Margaret Frazer lebt mit ihren vier Katzen und viel zu vielen Büchern in der Nähe von Minneapolis, Minnesota. In den USA hat sie sich mit ihrer Serie um Schwester Frevisse über viele Jahre ein Millionenpublikum erschrieben.
Anke Grube hat Anglistik, Literaturwissenschaft und Geschichte studiert und ist sie seit 1989 freiberuflich als Literaturübersetzerin tätig
Nach der Wahl von Schwester Alys zur neuen Priorin ist nichts mehr wie es war in St. Frideswide. Korruption hält Einzug in das Kloster, denn Alys missbraucht es als Privatunterkunft für ihre habgierigen Verwandten. Während der Godfrey Clan die Speisekammer plündert, stehen die Nonnen vor der Frage, wie sie so den bevorstehenden Winter überstehen sollen. Als dann auch noch ein Mord geschieht, können nur noch der scharfe Verstand und die Ermittlungskünste von Schwester Fervisse helfen. Schafft sie es den Frieden zurück in das Kloster zu bringen?
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Die Priorin
Historischer Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Anke Grube
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Impressum
COSYN MYN, WHAT EYLETH THEE,
THAT ART SO PALE AND DEEDLY ON TO SEE?
VETTER, SAG, WAS GIBT’S, WAS IST GESCHEHEN?
DU BIST GANZ LEICHENBLASS JETZT ANZUSEHEN.
»DIE ERZÄHLUNG DESRITTERS«
GEOFFREY CHAUCER
Die milden Tage des späten Oktobers brachten die Erinnerung an den Sommer zurück. Die ganze Woche seit Montag war es warm und heiter gewesen. Nur die goldenen Strahlen des Sonnenlichts an diesem frühen Nachmittag, die zu lang und tief für einen Sommernachmittag waren, verrieten, wieviel von diesem Jahr des Heils 1439 schon verstrichen war.
Aber es war ein gutes Jahr gewesen, dachte Alys und sah zu, wie die letzten ihrer Nonnen vor ihr durch den Kreuzgang zum Chorgebet in die Kirche hasteten. Gott sei Dank war die Non eins der kurzen Stundengebete. Als Priorin von St. Frideswide hatte sie wahrlich genug zu tun, auch ohne dass sie so viele kostbare Stunden des Tages mit den endlosen Liturgien vergeudete.
Als Schwester Emmas Rockzipfel durch die Kirchentür verschwunden waren, beschleunigte Alys ihre Schritte, trat Schwester Emma fast auf die Hacken, um sie zur Eile anzutreiben. Alys’ Würde als Priorin machte es erforderlich, dass sie als letzte an ihren Platz im Chor trat, während all ihre Nonnen bereits vor ihren Chorstühlen standen und warteten. Erst wenn Alys sich gesetzt hatte, konnten auch sie sich niederlassen. Es war ein befriedigender Moment, der sie selbst und die Schwestern siebenmal am Tag daran erinnerte, wer sie war und was für eine wichtige Position sie einnahm. Aber Alys’ Ungeduld bewog sie fast ausnahmslos, auf ein würdevolles Auftreten zu verzichten, um die Sache zu beschleunigen. Je eher es losging, desto eher würde es vorbei sein, das war doch wohl klar genug. Aber sie schien die einzige zu sein, die in der Lage war, das zu erkennen. Manche – und Schwester Emma war lediglich die schlimmste von ihnen – würden wahrscheinlich noch beim Verlassen ihrer Gräber trödeln, wenn das Jüngste Gericht begann.
Als Alys aus dem sonnenbeschienenen Kreuzgang in die kühlere Düsternis der Kirche trat, ließ Schwester Johane, die in dieser Woche die Aufgabe hatte, tagsüber die Glocke zu läuten, die die Nonnen zum Stundengebet rief, das Glockenseil los. Ihre Pflicht war getan. Eine gnädige Stille legte sich über den Klosterhof. Diese scheppernde Glocke war eins der Dinge, die Alys zu ändern beabsichtigte. Irgendwie würde sie eine volltönende, silberne Glocke beschaffen, eine wie die, die sie daheim gehabt hatten, als sie noch ein Mädchen gewesen war. Eine Glocke, die eine Wohltat für die Ohren war und keinen so dumpfen Klang hatte wie dieses Dings, das jemand der Priorei vor fünfzig Jahren gestiftet hatte, wahrscheinlich als Buße für eine Sünde, die ebenso dumpf gewesen war wie der Ton der Glocke.
