Anja Jetschke
Internationale Beziehungen
Eine Einführung
A. Francke Verlag Tübingen
Mit umfangreichem Download-Material unter:
http://openilias.uni-goettingen.de/lehrbuch_IB
Idee und Konzept der Reihe: Johannes Kabatek, Professor für Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der iberoromanischen Sprachen an der Universität Zürich.
Bei allen Personenbezeichnungen sind stets beide Geschlechter gemeint, auch wenn nur eine Form verwendet wird. Die Verwendung erfolgt zufällig.
Der Text der Resolution ist über die Homepage der Vereinten Nationen abrufbar: UN Security Council Resolutions 2009, www.un.org/en/sc/documents/resolutions/2009.shtml, letzter Zugriff 12.11.2015.
Sehr informativ und gut aufbereitet ist die Webseite des Organisationskomitees des Vertrages, http://www.ctbto.org/ (letzter Zugriff 02.01.2015).
Die vorliegende Einführung in die Internationalen BeziehungenIB = Internationale Beziehungen als Teildisziplin der Politikwissenschaft ist als Lehr- und Übungsbuch für eine Vorlesung oder ein Einführungsseminar konzipiert. Sie richtet sich in erster Linie an Studierende der Politik- und Sozialwissenschaften, eignet sich aber auch für Master-Studierende, die das erste Mal in einem Master-Studiengang ein Modul Internationale Beziehungen besuchen oder die ihre Kenntnisse der internationalen Beziehungen aus dem Bachelor-Studium auffrischen wollen.
Die Teildisziplin Internationale Beziehungen hat sich als interdisziplinäres Fach herausgebildet. Die Diplomatie- und Zeitgeschichte hat sie ebenso geprägt wie die Politikwissenschaft und in neuerer Zeit die Soziologie oder die Kulturwissenschaften. Genau das macht Internationale Beziehungen als Fach so faszinierend und übt eine hohe Attraktion auf Studierende aus. Wenn aber prinzipiell die ganze Welt Gegenstandsbereich der Internationalen Beziehungen ist und diese unter Beteiligung vieler Disziplinen untersucht wird, dann ist die Herausforderung umso größer, in einer einführenden Darstellung die richtige Balance zwischen der Breite des Faches und der notwendigen Tiefe zu finden. Denn es ist die Balance, die das Bachelor-Studium als strukturiertes Studium auszeichnet.
Der Anspruch dieses Lehrbuchs ist es, internationale Politik aus einer globalen Perspektive zu vermitteln: Dabei sind die Inhalte im Vergleich zu den anderen Lehrbüchern in Raum und Zeit weiter ausgreifend. Räumlich: Nicht nur OECD-Welt, sondern auch Globaler SüdenRäumlich betrachtet wirft das Lehrbuch den Blick nicht nur auf die OECD-Welt, sondern über diese hinaus. Der Globale Süden und die aufstrebenden Staaten Brasilien, Indien und China als neue Akteure werden ebenso behandelt wie die EU. Die Themen internationale Sicherheit, Klimaschutz und Menschenrechte sind sowieso globale Themen. Aber sie werden bewusst in einer globalen und regionalen Dimension diskutiert, sowie im Hinblick auf Staaten des Globalen Nordens und des Globalen Südens.
Zeitlich betrachtet behandelt das Lehrbuch nicht nur aktuelle Phänomene, sondern es gibt auch einen Überblick über die historische EntwicklungZeitlich: Geschichte und aktuelle Phänomene der internationalen Beziehungen der internationalen Beziehungen. Die Globalgeschichte der internationalen Beziehungen erfreut sich zunehmender Aufmerksamkeit, aber sie findet nur sehr selten Eingang in die Lehrbücher der Disziplin. Auch hier ist der Anspruch des Lehrbuchs also global. Es geht nicht nur um die Darstellung der Geschichte der internationalen Beziehungen in Europa, sondern auch um ihren Zusammenhang mit Ereignissen in anderen Teilen der Welt.
