Unsere Welt ist komplizierter geworden. Immer mehr Eltern schaffen es nicht alleine, ihre Kinder auf dem Weg in ein selbständiges Leben zu begleiten. Sie brauchen Hilfe!
Das Heidelberger Modell der Sozialpädagogischen Familien- und Erziehungshilfe hat solche Hilfen entwickelt.
Der Erfolg ist offensichtlich!
Dieses Buch gibt die Möglichkeit, alle Interessierten an den Erfahrungen teilnehmen zu lassen, in einem regen Gedankenaustausch diese Erfahrungen zu bündeln und ihre Effizienz zu überprüfen.
Die Qualität der Familienbeziehung entscheidet auch über Integration oder Isolation. Soziale Ausgrenzung ist ein häufiger Grund für kriminelles Verhalten. Daher ist jeder von der Qualität der familienorientierten Hilfe abhängig – denn
Wir sitzen alle in einem Boot!
Prof. Dr. Marga Rothe
30 Jahre ist es her, da schlossen sich in Heidelberg die Jugendämter der Stadt Heidelberg, des Rhein-Neckar-Kreises und die Fachhochschule für Sozialwesen der Stiftung Rehabilitation zusammen, um Hilfen für Familien zu entwickeln und zu erproben. Anlass war die im Rahmen der Jugendhilferechtsreform anstehende Diskussion um die stärkere Beachtung der familienorientierten Hilfen.
So entstand im Laufe von 30 Jahren das Heidelberger Modell der Sozialpädagogischen Familien- und Erziehungshilfe, das seiner hohen Effizienz wegen immer mehr Anhänger findet.
Das SGB VIII gibt den familienunterstützenden und familienergänzenden Hilfen eindeutigen Vorrang vor den familienersetzenden Hilfen. Das beruht auf einem Einstellungswandel, der überfällig war – denn die Familie ist die »Keimzelle« der Gesellschaft. Sie bietet das Fundament für den Erhalt der Gesellschaft. Hier werden die Werte vermittelt für das Zusammenleben, für Miteinander oder Gegeneinander, für konstruktives oder destruktives Verhalten, für Motivation oder Interessenlosigkeit.
Wer vermittelt der jungen Generation die Werte, die für das Wie und für das Ob des Weiterbestehens einer humanen Gesellschaft entscheidend sind? Kann diese Aufgabe den Eltern alleine überlassen werden oder brauchen sie Hilfe und Unterstützung bei dieser bedeutenden und spannenden Aufgabe?
In vielen Familien sind genügend Ressourcen und Fähigkeiten vorhanden, um den Alltag auch für die Kinder »familiengerecht« zu gestalten. Aber nicht immer schaffen es die Eltern alleine.
Sie brauchen die Hilfe der gesamten Gesellschaft, sie brauchen Mit-Menschen, die durch Vorbild und Liebe den Erziehungsprozess begleiten, das Hineinwachsen der jungen Generation in diese Welt – sie brauchen uns alle! Besonders aber sind die Kräfte gefragt, die in pädagogischen Bereichen jedweder Provenienz tätig sind.
Sozialpädagogische Familienhilfe ist nicht das Produkt von »Machen«, sondern von »Zulassen« dessen, was vorhanden ist, denn jeder Mensch ist etwas Einzigartiges und Besonderes. Die Frage ist, welche Hilfestellung können wir leisten, damit das Einzigartige zur Entfaltung kommen kann.
Was also können wir dazu beitragen, dass die Eltern ihre verantwortungsvolle Aufgabe auch erfüllen können? Eltern brauchen mit unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlichen Formen Begleitung und Unterstützung bei ihrer verantwortungsvollen Aufgabe.
Das SGB VIII bietet »Hilfen zur Erziehung« an. Die gesetzlichen Grundlagen stehen fest, aber ihre Ausfüllung bedarf der Interpretation und vor allen Dingen der Mit-Menschlichkeit und des Verantwortungsbewusstseins der »Beauftragten«.