Sie schritt die Stufen zu ihrem ein wenig erhöhten Chorstuhl empor und warf einen kurzen, scharfen Blick auf die Reihen der Nonnen, die einander vor ihrem niedrigen, schlichteren Chorgestühl gegenüberstanden. Sie alle waren gleich gekleidet in ihren schwarzen Benediktinergewändern, schwarzen Schleiern und weißen Wimpeln und Weiheln, ohne jede Eigenheit und Auffälligkeit, und da sie die Köpfe gesenkt hielten, so dass ihre Gesichter verborgen waren, wäre es für jeden, der sie nicht gut kannte, unmöglich gewesen, sie voneinander zu unterscheiden. Außer vielleicht der Größe nach. Es sei denn, man wusste, wer wo stand, denn jede hatte ihren festen Platz, Chorgebet für Chorgebet, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Alys kannte die Sitzordnung. Selige Sankt Frideswide und Gott im Himmel, sie kannte sie! Nach dreiundzwanzig Jahren in diesem Kloster sollte sie sie wohl kennen. Jetzt ganz besonders, wo alle diese Nonnen ihr gehörten. Sie konnte sie nicht nur voneinander unterscheiden, sie wusste auch, wie jede einzelne war und wie man mit ihr umgehen musste. Die meisten von ihnen hatte Alys seit ihrem Amtsantritt zur Räson gebracht. Einige hatten ihre Reformen bereitwillig akzeptiert und zeigten sich dankbar dafür, dass die Ordensregel gelockert worden war und man im Kloster nun angenehmer leben konnte. Andere waren weniger verständig gewesen; bei denen hatte es länger gedauert, sie zu überzeugen. Noch andere – nun gut, die hatten gelernt, den Mund zu halten. Aber mit denen war sie noch nicht fertig, das wusste sie.
Schwerfällig ließ Alys sich auf ihren Chorstuhl sinken. Mit raschelnden Röcken und Schleiern folgten die Nonnen ihrem Beispiel. »Gloria patri«, verkündete sie lautstark, damit der Gottesdienst begann, aber es gab schließlich noch anderes als Gebete, um das sie sich kümmern musste. Während ihre Zunge die Worte bildete, dachte sie an die verwünschten Nonnen, die sie immer noch bekämpften, scheinbar wegen jeder Kleinigkeit. Warum nur konnten sie nicht erkennen, dass jetzt alles besser war als damals, als Priorin Edith die Mutter Oberin gewesen war? Die Priorei hatte im Sterben gelegen, zusammen mit ihrer Priorin. Neun Nonnen und keine einzige Novizin, das war alles, was von St. Frideswide geblieben war, als Priorin Edith starb. Sie waren seit Jahren nicht mehr gewesen. Nach dem Tod von Priorin Edith und dann von Schwester Lucy, die weiß Gott alt genug gewesen war, um schon lange vorher das Zeitliche segnen zu können, wären sie nur noch sieben gewesen. Nur dass es den armen Närrinnen, die übriggeblieben waren, durch Gottes Gnade gelungen war, soviel Verstand aufzubringen, sie zur Priorin zu wählen anstatt dieser dämlichen Schwester Claire, die Priorin Edith zu ihrer Nachfolgerin ausersehen hatte. Gott und die Schwestern hatten gewusst, dass Alys klüger war als alle anderen hier zusammengenommen. Und zudem hatte sie Verwandte, die St. Frideswide mehr zu bieten hatten als ein kleines Geschenk dann und wann, wenn ihnen danach war, so wie es bei allen anderen war. Schon sechs Monate nach ihrer Wahl hatte Alys eine Nichte und die Tochter einer Base als Novizinnen nach St. Frideswide geholt. Das hieß, dass die Priorei ihre Mitgift eingeheimst hatte, und zudem hatten ihre Familien jetzt natürlich ein größeres Interesse an dem Kloster.