Dieses Lehrbuch ist in drei Teile gegliedert: einen historischen Teil (Einheit 1 und 2), einen theoretischen Teil (Einheit 3–9) und einen Anwendungsteil (Einheit 10–14). Der erste Teil liefert einen Überblick über die historische Entwicklung der internationalen Beziehungen zwischen 1815 und 2015. Die Darstellung der Geschichte der internationalen Beziehungen verfolgt dabei einen neuartigen Ansatz: Er verbindet den Fokus auf die großen Friedensverträge und die damit verbundenen Ordnungen der letzten beiden Jahrhunderte mit einer Darstellung der wichtigsten globalen Trends, wie der Ausbreitung von Verfassungsstaaten, Demokratisierung, aber auch Kolonisation und Dekolonisation. Dadurch ist es möglich, Entwicklungen aus einer globalen Perspektive darzustellen, ohne das Kapitel mit Einzeldaten zu überfrachten. Dieser Ansatz macht sich vor allem aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung über die internationale Verbreitung von Ideen und Institutionen, aber auch der institutionellen Designforschung zunutze.
Der zweite Teil umfasst bedeutende theoretische Erklärungsansätze. Auch hier ist das Lehrbuch breit angelegt. Der Theorienkanon der Internationalen Beziehungen umfasst sowohl die Mainstream-Theorien wie den Realismus, Institutionalismus, Liberalismus und Konstruktivismus als auch kritische Ansätze wie marxistische Theorien und den Poststrukturalismus. Diese breite Anlage macht eine Beschränkung notwendig: Es werden die jeweils einflussreichsten Ansätze präsentiert, nicht aber alle Ausdifferenzierungen der Theorie katalogisiert.
Der dritte Teil gibt einen Überblick über wichtige Problemfelder der internationalen Beziehungen, wie Sicherheit, Umwelt und Menschenrechte. Darüber hinaus geht er auf neue Trends ein wie den Aufstieg der Schwellenländer und die Zunahme von Regionalisierung. Damit sind sowohl die klassischen Politikfelder abgedeckt als auch bedeutende neue PhänomeneKlassische Politikfelder und neue Phänomene. Angesichts der Fülle der Herausforderungen, mit denen sich die internationale Politik konfrontiert sieht, musste auch hier eine Auswahl getroffen werden. Folglich werden viele andere Themen wie die internationalen Finanzkrisen oder Migration und Flüchtlinge nicht behandelt. Sie haben aber die Möglichkeit, auf einen umfassenden Online-Content http://openilias.uni-goettingen.de/lehrbuch_IB zuzugreifen, der zusätzliche Themen behandelt. Der Ansatz dieses Lehrbuchs für die Darstellung der Problemfelder besteht darin, erstens grundlegendes Wissen über die Themen zu vermitteln, zweitens internationale Bemühungen zur Regelung der Probleme darzustellen und drittens diese mithilfe der Theorien der internationalen Beziehungen zu erklären. Dabei geht es darum, die grundlegend unterschiedlichen Herangehensweisen der Theorien exemplarisch darzustellen. Die Einheiten verzichten auf einen stringenten Theorietest, der am Ende die Überlegenheit einer Theorie oder deren jeweilige Erklärungsreichweite zeigt. Ziel ist es vielmehr, die Anwendung der Theorien auf ganz unterschiedliche Themen zu wiederholen und dadurch das zugrundeliegende Erklärungsschema zu erkennen und zu verinnerlichen.
Die Lernziele der einzelnen Teile sind die folgenden:
Lernziel zum Ende des 1. Teils |
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Ziel |
Überblick über die historische Entwicklung der internationalen Beziehungen im Zeitabschnitt 1815–2015 |
Zugang |
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Lernziel zum Ende des 2. Teils |
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Ziel |
Überblick über das konzeptuelle und theoretische Instrumentarium der Internationalen Beziehungen |
Zugang |
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Lernziel zum Ende des 3. Teils |
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Ziele |
Überblick und ein vertieftes Verständnis einzelner Problemfelder und neuer Phänomene |
Zugang |
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Lernziele des Lehrbuchs
Neben diesen inhaltlichen Aspekten zeichnet sich dieses Lehrbuch durch sein didaktisches Konzept aus: Viele Details erleichtern die Lektüre und das Verarbeiten von viel Text. Zu Beginn des Lehrbuchs finden Sie jeweils eine Synopse, die die Lernziele der Kapitel zusammenfasst. Innerhalb der einzelnen Teile – der Geschichte, Theorien, Problemfelder – sind die Kapitel weitgehend einheitlich gegliedert: Auf diese Weise können jeweils historische Epochen, Theorien und Problemfelder miteinander verglichen werden. Die Fülle an Information lässt sich dadurch schneller verarbeiten und prägt sich besser ein. Schlüsselbegriffe in den Randspalten bieten Anhaltspunkte für die Gliederung und erleichtern zusätzlich das schnelle Erfassen von Textinhalten. Karten, Tabellen, Definitionen, Zusammenfassungen, Anmerkungen und kleinere Fallstudien sind grafisch hervorgehoben und fokussieren auf wichtige Inhalte. Am Ende jedes einzelnen Kapitels finden sich Fragen, die dazu einladen, das Gelesene noch einmal zu rekapitulieren, den Wissensstand abzuprüfen und Themen weiter zu bearbeiten. Das Lehrbuch bietet am Ende ein Sach- und Personenregister, das Zugriff auf Inhalte des Buches gibt. Hier können zentrale Begriffe und Konzepte nachgeschlagen und rekapituliert werden. Zusammengefasst: Das Lehrbuch vermittelt nicht nur Inhalte, sondern macht es auch so leicht wie möglich, sich diese Inhalte anzueignen.
