Odile Kennel
Mit Blick auf See
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Odile Kennel wurde 1967 in Bühl/Baden geboren und wuchs zweisprachig auf (deutsch-französisch). Sie übersetzt Lyrik aus dem Französischen, Portugiesischen, Englischen und Spanischen. 2000 veröffentlichte sie die Erzählung ›Wimpernflug‹, 2011 ihren ersten Roman ›Was Ida sagt‹ und 2013 den Gedichtband ›oder wie heißt diese interplanetare Luft‹. ›Mit Blick auf See‹ war 2016 für den Alfred-Döblin-Preis nominiert.
Es klingelt, doch Béatrice Sanders kennt hier niemanden. Sie ist gerade umgezogen, von der Stadt in eine alte Mühle an einem See. Vor der Tür steht ein fremder junger Mann, er nennt sich Alexander Vogler und behauptet, Béatrice sei mit seiner Mutter Helga befreundet gewesen. Was weiß dieser Mann von ihrem Leben? Hat sie etwas damit zu tun, dass Alexanders Mutter Anfang 1977 für drei Jahre spurlos verschwand? Béatrice kann sich an nichts erinnern, die Besuche Alexanders und seine Fragen verunsichern sie jedoch zunehmend. Sie beginnt zu zweifeln: Ist Helga vielleicht Hah, die sie bewunderte und in die sie uneingestanden verliebt war? Musste Hah als Sympathisantin in jenen hochpolitisierten Jahren untertauchen?
Das Porträt einer Frau, in deren Leben die Geschichte der Bundesrepublik aufscheint, ein Roman über die Unsicherheit der Erinnerung, über die Rückkehr in die Provinz. Ein feinfühlig und spannend erzähltes Buch, das die Frage aufwirft, wie wir uns der eigenen Geschichte stellen.
Originalausgabe 2017
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 2017
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43182-8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28113-3
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ISBN (epub) 9783423431828
Und wenn es so ist, dass man sich tatsächlich falsch erinnert? Ist das so undenkbar? Keine Erinnerung mehr an all das, was geschehen und was wirklich ist, während all das Unwirkliche, all das Irrelevante und Falsche sich stattdessen festgesetzt hat.
Steve Sem-Sandberg, Theres
Ah, sagte sie, Land. So, wie sie es aussprach, klang das Wort wie der kühle, metallene Ton eines Triangels.
Martina Hefter, Junge Hunde
Ich hätte nicht öffnen sollen. Hätte tun sollen, als wäre ich nicht zu Hause, hätte mich ein paar Minuten still verhalten sollen, bis die Schritte sich auf der Eingangstreppe und dem Kiesweg entfernt hätten (den ich zukünftig mit Feldsteinen auslegen will), bis ich das leichte Quietschen des Gartentors gehört hätte (das ich zukünftig entfernen möchte) und das Gartentor ins Schloss gefallen wäre. Das Klingeln hat mich überrascht, ihm ist kein Quietschen, kein Ins-Schloss-Fallen, kein Knirschen auf dem Kies vorangegangen, und da ich im Vestibül stand, als es klingelte (sofern es berechtigt ist, ein so herrschaftlich anmutendes Wort auf einen vier Quadratmeter großen Vorraum anzuwenden), da ich also im gefühlten Vestibül stand, habe ich die Tür ohne nachzudenken geöffnet,
Ich hätte tun sollen, als wäre ich nicht zu Hause, aber ich bin erst vor ein paar Tagen eingezogen, weshalb ich nicht einmal so tun kann, als wäre ich zu Hause: Ich bin es nicht, kein Weg, kein Sichsetzen, keine Geste ist selbstverständlich. Ich bin ein Fremdkörper zwischen kahlen Wänden, wie meine Möbel, für die ich noch nach dem richtigen Platz suche und die sich so wenig wie ich trauen, Raum einzunehmen im Haus, als müssten Entfernung und Winkel der Körper zueinander erst neu berechnet werden. Noch gehört die Mühle nur dem Papier nach mir, gehört, wo sie Spuren hinterlassen haben, den vorherigen Bewohnern, von denen ich kaum etwas weiß, aber was heißt überhaupt »gehört«? Ich habe gehört, diese Mühle gehört jetzt Ihnen. Eine Unterschrift unter einem Vertrag sagt nichts aus über das Eigenleben der Dinge, die sich störrisch auf sich selbst beziehen und sich nicht darum scheren, ob sie in meinen Gedanken einen festen Platz haben oder ob ich sie herumschiebe, ein Umzug ist auch ein Umzug im Kopf,
Gerade weil ich erst eingezogen bin, hätte ich das Quietschen, Ins-Schloss-Fallen, Knirschen, die Schritte auf der Eingangstreppe hören müssen, man überhört nur gewohnte Geräusche, aber es gibt hier keine gewohnten Geräusche, beim kleinsten Knacken zucke ich zusammen und halte die Luft an. Ich versuche, mich zu beruhigen, in einem alten Haus verziehen sich die Balken, sage ich mir, Holz schwindet und quillt, sagte mein Vater, der Architekt, wenn ich als Kind in dem sanierungsbedürftigen Bauernhaus, das wir bewohnten, bei einem besonders lauten Knacken zusammenfuhr,
Ich sollte mir einen Hund anschaffen, so allein in einer Mühle auf dem Land. Ein Hund hätte gebellt, und ich hätte Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob ich Post erwarte, oder ein Paket, und ob ich die Tür in diesem Moment öffnen will,
Vielleicht hätte der Hund aber auch gar nicht angeschlagen, nicht, weil ich mir nie einen Hund anschaffen würde, sondern weil ihm mein Besucher möglicherweise nicht unbekannt gewesen wäre, vielleicht hätte sich das Nasengedächtnis des Hundes an etwas erinnert, das ich vergessen habe, aber wie lange lebt ein Hund, wie weit muss etwas zurückliegen, damit ich es vergesse,
Vor der Tür hatte ein Mann gestanden, den ich auf etwa dreißig schätzte, jungenhaft schmal und kaum größer als ich.
»Alexander Vogler«, stellte er sich vor und streckte mir die Hand entgegen. »Béatrice Groß?«
Er sprach meinen Vornamen, Béatrice, richtig, also französisch und nicht italienisch aus, und Groß ist mein Mädchenname, den ich seit fast dreißig Jahren nicht mehr trage. Ich versuchte, nicht allzu überrascht zu wirken, offenbar besorgten auch Handelsvertreter sich ihre Daten inzwischen beim Einwohnermeldeamt – aber gab es noch Handelsvertreter in Zeiten des Internetshoppings? Oder war mein Besucher ein neugieriger Dorfbewohner, den die anderen als Vorhut entsandt hatten – woher wusste er dann meinen Mädchennamen?