Also sollten die, die gegen sie opponierten, ja nicht vergessen, dass Alys zur Priorin gewählt worden war, nicht sie – und zwar schon beim ersten Durchgang. Die Priorei, die Heilige und Gott hatten sie zur Priorin bestimmt, und wegen ihr gab es in St. Frideswide jetzt wieder neun Nonnen, seit ihre Nichte und die Tochter ihrer Base letztes Jahr die Gelübde abgelegt hatten. Das war natürlich längst noch nicht gut genug, aber sie hatte ja auch gerade erst angefangen. Alys hatte die Hoffnung, vor dem nächsten Sommer einem ihrer Neffen eine Großnichte abzuschwatzen, und dann war da noch die kleine Adela, Lord Warennes Tochter. Das Mädchen war ein Krüppel, sie hatte eine missgebildete Hüfte und ein verwachsenes Bein, also was sollte Lord Warenne schon mit ihr anfangen? Es blieb ihm ja gar nichts anderes übrig, als sie ins Kloster zu geben. Adela war nicht seine Erbin, und er hatte sie erst mal für vier Jahre hier in St. Frideswide untergebracht. Er könnte dem Kloster ebensogut gleich ihre Mitgift auszahlen, dann wäre die Sache erledigt. Die selige Sankt Frideswide wusste, wie gut sie das Geld gebrauchen konnten.
Über ihnen donnerte mit einem dumpfen Aufschlag etwas Schweres zu Boden. Die über die Gebetbücher gesenkten Köpfe fuhren ruckartig hoch, die Liturgie geriet ins Stocken. Alys warf ihren Nonnen einen scharfen Blick zu und einen noch finstereren in die nordöstliche Ecke der Kirche. Durch die Bretter, die über die unfertige Türöffnung genagelt waren, drang eine fluchende Männerstimme. Die Worte waren nur undeutlich zu hören, aber ihr Sinn war unmissverständlich.
Schwester Cecely unterdrückte ein Kichern. Schwester Amicia ließ sich anstecken, und ein Gelächter hätte sich ausgebreitet, wenn Alys nicht allen einen harten, warnenden Blick zugeworfen und sich erhoben hätte. Es wurde sofort mucksmäuschenstill.
Und so sollte es auch sein. Die Schwestern sollten mittlerweile alle mit derartigen Zwischenfällen vertraut sein, und wenn sie es nicht waren, wären sie gut beraten, sich schnell dran zu gewöhnen. Unter Alys’ Blick senkten sie hastig die Köpfe, und obwohl Schwester Cecelys Schultern zuckten, war kein Laut mehr zu hören. Alys nickte Schwester Perpetua zu. Als Präzentorin war es deren Pflicht, alles in Ordnung zu bringen, was während eines Gottesdienstes schiefging. Gehorsam machte sie umgehend an der Stelle weiter, an der das Chorgebet unterbrochen worden war, und die übrigen Nonnen stimmten mit ein. Die Liturgie nahm ihren Gang, obwohl hinter den Brettern, wo eines Tages das Kirchenportal sein würde, ein Gemurmel von Männerstimmen eingesetzt hatte, das als ungleicher Kontrapunkt den Gesang der Frauen begleitete.
Als die Bauleute eingetroffen waren, hatte Alys mit ihrem Meister ausgemacht, dass die Arbeit während der Stundengebete ruhen sollte. Meister Porter hatte geklagt und gejammert, als würde er stundenweise bezahlt und als würde sie seinen Steinmetzen mit dieser Forderung das Brot aus dem Mund nehmen, obwohl sie doch auf Kosten des Klosters verköstigt wurden, solange sie hier arbeiteten, tagaus, tagein, bis das Werk vollendet war. Sie hatte nicht weiter auf sein Murren geachtet und ihren Willen durchgesetzt. Trotzdem schafften die Bauleute es, in den meisten Gottesdiensten irgendeine Störung zustande zu bringen. Und sie hätte schwören können, dass sie auch die restliche Zeit mehr Lärm machten, als nötig war, mit ihrem Gehämmer auf Steinblöcken, ihrem Tretkran und all dem Herumgebrülle.