Dieses Buch wäre ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht entstanden oder es sähe zumindest ganz anders aus. An erster Stelle möchte ich Angela Osorio und Nadine Schröder herzlich danken, deren konstruktive Kritik in der Frühphase des Schreibprozesses wesentlich dazu beigetragen hat, die Kapitel anschaulicher zu machen. Beide haben die Anlage des Lehrbuchs von Beginn an systematisch mit mir durchdacht. Wesentlicher Dank gebührt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und studentischen Hilfskräften am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Universität Göttingen, die das Manuskript wiederholt gelesen und kommentiert haben. Dazu gehören: Jun. Prof. Dr. Bernd Schlipphak (Universität Münster), Dr. Patrick Theiner, Kristina Kurze und Benjamin Barth, Hannah Becker, Julia Egle, Lena Gottschalk, Franziska Lammers, Samira Meier, Fabian Rasem und Alina Ripplinger. Die Verantwortung für verbleibende Fehler liegt bei der Autorin. Großer Dank gebührt auch dem Narr Francke Attempto Verlag, vor allem Dr. Bernd Villhauer, Daniel Seger und Stephanie Stojanovic. Sie haben stets geduldig auf Verzögerungen reagiert und die Drucklegung professionell begleitet.
Göttingen, im Sommer 2016
Die Welt zwischen 1815 und 1919
Die Ordnung des Wiener Kongresses
Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg
Innerstaatlicher und geopolitischer Wandel 1860–1870
Der Wettlauf Europas um kolonialen Besitz 1870–1914
Deutschland und Japan als aufsteigende Mächte
Globaler Wandel und der Weg in den Ersten Weltkrieg
Die Welt zwischen 1919 und 1945
Die Ordnung der Versailler Verträge (1919)
Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen (1919–1939)
Globaler Wandel und der Weg in den Zweiten Weltkrieg
Übungen
Verwendete Literatur
Was wäre, wenn es die Möglichkeit gäbe, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen und die Welt zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten aus einer Vogelperspektive zu erleben: 1815, 1915 und 2015. Zu allen drei Zeitpunkten würde man sich zweifelsohne an relevanten Punkten der Weltgeschichte befinden: 1815 wäre man Zeuge des Wiener Kongresses, 1915 wäre man mitten in einem Weltkrieg und 2015 würde man sich vielleicht darüber wundern, dass kein Staat mehr unter kolonialer Herrschaft steht und ein Gegensatz zwischen einem relativ friedlichen Europa und einem kriegerischen Nahen und Mittleren Osten herrscht. Zentrale Veränderungen der internationalen Beziehungen in zwei längeren und ereignisreichen Zeitabschnitten darzustellen, die durch die drei Datenpunkte markiert werden, ist das Ziel dieser und der nächsten Einheit.
Das Kapitel vermittelt grundlegendes Wissen zu den empirischen Trends und Entwicklungen der globalen internationalen Beziehungen zwischen 1815 und 1939 mit dem Ziel, einen Überblick über die zentralen Veränderungen in diesem Zeitraum zu geben, die die internationalen Beziehungen beeinflusst haben. Es beschreibt und analysiert die Ursachen von zwei Weltkriegen und befasst sich mit den Inhalten der großen Friedensverträge mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den großen Friedensschlüssen bis nach dem Zweiten Weltkrieg zu erfassen.
