Die katholische Kirche mit ihrer 2000-jährigen Geschichte ist eine der ältesten Institutionen der Menschheit. Für viele Menschen verkörpert sie bewundernswerte Kontinuität und vorbildliche Treue zur Tradition des Glaubens, andere sehen in ihr das Paradebeispiel für konservativ-reaktionären Starrsinn und die hoffnungslose Verknöcherung von Strukturen. In Wirklichkeit stellen sich die Dinge erheblich komplizierter dar. Die römisch-katholische Kirche zeigt sich als ein spannungsreiches Geflecht von Kräften der Beharrung und des Wandels, die beständig miteinander ringen. Dieser stets wirkende Konflikt manifestiert sich in besonderer Weise in Zeiten fundamentaler Veränderungen in Kultur, Gesellschaft und Politik, in denen sich die Kirche zu bewähren hat. Tatsächlich jedoch entzieht sich die Problematik einfacher Schematisierung. Die Geschichtlichkeit von Glaube und Kirche ernst zu nehmen, bedeutet, sich immer neu der schwierigen Aufgabe zu stellen, um der Identität willen Wandel zu akzeptieren und zugleich Kontinuität zu wahren. Die römisch-katholische Kirche hat das im Laufe ihrer langen Geschichte getan, wenngleich in unterschiedlichem Maß und mit wechselnden Ergebnissen. Manche Entscheidungen, wie etwa im sogenannten Ritenstreit, haben sich als falsch erwiesen, oft mit schwer wiegenden und langfristigen Folgen. Doch gehört ein solchermaßen wertendes Urteil bereits zu den Auseinandersetzungen, in denen der richtige Kurs der Kirche in der jeweiligen Gegenwart zur Debatte steht. Es liegt in der Natur der Sache, dass auch die Wirkungsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils vom Widerstreit der Interpretationen geprägt ist. Dieses jüngste Konzil der römisch-katholischen Kirche hatte es sich bekanntlich programmatisch zum Ziel gesetzt, die Kirche im Licht damals aktueller Herausforderungen also der „Zeichen der Zeit“ zu erneuern. Dabei war es dem Konzil nicht um eine einmalige Renovierung der Kirche, sondern vielmehr um die Revitalisierung der grundlegenden und tief in der kirchlichen Tradition verwurzelten Sicht der „ecclesia semper reformanda“ zu tun. Dieser Erneuerungsprozess manifestierte sich nicht zuletzt in neuen Institutionen, Strukturen und Abläufen, die wesentlich zur Verwirklichung der Anliegen des Konzils beigetragen haben und sich zugleich in der Bewältigung von weiteren Herausforderungen wie z.B. dem Wandel von 1989/90 und seinen Folgen zu bewähren hatten. Auch diese Einrichtungen wiederum hatten sich der Notwendigkeit der kontinuierlichen Weiterentwicklung zu stellen. In diesen Rahmen gehört derjenige Bereich nachkonziliarer Entwicklung, der in inhaltlicher wie in struktureller Hinsicht in der vorliegenden Studie untersucht werden soll.
In dieser Studie soll der Umgang der katholischen Kirche in Deutschland mit den durch die Wende 1989/90 gegebenen friedens- und sicherheitspolitischen Herausforderungen exemplarisch nachgezeichnet werden. Die friedensethische und friedenspolitische Verarbeitung der weltpolitischen Wende und ihrer Folgen steht im Mittelpunkt des Interesses. Dabei sollen die politisch-kulturellen, strukturellen sowie prozeduralen Voraussetzungen dieses Verarbeitungsprozesses in den Blick kommen.
Die mit den Entwicklungen von 1989/90 einhergehenden Veränderungen stellten in vielfacher Hinsicht eine gravierende Herausforderung dar. Nachdem der klassische Ost-West-Konflikt und die damit verbundene fundamentale Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ihre Politik strukturierende Funktion verloren hatten, bestand die Notwendigkeit, die neuen politischen Bedingungen zu verstehen und Handlungsmuster zu entwickeln, die ihnen entsprachen. Besonderen Ausdruck fanden die Veränderungen im Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung, den es nicht zuletzt institutionell zu bewältigen galt. Der Umbruch machte eine intensive Lernbewegung erforderlich.
Am Beispiel der Deutschen Kommission Justitia et Pax, die inhaltlich wie strukturell aus der Denkbewegung des Zweiten Vatikanischen Konzils hervorgegangen ist, soll aufgezeigt werden, wie der friedensethische Lernprozess nach 1989/90 in der katholischen Kirche in Deutschland sowohl in thematischer als auch in struktureller Hinsicht verlaufen ist, welche Elemente und Arbeitsweisen ihn befördert haben und welche Grenzen ihm innewohnten. Da nicht das Gesamt der Kommissionstätigkeit in gleicher Weise einschlägig für die friedensethische und friedenspraktische Bewältigung des Wandels von 1989/90 war, legt die Untersuchung den Schwerpunkt auf die Entwicklungen im Arbeitsbereich Frieden.
Im Gefüge der römisch-katholischen Kirche in Deutschland kommt Justitia et Pax eine zentrale Position und herausragende Rolle in Bezug auf ihre Fähigkeit zu, gesellschaftspolitische Entwicklungen in den Bereichen Frieden, Menschenrechte, Entwicklungspolitik wahrzunehmen, ethisch zu reflektieren sowie praktische Konsequenzen zu ziehen. Auf Grund ihrer Eigenart fungiert sie als organisationelle Schnittstelle zwischen Amtskirche und Laienkatholizismus sowie zwischen römisch-katholischer Kirche und gesellschaftlicher und politischer Öffentlichkeit. Das Gewicht der Kommission und ihre exemplarische Bedeutung rechtfertigen die Hoffnung, durch die Studie zu einem vertieften Verständnis der Kirche im Blick auf die Beziehung zwischen Inhalten und Struktur einerseits sowie Reflexion und Praxis andererseits beitragen zu können. Indem die Untersuchung einen Teil der kirchlichen (Lern-) Prozesse im Gefolge des weltpolitischen Wandels 1989/90 einer kritischen Reflektion unterzieht, will sie die Prozesse selbst erkennbar und nachvollziehbar machen sowie einen Beitrag zu ihrem tieferen Verständnis leisten. Implizit plädiert sie mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil dafür, die kontinuierlichen sozial- und friedensethischen Lernbewegungen als unverzichtbaren Bestandteil des kirchlichen Selbstverständnisses zu betrachten sowie die strukturellen Voraussetzungen solcher Prozesse in die Betrachtung einzubeziehen.