Aber wenn sie fertig waren – und Meister Porter hatte sein Wort gegeben, dass das bis zum ersten Advent der Fall sein würde, und er tat gut daran, dafür zu sorgen, dass dem auch so war –, würde St. Frideswide einen Turm haben, der von weither zu sehen war und allen zeigen würde, dass das Kloster es wohl wert war, beachtet zu werden.
Alys hatte vor, auf den Kirchturm noch einen Glockenturm zu setzen. Sie hatte Meister Porter angewiesen, die Turmwände entsprechend zu bauen. Das würde länger dauern, aber sie würde ihren Glockenturm haben. Die Klosterglocken sollten nicht länger unter diesem schlichten Schutzdach im Klosterhof hängen. Und sie wollte mehrere Glocken haben, nicht nur eine. Mindestens drei. Am liebsten fünf. Es würde nicht so bald sein, das wusste sie. Das Geld kam mit schneckenhafter Langsamkeit herein und ging mit entmutigender Geschwindigkeit wieder heraus, aber sie hatte Pläne. Und den Willen, sie durchzuführen, Gott sei es gedankt, was mehr war, als man von den meisten Leuten sagen konnte.
Das glatte Leinen ihres Untergewandes glitt angenehm weich über ihre Schultern, als sie ihr Gewicht von einem Hüftknochen auf den anderen verlagerte. Eines Tages würde sie Seide unter diesen schwarzen Gewändern tragen. Obwohl sie sich bis dahin notgedrungen mit Leinen abfinden musste, war es doch wenigstens besseres Leinen als das grobe Zeug, mit dem sie sich zu Priorin Ediths Zeiten hatte behelfen müssen. Wenn die anderen es tragen wollten, bitte. Wenn ihre Familien ihnen nichts Besseres zukommen lassen wollten, mussten sie es wohl. Alys hatte jedenfalls nicht die Absicht, die Summe anzuheben, die jährlich für Kleidung ausgegeben wurde. Es gab soviel sonst, für das das Geld benötigt wurde. Bei ihr war das etwas anderes, denn sie konnte die Priorei am besten leiten, wenn sie es sich angenehm machte, vielen Dank. Folglich war es geradezu ihre Pflicht, sich ein angenehmes Leben zu machen, ebenso wie es ihre von Gott auferlegte Pflicht war, St. Frideswide, das Priorin Edith zu einer heruntergekommenen Bruchbude hatte werden lassen, wieder aufzubauen.
Mit einiger Erleichterung hatte Alys sich selbst gegenüber zugegeben, dass sie nicht zur Heiligen geboren war, und zwar schon vor langer Zeit. Einige waren es, und das war ja schön und gut für sie. Schwester Thomasine, Gott segne sie, war auf dem besten Wege, eine Heilige zu werden. Jedem, der wusste, wie viele Stunden sie im Gebet verbrachte, musste klar sein, wie fromm und gottgefällig sie war, und sie konnte ja auch gern ihr härenes Hemd tragen, wenn sie wollte. Aber Gott hatte dafür gesorgt, dass Alys zur Priorin gemacht wurde, und die Mutter Oberin eines Klosters zu sein war etwas völlig anderes, als eine Heilige zu sein. Und Alys wusste sehr genau, wie sie ihre Pflicht zu erfüllen gedachte, jetzt, wo sie Priorin war.
Einige der Schwestern sahen das anders, das wusste sie. Es gab welche, die immer bestrebt waren, Ärger zu machen und alles in Zweifel zu ziehen, was sie zu tun versuchte. Schnell sah sie von ihrem Gebetbuch auf, in der Hoffnung, eine von ihnen beim Flüstern oder irgendeiner anderen Unaufmerksamkeit zu ertappen, aber sämtliche Köpfe waren über die Gebetbücher gebeugt. Nur Schwester Thomasines Blick war wie immer zum Altar gerichtet. Sie wusste alle Stundengebete auswendig und brauchte kein Gebetbuch. Sie lebte für das Gebet. Immer, wenn ihre anderen Pflichten ihr etwas Zeit ließen, steckte sie hier in der Kirche, auf den Knien, manchmal sogar nachts, wenn sie hätte im Bett liegen und schlafen können. Sogar in Winternächten, wenn es so kalt war, dass beim schwachen Schein des Altarlichts zu erkennen war, wie ihr Atem in weißen Wolken emporstieg. Priorin Edith hatte sie von solchen Exzessen abgehalten und ihr verboten, ohne besondere Genehmigung die ganze Nacht hindurch zu beten, aber wenn das Mädchen halb schwachsinnig vor Frömmigkeit war, sollte sie doch. Was konnte es schon schaden? Zumindest machte sie ihr keinen Ärger, solange sie betete. Sonst allerdings auch nicht. Ihre Gedanken waren auf Gott gerichtet und auf nichts sonst. Nicht wie bei einigen anderen, deren Namen Alys nur zu leicht hätte aufzählen können.
