2Eine lange philosophische Tradition, die ihren Höhepunkt in der Philosophie des Deutschen Idealismus findet, vertritt die These, dass der Mensch sich grundlegend von den übrigen Tieren unterscheidet. Diese Position ist jedoch spätestens seit Darwin in die Defensive geraten, was vor allem daran liegt, dass ihre Anhänger oft genug nicht klar sagen können, worin die tiefe Differenz zwischen Mensch und Tier bestehen soll. Die in diesem Band versammelten Texte eint das Ziel, diese Differenz als eine Artikulation des Selbstbewusstseins derjenigen zu formulieren, deren Leben durch genau dieses Selbstbewusstsein einzigartig wird.

Andrea Kern ist Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Leipzig. Bei Suhrkamp sind zuletzt erschienen: Schöne Lust (stw 1474) und Quellen des Wissens (stw 1786).

Christian Kietzmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Marburg.

3Selbstbewusstes Leben

Texte zu einer transformativen Theorie
der menschlichen Subjektivität

Herausgegeben von
Andrea Kern
und Christian Kietzmann

Suhrkamp

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4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2197.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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eISBN 978-3-518-75404-7

www.suhrkamp.de

5Inhalt

James Conant und Andrea Kern
Analytischer Deutscher Idealismus. Vorwort zur Buchreihe

Selbstbewusstes Leben
Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität

Andrea Kern und Christian Kietzmann
Einleitung: Menschliches Leben und die Idee des Selbstbewusstseins

I. Die Idee einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität

Michael Thompson
Formen der Natur: erste, zweite, lebendige, vernünftige und phronetische

Matthew Boyle
Wesentlich vernünftige Tiere

Wolfram Gobsch
Der Mensch als Widerspruch und absolutes Wissen.
Eine hegelianische Kritik der transformativen Theorie des Geistes

II. Selbstbewusstes Wahrnehmen und Handeln

John McDowell
Wahrnehmung als Erkenntnisfähigkeit

Adrian Haddock
Wahrnehmung und Gegebensein

Sebastian Rödl
Selbsterkenntnis des Selbstbewegers

III. Selbstbewusste Vermögen bei Kant

James Conant
Die Einheit des Erkenntnisvermögens bei Kant

Andrea Kern
Kant über selbstbewusste Sinnlichkeit und die Idee menschlicher Entwicklung

Alexandra Newton
Kant über den Unterschied zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Gefühl

IV. Selbstbewusstes Leben bei Hegel

Terry Pinkard
Die Logik selbstbewusster Tiere

Thomas Khurana
Bewusstsein des Lebens und lebendiges Selbstbewusstsein
Anmerkungen zu einem Übergang in Hegels Phänomenologie des Geistes

Matthias Haase
Geist und Gewohnheit
Hegels Begriff der anthropologischen Differenz

Textnachweise

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

7James Conant und Andrea Kern
Analytischer Deutscher Idealismus
Vorwort zur Buchreihe

Die Philosophie des Deutschen Idealismus – und damit meinen wir die Philosophie von Kant bis Hegel – erscheint vielen als durch die analytische Philosophie überholt. Nicht selten wird sie als Gegenprojekt zu jener Tradition der Philosophie verstanden. Mit der Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus« wollen wir sichtbar machen, dass die Philosophie des Deutschen Idealismus keinen Gegensatz zur analytischen Philosophie darstellt, sondern umgekehrt ihr Maßstab und Fluchtpunkt ist.

Die Reihe antwortet auf eine intellektuelle und gesellschaftliche Herausforderung, die durch die Renaissance des Naturalismus in den Wissenschaften erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Sie liegt in der für uns grundlegenden Frage, wie wir es verstehen können, dass wir geistbegabte Tiere sind, die einerseits das, was sie tun, aus Freiheit tun, deren Leben aber andererseits durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, die sie nicht selbst hervorgebracht haben. Es ist offenkundig, dass man diese Frage nicht beantworten kann, indem man ihre eine Seite – die Freiheit des Menschen – leugnet. Eine Naturalisierung des Geistes, die leugnet, dass all das, was das menschliche Leben ausmacht – Denken, Sprechen, Handeln, soziale Institutionen, religiöser Glaube, politische Ordnungen, Kunstwerke usw. – Gegenstände sind, die, um mit Kant zu sprechen, dem Reich der Freiheit angehören, löst das Problem nicht, sondern kapituliert vor ihm. Doch auch wenn jeder sieht, dass diese Leugnung, die der Szientismus unablässig predigt, nicht das Resultat einer Erkenntnis sein kann, sondern vielmehr Ausdruck einer intellektuellen Hilflosigkeit ist, führt uns diese Reaktion ebenso vor Augen, dass die Frage nach der Einheit von Geist und Natur eine echte Frage ist, bei deren Beantwortung unser Selbstverständnis als geistige Wesen auf dem Spiel steht.