Zur heuristischen Schärfung des Blicks auf das Material der Untersuchung wurde auf die Literatur zum organisationalen bzw. systemischen Lernen zurückgegriffen. So haben sich einige der von Chris Argyris und Donald Schön vorgelegten Annahmen und Begriffe – z. B. bei der Unterscheidung der verschiedenen Prozessebenen und Lernschleifen oder zum Verständnis organisationellen und organisationalen Lernens – als sehr hilfreich erwiesen:
Organisationales Lernen findet statt, wenn einzelne in einer Organisation eine problematische Situation erleben und sie im Namen der Organisation untersuchen. Sie erleben eine überraschende Nichtübereinstimmung zwischen erwarteten und tatsächlichen Aktionsergebnissen und reagieren darauf mit einem Prozess von Gedanken und weiteren Handlungen; dieser bringt sie dazu, ihre Vorstellungen von der Organisation oder ihr Verständnis organisationaler Phänomene abzuändern und ihre Aktivitäten neu zu ordnen, damit Ergebnisse und Erwartungen übereinstimmen, womit sie die handlungsleitende Theorie von Organisationen ändern. Um organisational zu werden, muss das Lernen, das sich aus Untersuchungen in der Organisation ergibt, in den Bildern der Organisation verankert werden, die in den Köpfen ihrer Mitglieder und/oder den erkenntnistheoretischen Artefakten existieren […], die im organisationalen Umfeld existieren.1
Auch den von Max Miller entwickelten, auf Konsens- und Dissensmuster fokussierenden Ansätzen ist manche Einsicht in die Dynamik der konkret zu beschreibenden Lernprozesse zu verdanken.2 Es wird aber in dieser Studie darauf verzichtet, in eine systematische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen zu treten. Wie in besonderer Weise an den für diesen Bereich grundlegenden Büchern von Chris Argyris3 ersichtlich wird, sind die einschlägigen Überlegungen im Wesentlichen in der Auseinandersetzung mit profitorientierten Unternehmen bzw. zu einem späteren Zeitpunkt mit Non-Profit- und Nichtregierungsorganisationen entwickelt worden. Um dem sehr spezifischen Großsystem „Katholische Kirche“ gerecht zu werden, wären umfangreiche systematische und ekklesiologische Reflektionen erforderlich, die den Rahmen dieser Untersuchung überschreiten würden.4 Diese Studie beschränkt sich daher auf die ihr eigenen Fragen, in der Hoffnung Material für zukünftige Studien zum systemischen Lernen in der Kirche bereitzustellen.
Der spezifische Ansatz dieser Arbeit besteht in der Verbindung von ideen- und institutionsgeschichtlichen Fragestellungen. Durch diese Verbindung kommen sowohl die thematischen Ergebnisse als auch die systemischen und strukturellen Voraussetzungen und Auswirkungen der genannten Prozesse in den Blick.
Entsprechend der Fokussierung auf den friedensethischen Umgang mit dem Wandel 1989/90 und seinen Folgen wird der engere Beobachtungszeitraum durch den Epochenwandel 1989/90 sowie die darauffolgenden zwei Amtsperioden der Deutschen Kommission Justitia et Pax markiert. Der Entschluss, die Darstellung auf zwei Amtsperioden der Kommission zu beschränken, hat wesentlich mit dem prägenden Einfluss der historischen Ereignisse in dieser Periode zu tun. Innerhalb dieses Zeitraums hatte die Kommission zum einen die Vereinigung der beiden deutschen Justitia-et-Pax-Kommissionen zu bewältigen. Zum anderen waren der Umbruch 1989/90 sowie die folgenden Geschehnisse mit großen friedenspolitischen Erwartungen sowie immensen Herausforderungen verbunden, auf die es im Rahmen der Arbeit der Kommission zu antworten galt. Die entsprechenden Lernbewegungen erhalten eine besondere Wirksamkeit für den Gesamtzusammenhang der katholischen Kirche in Deutschland im Zuge des Entstehungsprozesses des bischöflichen Wortes „Gerechter Friede“ (2000), an dem die Kommission respektive einige ihrer entscheidenden Akteure wesentlich mitgewirkt haben. Der Entstehung dieses Dokuments kommt in diesem Kontext die Bedeutung eines Fokuspunkts des friedensethischen Lernprozesses zu. Wesentliche Einsichten des Lernprozesses nach 1989/90 werden in „Gerechter Friede“ auf den Begriff gebracht. Zugleich wird mit der Verabschiedung des Dokuments eine neue bzw. erweiterte Ausgangsbasis für die weitere friedensethische Praxis und Reflektion der katholischen Kirche in Deutschland definiert. Eine ausführliche Befassung mit dem Entstehungsprozess des Friedensworts im Rahmen dieser Untersuchung liegt daher ebenso nahe, wie den Untersuchungszeitraum mit der Veröffentlichung des Dokuments abzuschließen.
Zu dieser sowohl inhaltlich als auch pragmatisch sinnvollen Begrenzung des Untersuchungszeitraums trug auch der Umstand bei, dass der Verfasser selbst seit August 1996 als Referent für friedens- und sicherheitspolitische Fragen der Deutschen Kommission Justitia et Pax Teil des zu untersuchenden Prozesses war. Die Grundentscheidungen zur Ausrichtung der Amtszeit von 1994 bis 1999 waren schon vor der Anstellung des Autors gefallen. Hingegen war er an der Vorbereitung der folgenden Amtszeit beteiligt. Die sich auch vom Material her nahelegende Einschränkung trägt damit dazu bei, die notwendige Distanz zum Gegenstand der Untersuchung einnehmen zu können. Die berufsbedingten Kenntnisse des Verfassers über den Untersuchungsgegenstand haben sich für den Zugang zu den in den Quellen geschilderten Vorgängen durchaus als hilfreich erwiesen. Letztlich stellt aber das Material selbst den Maßstab bereit, an dem überprüft werden kann, ob und inwieweit der Verfasser der Gefahr erlegen ist, aus der Position des teilnehmenden Beobachters heraus bloß persönliche und subjektive Urteile zu fällen. Er hat sich bemüht, die eigene Sicht durch Gespräche mit beteiligten Personen zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Es hätte durchaus nahe gelegen, diese Möglichkeit durch ausgedehnte Zeitzeugengespräche noch intensiver und methodisch gezielter zu nutzen. Darauf wurde am Ende verzichtet, weil die Durchführung und Auswertung einer relevanten Zahl von Zeitzeugeninterviews einen Mehraufwand erfordert hätte, den der Verfasser aufgrund seiner beruflichen Lage nicht leisten konnte und der mit Rücksicht auf die Qualität des verfügbaren Quellenmaterials auch nicht unbedingt notwendig erschien.
