Sexuellen Missbrauch
verstehen, behandeln
und verhindern
Norbert Nüchter
Sexuellen Missbrauch verstehen, behandeln und verhindern
Ein Ratgeber für Betroffene und die therapeutische Praxis
Redaktion: Wiebke Lange, geb. Nüchter
© Tectum Verlag Marburg, 2013
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-3145-2 im Tectum Verlag erschienen.)
eISBN: 978-3-8288-5667-7
Mobi ISBN: 978-3-8288-5668-4
Umschlagabbildung: © shutterstock.com, luxorphoto
Bildnachweis S. 8: Illustration »Abconterfeytung und Erklerung
des Clevischen Ritters S. Jörgens«, 1614 – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ausschnitt_23_675171Y.jpg?uselang=de
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Lys Kroehnert: Planstelle Drachentöter
1. Einleitung
2. Die Macht des sexuellen Missbrauchs
2.1 Zuneigung und Liebe, Angst und Ablehnung
2.2 Die Rolle des Vaters als Täter
2.3 Die Rolle der Mutter als Mittäterin
2.4 Die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Opfers
3. Wie Kinder Missbrauch erleben
3.1 Nadine
3.2 Der Mehrfachfall
3.3 Janine und Jacqueline
3.4 Die Folgen werden oft erst im Erwachsenenalter bewusst – Nina
3.5 Selina
3.6 Britta
4. Das Opfer, die Erinnerungen, das Erlebte
4.1 Die psychischen Folgen des sexuellen Missbrauchs
4.2 Auswirkungen auf Beziehungen, Partnerschaften und Sexualität
4.3 Den eigenen Körper wiederfinden
5. Therapien
5.1 Techniken der Behandlung
5.2 Somatoforme Auswirkungen von Missbrauch
5.3 Therapieerfahrungen
6. Therapiekonzept nach Dr. phil. Norbert P. Nüchter
6.1 Wissenschaftlicher Hintergrund
6.2 Therapiebeginn
6.3 Explorationsphase
6.4 Therapie: Analytische Sexualtherapie
6.5 Aufbruch
6.6 Exkurs
6.7 Vorbereitung der Konfrontation
6.8 Konfrontation
6.9 Nacharbeit
7. Appelle
7.1 Kinder
7.2 Angehörige
7.3 Menschen aus dem Umfeld
7.4 Täter und Täterinnen
7.5 Unsere Gesellschaft
8. Forderungen an die Gesellschaft
Literatur
In Erinnerung an meinen Vater,
der dieses Buch leider nicht mehr
selbst veröffentlichen konnte.
Du warst mir immer eine große Stütze.
Ich vermisse dich.
In Liebe deine Tochter Wiebke.
Es war einmal vor langer, langer Zeit –
Da musste eine kleine, zarte, liebenswerte Prinzessin mit dem Haar und einem Gemüt von strahlendem Sonnenschein, als sie noch ganz klein war, bei der bitterbösen Königin, dem gleichfalls fiesen König und mit dem Arschloch Prinzen zusammen leben. Die alle drei taten den lieben langen Tag nichts anderes, als der kleinen Prinzessin ganz fürchterlich weh. Sie gaben ihr nur all ihre Bösartigkeiten und ihre Grausamkeiten.
Als die kleine Prinzessin größer wurde, packte sie ihre goldene Kugel ein und machte sich auf den Weg weit, weit weg von dort. Aber egal wie weit sie ging, was auch immer sie tat, egal wie sie umherzog und sich selbst versuchte zu verirren und sich selbst zu verarschen Mühe gab – um zu vergessen, sie kam einfach nicht Ruhe. Der böse Fluch ihrer schwebte wie eine Gewitterwolke über ihr. Und ließ sie viel Schwachsinn produzieren.
Eines Tages traf die Prinzessin auf ihrem Weg einen sehr alten und noch viel weiseren Mann. Der riet der Kleinen: »Glaub wieder an das, was dir von Geburt an mitgegeben wurde und nimm, was dir zusteht! Hab Mut und gehe zurück, räum den Laden endlich auf!«
Die kleine Prinzessin hatte schreckliche Angst – den ganzen, weiten, langen, beschwerlichen Weg zurück? Aber doch: Das Licht in ihrem Herzen und ihr Glaube an die Liebe und die Freiheit standen ihr bei. (Hilfreich war ihr auch ihr unbeugsamer Trotzkopf ...)