Gegenüber den familienersetzenden Hilfen sparen die familienunterstützenden Hilfen in der Tat Kosten und das ist auch nicht unwichtig bei der heutigen Finanzlage. Aber sie sparen nicht nur Kosten, sondern sie fördern auch das Verantwortungsbewusstsein und das Engagement der Eltern. Sie bieten bei richtiger Handhabung die Chance, »den Eltern zu helfen gute Eltern zu sein«.
Die Erfahrung mit diesen Hilfen zeigt erfreulicherweise, dass – fast – alle Eltern gute Eltern sein wollen. Viele Eltern schaffen es aber nicht alleine, weil sie in ihrer Kindheit und Jugend nie erfahren haben, wie man das macht. Hier gilt es, die Lernbereitschaft der Eltern zu wecken und ihre vorhandene Liebe zu den Kindern in Handeln umzusetzen.
Um unsere Zukunft und vor allen Dingen die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen zu sichern, müssen wir über den Tellerrand des Eigeninteresses hinausschauen und zur Kenntnis nehmen, dass die Zeit reif ist! Wir müssen gemeinsam handeln mit Politikern, Schulen, Jugendhilfe und im Gemeinwesen engagierten – ehrenamtlichen – Kräften, mit Vereinen und anderen Gruppierungen. Ziel ist die Integration von Eltern, Kindern und Jugendlichen in das Gemeinwesen. Voraussetzung dafür ist das Entdecken und Fördern ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten.
Wir müssen unsere fachliche Kompetenz, unser Knowhow, austauschen, bündeln und umsetzen. Wir müssen aber auch unternehmerisch, d. h. kostenbewusst, handeln, und wir müssen auch – und nicht zuletzt – politisch denken.
Dann wird mit unserer vor Ort gesammelten Erfahrung die Familienpolitik in die richtige Richtung gehen.
Alle in den familienorientierten Hilfen Engagierten sind in herausragender Weise Gestalter und Erhalter der Zukunft. Deshalb sollten wir nicht zu bescheiden sein, unsere Aufgabe darzustellen und zu vertreten. Aber wir sollten es gemeinsam tun! Nur im Miteinander sind wir stark. Kooperation statt Konkurrenz, das muss die Devise sein!
Die theoretischen Grundlagen und die in vielen Jahren entwickelten Grundsätze und Methoden des Heidelberger Modells haben sich in der Praxis bewährt. Sie finden in der Sozialpädagogischen Familienhilfe und in der Familienorientierten Schülerhilfe ihre Praktische Umsetzung.
Aufgabe der Sozialpädagogischen Familien- und Erziehungshilfe ist es nicht nur, verschüttete Ressourcen und Fähigkeiten zu entdecken, sondern auch – und besonders – die Zielorientierung der Ressourcen und Fähigkeiten zu verändern: weg von Ausgrenzung und Isolation, hin zur Integration.
Dies muss mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Geduld geschehen, denn diese Veränderungen sind nur dauerhaft, wenn sie nicht nur auf Druck von außen beruhen, sondern auf der – gemeinsam erarbeiteten – Erkenntnis über die Attraktivität der »neuen« Ziele. Das gilt sowohl für Ziele, die sich der Einzelne setzt, als auch für Ziele, die sich die Familie gemeinsam z. B. im Selbsthilfeplan setzt.
Die Netzwerkintervention und die Soziotop-Analyse (Rothe 2013, 7. Auflage, Seite 68ff.) sind hervorragende Mittel zum Entdecken von Ressourcen und Fähigkeiten und für das Einbeziehen von »Verbündeten«, die in der Lage sind, verschüttete oder fehlgeleitete Ressourcen und Fähigkeiten der Familie zu ergänzen und zu aktivieren. Die Verbündeten werden in die Planung einbezogen und erhalten einen Platz im Selbsthilfeplan. Die Ziele der Familie können nicht im Schnellverfahren umprogrammiert werden. Hierzu bedarf es der auf einer Einstellungsänderung basierenden Einsicht. Die Ziele sollten sich immer an dem orientieren, was für die Familie einen hohen Wert darstellt, also an dem, was auch bisher Motivation zum Handeln war.