Im Unterschied zum Zweiten Vatikanum als solchem und seinen innerkirchlichen Folgen wurde bislang weder die Geschichte der Justitia-et-Pax-Kommissionen im Allgemeinen noch die Arbeit der Deutschen Kommission im Besonderen wissenschaftlich untersucht. Zwar wurde aus Anlass des 40jährigen Jubiläums der Deutschen Kommission Justitia et Pax eine umfängliche Dokumentation veröffentlicht, die sicherlich eine erste Orientierung bietet5, aber keine spezifische Fragestellung verfolgt. Vor diesem Hintergrund betritt die Studie weitestgehend Neuland. Sie konnte sich kaum auf Vorarbeiten stützen. Ihre Einsichten beruhen daher wesentlich auf der Auseinandersetzung mit den Primärquellen der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Die entsprechenden Aktenbestände, in denen sich auch viele Protokolle sowie anderweitige Unterlagen aus anderen Einrichtungen der Deutschen Bischofskonferenz sowie des deutschen Katholizismus finden, bilden eine reichhaltige und aufschlussreiche Materialbasis für Forschungen zur kirchlichen Zeitgeschichte. Während der Arbeit an der Studie waren diese Quellen noch nicht öffentlich zugänglich. Mittlerweile konnten sie aber erfreulicher Weise in das Historische Archiv der Erzdiözese Köln überführt werden. Sie bilden dort im Archiv der Deutschen Bischofskonferenz (Depositum) den Bestand „Deutsche Kommission Justitia et Pax“. Die Paginierung dieses Bestandes ist noch nicht erfolgt. Ein ausführliches Findbuch ermöglicht dennoch eine gute Nutzung.
Auch die Entstehung des bischöflichen Wortes „Gerechter Friede“ stellt bisher einen blinden Fleck der kirchlichen Zeitgeschichte dar, obgleich das Dokument breit diskutiert wurde.6 Da dieser Entstehungsprozess eng mit den Lernbewegungen der Kommission verbunden war, gehört seine Darstellung in eine Geschichte der Kommission. Zugleich soll diese Darstellung helfen, den Ansatz und die Kernaussagen des bischöflichen Wortes besser und tiefer zu verstehen.
Im Anschluss an die Einleitung dienen die beiden folgenden Teile der Untersuchung dazu, die Gründung und Tätigkeit der Deutschen Kommission Justitia et Pax ideen- und institutionsgeschichtlich einzuordnen. Auf diese Weise wird der Bezugsrahmen geschaffen, der es ermöglicht, ihre Entwicklung sowie ihre Ergebnisse zu würdigen.
Die ideengeschichtliche Betrachtung nimmt sowohl den weltkirchlichen als auch den ortskirchlichen Aspekt in den Blick. Was die römisch-katholische Kirche als Weltkirche betrifft, so wird sie repräsentiert durch den Papst und die Bischöfe in ihrer Funktion als oberste Lehrer der Kirche. Daher wird der Schwerpunkt auf die päpstliche Lehrverkündigung7 seit Benedikt XV. gelegt, die aufgrund ihres Anspruchs auf gesamtkirchliche Verbindlichkeit eine wichtige Quelle und einen wichtigen Bezugspunkt auch für teilkirchliche Entwicklungen darstellt. Das betrifft insbesondere die kirchliche Friedenslehre, die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs durch Benedikt XV. sowie die erste Enzyklika, die sich erstmals ausschließlich diesem Thema widmete, einen wesentlichen Impuls erhielt. Es liegt auf der Hand, dass diese Initiative des Papstes ohne den Ersten Weltkrieg kaum erfolgt wäre. Mit diesem Krieg lässt die Geschichtswissenschaft heute in der Regel das „kurze“ 20. Jahrhundert beginnen, das entsprechend mit dem Wendejahr 1989/90 endet.8 Die Untersuchung folgt dieser Periodisierung, denn es waren in erster Linie die weltpolitischen Rahmenbedingungen wie die beiden Weltkriege, der im Rahmen des Ost-West-Konflikts drohende dritte Weltkrieg oder der Prozess der Entkolonialisierung, die auf die Entwicklung der kirchlichen Friedenslehre Einfluss hatten. Zugleich tauchen mit dem Ende der auf der Logik des Kalten Kriegs beruhenden Weltordnung sowie dem Wegfall der weltpolitischen Herausforderung durch die kommunistische Sowjetunion neue Herausforderungen und Möglichkeiten auf, denen sich das kirchliche Friedenshandeln zu stellen hatte. Erst wenn man sich diese Zusammenhänge vergegenwärtigt, wird klar, welche Herausforderung der weltpolitische Umbruch von 1989/90 für die Friedensethik mit sich brachte.
In der Geschichte der kirchlichen Lehrentwicklung kommt dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine überragende Bedeutung zu. Diese beruht in hohem Maße auf der während des Konzils unter einer Mehrheit der Konzilsväter herangereiften Einsicht, dass die rein defensive Haltung, die das Erste Vatikanische Konzil gegenüber der Moderne eingenommen hatte, die Kirche in eine Sackgasse führen würde. Die Leistung des Zweiten Vatikanischen Konzils bestand, grob gesprochen, darin, die Wahrnehmung der Welt und das Selbstverständnis der Kirche in eine positive Beziehung zueinander zu setzen. Die Ergebnisse des Konzils wurden in Deutschland insbesondere durch die neu belebten synodalen Strukturen in die deutsche Ortskirche vermittelt. Die Synoden in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sowie die Friedensworte der beiden Bischofskonferenzen stehen deshalb im Mittelpunkt der Darstellung, die zugleich als Vorgeschichte der Gründung der beiden Justitia-et-Pax-Kommissionen fungiert und zum eigentlichen Untersuchungszeitraum hinführt (Kap. 3).
Auf diese Weise ist der Rahmen geschaffen für die in den Kapiteln 4 und 5 zu leistende Beschreibung und Untersuchung des Arbeitsprozesses 1988 – 1999. Sie beginnen jeweils mit der Konstituierung der Kommission zur betreffenden Amtsperiode, bei der sich die Kommission über die Zielsetzungen der anstehenden Amtsperiode verständigt. Die Debatten dieser Phase geben Aufschluss über die in der Kommission vorhandenen Vorstellungen, über inhaltliche und strukturelle Fragen. In den Auseinandersetzungen über die inhaltliche sowie organisatorische Ausrichtung der Kommission sowie deren Platz im Gesamtzusammenhang der kirchlichen Einrichtungen verhandelt die Kommission jeweils auch ihr Selbstverständnis. Der Vergleich mehrerer Amtszeiten ermöglicht so, nicht zuletzt anhand der eigenen abschließenden Auswertungssitzungen der Kommissionen am Ende der Amtsperioden, ein Urteil über Kontinuität und Veränderung im Selbstverständnis sowie der Organisation bzw. Arbeitsweise der Kommission. Desgleichen kann auf diese Weise die Einordnung des Arbeitsbereichs Frieden in das Gesamt der Kommissionstätigkeit geleistet werden.