Drei lange Jahre erklomm sie schwindelerregende Höhen und stieg hinab in zerklüftete Täler. Durchschritt stinkenden Moloch und wandelte durch Landschaften voll unvorstellbarer Gefährlichkeiten. Sie trotzte allen Unwegsamkeiten. Manchmal jedoch dachte die kleine Prinzessin, sie würde daran sterben müssen – und wollte nur allzu oft aufgeben.
Doch eines Tages war es endlich soweit!
Die kleine Prinzessin war angekommen, immer noch von zarter Gestalt, aber sie wusste hervorragend mit ihrem goldenen Schwert umzugehen:
Der Königin schlug sie mit einem gekonnten Schlag den Kopf ab, deshalb muss sie ihn noch heute immer unterm Arm tragen. Das sieht sehr doof aus!
Dem König bohrte sie ein riesiges Loch in den Bauch, so dass ihm noch heute das Gedärm hinderlich beim Gehen ist.
Und für den Arschloch Prinzen überlegte sie sich eine besondere Raffinesse, sie hängte ihn kurzerhand an einem Pfahl kopfüber an den Eiern auf.
(In der Psychologie sprechen wir hier von: KONFRONTATION).
Und als ihr Werk endlich vollbracht war, geschah etwas ganz, ganz, ganz Besonderes:
Der kleinen Prinzessin wuchsen die wunderbarsten, prächtigsten und schönsten schneeweißen Flügel, die man sich nur denken kann. Die kann nicht jeder sehen, nur wer sich die Mühe macht und sehr genau hinsieht …
Heute ist die Prinzessin erwachsen. Und stolze Königin in einem sehr schönen, fruchtbaren und friedlichen Land.
Alles soll so schön bleiben.
Aber manchmal kommen kleine idiotische Gnome, Kobolde und andere Freaks an die Burgtür und wollen mit der Prinzessin essen gehen. Das will die Prinzessin zwar auch gerne, aber weil sie neben ihrer Schönheit auch mit Klugheit gesegnet ist, weiß sie, was die Idioten wirklich wollen: Sie wollen sie dem widerlichen Beziehungsdrachen in den Rachen schmeißen!
Vielleicht ist die Prinzessin verrückt, aber doch bei Verstand!
Sie will ihre wunderschönen Flügel nicht eintauschen gegen eine derartige Lebensführung. Dieses Klebezeug würde ihr die Flügel ruinieren. Sie will sein, was ihrem Wesen entspricht. Eine Prinzessin ist keine gute Fee, die anderen alberne Wünsche erfüllt, das versteht doch wohl jede hohle Nuss. Die Prinzessin würde einen jämmerlichen Tod durch Ersticken sterben müssen. (Auch verstehen diese Idioten nicht, dass eine Prinzessin außer Stande ist, Männerunterhosen zu waschen. Flügel gegen Putzlappen und Scheuermilch, Kartoffeln schälen im dunklen Kerker. Die Prinzessin ist doch nicht bekloppt!).
Und deshalb wünscht sich die Prinzessin einen Ritter, der sie beschützt vor solch fiesen Gräueltaten und dem Untier. Sie hat wirklich erbärmliche Angst vor diesem Drachen! Deshalb schrieb sie eine Stelle aus. Bei so einer Planstelle hat man nicht wirklich viel zu tun. Außer die Prinzessin vor dem dreckigen Drachen zu beschützen, des lieben Burgfriedens willen, und das ist außerdem sehr angenehm. Und geht ungefähr so:
SMS: »Lieber Drachentöter, ich bin so froh, dass es DICH gibt!«
Antwort: »Liebe Prinzessin, ich freue mich sehr auf dich und freue mich schon auf unsere Begegnung. Ich brauche nur ein wenig Zeit. Die Erinnerung an unsere Stunden erwecken in mir Traumbilder der Spontanität und der ungezügelten Leidenschaft. Schon lange habe ich keine Frau mehr kennengelernt, mit dem Temperament einer Stange Dynamit – Miss TNT, ich freue mich auf dich!«
Dein candle in the wind«
Für die Prinzessin klingt und fühlt es sich so beruhigend an wie:
»Meine kleine Prinzessin, keine Angst – alles ist gut! Du kennst doch mich! Wir wollen frei und leicht sein, lachend, ein Fest feiern bis das Morgen uns einholt. Und ich kann und werde alle Drachen für dich töten!«
Dann ist es im ganzen Land so schön friedlich und die Prinzessin entzückt!