Die beschriebene Situation ist indes nicht neu. Blicken wir ins 18. Jahrhundert zurück, erkennen wir eine ähnliche intellektuelle Lage. Auch damals war es der Fortschritt der modernen Naturwissenschaften, der unser Selbstverständnis als geistbegabte Tiere 8herausgefordert hat. Der Deutsche Idealismus antwortet auf diese Herausforderung, indem er die Philosophie explizit durch die Frage nach der Einheit von Geist und Natur definiert. Im Angesicht der modernen Naturwissenschaft ringt die Philosophie von Kant bis Hegel darum, die zwei Seiten des Menschen zusammenzubringen: dass er ein Tier ist und doch ein geistiges Wesen, dass er Natur ist und doch Gesetzen unterliegt, die von anderer Art sind als die Gesetze der Natur: Gesetzen der Freiheit. Die Philosophie des Deutschen Idealismus ist von dem Bewusstsein durchdrungen, dass das Begreifen dieses Verhältnisses – des Verhältnisses von Geist und Natur, wie Hegel es zu Anfang seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften formuliert – die bestimmende Aufgabe der Philosophie ist. Wenn wir daher mit der Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus« die Philosophie des Deutschen Idealismus stärken wollen, dann weil wir meinen, dass der Deutsche Idealismus für die intellektuelle Herausforderung, der wir uns gegenübersehen, die maßgebliche Orientierung ist. Der Deutsche Idealismus liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Damit meinen wir, dass die Art und Weise, wie der Deutsche Idealismus seine grundlegenden Begriffe und Ideen – allen voran die Begriffe der Freiheit, der Vernunft und der Selbstbestimmung – entwickelt und artikuliert, dem gegenwärtigen philosophischen Bewusstsein vielfach unbekannt und verstellt ist. Das liegt teilweise daran, wie die Philosophie in Westdeutschland nach 1945 mit diesem philosophischen Erbe umgegangen ist. Sie hat ihre durch den Nationalsozialismus verursachte Verstümmelung viel zu wenig als solche erfasst und zu heilen gesucht. Damit hat sie sich in eine Lage gebracht, in der sie aus sich heraus nicht mehr die Mittel schöpfen konnte, um die Begriffe und Ideen, in denen sie zu Recht ihre Bedeutung sah, so zu artikulieren, dass sie als Maßstab der systematischen Arbeit erscheinen konnten. Für einen großen Teil der Jüngeren wurde stattdessen die analytische Philosophie angloamerikanischer Prägung zu einem solchen Maßstab.

So wichtig diese Erneuerung der Philosophie war, so entstand dadurch doch der falsche Eindruck, die analytische Philosophie und die Philosophie des Deutschen Idealismus seien Gegensätze, nämlich Orientierungen und Vorgehensweisen, die nicht nur nichts miteinander zu tun haben, sondern einander ausschließen. Die Bücher dieser Reihe möchten darum auch sichtbar machen, 9dass der Deutsche Idealismus von Kant bis Hegel nicht nur kein Gegensatz zur analytischen Philosophie ist, sondern eine Form, und zwar eine maßgebliche Form, der analytischen Philosophie. Der Deutsche Idealismus als analytische Philosophie ist eine Reflexion auf elementare Formen des Denkens und damit auf die Quelle unserer grundlegenden Begriffe, die diese Begriffe zugleich als notwendig ausweist. Philosophie ist, so sagt es Hegel, der Versuch, das Denken aus sich selbst zu begreifen. Sie ist ein Begreifen des Denkens, das von keinen »Voraussetzungen und Versicherungen« abhängt, wie er sagt, eine radikal voraussetzungslose Untersuchung der Voraussetzungen des Denkens. Darin liegt der gemeinsame Zug der Philosophie des Deutschen Idealismus: dass die Begriffe, die sie durcharbeitet, von nirgendwoher – von keiner Wissenschaft und keinem Common Sense – übernommen werden, sondern diese Begriffe nur so verwendet werden, wie sie als notwendig für das Denken erkannt werden. Diese Einsicht, dass die Philosophie ihre Begriffe nur aus dem Denken selbst nehmen kann, macht den radikalen Anspruch des Deutschen Idealismus aus. Und so ist die Idee der analytischen Philosophie, die Idee der Philosophie als logischer Analyse der grundlegenden Formen des Denkens und der Aussage, nirgends so streng durchgeführt worden wie im Deutschen Idealismus.

Unter dem Label »Analytischer Deutscher Idealismus« versammelt die Buchreihe Texte und Bücher, die auf exemplarische Weise Philosophie als analytische Aufklärung verstehen, im Geist und mit den Begriffen des Deutschen Idealismus. Die analytische Philosophie kommt erst da zu sich selbst, wo sie sich nicht von der idealistischen Philosophie abwendet, sondern auf diese ausgerichtet ist: in ihren Grundbegriffen und in der Radikalität ihrer Methode. Das mag manchen als provokante These anmuten, doch es gibt viele Beispiele, die ihr entsprechen. Gottlob Freges Begriffsschrift, die vielen als Gründungsdokument der analytischen Philosophie gilt, ist kein Gegenprojekt zum Deutschen Idealismus, sondern eine Weiterführung der kritischen Philosophie Kants. Und wenn wir uns zwei andere große Werke der analytischen Philosophie vergegenwärtigen, Wilfrid Sellars’ Empiricism and the Philosophy of Mind (deutsch: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes) und Peter Strawsons The Bounds of Sense (deutsch: Die Grenzen des Sinns), sehen wir, dass sich die herausragenden Repräsentanten der 10analytischen Philosophie niemals vom Deutschen Idealismus abgewendet, sondern stets dessen Nähe gesucht haben. Das offizielle Selbstverständnis der analytischen Philosophie, in dem sie sich dem Empirismus verschreibt und sich damit dem Deutschen Idealismus entgegensetzt, ist ein Selbstmissverständnis. Der Empirismus, der sich für aufgeklärt hält, weil er die empirischen Wissenschaften zum Maß der Erkenntnis erklärt, ist in Wahrheit der Widersacher der analytischen Philosophie, nämlich der radikalen, der grundlegenden Analyse der Formen unseres Denkens und Verstehens. Soweit der Empirismus die analytische Philosophie dominiert, verdeckt er deren eigentliche Orientierung, die dieselbe ist wie die des Deutschen Idealismus.