Das Gesagte gilt in abgewandelter Form auch für die Arbeits- bzw. Projektgruppen, die im Arbeitsbereich Frieden tätig sind. Sie tragen die Hauptlast der einschlägigen inhaltlichen Arbeit der Kommission. Es ist daher unumgänglich, sich ausführlich mit der Entwicklung und Arbeit dieser Gruppen auseinanderzusetzen. Als eigene Einheiten entfalten sie ungeachtet ihrer Abhängigkeit von der Gesamtkommission eine beachtliche Eigendynamik. Diese überschreitet bisweilen den von der Kommission gegebenen Auftrag und führt zu internen Auseinandersetzungen, die wiederum das Selbstverständnis der Kommission berühren. Wegen der organisatorischen Verzahnung von Untergruppen und Kommission laufen diese Diskussionen parallel und einander überlappend ab. Dennoch wird mit Rücksicht auf die Übersichtlichkeit der Darstellung darauf verzichtet, diese Gleichzeitigkeiten und Überschneidungen eigens zu thematisieren. Soweit es der Gedankengang erfordert, wird auf sie aufmerksam gemacht.
Für die Leitfrage der Studie sind der Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Justitia-et-Pax-Kommissionen sowie die seit Mitte der 1990er Jahre neu entstehenden Handlungsfelder der Kommission von besonderem Interesse. Sie werden daher ausführlich behandelt.
Kapitel 6 gibt einen kurzen Ausblick auf die Entwicklungen im Arbeitsbereich Frieden in der Amtszeit von 1999 – 2004, in denen die Ergebnisse der vorhergehenden Amtsperioden fortwirken. Sie haben auch die Entstehung des Bischofswortes „Gerechter Friede“ wesentlich geprägt. Dessen Entstehung und Inhalt werden in Kapitel 7 beschrieben.
Das Schlusskapitel fasst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen und versucht einige grundsätzliche Schlussfolgerungen zu ziehen.
1 Zit. Argyris, Chris; Schön, Donald A.: Die Lernende Organisation. Grundlagen, Methode, Praxis. Stuttgart 32006, S. 31/32.
2 Max Miller: Dissens. Zur Theorie diskursiven und systemischen Lernens. Bielefeld 2006.
3 Siehe Argyris, Chris: Wissen in Aktion. Eine Fallstudie zur lernenden Organisation. Stuttgart 1997; Argyris, Chris; Schön, Donald A.: Die Lernende Organisation. Grundlagen, Methode, Praxis. Stuttgart 32006. Mittlerweile existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze zum „organisationalen Lernen“, „lernenden Organisationen“ oder „Organisationslernen“. So z. B. Peter M. Senge: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart 102006. Die verwendeten Begriffe changieren dabei häufig. Die vorliegende Untersuchung folgt in der Verwendung der Begriffle Argyris und Schön.
4 Einen erhellenden Einblick in die komplexen Zusammenhänge ekklesiologischer Reflektion gibt Walter Kardinal Kasper: Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung. Freiburg/Br. 2011.
5 Erik Gieseking: Justitia et Pax 1967 – 2007. 40 Jahre Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden. Eine Dokumentation. Paderborn, München, Wien, Zürich 2007.
6 Pars pro toto Heinz-Gerhard Justenhoven, Rolf Schumacher (Hg): „Gerechter Friede“ – Weltgemeinschaft in der Verantwortung. Zur Debatte um die Friedensschrift der deutschen Bischöfe. Stuttgart 2003.
7 Bei der Zitation der päpstlichen Quellen sind in der Regel die einschlägigen deutschen Übersetzungen zur Grundlage genommen worden. In der maßgeblichen deutschen Quellenedition von Utz/Galen wird allerdings im Gegensatz zur mittlerweile üblichen Form der Nummerierung der einzelnen Absätze auf eine solche Nummerierung verzichtet. Dies ist bedauerlich, da es ein Auffinden von Textstellen in anderen Editionen erschwert. Entsprechend wurde auf verschiedene Editionen zurückgegriffen, die jeweils bei der Ersterwähnung der Quelle genannt werden. Die Originaltexte aller Enzykliken, Apostolischen Rundschreiben sowie Botschaften zum Weltfriedenstag finden sich zudem auf der Website des Heiligen Stuhls. www.vatikan.va/holy_father.
8 Aus der reichhaltigen Literatur: Peter Krüger: Der Erste Weltkrieg als Epochenschwelle; in: Hans Maier: Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen. Frankfurt/M. 2000, S. 70 – 91; Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München, Wien 1995, S. 20 f. sowie Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalgeschichtliche Deutung. München 1999.
Die kirchliche Friedensverkündigung am Beginn des 20. Jahrhundert ruht auf den friedensethischen Überlegungen, die im Laufe der Kirchengeschichte entwickelt worden sind. In diesem Prozess sind eine Reihe von wichtigen Einsichten gewonnen worden. Diese bilden aber noch kein systematisches Ganzes.
Die friedensethische Diskussion der Kirche beginnt mit dem lebenspraktischen, anfänglich individualethischen Problem der Frühchristen, wie man sich zum Soldatendienst zu stellen habe.1 Die Frage nach der Zulässigkeit und konkreten Ausgestaltung des Soldatendienstes hat die kirchliche Reflektion bis heute begleitet.2 Aus der Kernfrage, wie mit der Spannung umzugehen sei, die sich aus der für den Schutz der friedensbewahrenden staatlichen Ordnung erforderlichen Gewaltanwendung und dem Gebot der Gewaltlosigkeit ergibt, entsteht, inspiriert von Augustinus, die Lehre vom „gerechten Krieg“.3 Diese Lehre, später von Thomas von Aquin systematisiert, wird in der Geschichte der Kirche in je nach historischer Problemstellung verschiedener Weise zu einer der wesentlichen, wiewohl keineswegs unangefochtenen Grundlinien der kirchlichen, aber auch der außerkirchlichen Friedensreflexion.4
Die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ wurde zu einem wichtigen Erbe der scholastischen Theologie an das Völkerrecht der Neuzeit. Aber sie wurde damit zugleich fundamentalen Wandlungen unterworfen. Vor allem wird dem bisher vorherrschenden Kriterium, dass der ‚gerechte Krieg‘ der Bestrafung der Schuldigen diene […] allmählich die Basis entzogen. Das Gewicht verlagert sich von der Gerechtigkeit der strittigen Sache mehr und mehr auf die Legitimation der Kriegführenden hin.5
Im Laufe der Geschichte entwickelt sich zunehmend die Tendenz, die eigentlich auf Gewalteindämmung zielende Bellum-justum-Lehre für Gewaltlegitimation in Dienst zu nehmen und damit zu missbrauchen. Insbesondere im 20. Jahrhundert, in dem sich das Problem der Gewaltlegitimation angesichts der bis dahin ungekannten Möglichkeiten der Gewaltausübung in neuer Weise zuspitzt, führt dies zu einer merklichen Infragestellung dieser Lehre.