Dies ist die wunderschönste Geschichte, die ich kenne, weil es meine Geschichte ist!
Hintergrund
Warum jetzt dieses Buch? Sexueller Missbrauch ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema. Da, wo er stattfindet, bleibt er oft im Verborgenen.
Täter bedrohen ihre Opfer: emotional, mit Gewalt, Verlust, Liebesentzug oder unerträglichen Szenarien. Die Angehörigen, Mütter, Großeltern, Väter, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher schauen weg. Einerseits, weil es sie dann nicht betrifft und andererseits, weil man keinen Ärger haben will und man ja auch gar keine Beweise hat. In vielen Fällen kommt es nicht einmal zu einer Anzeige.
Verkehrte Welt
Erschwerend kommt hinzu, dass die Schuld nicht beim Täter, sondern beim Opfer gesucht wird, was sich schon deshalb anbietet, weil die meisten Opfer sich selbst schuldig fühlen. Oft wird von Verführung durch das Opfer gesprochen, der sich der Täter nicht entziehen konnte. Die notwendigen Aussagen bei der Polizei und vor Gericht schrecken viele Opfer schon im Vorfeld ab, denn es ist von Scham und Schuld besetzt, über die oft erniedrigenden Erlebnisse zu sprechen.
Selbst in vertrauensvollen Therapiesituationen fällt es schwer, Erlebtes wiederzugeben. Die Ereignisse und Gefühle, die mit Missbrauchssituationen einhergehen, zwingen die Opfer in vielen Fällen dazu, das Geschehene zu verdrängen. Dazu kommt es, wenn das Erlebnis so schmerzhaft ist, dass es für das Opfer völlig unerträglich ist. Es muss durch die Verdrängung »ungeschehen« gemacht werden, weil das Opfer glaubt, sonst »verrückt« zu werden.
Die Belastungen der Opfer, die sich für eine juristische Verfolgung der an ihnen vollzogen Straftaten entscheiden, sind enorm: Zunächst werden sie – im Gegensatz zum therapeutischen Setting – dazu gezwungen, möglichst viele Details, Daten und Orte zu erinnern. Die Therapie trachtet stattdessen danach, das Erleben der Situation hervorzubringen. Weil die strafrechtliche Verfolgung dem Täter die Tat nachweisen muss, wird das Opfer unter enormen Druck gesetzt und oft sehr beschämenden und verletzenden Prozeduren unterzogen. Die Aussage des Opfers ist meistens der einzige Beweis, vor allem wenn nur mangelhafte oder keine Tatspuren vorhanden sind, was der Regelfall ist. Sollte das Opfer psychisch oder geistig krank sein, ist es notwendig, dass ein Glaubwürdigkeitsgutachten von einem Sachverständigen die Beweise absichert (Giernalczyk in Fliß und Igney, 2008, S. 347). Die Strafen für die Täter fallen am Ende meist sehr milde aus. Sie kommen oft mit einer Geldstrafe davon.
Mehr Aufmerksamkeit für das Thema
Zeichen dafür, dass die Bedeutung von Missbrauch und Misshandlung im Laufe des 20. Jahrhunderts weiter ins gesellschaftliche Bewusstsein gelangt sind, lassen sich in folgenden Veränderungen finden: 1976 in dem Inkrafttreten des Opferentschädigungsgesetzes (OEG), in den Gesetzesänderungen, die Vergewaltigung in der Ehe als Straftat anerkennen (1996), in dem Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung (2000), im Gewaltschutzgesetz von 2002 und im Inzestverbot im engeren Sinne (§173 StGB). Damit sind drei Vorstellungen in das Strafgesetzbuch eingegangen, die Schutz vor der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung gewährleisten sollen: Missbrauch von Abhängigen, von Kindern und sexueller Missbrauch unter Anwendung von Gewalt (Hirsch, 1999, S. 7 f.).
Doch all diese Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus, betrachtet man Statistiken, die sich mit sexuellem Missbrauch beschäftigen: Die meisten Täter treffen nicht, wie es die Nachrichten darstellen, zufällig auf ihre Opfer, vielmehr stammen sie meist aus dem familiären Umfeld oder dem engen Bekanntenkreis. Sexuelle Gewalt findet häufig im Zusammenhang mit Alkoholismus statt und durch Männer, die schnell aggressives Verhalten zeigen.