Der vorliegende Band Selbstbewusstes Leben ist der vierte Titel dieser Buchreihe. Er versammelt Texte, deren gemeinsames Anliegen es ist, die Besonderheit des menschlichen Lebens durch seinen selbstbewussten Charakter zu beschreiben. Dieser Gedanke findet in der Philosophie des Deutschen Idealismus seinen Höhepunkt, der zufolge sich der Mensch genau dadurch, dass er selbstbewusst lebt, von den nichtmenschlichen Tieren unterscheidet. Was es genau bedeutet, das menschliche Leben als ein selbstbewusstes Leben zu begreifen, und was es bedeutet, auf diese Weise die Mensch-Tier-Differenz zu charakterisieren, ist die gemeinsame Frage der hier versammelten Autoren.

Die Buchreihe wird von einem internationalen Forschungszentrum getragen, dem Forschungskolleg Analytic German Idealism (FAGI), das 2012 an der Universität Leipzig gegründet wurde und dessen Arbeit durch ein international besetztes Gremium unterstützt wird (siehe 〈http://www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/fagi/〉). Ziel des FAGI ist es auch, die Stimme des Analytischen Deutschen Idealismus in die außerakademische Öffentlichkeit hineinzutragen und ihr Gewicht in den Debatten über unser Selbstverständnis zu stärken.

Selbstbewusstes Leben
Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität

13Andrea Kern und Christian Kietzmann
Einleitung:
Menschliches Leben und die Idee des Selbstbewusstseins

I

Wenn wir fragen, was die anthropologische Differenz ist, was also den Menschen vom bloßen Tier unterscheidet, dann ist dabei vorausgesetzt, dass der Mensch dem Tier in vielem gleicht. (Wir fragen nicht, was den Menschen von einer tektonischen Platte oder einem Getränkeautomaten unterscheidet.) Der Mensch gleicht dem bloßen Tier zunächst darin, dass er ein Tier ist. Daraus scheint zu folgen, dass er dem bloßen Tier in allem gleicht, was das Tier als Tier bestimmt. Die anthropologische Differenz scheint dann in einem Merkmal liegen zu müssen, das beim Menschen und nur beim Menschen hinzutritt und ihn von den übrigen Tieren unterscheidet. Es ist üblich anzunehmen, dass dieses besondere Merkmal des Menschen eine Fähigkeit ist, etwas, das der Mensch kann und das andere Tiere oder andere Menschenaffen nicht können. Traditionelle philosophische Bestimmungen des Menschen lassen sich prima facie so verstehen, als benennten sie diese hinzutretende, den Menschen auszeichnende Fähigkeit: Der Mensch ist das vernünftige, das sprechende, das fragende, das herstellende, das in staatlicher Gemeinschaft lebende Tier: animal rationale, zoon logon echon, das Tier, das in seinem Sein nach seinem Sein fragt, homo faber, zoon politikon. Vernunft, Denken, Sprache sind dann spezifische Fähigkeiten, die der Mensch und nur der Mensch besitzt und die ihn vom Tier unterscheiden. Entsprechend lassen sich auch zeitgenössische Vorschläge aus den einschlägigen empirischen Wissenschaften verstehen: Der Mensch hat Grammatik, er ist fähig zur gemeinsamen Aufmerksamkeit, zu Rekursion, Normativität, Altruismus, Kooperation usw.

Ebenso alt wie die Versuche, den Menschen durch eine solche ihn auszeichnende Fähigkeit zu bestimmen, sind die Einwände gegen jeden der vorgebrachten Kandidaten: Tiere denken, Tiere leben in komplexen arbeitsteiligen Gemeinschaften, sie kommunizieren 14miteinander, gebrauchen Werkzeuge, handeln altruistisch, lesen die Gedanken anderer usw. Da nun niemand ernsthaft annehmen kann, dass Mensch und Tier nichts unterscheidet, sucht man auf diese Einwände zu antworten, indem man die fragliche Fähigkeit genauer spezifiziert. In der Regel ist es dann aber nur eine Frage der Zeit, bis die gegebene Spezifikation erneut durch Verweis auf Verhaltensweisen bestimmter Tiere in Frage gestellt wird, die zeigen sollen, dass die angeblich nur den Menschen auszeichnende Fähigkeit auch von diesen beherrscht wird. Die Folge ist, dass die Frage nach der anthropologischen Differenz in eine methodische Sackgasse gerät. Wie die Dinge liegen, scheint jede Antwort auf diese Frage zum Scheitern verurteilt zu sein.