Es ist charakteristisch für die kirchliche Friedensverkündigung am Beginn des 20. Jahrhunderts, dass sie aus ihrer tendenziell kasuistischen, nicht zuletzt der neoscholastischen Denkbewegung geschuldeten Struktur heraus primär auf staatliches Handeln sowie die damit verbundenen sittlichen Entscheidungssituationen fokussiert ist, in die sich insbesondere Soldaten und Politiker gestellt sehen. Diese Engführung wird erst im Laufe des 20. Jahrhunderts überwunden.
Die Friedenslehre der Kirche entwickelt sich im 20. Jahrhundert in der praktisch-politischen Auseinandersetzung mit den Themenfeldern: Krieg, Frieden, Gewaltanwendung und Versöhnung. Dabei stellen die beiden Weltkriege, die atomare Vernichtungsdrohung, die internationale Soziale Frage sowie die mit dem Wandel 1989/90 einhergehenden Herausforderungen wesentliche Impulse dar, aus denen sich die Friedenslehre entwickelt.
In diesen Auseinandersetzungen greifen die Päpste neben den Traditionen der Friedensverkündigung auch auf wichtige Einsichten zurück, die bei der Entwicklung der katholischen Soziallehre gewonnen worden sind. Neben den konkreten Einsichten dieser Denkbewegung wird die Denkbewegung der Soziallehre selbst zu einem Teil des Selbstverständnisses kirchlichen Friedenshandelns.
Für das lange 19. Jahrhundert war je länger desto stärker die soziale Frage die entscheidende Herausforderung der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Veröffentlichung der Enzyklika „Rerum Novarum“ 1891 systematisierte die in der vielfältigen sozialpolitischen Praxis der Kirche in Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Zeit entwickelten Einsichten. Sie leistete damit einen wesentlichen Beitrag zur praktischen Antwort auf die mit der sozialen Frage verbundenen Probleme.6 Grundsätzlich zeichnet sich die Soziallehre zu diesem Zeitpunkt durch eine bemerkenswerte Ambivalenz aus. Sie ist von ihren Anfängen her vom neoscholastischen Versuch der Abwehr der mit der Moderne und speziell der Industrialisierung einhergehenden zivilisatorischen Erschütterungen geprägt. In dem Versuch, eine an den Leiden der Zeit Anteil nehmende Antwort zu formulieren, ist die Soziallehre ihrem Wesen nach aber zugleich selbst hoch modern. Diese inhärente Spannung kommt in der Entwicklung der Soziallehre zum Austrag und trägt im Laufe der Zeit nicht unwesentlich zur Überschreitung des neoscholastischen Antworthorizonts bei.
Dieser ideengeschichtliche Vorgang ist bezeichnend für den Charakter der Soziallehre und als einer Spezialform derselben ebenso für die Friedenslehre.7 Denn, wie einer der für die Soziallehre des 20. Jahrhunderts wesentlichen Impulsgeber, Oswald von Nell-Breuning, es formulierte,
die Soziallehre besteht nicht so sehr aus überzeitlich und überörtlich geltenden sogenannten ‚ewigen‘ Wahrheiten, sondern wendet diese Wahrheiten auf die nach Zeit und Ort verschiedenen, ständigem Wechsel unterliegenden Verhältnisse an. […] Alles in allem: die Soziallehre der Kirche entsteht nicht als ein ‚wissenschaftliches System‘, das ein systematisch denkender Kopf ausdenkt und in einem alles umfassenden, nichts auslassenden Lehrbuch niederlegt; sie ist auch kein Nachschlagewerk oder gar eine Datenbank, worin alles gespeichert ist und durch Knopfdruck ‚abgerufen‘ werden kann. Die Soziallehre der Kirche erwächst geschichtlich aus dem, was das gesellschaftliche Leben an Fragen, insbesondere an Streitfragen aufwirft, und was es an Nöten und Ungerechtigkeiten erzeugt. Wie die Kirche selbst, so ist auch ihre Soziallehre kein ‚System‘, sondern gehört dem Bereich des Tatsächlichen, des Geschichtlichen, des praktischen Lebens an.8
Diese Grundbewegung der systematischen Durchdringung der jeweiligen zeitgenössischen Problemstellungen, die sowohl auf der Grundlage kirchlicher gesellschaftlicher Praxis beruht, als auch auf deren Orientierung und Profilierung zielt, ist für die Entwicklung der kirchlichen Friedenslehre bezeichnend und prägend. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht in diesem Zusammenhang davon, die „Zeichen der Zeit“ zu deuten. Es hilft beim Verständnis der Lehre, die jeweiligen zeitgenössischen Problemstellungen in den Blick zu nehmen, mit denen sich die Kirche auseinandergesetzt hat und entlang derer die Lehre weiterentwickelt worden ist. Neben den Inhalten unterliegen auch die Formen dieser Auseinandersetzungen einem Wandel.
Die katholische Friedens- und Soziallehre lassen sich als ein auf lange Sicht angelegter Lernprozess beschreiben, in dem gewonnene Einsichten und gebildete Strukturen überprüft, aktualisiert und vertieft oder als nicht mehr zeitgemäß verworfen werden. Dieser Prozess bringt mit beachtlicher Kontinuität Neues hervor. Die katholische Wertschätzung für Tradition erweist sich in diesem Zusammenhang als hilfreiches kritisches Gedächtnis. Die konkrete Wahrnehmung von Problemen und Konflikten wird dabei erheblich durch diese Traditionen geprägt, gefördert, zuweilen aber auch behindert. Die kirchlichen Verlautbarungen zum Friedensproblem weisen in diesem Zusammenhang eine für ihr Verständnis wesentliche Doppelstruktur auf. Sie sind sowohl systematisierende Sicherung von Erfahrungen und Einsichten der kirchlichen Praxis und Reflektion als auch zugleich friedenspolitischer Akt im Sinne eines auf politische und gesellschaftliche Veränderung zielenden Diskursbeitrags. Zu einem späteren Zeitpunkt dieser Untersuchung werden genau diese systemischen Wechselwirkungen am teilkirchlichen Beispiel der Deutschen Kommission Justitia et Pax in den Blick kommen.