Tätergruppen
Die folgende Grafik zeigt, dass mit 34% die Väter die häufigsten Täter sind. Die anderen Tätergruppen liegen zwar relativ weit dahinter zurück, stellen aber trotzdem eine nicht zu vernachlässigende, erhebliche Bedrohung für die Opfer dar.
Dauer
Auch die Dauer des sexuellen Missbrauchs erstaunt: So ist davon auszugehen, dass Kindesmissbrauch überwiegend in einem Zeitfenster von 3 Jahren stattfindet. Berücksichtigt man die gravierenden Entwicklungen, die Kinder und Jugendliche in einem Zeitraum von drei Jahren durchmachen, erhält man eine Vorstellung von der Einwirkung, die Missbrauchserfahrungen auf die weitere Entwicklung haben.
Am häufigsten sind Kinder innerhalb der Pubertät, also im Alter von 11 bis 16 Jahren (52%), betroffen. Kinder vor dem Beginn der Pubertät, also 10- bis 14-Jährige, sind zu 32% betroffen, bis 10 Jahre zu 16% bezogen auf alle Missbrauchsfälle. (Quelle: Völker, 2002, S. 43)
Der Schaden, der durch sexuellen Missbrauch verursacht wird, ist so vielschichtig und umfassend, dass man ihn oft kaum in Worte fassen kann. In der Literatur wird u. a. von sexueller Nötigung, Seelenmord und der Zerstörung der menschlichen Würde des Kindes gesprochen. Haines (2001) vertritt die Meinung, dass die Täter versuchten, ihr/ihm (dem Opfer) etwas zu nehmen, was sie selbst längst verloren hätten. (Wenn sie es denn je gehabt hatten). Haines meint damit, dass die Täter im verächtlichen Umgang mit den Opfern Gefühle in diesen hervorrufen wollen, die sie selbst sehr gut kennen. Das emotionale Gegenstück kann als positives Gefühl (Liebe) erkannt werden, was der Täter dem Opfer nehmen will.
Keine Frage sozialer Schichten
Die sexuelle Gewalt des Missbrauchs findet unabhängig von Verdienst oder gesellschaftlicher Stellung in den Familien statt. Besonders schwerwiegend ist der sexuelle Missbrauch in Form von Inzest. Hier spielt die Trennungsangst aller Familienmitglieder eine bedeutende Rolle für die Beziehungsdynamik. Es existiert eine klare Unterscheidung zwischen außen und innen (Familie). Außenkontakte werden nicht zugelassen, beziehungsweise strikt verboten oder kontrolliert. Das 18. Lebensjahr stellt in diesem Zusammenhang eine magische Grenze dar, weil die Kinder aufgrund einer Ausbildung oder Partnerschaft eventuell das Haus verlassen. Bei Trennung der Familie kommt es häufig zu Todesfällen oder Selbstmord in der Familie (z. B. des Vaters).
Inzest wird von Weinberg in drei Gruppen eingeteilt:
•Promiskuitive Familien
Multipler Inzest in der Familie, in der Regel mit Gewalt und Misshandlung. Wichtig: Der Vater unterhält auch außerhalb der Familie sexuelle Aktivitäten.
•Endogamische Familien
Inzest wird oft als überraschend von der Umwelt empfunden, in sich geschlossene Familie, keine physische Gewalt außer bei Eifersuchtsanfällen des Vaters, Familie sozial unauffällig.
•Pädophile Familien
Inzest beginnt vor der Pubertät der Kinder.
(Hirsch, 1999, S. 78, mit Bezug auf Weinberg, 1955)
Strafrechtliche Bestimmungen verfolgen das Ziel, Kinder und Abhängige vor sexueller Misshandlung zu schützen und die allgemeingültigen Moralvorstellungen zu bewahren, wobei dieses Ziel bei weitem noch lange nicht erfüllt ist und der letzte Aspekt aufgrund seiner religiösen Begründung darüber hinaus fragwürdig ist (Hirsch, 1999, S. 7).
Frauen, die als Kinder oder Jugendliche Gewalt erlebt haben, erleben auch später doppelt so häufig Gewalt, als Frauen, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben. Sie entwickeln sich zu Perfektionisten oder leben im Chaos. In der Kindheit werden sie als Musterschüler oder Problemkinder wahrgenommen.