Er streckte mir noch immer die Hand entgegen, und weil ich zur zweiten Variante neigte und meinen Einstand im Dorf nicht schon bei der ersten Begegnung vermasseln wollte, gab ich ihm meine. Ich bin auf dem Land groß geworden und weiß, dass die Erwartungen an Neuzugezogene hoch sind: Sie kommen in ein seit Generationen geordnetes Gefüge, in dem alle Plätze vergeben sind und jeder seine fest umrissene Aufgabe hat. Um einen Platz im Dorf muss man sich verdient machen, muss in den Augen der Dorfbewohner bestehen, muss sich im Gesangs- oder Sportverein engagieren, oder in der Freiwilligen Feuerwehr, muss an den Festen im Festzelt oder in der Mehrzweckhalle teilnehmen, Kuchen mitbringen oder beim Getränkeverkauf mitmachen. Und hat man bestanden, nach Jahren, gehört man doch nie ganz dazu, kann jederzeit über die unsichtbaren, zwischen den Eingesessenen gespannten Fäden stolpern, bleibt für immer diejenige, die zugezogen ist, wie in einer Familie, in die man einheiratet, oder in einem Land, in dem man wohnt, aber nicht aufgewachsen ist und nie ganz ankommt, nie ganz ankommen kann,
Jetzt lag meine Hand in der des unbekannten Besuchers, der sie drückte und halb fragte, halb feststellte: »Sie sind doch Béatrice Groß?! Es tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze. Ich bin der Sohn von Helga Vogler.« In seiner Art, den Namen zu betonen, und in der darauffolgenden Pause lag eine Erwartung, als müsste ich den Namen kennen und würde ihn nun überrascht und freudig wiederholen. Helga Vogler, na klar, jetzt erinnere ich mich, das ist aber wirklich lange her, und Sie sind der Sohn? Wie geht es Helga? Kommen Sie rein, wollen Sie einen Kaffee? Alles noch etwas improvisiert hier, und ja, wir haben uns irgendwann aus den Augen verloren, ich weiß gar nicht warum,
»Helga Vogler«, wiederholte mein Besucher, »erinnern Sie sich? Es ist lange her, aber umso unglaublicher, dass ausgerechnet Sie in die Mühle gezogen sind. Meine Großmutter hat übrigens noch bis zu ihrem Tod hier gewohnt.«
Wie ein grammatikalisch unnötiges Wort einem Satz die eine oder andere Richtung weisen kann – übrigens bedeutete, dass mir die Grundaussage des Satzes, seine Großmutter habe hier gewohnt, bekannt war und nun durch eine zusätzliche, davon abgeleitete Information erweitert wurde. Er zweifelte nicht daran, dass mir seine Familienverhältnisse, zumindest die früheren, vertraut waren, und wenn dies, wie mir als dritte Variante durch den Kopf schoss, ein komplex angelegter Versuch war, sich Zugang zum Haus zu verschaffen, dann machte er seine Sache gut.
»Sie müssen mich verwechseln«, antwortete ich, »ich kenne weder Ihre Mutter noch Ihre Großmutter. Mein Name ist nicht Groß, sondern Sanders. Und dass ich in diese Mühle gezogen bin, hat mit Ihrer Familie nichts zu tun.« Weil ich aber immer noch dazu tendierte, ihn für einen Dorfbewohner zu halten, fügte ich hinzu: »Aber kommen Sie doch herein. Das Missverständnis lässt sich sicherlich klären. Alles noch etwas improvisiert hier, aber einen Kaffee kann ich Ihnen anbieten, wenn Ihnen H-Milch nichts ausmacht … Zucker habe ich auch keinen …«
Mein Besucher wischte die Schuhe am nicht vorhandenen Vorleger ab und schüttelte sich, wie man sich schüttelt, wenn man aus der Kälte in eine beheizte Wohnung kommt. Dabei war es draußen nicht kalt, nicht für Februar. Für die Jahreszeit zu warm, sagten die Meteorologen und kündigten seit Tagen einen Frosteinbruch an. Ich hoffte, dass der See, der an das Grundstück grenzte, diesen Winter noch einmal zufrieren würde. Ich würde in meine alten, unbequemen Schlittschuhe schlüpfen, die ich bei jedem Umzug mitgenommen habe, weil sie ein Geschenk meiner Mutter zu meinem siebzehnten Geburtstag gewesen sind und ich es nicht übers Herz bringe, sie wegzuwerfen, und ich würde das erste Mal seit über dreißig Jahren Schlittschuh laufen. Ich habe sie nur einmal benutzt. Es war mir peinlich, weiße Schlittschuhe mit Pelzborte zu tragen, das weiß ich noch, aber auf welchem See bin ich damals Schlittschuh gelaufen? Sah sich auf einen Weiher gehen, lief Schlittschuh. Es gab keinen See in der Nähe meines Elternhauses, es gab eine Eissporthalle, die als die modernste im Land galt und der ganze Stolz der Region war. Eigentlich ist es wahrscheinlich, dass meine Mutter mir die Schlittschuhe für die Eishalle geschenkt hat, aber ich bin nie in der Eishalle gewesen. Ich erinnere mich an einen See, vielleicht haben meine Eltern mich auf einen Ausflug mitgenommen oder ich habe die Schlittschuhe erst später benutzt, nachdem ich von zu Hause ausgezogen war.
Ich schloss die Tür hinter meinem Besucher, wobei wir uns einen Moment in die Quere kamen und uns am Arm berührten, für ein paar Sekunden in diese gewisse Hektik verfielen, die unangemessene Nähe zwischen Fremden auslöst. Sie zuerst, nein, Sie zuerst … »Die können Sie anlassen«, kam ich Alexander Vogler zuvor, der sich hinunterbeugte, um die Schuhe auszuziehen. Ich wollte keinen Unbekannten in Socken bei mir im Hause haben. »In der Küche ist Steinboden, außerdem bin ich ja noch mit Einräumen beschäftigt und werde noch oft genug putzen müssen.« Ich registrierte, dass meine Erklärung die Vertraulichkeit, die ich vermeiden wollte, erst herstellte. Alexander Vogler ließ mich durch, ich schlüpfte vor ihm in den Flur und in die Küche. »Setzen Sie sich doch«, sagte ich mit einer Kopfbewegung zur Bank.