Eine von außen aufgegebene Zielsetzung, die zudem noch im Gegensatz steht zu den Werten und Zielen der Ursprungsfamilie, der Jetzt-Familie und/oder des sozialen Umfel des, legt nicht genügend Selbsthilfekräfte frei, um sie später auch ohne Begleitung weiterzuverfolgen.
Viele Ressourcen, Fähigkeiten und Aktivitäten von Familienmitgliedern gehen ohne böse Absicht, aber durch Unerfahrenheit oder in Unkenntnis des »richtigen Weges« in falsche Kanäle. Diese falschen Kanäle sind regelrechte »Ressourcenschlucker«. Das »Recycling« ist – wenn überhaupt – nur mit viel Einfühlungsvermögen und nur langfristig möglich. Eine fachlich noch so »abgesicherte« Hilfe unter Zeitdruck kann enorme Folgekosten verursachen, weil sie eine Lösung des Problems nur vorgaukelt. Je länger der »Ressourcenschlucker« schon in Aktion ist, je länger die in die Isolation führenden Verhaltensweisen schon praktiziert werden, umso länger dauern die Verhaltensänderungen.
»Powern« bringt nur kurzfristige, situative Veränderungen, aber keine Einstellungsänderungen. Diese sind aber unabdingbar, wenn langfristige »Erfolge« erzielt werden sollen. Alles andere ist nur ein »Aufschub«, der vorgibt, es sei eine Lösung gefunden. Weder das Problem noch die Kosten sind dadurch auf Dauer »bereinigt«. Ein orientalisches Sprichwort sagt: »Alte Gewohnheiten sollte man nicht zum Fenster hinauswerfen, sondern wie gute Bekannte langsam zur Türe hinausgeleiten«.
Der Bedeutung der Alltagsbewältigung als Voraussetzung für eine dauerhafte Integration wurde bisher zu wenig Beachtung geschenkt. Keine noch so fundierte Beratung kann auf die Alltagsbewältigung als Voraussetzung für die Umfeld-Akzeptanz und Integration verzichten. Die »logische Kette« ist relativ simpel und an einem Beispiel zu verdeutlichen:
Die Kinder dürfen bei der Integration nicht durch mangelnde Körperhygiene oder ungepflegte Kleidung erheblich von den anderen abweichen. Eine gelingende Integration geht immer mit Akzeptanz der Person einher. Weil Kinder allein durch die äußeren Umstände schon sehr früh Ablehnung erfahren, haben sie später häufig den ganzen Tag ihren Radar eingeschaltet »Wer will mir was …«. Dieser Radar verhindert jede natürliche Kommunikation, fördert die Aggression und führt so ohne jedes weitere Zutun zu Isolation und Ausgrenzung. Damit schließt sich, wegen mangelnder Fähigkeit der Eltern, den Alltag zu bewältigen, ein schwer zu durchbrechender Teufelskreis. Die nicht beherrschte Alltagsbewältigung der Eltern, die dadurch erzeugte Ablehnung und mangelnde Bestätigung führen zum grundsätzlichen Kampf gegen die als feindlich erlebte Umwelt. Der Ursprung dieser Ablehnung wird häufig später nicht mehr erkannt. Oft werden die Folgen bearbeitet mit teuren sozialarbeiterischen oder psychologischen und/oder strafrechtlichen Mitteln, ohne dass die einfache Verursachung beachtet wird. So wiederholt sich trotz aller teuren Maßnahmen für die Kinder dieser Kinder der gleiche Teufelskreis.
»Vorbild ist nicht etwa nur eine Möglichkeit, Menschen zu beeinflussen, es ist die Einzige.«
Goethe
Wenn an der Alltagsbewältigung so viel liegt, weshalb müssen dann sozialpädagogisch versierte Fachleute tätig werden? Wäre es dann nicht sinnvoller, z. B. eine versierte Haushaltshilfe mit Herz einzusetzen?