Roseanne Arnold sagte in der Talkshow Oprah:
Wenn jemand Sie fragt: »Sind Sie als Kind sexuell missbraucht worden?« gibt es nur zwei mögliche Antworten: Die eine lautet »Ja« und die andere »Ich weiß es nicht«. Sie können nicht mit »Nein« antworten (Loftus und Ketcham, 1995, S. 231).
Gesellschaftliche und individuelle Verantwortung
Solange solche Aussagen in unserer Gesellschaft einen Wahrheitsgehalt besitzen, sind die Gesellschaft, der Staat und vor allem Familienmitglieder, Bekannte und Freunde – also wir alle – gefordert, unseren Mitmenschen und vor allem unseren Kindern mehr Beachtung zu schenken, um Hilfe leisten zu können, wenn sie gebraucht wird.
Dieses Buch soll einen Einblick in die Folgen sexuellen Missbrauchs geben und die Scheu, sich mit so einem »unangenehmen« Thema zu beschäftigen, mindern. Es ist dringend notwendig, dass sich unsere Gesellschaft mehr mit dem Thema »Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen« auseinandersetzt, stellen doch diese Kinder und Jugendlichen unsere sprichwörtlich gewordene Zukunft dar. Sie gehen zukünftig Partnerschaften ein, gründen Familien und erziehen und umsorgen ihre Kinder.
An erster Stelle wendet sich dieses Buch an die vielen Opfer, die ermutigt werden sollen, nicht aufzugeben, wenn die Vertrauensperson (z. B. die Mutter) ihnen nicht glaubt. Es wendet sich an die Vertrauenspersonen, also die Mütter, Väter, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Verwandten oder Freundinnen und Freunde, die es ermuntern soll, sich einzumischen. Es wendet sich an die Therapeutinnen und Therapeuten, die sich trauen sollen, sich mit Missbrauchs-Patienten/-innen auseinanderzusetzen, diese zu begleiten und ihnen Mut zu machen, die Gefühle zuzulassen, die mit dem Missbrauch verbunden sind, um die Gefühle freizulegen, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, auch nach den tiefen Verletzungen, die Missbrauchserfahrungen mit sich bringen.
Nicht zuletzt wendet sich dieses Buch aber auch an die Täterinnen und Täter, für die es nie zu spät ist, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen oder zumindest mit dem Missbrauch aufzuhören. Sich zu entschuldigen und aufrichtig die Verantwortung gegenüber ihren Opfern zu übernehmen. Es lohnt sich für beide, die Täter und die Opfer.
Ohnmacht der Opfer
Die Macht des sexuellen Missbrauchs besteht in der Ohnmacht der Opfer: Der Missbrauch beruht nur selten auf körperlicher Gewalt.
Die Gewalt findet in der Regel auf einer anderen Ebene statt – beispielsweise im Rahmen von Bestrafungen, die in ihrer Unverhältnismäßigkeit eklatant sind. Diese Form des Umgangs soll dem Opfer zeigen, wie wertlos und unfähig, wie dumm und lebensunfähig es ist. Die Verunsicherung soll dazu führen, dass das Opfer sich am Ende selbst nicht glaubt, was es genau weiß.
Der Missbrauch selbst aber findet scheinbar freiwillig, also mit scheinbarer Einwilligung des Opfers, statt. Die eigentliche Macht des Täters liegt oft in der Vorführung von Verlust, den das Opfer erleiden wird, wenn es nicht »gefällig« ist. Manchmal ist der Täter auch der einzige »Vertraute« des Opfers.
Bedeutung der Eltern
Kinder orientieren sich immer an den Eltern. Diese legen fest, welche Verhaltensweisen gut oder schlecht sind. Dieser Zustand ändert sich erst in der Pubertät.
Eltern sind Vertrauenspersonen, die Schutz und Geborgenheit bieten, die trösten, wenn man traurig ist, und die sich um das Wohlergehen des Kindes sorgen. So sollte es für alle Kinder sein.