Ziel der Einführung in die Geschichte der internationalen Beziehungen ist es, einen Überblick über die Entwicklung internationaler Beziehungen zu geben, der vor allem eines leisten soll: deutlich machen, dass sich die Praxis der internationalen Beziehungen in den letzten beiden Jahrhunderten beständig gewandelt hat und aufzeigen, worin dieser Wandel genau besteht. Nehmen wir die verschiedenen Extreme, die in der Disziplin diskutiert werden: Für die Einen ist internationale Politik eine Wiederholung von großen Kriegen, die sich mit gewisser Regelmäßigkeit einstellen (Morgenthau 1954). Für Andere ist es Fortschritt in Richtung einer Zivilisierung von Politik, durch den die Machtpolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die Schaffung internationaler Organisationen und die Zunahme internationaler Verträge gebändigt wird (Zangl/Zürn 2004; Alter 2014). Dieser Überblick liefert – trotz aller Kürze – eine differenzierte Sichtweise. Er zeigt aus einem historischen und globalen Blickwinkel, wie sich zentrale Charakteristika von Staaten als bedeutende Akteure des internationalen Systems entwickelt haben, wie sich Krieg und Frieden global verteilen und welche Systeme der Friedenssicherung Staaten und andere Akteure im Lauf der Zeit entwickelt haben, um vor allem eine Wiederholung der großen Kriege der letzten beiden Jahrhunderte zu vermeiden. Die beiden Einheiten sind so konzipiert, dass sie zentrale Muster der internationalen Beziehungen erkennbar machen, die einen Schnellzugriff auch auf aktuelle Herausforderungen der internationalen Politik geben. Dabei geht diese und die folgende Einheit von folgenden Annahmen aus:
Kernannahme 1
Die Beschaffenheit der Einheiten der internationalen Politik macht einen fundamentalen Unterschied für die internationalen Beziehungen. Deshalb lohnt es sich, etwas mehr über die Entwicklung der Staatenlandschaft zu erfahren.
Es macht einen Unterschied, ob die zentralen Akteure des internationalen Systems stabil sind oder nicht, ob es sich um Demokratien oder Autokratien, Wohlfahrtsstaaten oder Entwicklungsländer, liberale oder sozialistische, sunnitische oder schiitische, säkulare oder religiöse Staaten handelt, ob sie in Sicherheitssysteme eingebunden sind oder nicht. Staatliche Charakteristika beeinflussen die internationalen Beziehungen. Diesen Zusammenhang aufzuzeigen ist Ziel der ersten beiden Kapitel. Selbst wenn im Einzelnen keine kausalen Zusammenhänge zwischen bestimmten staatlichen Charakteristika und internationalen Beziehungen hergestellt werden können, kann die Entwicklung der Staatenlandschaft über Zeit und Raum zeigen, warum in manchen Regionen Kriege ausbrechen, in anderen aber nicht, oder warum sich institutionelle Strukturen unterscheiden.
Kernannahme 2
Viele Phänomene erfassen eine große Anzahl von Staaten in relativ kurzer Zeit. Sie verbreiten sich schnell über die Einheiten des internationalen Systems, in der Regel die Staaten. Solche Wellen oder Trends erzeugen eine eigene Dynamik für die internationalen Beziehungen und prägen ihre Strukturen.
Das Phänomen der Trends dürfte nach der Arabellion, bei der innerhalb kürzester Zeit eine Reihe von Staaten von Demokratiebewegungen erfasst wurden, leicht zu begreifen sein. Nur Wenige wissen, dass wir es in der internationalen Politik oft mit einer solchen Häufung von Ereignissen zu tun haben. Die globale Verbreitung von Kolonisation und Dekolonisation sind beispielsweise Massenphänomene, ebenso wie die Ausbreitung von Autoritarismus und Demokratien.