Mein Besucher schob sich hinter den Tisch und ließ sich auf der Bank nieder, mit einer, wie mir schien, eingespielten Bewegung, als wäre genau dieser Platz auf dieser Bank ihm vertraut.
»Man setzt sich immer auf denselben Platz«, sagte er. »Hier habe ich gesessen, wenn ich bei meiner Großmutter zu Besuch war. Versuchen Sie mal in einer Gruppe, selbst wenn sie erst einen Tag alt ist, sich plötzlich an einen anderen Platz zu setzen. Sie handeln sich Ärger ein!« Alexander Vogler lachte. Es war ein angenehmes Lachen, selbstvergessen, nicht auf einen Effekt aus.
Ich habe die Mühle einer jungen Familie abgekauft, die sie nur wenige Monate bewohnt hat und aus beruflichen Gründen wieder weggezogen ist. Davor gehörte das Haus einer Frau, die in ein Altersheim gekommen oder gestorben ist, Näheres hat mir der Makler, der nicht aus der Gegend stammt, nicht sagen können. Er hat einen Namen genannt, war es Vogler? Ja, es könnte Vogler gewesen sein, allerdings kann Alexander Voglers Großmutter genauso gut Hauser, Wozniak oder Fischer geheißen haben. Sobald ich mich eingerichtet habe, will ich nach der Geschichte der Mühle recherchieren. Wer sie erbaut hat. Wer dort wann gewohnt hat.
Mein unbekannter Besucher, dachte ich in dem Moment, würde mir etwas über die Mühle erzählen können, wenn es wirklich seine Großmutter gewesen war, die vor der Familie in der Mühle gelebt hatte. Das hätte tatsächlich für die zweite Variante gesprochen, Alexander Vogler, die neugierige Vorhut, was auf alle Fälle besser war als Variante drei, Alexander Vogler, der Betrüger. Ich nahm mir trotzdem vor, vorsichtig zu sein.
»Bis wann hat Ihre Großmutter in dem Haus gelebt?«, fragte ich, während ich den Kaffeekocher auseinanderschraubte.
»Bis vor zwei Jahren. Ich habe die Mühle geerbt und bin zurückgekommen, um sie zu verkaufen. Das ist mir ziemlich schnell gelungen, und zwar an die Familie, die vor Ihnen hier gewohnt hat. Eigentlich wollte ich längst wieder weg sein. Dann hätte ich nie erfahren, dass Sie hier einziehen, stellen Sie sich vor!«
Ich klopfte das Sieb in der Mülltüte aus, die am Griff eines der Küchenschränke hing, reinigte die einzelnen Teile der Maschine unter fließendem Wasser, füllte Wasser in den unteren Teil, ließ Kaffeepulver aus der mit der Hand aufgerissenen Packung ins Sieb rieseln. Ich führte diese Gesten bedächtig aus, um meine Verwirrung zu überspielen und Zeit zu gewinnen, weil das Gespräch mit seiner Einladung, mir etwas vorzustellen, das mir nichts sagte, eine viel zu persönliche Wendung nahm. Wäre er wie geplant schon weg gewesen (was auch immer er damit meinte), hätte er nicht erfahren, dass ich die Mühle gekauft hatte, und wir wären uns nie begegnet und so weiter und so fort.
Was ging mich das an, dass er eigentlich nicht in dieser Küche hätte sitzen sollen, er saß in meiner Küche, und ich wollte nur ein Missverständnis klären. Und wenn ich dabei etwas über die Mühle erfuhr, umso besser, von mir aus auch über seine Großmutter oder Mutter. Wer weiß, vielleicht hatte ich sie sogar gekannt und erinnerte mich nicht daran, das kann schon einmal vorkommen in einem fast fünfzigjährigen Leben, dass man jemanden vergisst. Ich setzte den Kaffee auf und wusste nicht, wie ich das Gespräch wieder aufnehmen sollte, ohne ihm Anlass zu geben, mich weiter in seine Geschichte zu verwickeln, und ohne ihn, den potenziellen Dorfmitbewohner, zu verärgern, indem ich ihm zeigte, dass ich ihm nicht glaubte, oder seine Aussagen zumindest anzweifelte. Und was hieß überhaupt Dorfbewohner, diese Variante war soeben weggefallen, er lebte offenbar nur vorübergehend im Dorf.
»Wieder weg sein? Sie wohnen gar nicht hier?«
Ich bemühte mich, meiner Stimme einen neutralen Ton zu verleihen, als wäre dies eine höfliche Nachfrage, eine Einladung zum Plaudern, ein punktuelles Interesse an Informationen, die man anschließend wieder vergisst. Doch Alexander Vogler ging auf meine Frage nicht ein, oder er hatte sie nicht gehört, weil er im Kopf schon weiter war, mich eingebaut hatte in seine Geschichte und es ihm nur noch darum ging, dass ich den mir zugewiesenen Platz einnahm.
»Wie gesagt, es tut mir wirklich leid, dass ich hier unangemeldet auftauche, wo Sie doch gerade erst eingezogen sind. Aber Sie können sich vorstellen, wie überrascht ich war, als ich erfahren habe, dass Sie es sind, die diese Mühle gekauft haben. Schade, dass meine Mutter das nicht mehr erlebt, ich glaube, Sie würde sich freuen. Vor allem hätte ich nicht gedacht, dass ich noch einmal jemanden treffe, der sie damals gekannt hat und mir etwas über sie erzählen kann.«
Es gab nicht nur einen Platz, den er mir zuwies, sondern auch eine Aufgabe.
»Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, wie überrascht Sie waren. Weil ich nicht weiß, von wem Sie reden. Von welcher Zeit. Was heißt damals, und was heißt glauben? Sie glauben, dass es sie gefreut hätte, oder Sie wissen es?«
Alexander Vogler zuckte mit den Schultern.