Den Aussagen der Päpste und des Konzils kommt für die Entwicklung der Friedensverkündigung der Kirche eine zentrale Funktion zu. Sie sind Maßstab und Richtungsangabe9, die auch in den teilkirchlichen Zusammenhängen nicht vernachlässigt werden dürfen. Von daher beginnt diese Untersuchung damit, die Entwicklung der päpstlichen Friedenslehre im kurzen 20. Jahrhundert nachzuzeichnen.10
Papst Benedikt XV. tritt sein Amt zu Beginn des I. Weltkriegs an. Die Auseinandersetzungen um den Krieg sind das bestimmende Thema seines Pontifikats. Er versteht diesen Krieg von Beginn an als Resultat des Abfalls von den christlichen Lehren und entwickelt eine beachtliche – wenngleich letztlich wenig erfolgreiche – friedenspolitische Praxis. Als charakteristischer Ausdruck dieses Engagements kann seine Friedensnote vom 1. August 1917 „Dès le début“ gelten, in der er sofortige Friedensverhandlungen anregte, den Verzicht auf Gebietsabtretungen, Abrüstung sowie die Errichtung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zur Vermeidung von Kriegen forderte.11 Trotz dieser aus einer Position der Neutralität agierenden friedenspolitischen Praxis wird der Heilige Stuhl aufgrund einer italienischen Intervention, die das offene Kirchenstaatsproblem monierte, nicht zu den Verhandlungen in Versailles zugelassen.12
Pfingsten 1920 veröffentlicht Benedikt XV. mit „Pacem, Dei munus pulcherrimum“13 die erste Enzyklika der Kirchengeschichte, die sich zentral und ausführlich mit dem Themenfeld Frieden befasst.14 Dabei zeigt sich, dass der Papst sein friedenspolitisches Engagement keineswegs nur als einen dem Ausnahmezustand des Krieges geschuldeten Einsatz versteht. Der Leitgedanke der Enzyklika ist die von dem Gebot der Feindesliebe abgeleitete Aufforderung zur Versöhnung zwischen den Völkern.15 Nicht politische Dominanz und Unterdrückung sollten das Verhältnis der Völker zueinander kennzeichnen, sondern vielmehr Interessenausgleich und Vergebung. Vor dem Hintergrund der Versailler Verträge lässt sich daraus, sowohl eine Kritik an diesen als auch eine klare Absage an den bewaffneten Revisionismus lesen. Entsprechend seiner politisch neutralen Position kommt der Papst, anders als verschiedene nationale Bischofskonferenzen, ganz ohne jeglichen Bezug zur Bellum-justum-Lehre aus.16 Den Gedanken der Völkergemeinschaft übersetzt er in das entschiedene Plädoyer für die Schaffung einer internationalen Liga der Staaten:
Die Gründung eines solchen Völkerbundes wird, abgesehen von vielen anderen Gesichtspunkten, durch die allgemein anerkannte Notwendigkeit nahegelegt, alles ins Werk zu setzen, um die Rüstungsauslagen zu streichen oder wenigstens herabzusetzen, deren erdrückende Last für die Staaten untragbar geworden ist, sowie um in Zukunft solch verhängnisvolle Kriege zu vermeiden oder doch eine derartige Gefahr soweit als möglich abzuwenden und jedem Volk die Unabhängigkeit und Unversehrtheit seines Gebietes innerhalb gerechter Grenzen zu sichern.17
Der Gedanke der Völkergemeinschaft, der mit der Gründung des Völkerbunds auch eine – wenngleich sehr eingeschränkte – institutionelle Realität wurde, findet sich schon bei Leo XIII. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des I. Weltkriegs gewinnt er neue Kontur und wird zu einem festen Bestandteil der Erklärungen der Päpste sowie der kirchlichen Friedenslehre. Mit dem Verweis auf die Bedeutung der Arbeit katholischer Journalisten und Schriftsteller finden zum ersten Mal auch die Medien sowie die Zivilgesellschaft als politische Faktoren, wie anfanghaft auch immer, einen Platz in den friedensethischen Überlegungen des Papstes.18
Seine ekklesiologischen Überlegungen bringen einen neuen Ton zum Klingen. Sie zielen darauf, dass es ein unverzichtbarer Teil der universellen Mission der Kirche ist, zum Frieden beizutragen.19 Die Kirche befindet sich nur soweit auf dem ihr aufgetragenen Weg, als sie selber ein praktisches Zeichen der Überwindung von Hass und Vergeltung ist.20 Diese in neuer Weise selbstreflexive Position schlägt sich unmittelbar in der Bereitschaft nieder, im Umgang mit den durch die faktische Auflösung des Kirchenstaats 1871 entstandenen staatsrechtlichen Problemen neue Wege zu gehen.21 Zu diesen Öffnungstendenzen mag auch die Tatsache beigetragen haben, dass gerade aufgrund des Kirchenstaatsproblems Italien die Einbeziehung des Heiligen Stuhls bei den Friedensverhandlungen unterbunden hatte. Für das Verhältnis des Heiligen Stuhls zur Staatenwelt und damit auch seiner friedenspolitischen Rolle kam der Klärung der offenen Kirchenstaatsfrage damit eine wichtige Funktion zu. Sie sollte aber erst unter seinem Nachfolger vorgenommen werden können.
Die Enzyklika spricht das Themenfeld Versöhnung an, allerdings ohne dieses zu entwickeln und zu vertiefen. Es bleibt bei einer normativen Rede, die die real vorfindlichen Widerstände gegen Versöhnung nicht weiter durchdringt, sondern unter Verweis auf das christliche Selbstverständnis zu delegitimieren sucht. So verdienstvoll die Thematisierung des Versöhnungsauftrags ist, die sich auch in einem Apostolischen Schreiben an die deutschen Bischöfe 1919 findet,22 sie bleibt gegenüber den politischen Realitäten unterbestimmt. Der keineswegs unkritischen Fokussierung auf die objektiven Rahmenbedingungen von Frieden (Friedensverträge, internationale Strukturen etc.) ist keine entsprechende Vertiefung der subjektiven Faktoren beigefügt (Konversion der Herzen, Heilung des Gedächtnisses, Wahrheitsfindung etc.). Hier bleibt Benedikt XV. appellativ. Bemerkenswerterweise spielen die Fragen nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die für die Versailler Verträge im Kontext der Kriegsschuldproblematik durchaus eine Rolle gespielt haben, keine Rolle. Es liegt nahe, darin eine Fortsetzung des um Neutralität als Voraussetzung der eigenen friedenspolitischen Wirksamkeit bemühten Agierens des Heiligen Stuhls zu sehen. Trotz dieser kritischen Einschränkungen bleibt es ein wichtiges Verdienst dieser Enzyklika, das Friedensthema in neuer Weise zur Sprache gebracht und damit kirchlicherseits aktualisiert zu haben. Diejenigen, insbesondere im deutschen und französischen Katholizismus, die sich der Versöhnungsfrage annahmen und damit schnell in den Geruch des Verrats nationaler Interessen kamen, konnten sich nun auf den Papst berufen; vor dem Hintergrund des durchaus auch in den Ortskirchen beheimateten Nationalismus ein nicht unwichtiger Gewinn an Legitimation.