Den in diesem Band versammelten Aufsätzen liegt der Gedanke zugrunde, dass die Diskussion der Frage, worin die anthropologische Differenz besteht, deswegen in eine Sackgasse geraten ist, weil sie auf dem Boden einer falschen Prämisse geführt wurde: nämlich der Prämisse, dass das, was den Menschen vom bloßen Tier unterscheidet, eine oder mehrere bestimmte Fähigkeiten sind, die beim Menschen hinzukommen und ihn zu Vollzügen befähigen, die den anderen Tieren versagt sind. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier, so der die Aufsätze leitende Gedanke, ist jedoch von anderer Art: Es ist ein Unterschied, der nicht in einer bestimmten, hinzutretenden Fähigkeit besteht, sondern darin, dass die Vermögen, in deren Ausübung das menschliche Leben besteht, eine andere Art von Einheit bilden als im Fall des nichtmenschlichen Lebens: nämlich eine selbstbewusste Einheit. Wenn wir das menschliche Leben als ein wesentlich selbstbewusstes Leben charakterisieren, dann bezeichnet nach dieser Auffassung die Idee des Selbstbewusstseins nicht ein bestimmtes Vermögen des Menschen, von dem man sich fragen kann, ob es ihm wesentlich zukommt oder nicht und, wenn ja, wie es ihm zukommt oder ob es ihn gegenüber nichtmenschlichen Tieren auszeichnet oder nicht auszeichnet. Die Idee des Selbstbewusstseins, so die leitende Idee der Aufsätze dieses Bandes, bezeichnet vielmehr eine spezifische Art und Weise, in der ein Subjekt durch Vermögen bestimmt sein kann, in deren Ausübung das Leben dieses Subjekts besteht. Selbstbewusstsein ist in diesem Sinne nichts, was ein Mensch über die Tatsache hinaus hat, dass er im Besitz zahlreicher Vermögen ist, in deren Ausübung sein Leben besteht. Die Idee des Selbstbewusstseins bezeichnet vielmehr die 15Art und Weise, in der ein menschliches Subjekt überhaupt im Besitz jener Vermögen ist, die sein Leben ausmachen.

Es eint die Autoren dieses Bandes, dass sie diese systematische These zur Rolle und Bedeutung der Idee des Selbstbewusstseins gerade durch und in Auseinandersetzung mit den traditionellen philosophischen Bestimmungen des Menschen, wie sie insbesondere der Deutsche Idealismus ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt hat, gewinnen. Die vorliegenden Aufsätze verstehen sich daher auch als eine interpretatorische These dazu, wie die zentralen Begriffe des Deutschen Idealismus, allen voran die Begriffe des Selbstbewusstseins und der Vernunft, zu verstehen sind. Die geteilte Annahme lautet, dass es ein Missverständnis ist, zu glauben, die Betonung des Selbstbewusstseins und der Vernunft im menschlichen Leben, die insbesondere die Philosophie von Kant und Hegel eint, habe den Sinn, eine besondere Fähigkeit des Menschen ins Zentrum zu stellen, durch die der Mensch sich von den nichtmenschlichen Tieren unterscheidet. So als wäre der Mensch ein Wesen, das außer dass es ein Tier ist, auch noch selbstbewusst und vernünftig ist. Die Betonung des Selbstbewusstseins und der Vernunft im menschlichen Leben, die Kant und Hegel eint, hat bei beiden vielmehr den Sinn, einen Unterschied in der Form des menschlichen Lebens zu beschreiben: das heißt einen Unterschied, der das Prinzip selbst betrifft, durch das die menschlichen Vermögen jene Art von Einheit bilden, die durch die Idee des »Lebens« bezeichnet wird. Der Begriff des Selbstbewusstseins, den wir verwenden, um den Menschen vom bloßen Tier zu unterscheiden, beschreibt daher ihnen zufolge in erster Linie nicht etwas, das der Mensch über das nichtmenschliche Tier hinaus kann. Er beschreibt vielmehr die Art und Weise, wie der Mensch als Tier lebt. Er beschreibt, in diesem Sinne, das Prinzip einer Transformation der Sinnlichkeit und nicht eine zur Sinnlichkeit hinzukommende, weitere Fähigkeit.

Die vorliegenden Aufsätze verstehen sich daher gleichermaßen als eine Auseinandersetzung mit den Autoren des Deutschen Idealismus, allen voran mit Kant und Hegel, in deren Diskussion sie ihre begrifflichen Bestimmungen entwickeln, wie auch als ein systematischer Beitrag zum Verständnis der Form des menschlichen Lebens und der Bedeutung jener Begriffe, durch die jene Lebewesen, die dieses Leben manifestieren, sich selbst charakterisieren. Sie diskutieren auf teilweise kontroverse Weise, wie die Idee einer 16solchen Transformation der Sinnlichkeit genau zu verstehen ist und welche Konsequenzen sich für unser Selbstverständnis als erkennende, handelnde und fühlende Wesen aus einer solchen transformativen Konzeption ergeben.

II

Teil I des vorliegenden Bandes versammelt drei Texte, in denen der Begriff einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität systematisch entwickelt wird.