Genau dieses Phänomen macht sich diese Einheit zunutze, um erstens möglichst effizient globale Veränderungen darzustellen. Zweitens wird dadurch aber auch eine räumliche Dimension der Entwicklung internationaler Beziehungen abbildbar. Manche Phänomene betreffen Staatengruppen stärker oder schwächer. Drittens bietet diese Vorgehensweise aber auch einen bequemen Schnellzugriff auf die Entwicklung ganzer Staatengruppen. Wenn man weiß, welche Staatengruppen in welchem Zeitraum von welchen Trends erfasst wurden, kann man Länder schneller einordnen: Von wem es wann kolonialisiert wurde, wann die Dekolonisation stattgefunden hat, ob es sich um eine Demokratie oder Autokratie handelt und in welche Sicherheitsbündnisse es eingebunden war oder ist.
Kernannahme 3
Es gibt eine wechselseitige Abhängigkeit (InterdependenzInterdependenz) von Ereignissen über weite Distanzen hinweg. Ereignisse, die in einem Teil der Welt passieren, beeinflussen systematisch, was in anderen Teilen der Welt passiert.
Ein Beispiel ist die Auflösung der SowjetunionAuflösung Sowjetunion. Ihr Zusammenbruch beeinflusste nicht nur Staaten in Osteuropa, sondern auch in Afrika und in Zentralamerika. Auch wenn wir beispielsweise in Europa oftmals denken, dass Ereignisse außerhalb Europas wenig Einfluss auf Ereignisse in Europa haben (und andersherum), zeigt sich, dass sie häufig miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Weitere Beispiele: Die Dekolonisation Lateinamerikas wäre höchstwahrscheinlich sehr viel später passiert, hätte Napoleon 1808 nicht Spanien besetzt. Der Kalte Krieg hätte sich nicht verschärft und Deutschland wäre vermutlich nicht geteilt worden, hätte nicht der Koreakrieg stattgefunden.
Diese Zusammenhänge punktuell aufzuzeigen und ihre Bedeutung für die Entwicklung internationaler Beziehungen aufzuzeigen, ist ein Anliegen der ersten beiden Einheiten.
Kernannahme 4
Für die Verbreitung von empirischen Trends und für Zusammenhänge durch wechselseitige Abhängigkeit von Ereignissen gibt es einige soziale Mechanismen, die unterschiedliche Dynamiken der Entwicklung des internationalen Systems erklären.
Diese Mechanismen erklären sowohl die Verbreitung als auch die Dynamik wichtiger Trends. Die Forschung über die Diffusion von politischen Institutionen und Praktiken liefert hier wichtige Hinweise für Mechanismen, die auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen einwirken. Einer der wichtigsten Mechanismen ist der Einfluss mächtiger Staaten, auch hegemoniale Koordination genannt. Ein weiterer Mechanismus ist der Wettbewerb unter den Einheiten, die sich in einer ähnlichen Position innerhalb des internationalen Systems finden und ein dritter Mechanismus sind Prozesse des Lernens. Auf die eine oder andere Art und Weise werden uns diese Mechanismen immer wieder begegnen. Sowohl die Existenz von HegemonienHegemonien, wie das Napoleonische Frankreich oder Großbritannien im 20. Jahrhundert, wie auch ihr Zusammenbruch, zum Beispiel im Falle der Sowjetunion, haben über die jeweils mit ihnen verbundenen Staaten systemweite Effekte. Wettbewerb unter ähnlich positionierten Staaten wirkt oft als Verstärker bestehender Trends, die sich im internationalen System zeigen. Und Staaten sind in der Lage sowohl voneinander als auch untereinander und aus dramatischen Ereignissen zu lernen. Die verschiedenen Ansätze zur Friedenssicherung sind hier ein gutes Beispiel.
Kernannahme 5
Viele globale Phänomene manifestieren sich lokal, innerhalb eines bestimmten geographischen Raumes.
Viele der Entwicklungen, die für die Disziplin interessant sind, ergeben sich aus politischen Veränderungen, Lokale Manifestation globaler Ereignissedie sich geographisch manifestieren und deren Effekte deshalb ebenfalls oftmals geographisch lokalisierbar sind. Nicht alle Trends erfassen alle Regionen der Welt gleichmäßig. Viele Trends werden regional und lokal gefiltert. Andere Trends haben nicht-intendierte Effekte. Beispiele dafür sind die Französische Revolution, deren Effekte in ganz Europa, aber auch in Lateinamerika bemerkbar waren, aber auch die Konsequenzen der Kolonialisierung Indiens durch die Briten, die die Grundlage für das britische Interesse und eine Einmischung Großbritanniens im Nahen und Mittleren Osten legte.
