mir gleich gedacht, daß er trotz seines Namens kein voller Engländer ist«, erklärte Shepston und lehnte sich zurück, als sei eine beunruhigende Schwierigkeit damit befriedigend gelöst. Dorothy Cowell aber sah sich veranlaßt, gewissermaßen Verwahrung einzulegen:
»Ich verrate Ihnen das nicht, um einen Klatsch zu erzählen. Jeeves selbst spricht offen darüber …«
»Solche Dinge kommen vor«, meinte Burton gutmütig.
»Finden Sie, daß er orientalisch aussieht«, erkundigte sich Dorothy, worauf die Herren übereinstimmend urteilten:
»Nicht gerade orientalisch … Aber fremd …«
Dorothy Cowell bekannte mit leichtem Nachdruck:
»Ich finde, er sieht aus wie eine Gestalt aus der evangelischen Zeit … Wie irgendein Jünger auf dem Hintergrund eines italienischen Bildes … Er müßte sich freilich ein kleines Bärtchen wachsen lassen …«
»Und Sie, Miss Cowell«, stellte Professor Cartwright, der neben Dorothy saß, lippenlos und unbeteiligt fest, »Sie dürften mit Mr.Jeeves schon längere Zeit bekannt sein …«
»Länger, als ich eingestehen werde … Wir waren beide noch Kinder, sahen uns oft auf der Straße, denn unsre Familien wohnten in Nachbarschaft … Wirklich kennengelernt aber habe ich Jeeves viel später. In Paris knapp vor seiner Heirat … Wir haben doch einen verwandten Beruf, was er allerdings seinerseits erbittert leugnet.«
Der Wagen hielt mit einem Ruck. Schwarzblau, ein unermeßliches Fallbeil, fuhr der Himmel mit der Schneide des Horizontes in die rings ansteigende Bergwüste. Stimmen drangen her, ein gurgelnder Pilgergesang. Es war eine arabische Prozession, die in bunter Unordnung zum Nebi Musa wallfahrtete, um dort das legendäre Grab Mosis zu verehren. Am Scheitelpunkt der Straße zweigte ein Seitenweg zu jener geheiligten Anhöhe ab, wohin der pilgernde Haufen sich ergoß, dessen Gesang keinem frommen Chor glich, sondern einem wüsten Aufbegehren gegen Allah. Aus dem Gewoge weißer, gelber, brauner Burnusse, aus dem gereizten Tanz von Fez und farbigen Turbanbunden ragte ein fetter Schimmel mit goldgestickter Schabracke hoch, auf dem die unförmige Gestalt eines moslemischen Ulemas im grünen Seidenmantel einherschwankte. Rechts und links des kolossalen Reiters in Dunkelgrün trugen Derwische lichtgrüne Fahnen. Major Shepston, der alte Kenner des Landes, erklärte lachend, die Moslems wüßten genau, daß Mose kein irdisches Grab besitze. Allah aber habe für »die Bequemlichkeit der Rechtgläubigen« gesorgt und die sterbliche Hülle seines ersten Propheten auf den Nebi Musa versetzt, damit sie dort alljährlich zur Passahzeit von den wahren Bekennern verehrt werden könne.
Der wilde Farben- und Stimmenspuk wurde von dem durstigen Grau des judäischen Wüstenmergels schnell eingesogen. Wahrhaftig, diese Landschaft hatte ein in jedem Sinne ausgemergeltes, von einem unfaßbaren Geiste ausgemergeltes Antlitz. Mit erleichtertem Gesang schwebte der Wagen jetzt eine Bodensenkung wie auf einer Schaukel hinab. Rechts und links schossen aus dem allgemeinen Trümmerhaufen der Verzweiflung gezackte Blöcke, Turmruinen gleich. Professor Cartwright entschied gelassen:
»Nur hier und an keiner anderen Stelle der Welt sonst hat die Idee der Sünde gefaßt werden können …«
Jeeves saß noch immer regungslos wie zu Beginn der Fahrt. Er blickte nicht rechts und nicht links, nahm keine Erscheinung zur Kenntnis, schien nichts zu bemerken wie ein Eingeborner, dessen Augen keine Überraschung erwarten. Das, was in ihm vorging und was in vergröbernder Weise ein Selbstgespräch genannt wird, hatte auch durch die arabische Wallfahrt, durch das Anhalten des Wagens und die lebhaften Stimmen seiner Insassen keine Unterbrechung erfahren:
Nun bin ich in diesem Lande – so arbeitete es in ihm –, und ich habe doch niemals daran gedacht, in dieses Land zu gehen … Verrücktes Schicksal! … Nein, das Schicksal ist gar nicht verrückt, nur wir sind verrückt und blödsinnig und blind … Wenn