Sollten die Neinsagerinnen doch hängen. Sie würde St. Frideswide noch zu einem Kloster machen, das in sämtlichen vier umliegenden Grafschaften bekannt war, ihnen allen zum Trotz. Waren die Kornspeicher etwa nicht so voll, wie es die halbwegs anständige Ernte dieses Jahres erlaubte? Diesmal hatten sie kein Getreide verkaufen müssen, und damit bestand kein Grund mehr für das ganze Wehgeschrei, das manche erhoben hatten, als es letztes Jahr notwendig geworden war, das zu tun. In den Vorratsräumen des Klosters waren auch ausreichend Äpfel und in den Hecken gesammelte Nüsse gelagert, und dieser Rüpel von einem Verwalter hatte es geschafft, fast alle von ihr verlangten Gewürze und sogar Reis zu besorgen, als er zu Michaeli nach Oxford geritten war. Obwohl er sich über die Kosten beklagt hatte. Das einzige, was an Wintervorräten noch fehlte, war Wein. Es war kaum mehr als ein halbes Fass übrig, und so, wie der Wein wegging, würde er nicht einmal bis Weihnachten reichen. Aber Reynold hatte versprochen, bis zum Martinstag mindestens noch ein Fass zu besorgen, vielleicht auch zwei. Wenn man bedachte, wieviel er von dem Klostervorrat getrunken hatte, war das wohl auch das mindeste, was man verlangen konnte.
Alys unterdrückte diesen undankbaren Gedanken. Reynold war ihr Vetter, und der Rest der Godfreys hatte mehr für die Priorei St. Frideswide getan als jede andere Familie seit Menschengedenken. Sie würde ihm den Wein und die Gastfreundschaft nicht missgönnen, ganz gleich, wie sehr andere es taten.
Alys wurde gewahr, dass Stille herrschte. Sie musste an der Reihe sein, etwas zu sagen. Da sie keine Ahnung hatte, wo sie waren, intonierte sie wahllos »Redime me, Domine«, denn sie wusste, dass das irgendwo an dieser Stelle der Non kommen musste. Erlöse mich, o Herr. »Et miserere mei«, fügte sie mit fester Stimme hinzu. Und erbarme dich meiner.
Ein fortgesetztes Schweigen bedeutete ihr, dass das nicht das war, was an dieser Stelle hätte kommen sollen. Sie ließ ihren wütenden, strengen Blick ohne Unterschied über die Gesichter der Nonnen wandern, die es gewagt hatten, den Kopf zu heben, um sie anzusehen, sowie über die gesenkten Köpfe der übrigen, und wiederholte energisch: »Redime me, domine! Et miserere mei!«
Natürlich war es Schwester Frevisse, die ihre Worte aufgriff, während alle anderen in schafsköpfiger Verwirrung verharrten. Immer bereit, die Führung zu übernehmen, die Gute. Mit vorgetäuschter Demut, den Kopf immer noch gesenkt, antwortete sie mit den Worten: »Redime. Pes enim meus stetit in via recta.« Erlöse mich, denn meine Füße wandeln auf dem rechten Weg.
Aber zumindest hatte sie sie wieder in Bewegung gebracht. Schwester Perpetua antwortete ein wenig unsicher: »Et miserere«, und weiter ging’s. Alys beendete das Chorgebet mit einem letzten strengen »Redime.« Erlöse mich von diesen Frauen, die wie Schafe geführt werden mussten und auf jedem Schritt des Weges wie alberne Gänse schnatterten. Sie würde schon noch eine Möglichkeit finden, an Abt Gilberd heranzutreten und dafür zu sorgen, dass Schwester Frevisse in ein anderes Kloster kam. Schwester Frevisse war die schlimmste. Wenn sie die nur loswerden könnte, wären die anderen leicht genug zu bändigen. Leichter jedenfalls.