Kinder, die sexuell missbraucht werden, finden all diese Verhaltensweisen bei ihren Eltern nicht. Zuneigung und Liebe finden oft nur in den sexuellen Handlungen statt. Der Elterntäter, die Elterntäterin ist oftmals die einzige Vertrauensperson für das Kind, weil der andere Elternteil bereits als Vertrauensperson versagt hat. Das Kind hat das Gefühl, allein zu sein, was für jedes Kind eine erhebliche Bedrohung darstellt. Diese Stellung nutzen Täter und Täterinnen aus; sie wissen, dass ihre Opfer emotional von ihnen abhängig sind. Es findet ein Wechselspiel statt, das die Täter hervorragend beherrschen. Sie spielen mit der Angst des Kindes vor Einsamkeit, der Verlustangst, die einzig vertraute Person zu verlieren: »Wenn du nicht mit mir schläfst, hab ich dich nicht mehr lieb! Ich hab dich lieb, wenn du tust, was ich will!«
Der Täter/die Täterin drückt es in der Regel nicht ganz so direkt aus, sondern formulieren es geschickter. Kleine Kinder nehmen z. B. ihre Puppe als »lebendig« wahr, was oft in Form von Drohungen genutzt wird: »Wenn du nicht tust, was ich sage, tue ich deiner Puppe etwas!«
Ambivalenz und Angst
Der sexuelle Missbrauch bringt das Kind in eine schwierige Situation. Zum einen will es geliebt werden, auf der anderen Seite sind die sexuellen Übergriffe kaum zu ertragen, und das Kind versteht nicht, warum ihm seine Vertrauensperson so etwas antut. Dominierend ist dann die Angst, diese Person zu verlieren und allein zu sein. Alleinsein ist für uns Menschen ein furchtbarer Gedanke, der selbst bei vielen Erwachsenen schwere Angstzustände hervorruft.
Die meisten Opfer schalten während des Missbrauchs ab: sie dissoziieren. Dabei spalten sie das körperliche Erleben vom psychischen Erleben ab, um Überleben zu können. Die Realität des Missbrauchs wäre in der Einheit von Körper und Psyche nicht zu ertragen.
Hass können die meisten Opfer für die Täter nicht empfinden, dies gilt besonders, wenn der Vater der Täter ist. So sagt Christina, ein Opfer, das von seinem Vater und dessen Bekannten missbraucht wurde:
Von meinem Vater war ich enttäuscht. Ich wünschte mir ja eigentlich nur, dass er mich lieb hat. Und zudem hatte ich das Gefühl, ich müsste ihn beschützen. Den Bekannten habe ich gehasst für das, was er mir angetan hat (Völker, 2002, S. 16).
Auch Kinder, die außerhalb der Familie missbraucht werden, tragen bleibende Schäden davon, allerdings kann ihnen die Geborgenheit der Familie wenigstens erhalten bleiben (Striebel, 2004, S. 15).
Der intelligente Trugschluss, dem du ebenso wie die meisten anderen Überlebenden als Kind wahrscheinlich angehangen hast, war der zu denken, du hättest irgendwie Kontrolle über deine Sicherheit. Du hattest keine. Kinder werden manipuliert, genötigt, bedroht und zu sexuellen Handlungen gezwungen, manchmal unter dem Deckmantel der Liebe (Haines, 2001, S. 27).
Warum zwingt ein Täter ein Kind zu sexuellen Handlungen?
Gestörtes Beziehungsleben
In der Literatur wird bezüglich des Inzests ein gestörtes Verhältnis zur Ehefrau als ein Grund angegeben. Anlass scheint ihr Rückzug aus der Beziehung zu sein. Gründe dafür können ihr Tod, ihr Beruf, Schwangerschaft oder Geburt sein. Häufig ist eine gemeinsame Sexualität zwischen den (Ehe-)Partnern nicht mehr möglich, was zu einer erhöhten Bedürftigkeit des Partners führt. Die Täter sind oftmals selbst sexuellem Missbrauch zum Opfer gefallen und wiederholen diesen dann an ihren Kindern.
Abhängigkeit
Bei den Tätern handelt es sich in der Regel um passive und emotional abhängige Ehemänner, die die Anerkennung einer aktiven und dominanten Frau begehren. In so einer Konstellation ist der Mann nicht in der Lage, die Ansprüche der Frau zu erfüllen, was dazu führt, dass sich die Frau frustriert zurückzieht. Die mangelnde Autorität in der Partnerschaft kann der Mann dem Kind gegenüber ausleben, weil es keine emotionale Gefahr für ihn repräsentiert. Er allein bestimmt die Sexualität, ihren Verlauf, den Zeitpunkt und hat kaum einen Widerstand zu erwarten.