Michael Thompson entwickelt seine Version der transformativen Theorie im Zuge der Verteidigung einer metaethischen Position, des aristotelischen Naturalismus. Ihr zufolge erhält das ethische »Sollen«, das etwa in Aussagen wie »du sollst ihm helfen, denn du hast es versprochen« vorkommt, seinen Sinn durch die Lebensform der biologischen Spezies, der wir selbst angehören, das heißt durch die menschliche Lebensform. Den Begriff einer Lebensform bestimmt Thompson über die Aussagen, in denen sie beschrieben oder ausgedrückt wird, und deren Beziehungen untereinander und zu Aussagen über konkrete Lebensvollzüge. Über eine Lebensform sprechen und denken wir in generisch allgemeinen Aussagen wie »Kirschbäume blühen ab Mitte April«, die untereinander in einem teleologischen Zusammenhang stehen, der einen vollständigen Lebenszyklus der betreffenden Art beschreibt. Thompson fasst damit die Begriffe des Lebens und der Lebensform nicht als materiale, rein inhaltlich bestimmte Begriffe auf, sondern als solche, die Kategorien des Denkens und Sprechens zum Ausdruck bringen. Gegen die Idee des aristotelischen Naturalismus, dass ethisches »Sollen« unter Rückgriff auf die evaluative Dimension der Lebensform des Menschen verstanden werden muss, wenden Kant und an ihm orientierte zeitgenössische Philosophen ein, dass sie die Ethik in unzulässiger Weise in empirisch verifizierbaren Tatsachen zu gründen versucht. Thompson widerspricht diesem Einwand, indem er dafür argumentiert, dass der Begriff der Lebensform nur ein Genus bildet, unter das bestimmtere Kategorien fallen, und dabei vor allem auch der Begriff des selbstbewussten Lebens. Träger einer solchen Lebensform haben nicht nur empirisches, sondern ebenso auch selbstbewusstes Wissen von ihr.

17Der Frage, was es genau heißt, einen kategorialen Unterschied zwischen Lebensformen zu behaupten, geht Matthew Boyle in seinem Beitrag nach. Er greift Thompsons Begriff der selbstbewussten oder, wie Boyle sagt, vernünftigen Lebensform auf und argumentiert, dass »vernünftig« hier kein bestimmtes Merkmal und keine konkrete Fähigkeit benennt, sondern vielmehr die Form unserer Lebensform, das heißt die besondere Weise, wie wir Menschen Eigenschaften und Fähigkeiten haben. Einen analogen Formunterschied macht er zwischen Pflanzen und Tieren aus. Pflanzen »tun« verschiedene Dinge: Sie wachsen, sie nehmen Nahrung auf und verstoffwechseln sie, sie pflanzen sich fort, indem sie Samen oder Brutknospen ausbilden, usw. Tiere »tun« auch verschiedene Dinge, doch bei einem Tier bedeutet »tun« etwas anderes als bei Pflanzen. Wenn sich ein Tier beispielsweise durch Jagd ernährt, ist das, was es tut, durch Instinkt, Begehren, sein Gefühl der Lust und seine Wahrnehmung der Umwelt informiert. Sein Tun ist, im Unterschied zu dem einer Pflanze, Verhalten. Boyle argumentiert nun, dass »tun« bei vernünftigen Lebensformen wie der des Menschen wiederum einen eigenständigen Sinn annimmt. Menschen verhalten sich nicht nur, sie handeln absichtlich, aus Gründen. Was sie tun, ist durch ihr Verständnis davon informiert, welche Gründe dafür oder dagegen sprechen, so zu handeln. Ein Handlungsprädikat von einem Menschen auszusagen ist deshalb eine andere Art von Prädikation als die, die wir vornehmen, wenn wir ein Verhaltensprädikat von einem Tier aussagen. So wie das Tun von Menschen und anderen Tieren sich der Art nach unterscheidet, unterscheiden sich Boyle zufolge auch zum Beispiel ihr Begehren und ihr Wahrnehmen.

Wolfram Gobsch charakterisiert dieses transformative Verständnis der Lebensform des Menschen als minimalempiristisch. Er kontrastiert es mit zwei anderen: einer perspektivistischen Variante der Transformationsthese, die er aus einer Lektüre von Martin Heideggers »Brief über den Humanismus« gewinnt, und einem antitransformativen absolut-idealistischen Verständnis, das er G. W. F. Hegel zuschreibt. Alle drei Positionen sind sich darin einig, dass erstens zwischen einem denkenden und einem nichtdenkenden Wesen ein logischer Unterschied besteht und dass zweitens der Mensch kein Aggregat aus einem sinnlichen, wahrnehmungsfähigen Wesen und einem denkenden, urteilenden, erkenntnisfähigen Wesen 18ist. Sie unterscheiden sich aber in ihrem Verständnis dieser beiden Einsichten. Der minimalempiristische Transformativist – Gobsch denkt hier vor allem an John McDowell – behauptet zum einen, dass die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit, da sie Gründe für Beobachtungsurteile bereitstellt und deshalb begrifflich informiert ist, grundsätzlich und logisch verschieden vom Wahrnehmungsvermögen anderer, nicht-denkender Tiere sei, während er zum anderen Urteil und Wahrnehmung als zwei Arten der Aktualisierung begrifflicher Fähigkeiten, spontan und rezeptiv, unterscheidet. Diese Trennung des rezeptiv bereitgestellten Erkenntnisgrundes eines Urteilsinhalts vom spontanen Ursprung des Urteilsaktes ist Gobsch zufolge problematisch, weil sie dem – in »Moores Paradox« zutage tretenden – Selbstverständnis des Urteilens als einer Tätigkeit, die sich allein aus ihrem Anspruch, begründete Erkenntnis zu sein, erklärt, nicht gerecht zu werden vermag. Der perspektivistische Transformativist Heidegger löst dieses Problem auf, indem er von einem ursprünglichen Selbst- und Weltverständnis der Denkenden ausgeht, das noch vor allen Entgegensetzungen wie denen zwischen Potenz und Akt oder Spontaneität und Rezeptivität liegt. Um dieser einfachen, differenzlosen Positivität willen kann die eigene Bestimmtheit und Rezeptivität für ein solches Selbst- und Weltverständnis nur im Streit mit anderen solchen Verständnissen thematisch werden. Gegen diese beiden Spielarten des Transformativismus setzt Gobsch Hegels absoluten Idealismus. Der absolute Idealist versucht, den logischen Unterschied zwischen Denkenden und Nichtdenkenden mit der Einheit des Menschen zusammenzubringen, indem er den Menschen als einen unbedingt notwendigen Widerspruch begreift. Der Mensch ist ein Widerspruch, erklärt Hegel, da sein ihn wesentlich auszeichnendes Erkenntnisvermögen zugleich als absolut – weil identisch mit der Ursache dessen, was es erkennt – und endlich – weil in seiner Tätigkeit abhängig von Wahrnehmung – zu bestimmen sei. Der Philosophie kann es daher, anders als im minimalen Empirismus oder im Perspektivismus, nicht um die Vermeidung dieses Widerspruchs gehen, sondern nur darum, ihn als unbedingt notwendig zu erkennen.