Zugegeben, die Frau hatte es endlich gelernt, den Mund zu halten. Es schien, dass sogar Schwester Frevisse ihre Lektion lernen konnte, wenn die Bußen nur hart genug waren und ihr oft genug auferlegt wurden. Aber ihr Gesichtsausdruck verriet manchmal immer noch, was sie dachte, und Alys war es leid, dieses Gesicht zu sehen. Oder sich zu bemühen, es nicht sehen zu müssen.
Das Problem war nur, dass sie nicht den Wunsch hatte, sich in irgendeiner Angelegenheit an Abt Gilberd zu wenden, wenn sie es vermeiden konnte. St. Frideswide war nur eine Priorei und damit ein Tochterkloster, das einer Abtei unterstand, was in St. Frideswides Fall noch nicht einmal ein Nonnenkloster war, sondern die Bartholomäus-Abtei in Northampton. Priorin Edith hatte das Beste daraus gemacht, aber an Alys nagte es. Wenn St. Frideswide eine Abtei gewesen wäre, würde seine Äbtissin niemandem in England untertan sein außer dem Bischof von Lincoln, dem Erzbischof von Canterbury und dem König selbst. Ein Jammer, dass die Witwe, die St. Frideswide im letzten Jahrhundert gegründet und mit Stiftungsgeldern ausgestattet hatte, nicht genug Reichtum oder Einfluss besessen hatte, um das Kloster zu einer Abtei zu machen. Aber diesen Makel würde Alys schon noch korrigieren. Sie brauchte nur Zeit und die Chance, Leute wie Schwester Frevisse loszuwerden.
Das Problem war, wenn sie Abt Gilberd die Gelegenheit gab, wegen Schwester Frevisse Fragen über St. Frideswide zu stellen, die über das Übliche hinausgingen, war es nur allzu wahrscheinlich, dass er weiterfragen würde. Und es gab welche unter ihren Nonnen – Schwester Frevisse war ja nicht die einzige, sie war nur die schlimmste –, die eine solche Gelegenheit, Alys Schwierigkeiten zu machen, nur zu gern ergreifen würden. Und gerade jetzt konnte sie keinen Ärger brauchen. Unglücklicherweise bedeutete das, dass sie sich mit Schwester Frevisse würde abfinden müssen. Aber wenn die Frau sich nicht beugen wollte, würde sie sie eben brechen müssen, und damit wäre der Fall dann ebensogut erledigt.
Alys wurde klar, dass sie schon wieder nicht wusste, an welcher Stelle der Liturgie sie waren, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Wo immer sie waren, der Gottesdienst hatte lange genug gedauert. Wenn sie so weitermachten, war es Zeit für die Vesper, bevor sie mit der Non durch waren, und Alys hatte noch sehr viel zu tun. Ohne sich darum zu scheren, was die anderen gerade sagten, erhob sie die Stimme, verkündete lautstark: »Benedicamus domino deo gratias fidelium animae per misericordiam dei requiescant in pace amen« und erhob sich.
Die begriffsstutzigeren unter ihren Nonnen stammelten noch ein paar Psalmworte, bevor sie in den ungleichmäßigen Chor der Amens einstimmten, die dem ihren folgten. Alys machte ungeduldig das Zeichen des Kreuzes über ihnen, knallte ihr Gebetbuch zu und schob sich aus ihrem Chorstuhl. Sie hatte noch viel zu tun, und je eher sie sich darum kümmerte, desto eher würde es erledigt sein. So sah sie es jedenfalls.
Frevisse trat als letzte der Nonnen aus der Kirche in den sonnendurchfluteten Kreuzgang. Die anderen zerstreuten sich, um ihren verschiedenen Pflichten nachzugehen. Priorin Alys war, allen voran, schon ein gutes Stück den Kreuzgang hinuntergegangen, wie üblich zielstrebig und mit schweren Schritten, als wolle sie alles niedertreten, was es wagte, sich ihr in den Weg zu stellen.