Der Vater bestimmt, was gut oder schlecht an der Tochter ist. Er spricht abfällig über bestimmte Eigenschaften, vor allem bezüglich der weiblichen Körperteile. Diese Beurteilungen sind häufig wechselhaft und führen nicht selten zu einer Selbstbild-Erniedrigung des Kindes.
Die Täter sind nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse von denen des Kindes zu unterscheiden. Sie vertreten die Meinung, dass Männer gegenüber Frauen eine Vormachtstellung haben.
Sexual- und Beziehungsprobleme
Im alltäglichen Leben sind die Täter meist unauffällig und angepasst, haben jedoch in ihrem Sexualleben erhebliche Probleme. Sie sind oft nicht in der Lage, eine erwachsene sexuelle Beziehung aufrechtzuerhalten. Sie können sexuelle Grenzen anderer schlecht akzeptieren und einhalten.
Pädophile Täter sind oftmals davon überzeugt, den Kindern nichts anzutun. Sie kaufen den Kindern Geschenke, gewinnen ihr Vertrauen bis hin zu den sexuellen Handlungen. Sie sind überzeugt, dass sie mit dem Kind eine Beziehung eingehen und bezeichnen sich als nett, freundlich und fürsorglich. Schließlich verzichten sie, zumindest in der Regel, auf die Anwendung von Gewalt.
Sie ergreifen gezielt Berufe, in denen sie mit Kindern Kontakt haben und ein gutes Verhältnis zu den Eltern aufbauen können. Sie wählen oft ein stilles und isoliertes Kind, weil sich das Vertrauen dieser Kinder in der Regel schneller und leichter gewinnen lässt. Ein eventuell bereits vorbelastetes Kind mindert die Komplikationen, da es schon eingeschüchtert ist und nicht reden wird. Handelt es sich um das eigene Kind, sind die Voraussetzungen bereits vom Täter selbst geschaffen.
Der Missbrauch durch Väter an ihren Söhnen fällt meistens erst auf, wenn die Söhne aggressives Verhalten zeigen. Vor allem die Angst, homosexuell zu sein, beschäftigt diese Jugendlichen. Die Homosexualität stellt in diesem Kontext ein großes Problem dar (Hirsch, 1999, S. 158). Oftmals ist der Vater seit der Pubertät homosexuell, lebt diese Seite aber nicht aus. Im pubertären Alter des eigenen Sohnes kommt es häufig zu gemeinsamem Masturbieren. Wenn der Sohn beginnt, sich abzugrenzen, wird das vom Vater in der Regel akzeptiert, dieser fällt dann jedoch häufig in Depressionen und Schuldgefühle (Hirsch, 1999, S. 170 f.).
In der Literatur wie auch hier wird primär auf das Verhalten des männlichen Täters eingegangen, da die meisten Sexualstraftäter Männer sind (rund 90%).
Täterinnen
Doch auch Frauen vergehen sich an Kindern. Immerhin 10% der Fälle von sexuellem Missbrauch werden von Frauen verübt. In den meisten Fällen sind die Frauen allerdings nicht Haupttäterinnen, sondern so genannte »stille Mittäterinnen«. Sie dulden oder beteiligen sich am Missbrauch.
Wenn Mütter sich an ihren Söhnen vergehen, sind häufig Ausreden, wie z. B. Schutz vor Homosexualität, als Präventionswahn bei den Müttern festzustellen (Hirsch, 1999, S. 159).
Charakterzüge
Mütter, die als Mittäterinnen in Erscheinung treten, werden in der Literatur als hart, nachlässig in der äußeren Erscheinung, infantil und extrem abhängig, kalt und distanziert, fordernd und dominierend beschrieben. Sie weisen den Mann auf sexueller Ebene zurück, weshalb sie als frigide bezeichnet werden. Häufig ist es allerdings so, dass die Frau froh ist, wenn der Mann keine sexuellen Ansprüche an sie stellt und sie in Ruhe lässt.
Sexuelle Zurückweisung kann, wie bereits oben erläutert, zu sexuellem Missbrauch des Kindes durch den Vater führen. In den meisten Fällen ignoriert, übersieht oder verleugnet die Mutter den Inzest. Tatsächlich weiß sie, was vorgeht. Wenn die Mutter vom Inzest weiß und nicht eingreift, fühlt sich das Kind mit der Situation allein gelassen. Das Gefühl des Verlassenseins findet Bestätigung. Beim Inzest können bestehende Beziehungen zu den Eltern vom Kind nicht mehr isoliert betrachtet werden.