19III

Was bedeutet es konkret, dass sich die Vermögen des Menschen dadurch, dass er ein Vernunftwesen ist, von den Vermögen nichtmenschlicher Tiere wesentlich unterscheiden? Ein Testfall und zugleich Paradigma für diese These ist die menschliche Wahrnehmung und ihr Verhältnis zum Denken. Das Vermögen der Wahrnehmung kommt nämlich auch den nichtmenschlichen Tieren zu. Hier scheinen also menschliche und nichtmenschliche Tiere ein Vermögen zu teilen, und zugleich wollen Vertreter einer transformativen Auffassung behaupten, dass es kein gemeinsames Element in diesem Vermögen gibt, das beide teilen. Wie kann man beide Thesen zusammenbringen? Und wie wäre die analoge Charakterisierung anderer Formen der Sinnlichkeit, etwa das Begehren, Fühlen und Lustempfinden, und überhaupt der Leiblichkeit des Menschen zu verstehen, für die dasselbe gelten müsste? Dem gehen die Texte in Teil II nach.

John McDowell zufolge ist menschliches Wissen wesentlich dadurch charakterisiert, dass es in Rechtfertigungsbeziehungen zu anderen Überzeugungen oder zu Wahrnehmungen steht und dass diese Beziehungen dem Wissenden als solche bekannt sind. Tyler Burge wendet dagegen ein, dass erstens auch Kinder und nichtmenschliche Tiere, bei denen diese Bedingungen nicht erfüllt sind, wahrnehmungsbasiertes Wissen besitzen und dass McDowells Bild zweitens zu intellektualistisch ausfalle, da Rechtfertigung anspruchsvolle Begriffe erfordere, über die Menschen in vielen Fällen nicht verfügen. Dem ersten Einwand begegnet McDowell mit dem Hinweis, dass Wissen als ein Genus aufgefasst werden kann, unter das neben dem anspruchsvollen Begriff des menschlichen Wissens auch weniger anspruchsvolle Spezies fallen können, die bei anderen Tierarten auftreten. Die Idee eines menschlichen Erkenntnisvermögens, so McDowell, ist die Idee eines selbstbewussten sinnlichen Vermögens, dessen Sinnlichkeit durch genau dieses Selbstbewusstsein transformiert ist im Vergleich zu einem nichtmenschlichen sinnlichen Vermögen. Der zweite Einwand beruht laut McDowell auf einer falschen Konzeption von Rechtfertigung durch Wahrnehmung, die in Wahrnehmungen lediglich einen aufhebbaren Grund erkennen kann. Burge konstruiert Rechtfertigung als eine Sache aufhebbarer Gründe, um der Fallibilität des menschlichen Erkennens 20Rechnung zu tragen. McDowell wendet dagegen ein, dass Fallibilität ein Merkmal der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und nicht einzelner Ausübungen dieser Fähigkeit sei. Um diese Fähigkeit im Einzelfall auszuüben, müsse man keine anspruchsvollen Begriffe von aufhebbaren Gründen zur Anwendung bringen, sondern bloß den Begriff dieser Fähigkeit selbst.

Adrian Haddock thematisiert ebenfalls das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand beim Menschen. Er unterscheidet drei Konzeptionen dieses Verhältnisses: eine radikale dualistische Gegenüberstellung im Empirismus, einen moderaten Dualismus im transzendentalen Empirismus und die vollständige Zurückweisung des Dualismus im absoluten Idealismus. Der Empirismus behauptet Haddock zufolge, dass Wahrnehmung vom Denken abtrennbar sei. Vom Standpunkt der ersten Person aus betrachtet, erweise sich das aber als falsch: Wer von sich selbst denkt, dass er zum Beispiel etwas sieht, der denke damit zugleich immer auch von sich, dass er denkt, dass er sieht. Der transzendentale Idealismus behaupte nun, dass Wahrnehmung zwar keine materialen Begriffe wie »rot« oder »heiß« enthalte und so vom materialen Denken abtrennbar sei, dagegen aber zwingend formale Begriffe wie »Gegenstand« aktualisiere. Auf diese Weise werden laut Haddock jedoch gehaltvolle empirische Begriffe vom erstpersonalen Standpunkt aus unverständlich. Der absolute Idealismus sehe Wahrnehmung und Denken schließlich als unauflöslich zusammengehörig an. Aus dieser Position folge allerdings, dass empirische Begriffe zwar verständlich, aber nicht ohne Verweis auf die zu erklärenden Begriffe selbst explizierbar seien. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand beim Menschen ist also, so legt Haddock nahe, vielleicht nur um den Preis dieses Zugeständnisses begreifbar.