Wie sich die internationalen Beziehungen im 19. Jahrhundert gestalten, erschließt sich einfacher, wenn man zunächst den Blick auf eine Landkarte von Europa wirft. Tafel I und II (S. 418–421) zeigen Europa vor und nach dem Napoleonischen Eroberungsfeldzug. Europa war zu diesem Zeitpunkt durch eine Macht dominiert: Frankreich unter Napoleon Bonaparte. Frankreich dominierteDominanz Frankreichs in den internationalen Beziehungen bereits seit dem 17. Jahrhundert die internationalen Beziehungen, aber die Herrschaft Napoleons stellte einen Höhepunkt französischer Macht in Europa dar. Napoleon hatte sich nach der Französischen Revolution aufgemacht, in einem letzten Krieg aller Kriege ganz Europa zu demokratisieren und von der monarchischen Herrschaft zu befreien. Innerhalb von wenigen Jahren hatte Napoleon die bis dahin geltende Ordnung erschüttert, mit bedeutenden Ausnahmen ganz Europa erobert und in einem Krieg der Demokratie über die Monarchien Europas deren Staatsformen verändert. Nicht mehr die Konfliktlinie zwischen Katholizismus und Protestantismus beziehungsweise Christentum und Islam wurde bestimmend für die internationalen Beziehungen zumindest in Europa, sondern die Konfliktlinie zwischen Demokratien und Monarchien wurde dominant. Zur Sicherung seiner Herrschaft betrieb Napoleon die Politik der Einsetzung von Verwandten in den eroberten Fürstentümern und schuf dadurch die mit ihm verwandtschaftlich vernetzten Napoleoniden-Staaten, vor allem in Italien, Spanien und Westphalen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht dominierte Frankreich mit sehr wenigen Ausnahmen ganz Europa.
Erst der Russlandfeldzug Napoleons setzte der französischen Herrschaft ein Ende. Napoleon wurde in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) auf dem Kontinent vernichtend geschlagen. Nach der Herrschaft der 100 Tage, die Napoleon kurzzeitig wieder an die Macht in Frankreich brachte, wurde er 1815 in der Schlacht bei Waterloo endgültig besiegt.
Tafel III (S. 422–423) zeigt Europa 1815, nach den vertraglichen Regelungen des Wiener KongressWiener Kongresses. Die territoriale Unabhängigkeit Spaniens, der deutschen Territorien ebenso wie der Territorien Italiens ist wieder hergestellt, wenn auch nicht in exakt den gleichen Grenzen wie vor den Napoleonischen Eroberungen. Frankreich befindet sich wieder in seinen Grenzen von 1792. Die meisten Staaten sind relativ große Flächenstaaten. Davon heben sich nur Deutschland und Italien ab, die sich – wie vor den Napoleonischen Kriegen auch – durch viele kleine Territorien auszeichnen. In Deutschland dominiert Preußen, das einige Besonderheiten aufweist: Es ist territorial zerstückelt, in einen Ostteil, der sich bis nach Litauen erstreckt, und in einen Westteil, der das Rheinland umfasst. Das Osmanische Reich endet erst an den Grenzen Österreichs, die südosteuropäischen Staaten sind noch integraler Bestandteil des riesigen osmanischen Herrschaftsgebietes, das auf dem eurasischen Festland bis nach Georgien reicht und auch noch die Gebiete des heutigen Israels, des Libanons und Palästinas umfasst. Die territorialen Veränderungen sind das Werk des Wiener KongressWiener Kongresses, der 1814 etabliert wurde, um mit den Folgen der Napoleonischen Herrschaft in Europa und in der Welt umzugehen.
