Titel
Impressum
TAMY, DIE ERZÄHLERIN
WIE DER KLEINE YASIN AUS SYRIEN UNSER BRUDER WURDE
WIE LINA ZU UNS KAM
WIE SAMI ZU UNS KAM
WIE MIRI ZU UNS KAM
OLIVER TRÄUMT VON EINEM BRUDER
MERLE HAT GEBURTSTAG
Pit hat Angst
LINA HAT MERKWÜRDIGE ERINNERUNGEN
Yasin muss zum Schularzt
TIMO, EIN KLEINER GROSSER HELD!
OLE WÜNSCHT SICH EINEN HUND
DIE PUPPENDARSTELLER
Jutta Strobel
Tamy
und die verlorenen
Kinder
Die Abenteuer einer Pflegefamilie
Zum Vor- und Selberlesen ab 6 bis 99 Jahre
DeBehr
Copyright by: Jutta Strobel
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
ISBN: 9783957536457
Erstauflage: 2019
Copyright by Fotolia by Silamime
TAMY, DIE ERZÄHLERIN
Ich bin die Tamy und wohne in der Straße der fröhlichen Kinder Nummer 16.
Ich lerne in der dritten Klasse und kann schon gut lesen und schreiben. Weil mir das Schreiben so großen Spaß macht, hat Mama vorgeschlagen, ich könnte doch mal unsere Familiengeschichte aufschreiben. Alle, die uns kennen, sagen, wir seien eine besondere Familie. Ich glaube, sie haben Recht.
Ich habe Mama gefragt, ob die Straße nach unserer Familie benannt wurde, weil wir gern alle fröhlich sind. Mama sagte, die Straße hieß schon so, bevor ich auf die Welt kam.
Ich bin das älteste Kind.
Tamy
Das zweite Kind ist Leni. Sie geht in die erste Klasse. Dann folgen Paula und Ole.
Sie gehen in den Kindergarten. Unsere Kleinsten sind Vivi und Timmi, die Zwillinge. Sie warten noch auf einen Platz in einer Kita. Sie sind noch bei Mama zu Hause. Habt ihr mal mitgezählt? Sechs Kinder waren wir, bevor so viele merkwürdige Geschichten in unserer Familie passierten. Jetzt wohnen bei uns zehn Kinder. Doch wie es dazu kam, erzähle ich euch gleich.
Findet ihr es schön, „kinderreich“ zu sein? In unserer Klasse ist ein Junge, der Oliver. Der hat immer die teuersten Sachen an, die man kaufen kann. Er hat schon einen eigenen Fernseher und einen Computer. Die Familie hat ein Segelboot und fährt in den Ferien ins Ausland. Er gibt gerne damit an. Meine Freundin hat gesagt, die Familie sei sehr reich.
Paula
Leni (mit Paula)
Einmal habe ich Mama gefragt, warum wir nicht reich sind. Da hat sie geschmunzelt, und Papa hat gesagt, dass das nicht stimmt. Wir wären auch reich. Ich soll doch mal zählen, wie viele Kinder am Tisch sitzen. Dann strahlte er und sagte: „Wir sind kinderreich! Das ist viel schöner! Das habe ich mir immer gewünscht!“
Paula meinte, das würde aber nichts einbringen, nur Geld kosten. Doch Papa sagte, das bringe viel ein! Viel Freude, viele schöne Erlebnisse, gute Gefühle, Liebe, Freundschaft. „Ihr lernt viel mehr fürs Leben, als wenn ihr den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen oder auf den Computer starren würdet. Sag mir, Tamy, welches von deinen Geschwistern würdest du für einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer hergeben?“
Ole
Solche Fragen kann auch nur Papa stellen!
Spontan ist mir Paula eingefallen, weil die oft frech ist. Dann habe ich aber daran denken müssen, dass man mit ihr auch viel Spaß hat. Nein, auf die Frage habe ich keine Antwort geben können. „Siehst du“, sagte Papa, „kinderreich ist viel schöner als anders reich! Dein Oliver hat bestimmt keinen, mit dem er im Bett noch Witze erzählen kann!“
Na ja, ich finde, ganz so einfach, wie Papa sich das macht, ist das nicht. Aber ganz Unrecht hat er auch nicht. Papa liebt Kinder. Darum ist er Kinderarzt geworden. Seine Praxis ist in unserem Haus in der unteren Etage. Früher hat Mama dort mitgearbeitet, denn sie ist Krankenschwester.
Weil wir so viele Kinder sind, hat sie jetzt mit uns genug zu tun.
Aber nun erzähle ich euch einmal, wie es dazu gekommen ist, dass jetzt zehn Kinder zu unserer Familie gehören.
Zwillinge Vivi und Timmi
WIE DER KLEINE YASIN AUS SYRIEN UNSER BRUDER WURDE
Vor einem halben Jahr durften Paula und ich mit Mama zum Spielzeugladen gehen. Wir wollten für Ole einen Teddy kaufen. Er hatte bald Geburtstag und hatte sich diesen Teddy schon lange gewünscht.