Sebastian Rödl beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem besonderen Charakter, den das Handeln und die Leiblichkeit des Menschen durch das menschliche Selbstbewusstsein gewinnen. Er argumentiert, dass Menschen als selbstbewusst Handelnde unmittelbare Selbsterkenntnis sowohl von dem, was sie absichtlich tun, als auch von ihren Handlungsfähigkeiten und von der Gliederung ihres Körpers haben. Rödl führt mit Kant die Idee einer Einheit ein, die durch ein Bewusstsein dieser Einheit gestiftet wird. Eine solche Einheit ist ein Schluss: Die Urteile, die als Prämissen und Konklusion in den Schluss eingehen, sind nur deshalb Teile eines 21Schlusses, weil der Schließende sie als solche begreift. In praktischen Schlüssen wird laut Rödl ein Wollen aus einem anderen Wollen und einer Vorstellung von dessen Realisierbarkeit abgeleitet. Auch hier besteht die Einheit des Schlusses in einer selbstbewussten Vorstellung dieser Einheit, und auch hier werden alle Folgerungen aus einem Wollen durch das Bewusstsein davon, dass sie Folgerungen sind, zu einer Einheit verknüpft. Das Besondere an praktischen Schlüssen ist nun aber, dass dieses Wollen im grundlegenden Fall in einer Handlung, das heißt in einer Bewegung, besteht. Daraus gewinnt Rödl die These, dass man als praktisch Schließender, das heißt als Handelnder, stets selbstbewusstes Wissen von den Vermögen hat, die für die Ausführung einer Handlung erforderlich sind. Da man Handlungen in der Regel durch Körperbewegungen ausführt und dies Wissen von den Fähigkeiten zu elementaren Körperbewegungen voraussetzt, folgt daraus, dass der Handelnde auch von ihnen selbstbewusst weiß. Das aber kann er nur, wenn er die Gliederung seines Körpers in Gliedmaßen kennt, die solche Körperbewegungen ermöglicht. Es setzt also selbstbewusstes Wissen von seiner Körperbeschaffenheit voraus, insofern diese seiner körperlichen Selbstbewegung zugrunde liegt.

IV

Die systematischen Überlegungen zum Ort und zur Rolle der Idee des Verstandes und des Selbstbewusstseins des Menschen in ihrem Verhältnis zu seiner Sinnlichkeit und Leiblichkeit in Teil II sind allesamt von Überlegungen Kants inspiriert, denen die Aufsätze in Teil III nachgehen.

James Conant will in seinem Aufsatz zeigen, dass Kant ein Vertreter der transformativen Auffassung von Rationalität war und nicht das, wie er es nennt, »Schichtkuchenmodell« des menschlichen Geistes vertrat, das sogenannte additive Theorien unterstellen. Den Kern seiner Argumentation bildet eine Lektüre der B-Deduktion der Kritik der reinen Vernunft: In der Transzendentalen Ästhetik werde gezeigt, dass Wahrnehmungen (Kants »Anschauungen«) die Form von Raum und Zeit aufweisen. Die erste Hälfte der B-Deduktion beweise nun, dass Anschauungen diese Form nur haben, wenn sie die kategoriale Form des Denkens aufweisen. Die zweite 22Hälfte der B-Deduktion argumentierte sodann, dass etwas nur aufgrund seiner kategorialen Einheit in Raum und Zeit ist. Entscheidend für Conant ist nun, wie man den Übergang von der ersten zur zweiten Hälfte der Deduktion versteht. Dazu müsse man mindestens vier zentrale Interpretationsentscheidungen treffen: Erstens müsse man sich entscheiden, ob man die formalen Anforderungen als subjektive und damit einschränkende Zutat oder vielmehr als objektiv und nicht beschränkend versteht. Zweitens müsse man sich darauf festlegen, ob man das Verhältnis der Ästhetik zur Analytik als zwei Schritte versteht oder diese Zweistufigkeit ablehnt. Drittens stehe man vor der Frage, ob man zwischen zwei Arten von Anschauung unterscheidet oder von nur einer Art ausgeht. Viertens müsse man sich entscheiden, ob man von der Verständlichkeit einer rein subjektiven Einheit des Bewusstseins ausgeht oder Kant so versteht, dass subjektive Einheit nicht ohne objektive Einheit zu haben ist. Gängige Interpretationen, so argumentiert Conant, sind jeweils auf die erste dieser Optionen festgelegt. Dagegen behauptet Conant, dass eine befriedigende Auslegung es erfordere, in allen vier Punkten die zweite Option zu wählen. Als Argumentationsziel der B-Deduktion identifiziert Conant somit die These, dass die Formen der Anschauung und des Denkens zusammengehören, ohne identisch zu sein. Sie seien zwei Weisen, wie dieselbe grundlegende Form von Einheit oder Synthesis auftritt.