»Ich kann sie ja nicht mehr fragen.«
Ich wartete darauf, dass Alexander Vogler den ersten Teil meiner Frage beantworten und ich erfahren würde, wann damals gewesen sein sollte, doch er schwieg. Ich merkte, dass ich nun doch ärgerlich wurde, weil das Missverständnis sich nicht so leicht auflösen ließ, wie ich es mir vorgestellt hatte, und weil mein Gegenüber bei mir hereingeplatzt war und mir meine Zeit mit verstiegenen, aber doch vage bleibenden Behauptungen stahl. Ich sah nicht ein, warum ich ihm, der meine Fragen, wenn sie ihm nicht passten, ignorierte, die Frage nach dem Verbleib oder Verstorbensein seiner Mutter stellen sollte, die bedeutungsvoll zwischen uns im Raum stand. Was tat ich hier überhaupt, an diesem grauen Februarnachmittag des Jahres 2007 in meiner Küche, inmitten von Kartons, ich hatte einen Wildfremden ins Haus gelassen und kochte Kaffee für ihn, hatte ich den Verstand verloren? Ich wollte kein verbrüderndes, verschwesterndes Kaffeetrinken, er würde seinen Kaffee allein trinken müssen. Ich war nicht aus meinem bisherigen Leben ausgezogen, um bereits in der ersten Woche in die Geschichten anderer Leute hineingezogen zu werden und Erwartungen zu erfüllen. Ich war nicht in ein Dorf mit seinen verstrickten Beziehungen gezogen, sondern in eine Mühle, in die ich mich verliebt hatte, ich kannte niemanden in der Gegend, die nächsten Nachbarn wohnten zweihundert Meter weit weg, und genau deswegen war der Umzug in die Mühle für mich überhaupt vorstellbar gewesen. Ich hatte ein Haus einzurichten, ein Buch zu schreiben, ein neues Leben zu beginnen, ich hatte keine Zeit für die Probleme eines Unbekannten namens Alexander Vogler.
Der Kaffee begann, in der Kanne zu kracheln und hielt mich davon ab, mich in meinen Ärger hineinzusteigern. Ich spülte die Tasse ab, die ich am Morgen benutzt hatte, und goss ein. Eine knallgelbe Tasse, ich hätte meinem Besucher lieber eine neutralere Tasse hingestellt, als sagte bereits die zufällige Farbe einer Tasse zu viel über mich selbst aus, jedenfalls mehr, als ich Alexander Vogler im Augenblick preisgeben wollte.
»Und Sie trinken selbst keinen Kaffee? Aber das war doch nicht nötig!« Alexander Vogler sah aus, als würde er am liebsten aufspringen, so unangenehm schien es ihm zu sein, dass ich eigens für ihn Kaffee gekocht hatte.
»Ich trinke nachmittags nach vierzehn Uhr keinen Kaffee mehr«, log ich, damit er sich besser fühlte, und fragte mich, warum ich das tat.
Alexander Vogler kippte den Espresso herunter und stand auf. Seine Bewegung hatte etwas Fahriges, Flattriges, er schob sich hinter dem Küchentisch hervor und hätte mit der einen Hand fast die Tasse umgestoßen. Er fasste hastig mit der anderen nach ihr, hielt beide Hände schützend um die Tasse. »Tut mir leid«, murmelte er und schien schnellstmöglich aus der Situation, in die er sich gebracht hatte, indem er bei mir klingelte, wieder herauskommen zu wollen. Seine plötzliche Unsicherheit, die Sorgfalt seiner Handbewegung rührten mich. Es gab keinen Grund, verärgert zu sein. Es gab keinen Grund, der Geschichte Bedeutung beizumessen. Ein Nachbar, ein Irrtum, nichts weiter.
»Ich fürchte wirklich, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Ich kannte Ihre Mutter nicht. Ich werde Ihnen nicht weiterhelfen können.«
Alexander Vogler blickte mich mit dem ehrlichen Erstaunen eines Menschen an, für den die Gedankengänge seines Gegenübers so abwegig sind, dass er nie auf die Idee gekommen wäre, dass man sie überhaupt haben könnte.
»Nein, nein, ich irre mich nicht. Bestimmt haben Sie es nur vergessen, weil es so lange her ist. Sie hießen doch früher einmal Groß, oder nicht?«
Oder nicht, das ließ kaum eine andere Möglichkeit zu.
»Woher kennen Sie meinen Mädchennamen?«
Meine Gegenfrage war ein Eingeständnis, und über Alexander Voglers Gesicht huschte ein Lächeln, als hätte er nichts anderes erwartet.
»Ich gebe Ihnen meine Mail, wäre das in Ordnung? Und Sie melden sich, wenn es Ihnen passt? Ich kann mich ganz nach Ihnen richten. Also, außer abends, da arbeite ich. Ich bin Koch im Restaurant auf der anderen Seite des Sees, man kann es von Ihrem Grundstück aus nicht sehen, weil der See einen Knick macht. Kennen Sie die Gaststätte schon? Sehr empfehlenswerte Adresse, nicht weil …« – wieder wirkte er schüchtern, ungelenk – »… ich dort koche, ich bin nur die rechte Hand des Chefkochs, also, ich meine, die linke.« Er wedelte mit der linken Hand und lachte, sie betrachtend, sein selbstvergessenes Lachen. Seine Hände waren schmal, zart, ohne Behaarung, ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mit ihnen große Küchenmesser handhabte.
»Man hat einen schönen Blick, und im Sommer kann man draußen essen. Ich empfehle Ihnen allerdings zu reservieren. Und montags ist Ruhetag.«
Also doch ein Vertreter, dachte ich, interessante Restaurantwerbung. Und eine weitere nicht beantwortete Frage. Das schien System zu haben, ich merkte, wie ein unkontrolliertes Kichern in mir aufstieg, weil mir die Situation mit einem Mal surreal vorkam.
»Von dem Restaurant habe ich gehört.«
Ich sagte es schnell, um dem Kichern zuvorzukommen. In Wahrheit sagte mir das Restaurant nichts, aber auf Wahrheit kam es in diesem Moment offenbar nicht an. Ich hatte, als ich vor dem Kauf der Mühle mit meiner Tochter um den See spaziert war, ein Restaurant gesehen, aber es war geschlossen und sah nicht aus, als würde es je wieder öffnen. Offenbar war Montag gewesen, ja, ich war mir in dem Moment ziemlich sicher, dass ich mit Nelly an einem Montag hierhergekommen war. Ich spürte das Kichern wieder aufsteigen, und in einem Anfall von Übermut fügte ich hinzu: »Ihre Mailadresse brauchen Sie mir nicht zu geben. Kommen Sie vorbei, wann Sie wollen. Ich muss ja ab und zu eine Pause einlegen. Aber wie gesagt, ich glaube kaum, dass ich Ihnen weiterhelfen und Ihnen etwas über Ihre Mutter erzählen kann.« Alexander Vogler lächelte wieder, als wäre es eine Frage der Zeit, bis ich mich auch in dieser Sache einsichtig zeigte. Er öffnete die Eingangstür, machte die Andeutung einer Verbeugung und trottete die Treppe hinunter. Seine Schritte knirschten auf dem Kies. Ich wartete, bis er das Gartentor hinter sich zugezogen hatte, und schloss die Tür.