Wir waren noch nicht weit gelaufen, als Paula rief: „Wer sitzt denn da?“ Sie zeigte auf einen Busch am Wegesrand.
Wir beugten uns zu einem kleinen Jungen hinunter und sprachen ihn an. Doch der Kleine rührte sich nicht. Da nahm Mama ihn vorsichtig auf den Arm, und er schmiegte sich an sie. Wir schauten suchend in alle Richtungen, aber weder Mutter noch Vater des kleinen Jungen waren zu sehen. Mama fragte uns, ob wir den Kleinen mal halten könnten. Das machten wir gern. Der Junge hatte nichts dagegen.
Mama nahm ihr Telefon und rief bei der Polizei an. Sie erzählte von dem Jungen, der alleine unter einem Busch saß. Es dauerte nicht lange, und ein Polizeiauto sauste heran. Die Sirene machte einen fürchterlichen Krach. Da warf sich der kleine Junge auf den Boden und schrie erbärmlich.
Mama nahm ihn schnell auf den Arm und tröstete ihn. Der kleine Junge beruhigte sich. Der Polizist wollte ihn mitnehmen. Aber der Kleine klammerte sich an meine Mama und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Da wusste der Polizist nicht, was er machen sollte. Er beriet sich mit Mama. Sie machte einen Vorschlag: „Ich nehme das Kind erst einmal mit zu mir nach Hause. Wenn die Polizei die Eltern gefunden hat, kann sie den Jungen bei uns abholen.“ Der Polizist fand den Vorschlag gut. Mama schrieb ihm unsere Adresse auf: Straße der fröhlichen Kinder Nummer 16.
so saß der kleine Junge ganz allein unter dem Busch
als die Polizeisirene ertönt, wirft sich der Kleine schreiend auf den Boden
Nun gingen wir zusammen nach Hause. Wie waren gespannt, wie wohl die Geschwister den kleinen Jungen empfangen würden. Zu Hause wollten alle hören, warum wir statt des Teddys ein Kind mitbrachten.
Mama bereitete das Abendbrot. Wir setzten uns alle an den Tisch. Wir mussten noch einen Stuhl aus dem Wohnzimmer holen. Mama zeigte auf mich und sagte laut: „Tamy“, dann zeigte sie auf Ole und sagte laut: „Ole.“ So ging es der Reihe nach weiter. Zum Schluss zeigte sie auf den kleinen Jungen. Er lachte und sagte leise „Yasin.“
Nun wollten alle mit Yasin reden. Aber es klappte nicht. „Warum antwortet Yasin nicht?“, fragte die neugierige Leni. „Er versteht dich nicht“, antwortete Mama. „Er kommt aus einem anderen Land und versteht unsere Sprache nicht.“
Yasins erstes Abendessen mit den Kindern der Familie
Nach dem Essen wollte jeder von uns Yasin mit in sein Bettchen nehmen. Aber Mama sagte: „Nein, Yasin bekommt sein eigenes Bett.“ Der Junge kroch müde ins Bett. Mit Straßensachen! Er wollte sich nicht ausziehen lassen. Mama meinte: „Das macht nichts.“ Sie streichelte ihn und sang ihm ein Lied vor. Wir durften ihm alle noch ein Küsschen geben.
Ole gibt Yasin ein „Gutenachtküßchen“
In der Nacht fing Yasin an zu weinen. Paula schlich sich zu ihm und legte sich unter seine Decke. Beide schliefen schnell wieder ein.
Am nächsten Tag drehte sich natürlich alles um Yasin. Mama wollte wissen, aus welchem Land er kommt. Das war nicht einfach, denn sie konnte ihn ja nicht auf Deutsch danach fragen. Da hatte sie eine Idee. Während Yasin mit Paula spielte, setzte sie sich an den Computer und ging ins Internet. „Was suchst du?“, fragte ich Mama. „Nun“, sagte sie, „jede Mama auf der ganzen Welt, egal, welche Sprache sie spricht, nennt ihr Kind irgendwann einmal „Schatz“. Ich frage den Computer, wie man in anderen Ländern „Schatz“ sagt.“ Mit Hilfe des Computers sagte Mama nun das Wort Schatz in verschiedenen Sprachen.
Paula tröstet Yasin abends im Bett
Als sie „ Jakansi“ kaum ausgesprochen hatte, strahlte Yasin sie an. „Ich bin überzeugt, er kommt aus Syrien“, meinte Mama. „Ein Land, wo Krieg herrscht und schlimme Sachen passieren.“ Sie erzählte uns davon, und ich staunte, wie schlau sie und das Internet waren. Uns tat der kleine Yasin sehr leid.
Nach drei Tagen kam Frau Müller vom Jugendamt. Mama erklärte uns, dass sie Yasin mitnehmen würde, weil sie dafür sorgen müsste, dass er in eine Familie kommt, in der er es gut hätte. Yasin kroch schnell unter den Tisch. Es ging ihm gut bei uns. Wir Kinder setzten uns vor ihn, damit man ihn nicht sehen konnte. Wir wollten doch, dass er bei uns bleibt.