Auch der Beitrag von Andrea Kern thematisiert Kants Vorstellung von der Einheit von Sinnlichkeit und Verstand beim Menschen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Idee, dass nach Kant unser Vermögen zu urteilen durch zwei Merkmale charakterisiert werden muss, die prima facie in einer Spannung zueinander stehen: Einerseits soll es ein selbstbewusstes und spontanes Vermögen sein, und andererseits soll es abhängig von Sinnlichkeit sein. Diese Spannung werde aufgehoben, so Kern, wenn man die Sinnlichkeit des Menschen als ein Vermögen versteht, das als solches vom Verstand informiert ist, und das heißt: wenn man sie als Erkenntnisvermögen versteht. Daraus folgt nach Kern, dass die menschliche Sinnlichkeit als eine verstanden werden muss, die gegenüber der Sinnlichkeit nichtmenschlicher Tiere transformiert ist. Doch um welche Art von Transformation handelt es sich hier? Eine Weise, die Idee einer solchen Transformation zu verstehen, ist die, sie mit dem Prozess der Erziehung zu identifizieren, in dessen 23Verlauf Menschen das Verstandesvermögen erwerben und so von bloßen Tieren in vernünftige Tiere transformiert werden. Kern argumentiert, dass eine solch erziehungstheoretische Auffassung der fraglichen Transformation inkohärent ist. Die relevante Idee der Transformation kann keine empirische Transformation sein, die den Prozess der menschlichen Entwicklung charakterisiert, weder auf der Ebene der Gattung noch auf der Ebene des Individuums. Sie ist vielmehr die Idee einer logischen Transformation, die sich auf das Prinzip der Vermögen bezieht, die eine bestimmte Art von Lebewesen charakterisieren. Als ein solches Prinzip, so argumentiert Kern, bezeichnet die Idee des Selbstbewusstseins nach Kant nicht ein bestimmtes Vermögen des Menschen – weder eines, das neben allen anderen Vermögen steht, noch eines, das ihnen allen zugrunde liegt – sondern vielmehr dasjenige Vermögen, das den Sinn dessen bestimmt, was es für ein durch dieses Prinzip bestimmtes Lebewesen überhaupt heißt, Vermögen zu haben.

Alexandra Newton argumentiert, dass sich Kant zufolge auch die menschlichen Gefühle der Lust und Unlust grundlegend von denen anderer Tiere unterscheiden. Das menschliche Gefühl der Lust am Schönen enthalte ein Bewusstsein seiner allgemeinen und notwendigen Gültigkeit, das beim Gefühl der Lust, das andere Tiere empfinden, fehle. Da ein solches Bewusstsein der Gültigkeit charakteristisch für Urteile sei, könnten wir menschliche Lustgefühle mit ästhetischen Urteilen identifizieren. Das Vermögen, Lust zu empfinden, sei damit dasselbe Vermögen wie die reflektierende Urteilskraft, die dazu befähigt, diese allgemeine und notwendige Gültigkeit zu Bewusstsein zu bringen. Die Quelle der Gültigkeit des menschlichen Gefühls der Lust ist dabei von besonderer Art, insofern sie verschieden ist von der Quelle der Gültigkeit theoretischer Urteile. Sie liegt, so argumentiert Newton mit Kant, nicht in der Angemessenheit unserer kognitiven Vermögen gegenüber dem so beurteilten Gegenstand, sondern gerade umgekehrt in der Angemessenheit des Gegenstandes gegenüber unserem Vermögen.

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Die Texte von Teil IV diskutieren in kontroverser Weise Hegels Konzeption der Idee eines selbstbewussten Lebewesens und damit der anthropologischen Differenz, die an die Kantischen Bestimmungen anknüpft und sie kritisch weiterentwickelt.

Laut Terry Pinkard geht es Hegel darum, die Dualismen, die nach Hegel die Kantische Auffassung noch bestimmen, etwa den Dualismus zwischen dem Raum der Gründe und dem Raum der Ursachen, zu überwinden. Nach Hegel sind diese einander nicht entgegengesetzt, sondern der eine, der Geist, gehe aus dem anderen, der Natur, in besonderer Weise hervor. Hegel erkläre diesen Übergang idealistisch, so Pinkard, doch sein Idealismus unterscheide sich grundlegend sowohl von Berkeleys Idealismus, der die Welt zu einer Konstruktion aus mentalen Entitäten erklärt, wie auch in wichtigen Hinsichten von Kants transzendentalem Idealismus. Hegels Idealismus begreife das Leben als eine organische Ganzheit, die nicht durch ihre Teile erklärt werden könne, sondern deren Teile im Gegenteil unter Bezug auf das Ganze verstanden werden müssten. Nach Hegel bestehe ein Kontinuum von bloßem Leben über tierisches hin zu menschlichem Leben. Zugleich betone er aber, dass zwischen tierischem und menschlichem Leben ein entscheidender Bruch stattfinde, der darin besteht, dass nur Menschen Selbstbewusstsein besitzen. Tiere bewegen sich im Lichte von Zwecken, die sie aufgrund ihrer Artnatur haben, und sehen dabei die Gegebenheiten, mit denen sie konfrontiert sind, als Gründe. Doch nur Menschen sähen diese Gründe auch als Gründe. Selbstbewusste Lebewesen führen ihr Leben also im Lichte eines Bewusstseins von sich selbst, und das bedeute: im Licht der Form des Selbstbewusstseins. Der bestimmte Inhalt dieser Form komme nur dadurch zustande, dass der Einzelne ein Verständnis dieser Form entwickele – und dieses Verständnis werde oft wesentlich Konflikte zwischen konkurrierenden Gründen enthalten.

Thomas Khurana zufolge liegt für Hegel die Differenz zwischen Mensch und Tier ebenfalls im Selbstbewusstsein begründet. Da Hegel meint, dass das Selbstbewusstsein die übrigen Vermögen des Menschen grundlegend verändere, vertritt er nach Khurana eine Variante der Transformationsthese. Hegels Variante unterscheide sich aber von anderen Spielarten der These darin, dass er Selbstbe25Phänomenologie des Geistes