Der Anspruch der Kirche, selbst aktiv an der Gestaltung von Friedensprozessen teilzunehmen, wurde vor dem Hintergrund der Erfahrungen des I. Weltkriegs von Benedikt XV. in neuer Weise formuliert und zu einem Bestandteil der Verkündigung aller seiner Nachfolger. Es bedurfte längerer Zeit, bis auch seine selbstkritischen Impulse breitere Rezeption fanden.23
Das Friedensproblem steht auch im Mittelpunkt der Antrittsenzyklika seines Nachfolgers Pius XI., die sich wie ein Regierungsprogramm seines Pontifikats liest.24 In ihr werden die Nachwirkungen des Weltkriegs deutlich unterstrichen.
In den Ländern, in denen gestern der Krieg wütete, ist die alte Feindschaft keineswegs erstorben; im Gegenteil, sie lebt fort und tritt auf, hier in versteckter Form in der Politik oder im Wirtschaftsleben, dort unverhüllt in Zeitungen und Zeitschriften; selbst vor Gebieten, die ihrer Natur nach solch grimmigem Streit entrückt sein müssten, macht sie nicht halt, wie Kunst und Wissenschaft. Die bösen Folgen davon sind unvermeidlich; der internationale Hass und Streit lässt die Völker nicht zur Ruhe kommen; Feindschaft herrscht zwischen Siegern und Besiegten, ja auch die Sieger sind untereinander entzweit; die Schwächeren glauben sich von den Stärkeren übervorteilt und ausgebeutet, die Stärkeren vermeinen, mit Unrecht der Gegenstand des Hasses der Schwächeren zu sein. Alle miteinander aber, die Neutralen nicht ausgenommen, empfinden die traurigen Wirkungen des Krieges, am meisten natürlich die Besiegten. Je mehr Heilung sich verzögert, desto mehr verschärfen sich die Übel, besonders da die mehrfachen Versuche und Konferenzen der Staatsmänner über Erwarten erfolglos verliefen. So wächst die Angst vor neuen, noch entsetzlicheren Kriegen und zwingt alle Staaten zur Kriegsbereitschaft; dabei erschöpft sich die Gesellschaft ebenso wie die Volkskraft. Und neben dem wissenschaftlichen Leben erleidet namentlich auch das religiöse und sittliche Leben den schwersten Schaden.25
Der I. Weltkrieg wird als Auswirkung eines schon vor dem Krieg einsetzenden Sittenverfalls gedeutet. Die soziale Frage in ihren vielfältigen Dimensionen kommt als Friedensproblem in den Blick. Die sittliche Erneuerung im Sinne der katholischen Soziallehre wird zur Antwort auf die Herausforderungen der Zeit.26 Anders als sein Vorgänger unterstreicht Pius XI. dabei nicht die Bedeutung neuer internationaler Organisationen. Er hebt vielmehr darauf ab, dass der Heilige Stuhl selbst die richtige Institution für die internationale Vermittlung sowie die Gewährleistung einer angemessenen Umsetzung des aus göttlichem Willen entspringenden Naturrechts sei, das wiederum als einzige Grundlage für einen wirklichen Frieden gelten könne.
Es existiert aber jetzt noch eine göttliche Institution, die die Heiligkeit des Völkerrechts schützen kann, eine Institution, die allen Nationen angehört und doch alle Nationen überragt, die ausgestattet ist mit der höchsten Autorität und ehrwürdig ist durch die Fülle ihrer Lehrgewalt: Die Kirche Christi. Sie allein zeigt sich auf der Höhe dieser bedeutsamen Aufgabe, dank ihrer göttlichen Sendung, dank ihrer Natur und Verfassung, dank ihrer jahrhundertlangen glänzenden Geschichte; selbst die Stürme des Krieges haben ihren Glanz nicht verdunkelt, sondern wunderbar erhöht.27
Zur Verwirklichung dieses Erneuerungswerks ruft der Papst insbesondere auch die katholischen Laien auf. Mit diesem Aufruf, der gemeinhin als die Geburtsstunde der katholischen Aktion gilt, bringt der Papst ein aus der Soziallehre wohl bekanntes Motiv auch in der Friedenslehre zur Geltung: die Verantwortung der gesellschaftlichen Kräfte für die Erneuerung und Sicherung der gesellschaftlichen Grundlagen. Friedenspolitik ist damit nicht allein Aufgabe der Staatsführungen. Der Zusammenhang zwischen der inneren Verfasstheit der Staaten und ihrer Friedensfähigkeit scheint auf. Die Antwort des Papstes auf die drängenden Nachkriegsprobleme liest sich aus der heutigen Perspektive im Ganzen dennoch wie der restaurative Versuch, vor dem Hintergrund der Katastrophe des I. Weltkriegs verloren gegangenes Gelände am mittelalterlichen Ordo orientiert zurückzugewinnen. Dabei unterstreicht der zutreffende Verweis, man habe schon immer vor den Folgen der sozialen Ungerechtigkeit gewarnt, die eigene Argumentation.28 Diese Interpretation der Kriegsursachen führte aber faktisch zu einer gravierenden Unterschätzung der Neuartigkeit der gesellschaftlichen und damit auch der friedenspolitischen Lage nach dem I. Weltkrieg. Ein Bewusstsein für die Tiefe des Legitimationsverlustes der staatlichen und nichtstaatlichen Autoritäten sowie den gesteigerten Sinnbedarf der europäischen Gesellschaften, der wesentlich zu den „Plausibilitäten“ der faschistischen und kommunistischen Antworten beitragen hat, kommt in den Texten von Pius XI. kaum in den Blick. Eine Stärke seiner Perspektive liegt hingegen in ihrer kritischen Distanz zum Nationalismus.