Ich stehe noch immer im Vestibül und bin verärgert, belustigt, verwirrt. Verärgert über die Hartnäckigkeit, mit der Alexander Vogler sich über meine Einwände hinweggesetzt und zugleich meine Fragen übergangen hat, belustigt über mich selbst, die ich mir Distanz zum Leben der Nachbarn vorgenommen hatte und einen Unbekannten einlade, einfach so wieder vorbeizukommen. Verwirrt, weil Alexander Voglers Oszillieren zwischen Überzeugung und Unsicherheit mich anrührt und ich sogar bereit bin, ihm etwas vorzumachen, so etwas wie, ich trinke keinen Kaffee nach zwei Uhr nachmittags, wo ich in Wirklichkeit auch um zwei Uhr morgens noch Kaffee trinken würde. Ich verstehe nicht, warum ich der ganzen Geschichte so viel Bedeutung beimesse und warum ich mich ärgere und verwirrt bin und übermütig Dinge tue, die ich nicht wirklich will.
Ich ziehe den Umzugskarton, den ich unter die Garderobe geschoben hatte, hervor, prüfe, ob er hält, und lasse mich darauf nieder. Vogler. Helga Vogler. Hieß so nicht die einzige Freundin meiner Mutter in dem Dorf, in dem wir lebten, eine alleinstehende Frau, eine Lehrerin, mit der meine Mutter Kaffee trank und sich über Bücher austauschte? Sie war jünger als meine Mutter, sie hatte kurze Haare, ich bewunderte sie und fand sie schön. Sie brachte mir und meinem Bruder immer eine Kleinigkeit mit, Gummitierchen, Pixi-Bücher, Buntstifte, und sie gehörte im Dorf, ohne dass ich es hätte benennen können, zu uns, auf unsere Seite, wahrscheinlich deshalb, weil sie wie wir nicht aus dem Dorf stammte. Oder weil sie ihr Geld für Bücher ausgab und keine Vorhänge an den Fenstern hatte. Irgendwann hat sie geheiratet und ist weggezogen, und ihre Besuche sind bald ausgeblieben. Jetzt fällt mir ihr Name wieder ein, Vogt, Hanne Vogt. Eine Helga Vogler kenne ich nicht, der Name sagt mir nichts. Ich spreche ihn mehrmals aus, als könnte er im akustischen Gedächtnis hängen geblieben und durch alle anderen Maschen gefallen sein, und verhaspele mich mit dem abwechselnden »lg« und »gl«. Ich stehe wieder auf und nehme mir vor, bei Alexander Voglers nächstem Besuch, so es ihn geben wird, genauso hartnäckig zu sein wie er. Er kann gerne ab und zu auf einen Kaffee vorbeikommen, ich meinerseits werde sicherlich früher oder später im Restaurant auf der anderen Seite des Sees essen gehen. Aber wir haben keine wie auch immer geartete gemeinsame Geschichte. Ich habe keine Ahnung, wer seine Mutter war. Vielleicht ist Alexander Vogler ja verrückt. Dass ich es mit jemandem zu tun habe, der nicht richtig tickt, ist eine vierte mögliche Variante.
Wie die Mühle meine Sprache verändert, ich sage Vestibül, Salon, als bewohnte ich ein Schloss, oder ist die französische Sprache, die ich nur als Kind und Jugendliche und nur mit meinen Großeltern gesprochen habe, auf den zahlreichen Treppen im Haus aus den tieferen Schichten des Hirns an die Oberfläche geklettert? Was so ein Haus ausmacht, was Treppen ausmachen, eine Eingangstreppe, eine Treppe in den Keller und eine wieder hinaus in den Garten, eine Treppe ins obere Stockwerk und von dort aus auf den Dachboden, ein geradezu labyrinthisches Treppengefüge für mich, die ich, seit ich von zu Hause ausgezogen bin, immer in Wohnungen gelebt habe. Ich sehe mich auf der Suche nach einer verlegten Winzigkeit stundenlang treppauf treppab hasten und schließlich erschöpft auf einem Treppenabsatz liegen bleiben, zusammenhangslose französische Wörter vor mich hin brabbelnd,
Sitze auf dem Canapé, um bei den Schlosswörtern zu bleiben, und genieße die Stille, die von jedem einzelnen Ding um mich herum ausgeht, geradezu ausstrahlt, sich um mich legt, bis ich selbst zum Ding werde oder meine, es zu werden, Stille ist nur Stille, wenn man allein in einer Wohnung, einem Haus ist, die bloße und nicht einmal vernehmbare Anwesenheit einer anderen Person in einem anderen Raum genügt, um sich den Menschen zugehörig zu fühlen und nicht den Dingen,
Ein Haus ist keine Wohnung, man verliert leicht den Kontakt zu dem Stockwerk, in dem man sich gerade nicht befindet, verliert die Kontrolle über die Herkunft der Stille, sie spitzt sich zu, wird zu einem Sirren, füllt sich in ihrem Verschwinden mit Knacken, Tapsen, Atmen, ich greife nach dem Laptop, den ich auf dem Couchtisch, oder sollte ich sagen, Canapétisch (klingt wie prophetisch), deponiert habe, solange mein Arbeitszimmer, oder sollte ich sagen, Bureau, noch nicht eingerichtet ist, und fahre ihn hoch. Windows detoniert mit seiner als Schulglocke getarnten Triumphmusik, ich habe vergessen, das Gerät nach der letzten Verwendung stumm zu schalten. Letzte Verwendung klingt bedeutungsvoll und war heute Morgen, ich habe keine Zeit zu verlieren, ich bin spät dran mit dem Manuskript, der Kauf der Mühle und der Umzug sind mir in die Quere gekommen, in den vergangenen Wochen habe ich sortiert, statt zu tippen. Bei jedem Umzug bildet man sich ein, dass etwas völlig Neues beginnt, man möchte alles Störende aus der Vergangenheit aussortieren, als wäre die eigene Geschichte ein leeres Regal, das man peu à peu mit neuen Gegenständen füllt. Deshalb habe ich meine Kartons selbst gepackt und werde sie auch selbst wieder auspacken. Ich wollte, was ich mitnahm, zuvor in der Hand gehalten haben, wollte entscheiden, ob es dafür in der Mühle Platz gibt oder nicht, und ich will beim Auspacken erneut jeden einzelnen Gegenstand in der Hand halten und den richtigen Platz für ihn finden. Ich musste unterschreiben, dass ich das Umzugsunternehmen für eventuelle Schäden nicht haftbar mache, wofür meine Tochter kein Verständnis hatte. »Du kannst doch auch aussortieren und sie dann einpacken lassen«, sagte sie. »Ansonsten ist es ein Freibrief für die Umzugsleute, die Kartons werden in einem unmöglichen Zustand ankommen. Außerdem ist es Zeitverschwendung. Was ist mit dem Buch, solltest du dich nicht besser um das Buch kümmern?«