Die Karten sagen aber noch nichts über die Bedeutung der einzelnen Staaten aus. Deshalb ist es sinnvoll, diese kurz vorzustellen. Aus den Napoleonischen Kriegen ging eine Großmacht hervor, die alle anderen klar dominierte: Großbritannien. Es wird wie kein anderer Staat vor ihm in dem nun folgenden Jahrhundert über ein Weltreich regieren, das weniger auf der direkten Herrschaft auf dem europäischen Festland beruht als vielmehr auf einem weit verstreuten kolonialen Empire mit einem Schwerpunkt in Nordamerika und der Kontrolle über die Weltmeere. Es löst damit Frankreich ab, das das Jahrhundert vor ihm dominiert hatte, und das habsburgische Österreich, das auf dem europäischen Festland nach wie vor eine bedeutende Rolle spielt. Während in Kontinentaleuropa Frankreich, Österreich und Preußen die dominierenden Staaten sind – mit Frankreich und dem habsburgischen Österreich als Antagonisten auf dem Festland – und Portugal und Spanien durch ihren KolonialbesitzKolonialbesitz vor allem in Lateinamerika eine bedeutende Rolle spielen, sind in der Weltpolitik Großbritannien und Russland die prägenden Staaten. Neue Staaten bilden sich einerseits in Nordamerika, andererseits in Lateinamerika, wo sich Staaten von Spanien und Portugal emanzipieren. Russland ist zugleich eine europäische, asiatische und – zu diesem Zeitpunkt auch – amerikanische Macht.
Das Jahrhundert geht als Pax BritannicaBritannica in die Geschichtsbücher ein. Dieser Ausdruck bezieht sich auf einige wesentliche Charakteristika der internationalen Ordnung, die unter Führung Großbritanniens in dieser Zeit entstand: Die Gleichgewichtspolitik in Europa, seine Herrschaft in Übersee, ein britisches Überlegenheitsgefühl und Sendungsbewusstsein, das sich auf liberale Ideen gründet, wie der Idee konstitutioneller Herrschaft (durch Verfassung), der Selbstregierung durch Kooperation für alle zivilisierten Menschen und der Idee der Freiheit der Meere und des Handels. Pax Britannica bezieht sich aber auch auf die lange Friedensperiode, die in Europa nach den Napoleonischen Kriegen einsetzte. Der lange Frieden in Europa wurde lediglich unterbrochen durch den Krim-Krieg (1853–1856) und die deutschen und italienischen Einigungskriege, die zum Teil zu internationalen Kriegen wurden. Dieses Jahrhundert verzeichnet sehr viel weniger Kriege als die Epoche davor. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man sich die fundamentalen Veränderungen ansieht, die die internationalen Beziehungen in dieser Zeit prägten.
Pax Britannica (Britischer Friede) bezeichnet die britische HegemonieHegemonie zwischen 1815 und 1919. Der Name drückt eine Analogie zu früheren Großreichen aus, wie der Pax Augusta oder der Pax Romana. Er bezieht sich sowohl auf die spezifischen ideellen Charakteristika der britischen HegemonieHegemonie als auch auf die lange Friedenszeit, die mit der Dominanz Großbritanniens verbunden ist.
Für die europäischen Mächte hatte es sich bereits seit längerem eingebürgert, große Kriege durch bedeutende Verträge zu beenden. Beispiele dafür sind der Westfälische FriedeFriede von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, oder der Frieden von Utrecht 1713, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete. Diese großen FriedensverträgeGroße Friedensverträge als Ordnungsinstrumente regelten nicht nur den Umgang mit den Kriegsverlierern, sondern wurden auch als Verträge verstanden, in denen die Beziehungen zwischen den Staaten für kommende Generationen geregelt wurden. Die größere Bedeutung lag also darin, dass es um die Aushandlung von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren für eine Friedensordnung und dadurch um Friedenssicherung ging (Murray/Lacey 2009; Ikenberry 2014).
Der Wiener KongressWiener Kongress selbst dauerte fast ein Jahr und an ihm nahm alles Teil, was in Europa Rang und Namen hatte. Die Teilnehmer des Kongresses – die Repräsentanten von rund 200 Staaten in ganz Europa, darunter Außenminister Fürst Metternich für Österreich, der russische Zar Alexander, Preußens Friedrich Wilhelm III. und der britische Gesandte Lord Castlereagh – hatten eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen, die vor allem mit den längerfristigen Effekten der Herrschaft Napoleons zu tun hatte. Dabei ging es hauptsächlich um die Wiederherstellung (Restauration) des Gleichgewichts der europäischen Mächte vor 1792, und damit um eine Friedenssicherung. Diese hatte verschiedene Komponenten, die wichtigsten waren die Eindämmung und die Kontrolle Frankreichs, aber es wurden auch wichtige zwischenstaatliche Prinzipien etabliert.