Gerade diesen ungeordneten Begierden, die sich so gerne in den Deckmantel der Vaterlandsliebe und der Sorge für das öffentliche Wohl hüllen, ist es zuzuschreiben, wenn von Zeit zu Zeit unter den Völkern erbitterte Kämpfe entstehen. Obgleich die Liebe zu Heimat und Volk eine reiche Quelle von Tugenden und Heldentaten sein kann, wenn sie Christi Gesetz zur Norm hat, so wird sie doch zum Anlass schreienden Unrechts, wenn sie die Grenzen von Recht und Billigkeit überschreitet und in maßlosen Nationalismus ausartet.29
Der Grundanalyse seiner Antrittsenzyklika folgend, veröffentlicht Pius XI. 1931 die Enzyklika „Quadragesimo Anno“. Dieser Text, der eine bemerkenswerte, frische Würdigung und Aktualisierung von „Rerum Novarum“ (1891) leistet, kommt sowohl ohne das ekklesiale Pathos von „Ubi Arcano Dei Concilio“ als auch ohne jeden Verweis auf die Nachwirkungen des I. Weltkriegs und den damit verbundenen Versöhnungsbedarf aus.30 Mit der Beschreibung des Zusammenhangs von selbstsüchtigem Liberalismus und der Verschärfung der politischen und wirtschaftlichen Konkurrenzsituationen, der mit zu den Vorstellungen von wirtschaftlicher Autarkie bis hin zu „übersteigertem Nationalismus und Imperialismus“ geführt hat, kommt hingegen ein zentrales Problem der zeitgenössischen Konfliktdynamik zur Sprache.31 Die friedenspolitische Intention von „Quadragesimo Anno“ wird deutlicher, liest man die Enzyklika in der Linie von „Ubi Arcano“. In dieser Perspektive wird die enge Beziehung friedensethischer und sozialethischer Reflektion deutlich sichtbar. Jedoch führt die Fokussierung auf den inneren sozialen Frieden und die damit verbundenen sozialpolitischen Notwendigkeiten dazu, dass die internationalen Fragen – auch wenn diese Dimension angesprochen wird – in diesem Rahmen unterbestimmt bleiben. Nun mag nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise 1929 und nicht zuletzt nachdem die stalinistische Sowjetunion nicht mehr als nur vorübergehende Erscheinung betrachtet werden kann, sondern sich zur sehr realen Bedrohung ausgewachsen hat, die Notwendigkeit von Sozial- und Wirtschaftreformen einen verständlichen Vorrang genießen.32 Dennoch bleibt es unbefriedigend, dass die wachsenden nationalen Konflikte in Europa und speziell im östlichen Europa in ihrer Eigendynamik nicht thematisiert werden. Die Verbindung der sozialethischen Reflexion mit einer der drängenden friedenspolitischen Fragen bleibt damit vorerst undeutlich.
Als Pius XI. am 3. Mai 1932 die erneut der damaligen Finanz- und Wirtschaftskrise gewidmete Enzyklika „Caritate christi compulsi“ veröffentlicht, wendet er sich nunmehr auch ausdrücklich dem Problem des übersteigerten Nationalismus zu:
Wenn dann diese Selbstsucht unter Missbrauch der berechtigten Vaterlandsliebe und unter Übertreibung des berechtigten Nationalgefühls, das die richtige Auffassung der christlichen Nächstenliebe nicht nur missbilligt, sondern es lenkend heiligt und belebt, sich in die Beziehungen zwischen dem einen und dem andern Volke einnistet, dann gibt es keine Ausschreitung mehr, die nicht gerechtfertigt erscheint; und was unter den Einzelmenschen allerseits als verurteilenswert betrachtet würde, das wird hier als erlaubt und lobenswert erachtet, sobald es im Namen eines derartigen übertriebenen Nationalismus ausgeübt wird.
An Stelle des großen Gebotes der Liebe und der menschlichen Brüderlichkeit, das alle Nationen und alle Völker umfasst und sie alle in einer einzigen Familie, mit einem einzigen Vater, der im Himmel ist, vereinigt, tritt notwendigerweise der Hass, der alle an den Rand des Untergangs bringt.33
In dieser Enzyklika wiederholt Pius XI. seinen Aufruf zur Wiederherstellung der sittlichen Weltordnung. Dabei unterstreicht er ausdrücklich die friedenspolitische Dimension.
Es gibt keinen Frieden für die Gottlosen, sagt der Heilige Geist, denn sie leben in ständigem Kampf und Gegensatz zu der von der Natur und deren Schöpfer festgesetzten Ordnung. Nur dann, wenn diese Ordnung wieder hergestellt wird, wenn sämtliche Völker sie getreulich und freiwillig anerkennen und bekennen, wenn die inneren Verhältnisse der Völker und ihre äußeren Beziehungen zu anderen Nationen auf dieser Grundlage aufbauen, erst dann wird ein dauerhafter Friede auf Erden möglich sein.“34
Im Vergleich zu den Vorgängerschreiben nimmt der Ton insbesondere vor dem Hintergrund der kommunistischen Bedrohung an Dringlichkeit deutlich zu.
Es ist somit unerlässlich, ehrwürdige Brüder, dass wir ohne zu ermüden, eine Schutzmauer für das Haus Israel aufrichten, dass wir alle unsere Kräfte zu einer einzigen festgefügten Front gegen diese ruchlosen Scharen vereinen, die nicht minder die Feinde Gottes als der Menschheit sind! In diesem Kampfe nämlich geht es um die höchste Entscheidung, die der menschlichen Freiheit vorgelegt werden kann: für Gott oder wider Gott. So lautet neuerdings die Wahl, von der das Schicksal der ganzen Welt abhängt.35
Diese Dringlichkeit wird auch dadurch betont, dass sich der Papst nicht nur an die Katholiken, sondern ausdrücklich an alle wendet, die an Gott glauben.
In dieser engen Verbindung von Gesinnung und Kräften sollen natürlich jene die Ersten sein, die sich des christlichen Namens rühmen, eingedenk der leuchtenden Beispiele der apostolischen Zeit, als die Menge der Gläubigen ein Herz und eine Seele bildeten. Es mögen aber auch alle mitwirken, die noch an einen Gott glauben, die aufrichtig und von Herzen ihn verehren, um von der Menschheit die ungeheure Gefahr abzuwenden, die alle bedroht. Der Glaube an Gott ist ja die einzig feste Grundlage, auf die jedwede menschliche Verantwortlichkeit sich stützen muss. Daher müssen alle, die Umsturz und Schreckensherrschaft ablehnen, entschlossen dahin wirken, dass die Feinde der Religion ihre so laut und offen verkündeten Pläne nicht ausführen können.36
Neben den schon in „Ouadragesimo Anno“ entwickelten Handlungsvorschlägen, die aber keine konkreten Vorschläge zur Gestaltung der internationalen Beziehungen beinhalten, hebt Pius XI. unter der Überschrift „Kampfmittel des Christentums“ besonders auf die Verstärkung des Gebets und der Buße ab.37 Dabei wird ein bewusster Zusammenhang zwischen dem Seelen- und dem Völkerfrieden hergestellt:
Männer, die in jeder Nation zu demselben Gott um Frieden beten, können nicht gleichzeitig Träger der Zwietracht unter den Völkern sein; Männer, die sich im Gebete an die göttliche Majestät wenden, können nicht jenen nationalistischen Imperialismus begünstigen, der aus jedem Volke sich seinen eigenen Gott macht; Männer, die zum Gott des Friedens und der Liebe aufblicken, […] werden nicht ruhen, bis schließlich doch der Friede, den die Welt nicht geben kann, vom Spender alles Guten auf die Menschen, die guten Willens sind, herniedersteigt.38
Indem er die Bedeutung der Spiritualität im friedenspolitischen Zusammenhang betont, steht Pius in direkter Linie mit seinem Vorgänger. Zugleich machen seine For