Sie hatte diesen etwas altklugen Ton, den Kinder annehmen, wenn sie erwachsen werden und einen Sinn für Vernunft entwickeln, in dessen Licht die Entscheidungen der Eltern plötzlich unvernünftig erscheinen. Sie brauchen eine Projektionsfläche für ihren neuen Zustand, wollen sich rächen für all die Male, in denen sie zurechtgewiesen wurden, oder sie üben schon einmal für später, wenn die Eltern im hohen Alter selbst wieder zu Kindern werden. In Nellys Fall sind die Kartons und das Buch nicht ihre erste Sorge, aber sie sind eine Sorge, die sich in Worte fassen lässt. Nellys erste Sorge gilt der Tatsache, dass ihre Mutter von heute auf morgen ihr Leben auf den Kopf stellt, ihre Arbeit aufgibt und ohne konkrete Pläne für die Zukunft aufs Land zieht, in ihren Augen also ihr altes Leben einfach wegwirft. Und da sie zu diesem Leben gehört hat, fürchtet sie, selbst verstoßen zu werden. Da nützt es wenig, ihr zu versichern, dass ich sie liebe, dass sich zwischen uns nichts ändert, dass sie das Größte, Beste, Schönste in meinem Leben war und ist. Eltern haben eine Konstante zu sein, so etwas wie ein Monument, ein Monolith, der die eigene Kindheit einschließt. Wenn sie sich verändern, wackelt mit dem Monolith die Kindheit, und die Kinder befürchten, diese könne rückwirkend Schaden nehmen, sie fürchten sich davor, dass ihre Eltern in Wirklichkeit schon immer ganz anders gewesen sind und die Erinnerungen an ihr Leben als Kind dieser Eltern sich als falsch erweisen könnten.
Das Buch, von dem sie spricht, wurde mir vor anderthalb Jahren von Joachim, einem Freund aus Studienzeiten, angetragen, der Verleger eines kleinen Verlages ist und Titel »im Grenzgebiet zwischen Politik und Alltag« herausgibt, wie er mir erklärt hat. Wir haben uns vor zwei Jahrzehnten aus den Augen verloren, er hat nach mir im Netz gesucht, hat mich gefunden und mich kontaktiert. Ich halte nichts davon, eingeschlafene Freundschaften wiederzuerwecken, wären sie wichtig genug gewesen, hätte man sie nicht einschlafen lassen. Ich habe mich trotzdem mit Joachim auf einen Kaffee verabredet, aus Neugier und weil es ein milder Herbst war und man noch draußen sitzen konnte, aber auch, so denke ich heute, weil ich schon auf der Suche war und dankbar über jede Begegnung, die meinem Leben eine neue Richtung weisen könnte. Katharina hatte sich gerade von mir getrennt, Nelly hatte ihr Studium beendet und würde bald eigene Wege gehen, und die Begeisterung, mit der ich in der Ende der achtziger Jahre mit zwei Freundinnen gegründeten PR-Agentur gearbeitet hatte, war einer Nüchternheit gewichen, die mich ermüdete.
Ich habe also auf Joachims Mail geantwortet, wir haben uns in einem Café getroffen, und nachdem wir uns die wesentlichen Linien der vergangenen zwanzig Jahre unseres Lebens erzählt und geklärt hatten, wer mit wem von unseren früheren gemeinsamen Bekannten noch in Kontakt ist und was wer über wen weiß, fragte er mich, ob ich ein Buch für ihn machen wolle.
»Ich, ein Buch für dich? Wie du nun weißt und der Webseite unserer Agentur entnehmen kannst, schreibe ich Broschüren, keine Bücher«, habe ich geantwortet. »Oder willst du eine Kinderbuchreihe ins Leben rufen?«
Ich habe in den letzten zehn Jahren nebenbei drei Kinderbücher veröffentlicht, von denen eines sogar erfolgreich war, aber das hat aus mir noch lange keine Schriftstellerin gemacht. Ich habe mich immer als Fachfrau für PR und Öffentlichkeitsarbeit verstanden, fast zwanzig Jahre habe ich in diesem Beruf gearbeitet, zunächst ausschließlich für alternative Projekte, Sozialverbände und Umweltschutzinitiativen, später, als die Konkurrenz zunahm und die alternativen Projekte weniger wurden, auch für große Unternehmen. Als Joachim mich wegen des Buchs gefragt hat, spielte ich schon eine Weile mit dem Gedanken, beruflich etwas ganz anderes zu machen. Etwas, wofür ich keine Businessmode mehr tragen und freundlich sein müsste, ich wollte nicht mehr auf Empfängen und in den Kaffeepausen von Unternehmensveranstaltungen Smalltalk führen müssen über Kreativwirtschaft, Nachhaltigkeit, Kompetenzzentren und andere Dinge, an die ich nicht glaubte.
»Eine Kinderbuchreihe?« Joachim hat gelacht. »Warum nicht? Das können wir uns ja danach überlegen. Nein, nein, in dem Fall geht es um den Deutschen Herbst …«
Ich war mir sicher, Joachim hatte das nur zum Scherz gesagt und würde gleich mit dem eigentlichen Anliegen herausrücken. Ein Buch über semantische Veränderungen in der politischen Kultur, weil wir darüber gesprochen hatten, während die Herbstsonne uns mit der Kraft, die sie noch innehatte, das Gesicht wärmte, zwei Endvierziger, die zu verstehen versuchen, was aus der Welt, die sie geprägt hatte, geworden war, und wie es sein konnte, dass der Inhalt vertrauter Wörter sich so weit verschoben hatte, dass sie unbenutzbar geworden waren. Revolution war längst Sache eines Mobilfunkanbieters geworden, mutig war, wer offen aussprach, dass Arbeitsschutz gelockert werden müsse, und nachhaltig arbeiteten alle Unternehmen, für die meine Kolleginnen und ich Texte verfassten, alle hatten sie eine Vision. Glaubte man der Selbstdarstellung der Unternehmen, so engagierten sich die, gegen die wir früher protestiert hatten, inzwischen für die bessere Welt, für die wir gekämpft hatten.