Yasin versteckt sich unter dem Tisch, als die Mitarbeiterin des Jugendamtes kommt
Aber wir hatten uns geirrt. Frau Müller wollte Yasin nicht mitnehmen, sie wusste bereits, dass er sich bei uns wohl fühlte. Solange die Eltern nicht gefunden wären, könnte er bei uns leben, erklärte sie. Nur müsste er schnell von einem Arzt untersucht werden, um festzustellen, ob er gesund ist oder behandelt werden muss. Papa versprach, dies gleich am nächsten Morgen zu tun.
Yasin ließ sich abhorchen, aber als Papa mit der Kanüle kam und Blut abnehmen wollte, fing der Kleine an zu weinen. Paula nahm ihn in den Arm und flüsterte, dass es nur ein wenig piekst. Er konnte sie natürlich nicht verstehen, aber er beruhigte sich.
Schon am nächsten Tag erfuhren wir, dass Yasin gesund war. Das Jugendamt schrieb uns wenig später, er dürfte bei uns bleiben, bis seine Eltern gefunden wären. Wir freuten uns alle so sehr!
Das alles ist nun schon ein halbes Jahr her. Yasin spricht bereits viele deutsche Worte. Er scheint gerne bei uns zu sein, alle spüren das. Und wir finden es schön, dass er da ist. Manchmal sitzt er am Fenster und schaut sehnsüchtig hinaus. Dann ist er traurig. Er vermisst seine Eltern. Dann sind wir alle ganz still. Wir wünschen ihm sehr, dass er seine Mama und seinen Papa bald wieder in seine Ärmchen schließen kann.
Die meiste Zeit aber tobt und spielt Yasin fröhlich mit uns. Ole erhielt von uns doch noch seinen geliebten Teddy. Das war eine Freude! Außerdem bekam er von Mama noch ein Schaukelpferd zum Geburtstag. Darauf ließ er uns auch alle mal schaukeln. Yasin schaukelt auch sehr gerne. Beim Spielen sieht er immer richtig glücklich aus.
Yasin liebt uns, und wir lieben ihn.
Yasin schaut sehnsüchtig aus dem Fenster. Kommen seine Eltern?
Dann spielt er aber wieder fröhlich. Er ist ein sehr kluger Junge.
Yasin ist glücklich
Teddy
WIE LINA ZU UNS KAM
Was nun in unserer Familie passierte, war für uns alle sehr aufregend. Wir können es uns bis heute nicht erklären.
Es war eine stürmische Nacht im Frühling. Donner, Blitz und Regen wechselten sich ständig ab. An einen tiefen, erholsamen Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder wachten wir auf, weil es so krachte. Alle hatten ein bisschen Angst.
Ich schlafe in einem Zimmer mit Paula, Leni und Ole. Im Zimmer nebenan schlafen Yasin und die Zwillinge Vivi und Timmi, unsere Kleinsten. Wir wohnen in einem sehr alten Haus. Es ist bestimmt schon mehr als 100 Jahre alt, wurde aber schon oft modernisiert. Dass es so ist, merkt man nur im Keller. Er ist schon ein wenig gruselig. Aber sonst ist es im Haus sehr schön.
Im unteren Stockwerk hat unser Papa eine Kinderarztpraxis. Er muss auch oft nachts arbeiten, wenn Eltern anrufen, dass die Kinder krank geworden sind. Dann fährt er zu ihnen. Mamas Arbeit sind wir, sagt sie immer schmunzelnd. Sie macht alles, damit es uns gut geht. Wir Kinder haben sie sehr lieb.
In dieser Nacht passierte also etwas sehr Merkwürdiges. Bei dem starken Gewitter war sogar Ole unruhig, der sonst wie ein Stein schläft. Mama spaßt manchmal und sagte, man könne ihn in den Garten tragen und auf die Wiese legen, er würde es nicht merken. Paula ist immer unruhig. Ihr Laken ist morgens meistens total verwurschtelt. In dieser Nacht kroch sie zu Leni ins Bett. Ich hörte mehrfach die Tür von unserem Auto schlagen. Papa musste also wieder zu Patienten fahren. Er tat mir leid.
Leni
Dann wurde es langsam draußen heller, und ich hoffte, dass das Gewitter sich jetzt verzog. Doch plötzlich zuckte ein greller Blitz auf, und unmittelbar darauf dröhnte ein Donner direkt über unserem Haus.
Alle Kinder saßen wie erstarrt im Bett. Im Nebenraum hörte ich, wie Timmi weinte. Yasin tröstete ihn. Draußen war es jetzt ganz still. Aber in unserem Kleiderschrank rumpelte es. Wir schauten uns alle erschrocken an. Was war das? Wieder ein Rumpeln. Als ob jemand Bausteine hin und her schurrt. Ich schaute Paula an: „Hast du eine Katze in den Schrank gesetzt?“ Paula traute ich so etwas zu. „So ein Quatsch“, sagte Paula mit leiser Stimme. „Vielleicht ist es eine Ratte“, flüsterte Ole.