Für eine gewisse Zeit kann das erfolgreich sein. Da aber eine Verhaltensänderung notwendig ist, der eine Einstellungsänderung folgen muss, wird der »Erfolg« nur von kurzer Dauer sein. Sinnvoll wäre vielleicht in einigen Familien eine Kombination beider Hilfen: eine liebevolle Anleitung zur Alltagsbewältigung und eine (fachlich fundierte) Anleitung zur Einsicht in die Sinnhaftigkeit des Tuns und in die Folgen des Unterlassens.
Hierbei ist nicht immer nur der einfache lineare Zusammenhang zwischen Tun und Unterlassen – gemeinsam mit der Familie – zu erarbeiten: Schmutzige Kleidung und ungepflegtes Äußeres gleich Ablehnung in Schule und sozialem Umfeld, sondern der gesamte Zirkel aus Fakten, Verhalten und Folgen.
Erfolgreiche Hilfe für Familien, für Kinder und Jugendliche kann immer nur geschehen im Zusammenwirken mehrerer Kräfte, im Ausschöpfen aller vorhandenen Ressourcen der Familie, des sozialen Umfeldes etc. und einer mit Familien, Kindern und Jugendlichen gestalteten Zukunftsplanung/Zukunftsvision.
Professionelle Hilfen sollten von Anfang an bedenken, dass ihr Auftrag zeitlich begrenzt ist. Es kommt darauf an, mit viel Einfallsreichtum und Kreativität Familien zu aktivieren, eigene Initiativen zu entfalten. Es gilt, vorhandene Ressourcen zu entdecken, die Kommunikationsfähigkeit soweit zu fördern, dass Akzeptanz entsteht und Integrationsmöglichkeiten im formellen und informellen Bereich wahrgenommen werden können.
Die gemeinsame Entdeckungsreise zu den Ressourcen der Familien, Kinder und Jugendlichen muss immer von dem Grundsatz geleitet sein nicht Für, sondern Mit, Weg vom Machen – hin zum Zulassen dessen, was an Potential in jedem Menschen vorhanden ist und gestaltet werden will, wenn es nur zugelassen wird.
Der Familienhelfer ist also für eine begrenzte Zeit Animateur, Koordinator und Organisator, der die »Zukunftsvision« der Familie, des Kindes, des Jugendlichen anregt und zulässt. Er vermittelt Vertrauen in die Fähigkeiten des Einzelnen, hilft bei der Entdeckung der Ressourcen und koordiniert für eine begrenzte Zeit die Möglichkeiten des Einzelnen und der Familie in Bezug auf die gemeinsame Zukunftsgestaltung.
Entzieht sich ein Familienmitglied konsequent der Mitarbeit oder stört sie längerfristig, dann muss nach anderen Möglichkeiten der Hilfe für die Familie oder für das einzelne Familienmitglied gesucht werden.
Die Ausgliederung aus der Familie sollte aber immer den treffen, der das ausgrenzende Familienschicksal verursacht und beeinflusst, d. h. hier sollte der Täter (z. B. bei Gewalt oder sexuellem Missbrauch) entfernt werden und nicht die Opfer: häufig Frauen und Kinder! Leider geschieht dies nicht mit der notwendigen Konsequenz. So werden nicht selten Opfer wie Täter behandelt.
Sozialpädagogische Familienhilfe im Sinne des SBG VIII ist eine fachlich fundierte, auf den Einzelfall abgestimmte mit der Familie geplante Hilfe.
Der Sozialpädagogische Familien- und Erziehungshelfer ist immer auch Koordinator und Organisator der formellen Kontakte der Familie und fördert gleichzeitig den Ausbau der informellen Kontakte der Familie (Verwandte, Freunde, Vereine etc.).
In Bezug auf die formellen Kontakte ist er Interpret der zum Teil unterschiedlichen und sich widersprechenden »Botschaften« und »Aufträge«.
Sozialpädagogische Familienhilfe muss den gesetzlichen Auftrag des SGB VIII erfüllen. Das bedeutet, sie muss bestimmten Anforderungen an Fachlichkeit und Qualität genügen, genauso wie das bei »anderen Hilfen zur Erziehung« vorausgesetzt wird.