Doch Joachim schwieg, schien auf eine Antwort zu warten. Ich ging im Kopf noch einmal die Details unseres Gesprächs durch. Irgendetwas, das ich gesagt hatte, musste ihn auf die Idee gebracht haben, ich könnte für ihn ein Buch zu diesem Thema schreiben.
»Den Deutschen Herbst? Wie kommst du darauf? Ich meine, wie kommst du ausgerechnet auf mich?«
»Ehrlich gesagt komme ich auf dich, weil wir uns gerade zwei Stunden unterhalten haben und ich plötzlich gedacht habe, du wärst die Richtige für das Projekt. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee. Zumal ich aus dem Studium noch weiß, dass du Interviews führen kannst und zuverlässig bist. Ich habe an der Uni gern mit dir zusammengearbeitet. Weißt du noch, unsere gemeinsame Seminararbeit über Rituale des Fernsehens?«
Ich konnte mich an alles Mögliche erinnern, das wir zusammen getan hatten, nur nicht an eine Seminararbeit. Erst recht nicht an eine über Fernsehen. Meine Eltern hatten keinen Fernseher, und ich selbst habe später auch nie einen besessen. Ich kenne mich nicht aus mit Fernsehritualen. Fernsehen, das waren immer die anderen, das fand in den Häusern statt, in denen unsere Nachbarn wohnten, die eine in sich geschlossene Gemeinschaft zu bilden schienen, zu der unsere Familie nicht gehörte.
Das Bauernhaus, in das wir zogen, als ich drei war, war winzig und lag am Rande eines Dorfes, wo sich ab Mitte der sechziger Jahre eine Neubausiedlung ausbreitete. Ich teilte mit meinem Bruder ein Zimmer mit einem Doppelstockbett, und als ich elf wurde, trennte mein Vater mir auf dem Heuboden der Scheune eine Kammer ab. Dort saß ich abends und schaute hinüber auf die Siedlung, wo an heißen Sommerabenden aus den Fenstern die aufgeregten Fernsehstimmen zu mir heraufwehten. Im Herbst, wenn es dunkelte, betrachtete ich gebannt das rhythmische Zucken des Lichts in den Fenstern, den bläulichen, flackernden Schein, den ich mir als Blitz innerhäuslicher Gewitter vorstellte.
Wenn andere in meinem Alter über ihre Kindheit und Jugend erzählen, habe ich manchmal das Gefühl, in einem anderen Land groß geworden zu sein. Als wäre das Fehlen eines Fernsehers durch keine anderen gemeinsamen Anknüpfungspunkte wettzumachen. Ich kenne die Sendungen und Filme nicht, die sie geprägt haben, ich kenne die Werbung aus jener Zeit und viele der dazugehörigen Produkte nicht, ich kenne die Schlager nicht. Es geht mir oft so, dass etwas, das alle in meinem Alter zu kennen scheinen, an mir vorbeigegangen ist und keine Spuren hinterlassen hat. Als hätte meine Aufmerksamkeit ein anderes Gravitationszentrum gehabt.
»Fernsehen? Bist du sicher? Ich hatte nie einen Fernseher. Wie soll ich denn so eine Seminararbeit geschrieben haben?«
»Eben. Das war ja gerade das Surreale. Deshalb erinnere ich mich so gut daran.«
»Ich weiß nicht … das kommt jetzt ziemlich überraschend. Und was meinst du genau mit Interviews? Wieso fragst du nicht jemanden, der sich auskennt? Einen Experten, es gibt doch heutzutage Experten für alles, bestimmt gibt es auch RAF-Experten. Außerdem bin ich im April 1977 als Au-pair nach England gegangen und fast drei Jahre geblieben. Ich habe diese ganzen Monate, in denen sich das zugespitzt hat, und den Herbst selbst gar nicht in Deutschland erlebt.«
Um genau zu sein, saß ich in diesen Monaten in einem bürgerlichen Vorort von London fest, hütete ungezogene Kinder und langweilte mich darüber hinaus zu Tode. Ich durfte abends nicht weg, weil meine Gasteltern Angst hatten, dass mir etwas zustoßen könnte, und dann passierte mir genau deshalb etwas, ich schlief mit dem Nachbarsjungen und war plötzlich schwanger. Treibe ich ab oder nicht, und wenn ja, wo, und wie bringe ich das meinen Gasteltern bei, meinem Vater, das waren die Fragen, die mich beschäftigten. Abends saß ich mit meinen Gasteltern im Wohnzimmer vor den Fernsehnachrichten und bekam mit, was in Deutschland passierte, ich weiß noch, dass ich damals das in meinen Ohren mysteriös klingende Wort hijacking gelernt habe und dass meine Gasteltern, die sehr konservativ waren, mich verständnislos anschauten, als sie mitbekamen, dass ich mit den Terroristen sympathisierte, oder zumindest das Verhalten des Staates, in dem ich groß geworden war, ablehnte und daraus meine Parteinahme für die andere Seite legitimierte. In der Zeit, in der ich da war, zündete die IRA eine Bombe in einem Restaurant in Belfast und tötete zwölf Menschen, diese Zahl habe ich behalten, weil sie mir gigantisch vorkam und weil das alles einfach nur Restaurantgäste waren. Es hätten meine Gasteltern, es hätte ich sein können. In meiner Erinnerung wurde fast jeden Tag jemand von der einen oder anderen Seite erschossen.
Joachim war begeistert.
»Das ist ja noch besser, du warst gar nicht in Deutschland!«
Machte er sich über mich lustig? Besser, ich hätte seine Mail gleich gelöscht, wie es mein erster Impuls gewesen war. Joachim schien meine Überlegungen zu erahnen und sprach weiter, ohne mir die Chance einer Antwort zu lassen.
»Mich interessieren gerade die Erinnerungen derjenigen, die nicht dabei waren. Das mit dem Deutschen Herbst ist ja immer so eine Nabelschau. Kaum wird das Thema in der Öffentlichkeit angeschnitten, kochen die Emotionen hoch. Ein Pingpong der Positionen, man könnte meinen, es ist keine Zeit vergangen, man ist immer noch der einen oder anderen Seite Rechenschaft schuldig. Kein Dazwischen, kein abwägendes Einerseits-Anderseits. Aber ich frage mich: Was denken die, die damals noch gar nicht gelebt haben oder Kinder waren? Was ist mit denen, die DDR-Bürger waren? Mit denen, die als Ausländer in der Bundesrepublik lebten oder später hierhergekommen sind? Der gemeinsame Punkt muss natürlich sein, dass die Befragten heute in Deutschland leben oder einen engen Bezug zum Land haben. Es geht mir sozusagen um den Innenblick von außen oder den inneren Außenblick, wie auch immer man das nennen will. Und ja, klar hat das etwas mit dem Jubiläum zu tun, 2007 sind es dreißig Jahre. Wenn ich mit meinem Verlag überleben will, muss ich mich nun mal am Jahrestagsrummel orientieren und auch mal einen halbwegs massentauglichen Titel bringen.«
Beim Wort massentauglich zog Joachim eine Grimasse und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Er hatte schneller gesprochen, als hätte er Angst, ich könnte ihn unterbrechen. Jetzt holte er Luft und setzte neu an. »Aber es soll Niveau haben. Mit Interviews meine ich so etwas wie die Protokolle von Maxie Wander. Oder Erika Runge, aber die kennt heute keiner mehr. Wanders Protokolle sind übrigens 1977 herausgekommen, wusstest du das?«
Er schaute mich erwartungsvoll an.
Ich wusste es nicht und fragte mich, ob ich, falls ich Joachims Angebot annehmen sollte, überhaupt Zeit haben würde, neben der Agenturarbeit ein Buch zu verfassen, für das es sicherlich einen Abgabetermin gab, und vor allem, ob ich Lust hatte, gedanklich in eine Zeit zurückzukehren, die ich nicht in bester Erinnerung habe: gerade aus der Pubertät herausgekommen, gerade meine Mutter bei einem Autounfall verloren, auf der Suche nach dem, was ich mir als das eigentliche Leben vorstellte, das aber immer genau dort zu sein schien, wo ich nicht war.
»Also, ich denke nach wie vor, du solltest dir jemand anderen für das Buch suchen. Aber nehmen wir rein theoretisch an, ich hätte Interesse an dem Projekt – wann bräuchtest du das fertige Manuskript zurück?«
Joachim lächelte zufrieden, als hätte er mich bereits überzeugt.
»Sagen wir, Manuskriptabgabe Ende 2006? Schaffst du das in etwas mehr als einem Jahr? Das Vorwort würde ich selbst schreiben. Ich weiß, das ist knapp. Aber wenn der Jahrestag vorbei ist, interessiert sich keiner mehr für das Thema.«
Ich habe mir eine Woche Bedenkzeit erbeten, habe einen Tag lang gezögert, mit niemandem darüber gesprochen und am zweiten Tag zugesagt.
Das Klingeln des Telefons lässt mich zusammenfahren. Seltsam, der Ton meines alten Wählscheibentelefons im neuen Haus, ein vertrautes, aus dem Klangteppich meiner Wohnung herausgeschnittenes und in die neue Umgebung eingewobenes Detail. Aber es passt noch nicht, sticht heraus, wie ein Möbelstück am falschen Ort, klingt in dem noch fast leeren Raum scharfkantig, drakonisch, als würde es nicht aufhören, bevor ich nicht abgenommen habe. Bevor der Anrufbeantworter anspringt, greife ich zum Hörer. Es ist Nelly, die wissen möchte, wie es mir geht. Sie fragt vorsichtig, ihre Worte tasten sich durch die Leitung, als könnte eine zu grob gestellte Frage mich aus dem prekären Gleichgewicht bringen, in dem sie mich vermutet. Ich bin sicher, sie hat die Tage gezählt, bevor sie angerufen hat, hat den geeigneten Moment, in dem sie anrufen kann, ohne aufdringlich zu sein, genau ausgerechnet. Sie möchte Nähe, aber sie möchte mir nicht zu nahe treten, das rührt und irritiert mich zugleich. Ich habe mir selbst immer Sorgen um meine Mutter gemacht und bilde mir ein, alles getan zu haben, damit es Nelly nicht so ergeht. Immerhin nehme ich keine Psychopharmaka und habe das Lebensalter meiner Mutter bereits um fast acht Jahre überschritten. Aber ich vermute, die Anlage zur Wiederholung liegt in der Bemühung selbst.
»Nelly«, sage ich, »es geht mir gut. Ich habe angefangen, die Kartons auszuräumen, und habe bisher nichts gefunden, das zu Bruch gegangen wäre.«
»Fühlst du dich nicht einsam? Kann ich dich besuchen kommen?«
Ich überlege, ob ich ihr von Alexander Vogler erzählen soll. Aber das würde sie nur noch mehr beunruhigen. Sie ist ein Stadtkind, für sie ist es unvorstellbar, in einem Haus auf dem Land zu leben. Sie braucht die Schritte der Nachbarn über ihrem Kopf und das Radio aus dem Fenster gegenüber, es gibt ihr ein Gefühl von Eingebettetsein, das Gefühl, dass ihr jemand zur Hilfe kommen würde, wenn sie es bräuchte. Ich sehne mich nach Nelly, aber ich möchte jetzt keinen Besuch. Wie bringe ich ihr das bei, ohne sie zu verletzen?
»Hier ist alles noch drunter und drüber«, sage ich, »ich hätte gar keine Muße, Zeit mit dir zu verbringen, und wenn du kommst, will ich ja etwas von dir haben. Und mir beim Einräumen helfen kannst du auch nicht. Das muss ich schon selbst machen, das war ja der Sinn der selbst gepackten Kartons. Gib mir noch ein paar Tage Zeit, wenigstens bis ich das Gästebett aufgebaut habe. Und dann, liebend gerne, und du kannst bleiben, solange du willst. Ich freue mich auf dich.«
Ich gehe zur Terrassentür und schaue hinaus in die Dunkelheit. Das Licht reicht über die Terrasse bis zum Anfang der leicht abschüssigen Grasfläche, die von einem schmutzigen Grün ist. Sie scheint ins Nichts zu führen, kein Restlicht des Tages, kein Mond zwischen Wolken lässt die Seeoberfläche schimmern. Der See liegt dort unten, das weiß ich, aber die Grasfläche könnte auch ein Hang sein, der weit hinunter ins Tal führt, oder auf einen Acker, ich würde morgen aufwachen und wäre in den Bergen, oder am Rande einer sich in der Weite verlierenden Ebene, und mein Wissen um die Existenz des Sees hätte nichts genützt,