Frevisse atmete tief die klare Herbstluft ein und schloss die Augen. Um ihre Priorin nicht mehr sehen zu müssen und auch, um besser die Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren. In den drei unter der Herrschaft von Priorin Alys verbrachten Jahren hatte sie gelernt, solche kleinen Freuden, wie einen Augenblick für sich in der Sonne und eine friedliche Unterbrechung der täglichen Sorgen, zu ergreifen und zu genießen. Diesseits des Grabes würden sie Priorin Alys wahrscheinlich nicht mehr loswerden. Priorinnen wurden, wie Priore und Äbte, auf Lebenszeit gewählt. Und die Ernte war dieses Jahr wieder schlecht ausgefallen. Die Dörfler würden Hunger leiden müssen und das Kloster wahrscheinlich auch, bevor das Frühjahr kam. Und durch den Lärm der Steinmetze und die Unaufmerksamkeit der Priorin wurden die täglichen Stundengebete in zunehmendem Maße schlecht ausgeführt, so dass sie immer weniger Trost spendeten. Es schien, dass Tag für Tag weniger Frieden in St. Frideswide zu finden war. Aber jetzt und hier, in diesem Augenblick, gab es Sonnenschein und Stille. Und obwohl beides nur kurz bemessen sein mochte, hatte Frevisse gelernt, dass flüchtige Freuden, wenn man sie voll auskostete, weit besser waren als überhaupt keine. Sie war dahin gekommen, sie als Geschenk Gottes zu betrachten; er gab sie auf seine Weise, wenn nichts sonst gegeben zu werden schien und nichts mehr als selbstverständlich angenommen werden konnte.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der die Schönheit der Gebete und Psalmen tagein, tagaus Frevisses größte Freude gewesen waren, eine Freistatt und sichere Zuflucht vor den kleinen, unaufhörlichen Sorgen, die jeder Tag mit sich brachte. Sie hatte die Welt loslassen und ihre Gedanken ganz auf die Ewigkeit und Gott richten können. Aber nun, da Priorin Alys in ihrer Dummheit jeden Tag alles kaputtmachte –
Frevisse unterdrückte den bitteren Gedanken. Diesen Weg war sie schon zu oft gegangen, und nie hatte es etwas genützt. Als nach Priorin Ediths Tod eine neue Mutter Oberin gewählt werden sollte, waren zu viele der Nonnen bestrebt gewesen, den Jähzorn und den Ehrgeiz der damaligen Schwester Alys zu beschwichtigen, indem sie ihr ihre Stimme im ersten Wahldurchgang gaben. Jede hatte gedacht, dass dies bestimmt die einzige Stimme für Alys bleiben würde, aber statt dessen hatten sie sie unabsichtlich zur Priorin gewählt. Eine gerechte Strafe für ihre Feigheit, dachte Frevisse. Nur dass die übrigen, die wenigen, die sich Schwester Alys nicht aus Angst gebeugt hatten, jetzt ebenso wie sie gezwungen waren, unter der Herrschaft von Priorin Alys zu leben.
Der Augenblick der Stille war vorbei. Die wenigen Laienbediensteten, die sich noch die Mühe machten, zu den Gottesdiensten zu erscheinen, waren aus der Kirche und an ihr vorbeigeschlüpft. Aber Lady Eleanor, die immer noch ein wenig länger in der Kirche blieb, um ein stilles Gebet zu sprechen, sagte leise neben ihr: »Schwester Frevisse.«
Frevisse öffnete die Augen und drehte sich mit einem Lächeln zu ihr um. Das Schweigegebot, das eigentlich im Klausurbereich alles müßige Geschwätz verbot, außer in der Stunde der Rekreation am Ende des Tages, wurde unter Priorin Alys längst nicht mehr eingehalten. Da es schwierig war, sich an Handzeichen zu halten, wenn alle anderen den ganzen Tag schwätzten wie die Eichelhäher, hatte auch Frevisse auf das Stillschweigen verzichtet und antwortete jetzt leichthin: »Mylady. Wie geht es Euch?«
Lady Eleanor musste immer recht klein gewesen sein, und nun, wo sie über das mittlere Alter hinaus war, wirkte sie noch kleiner. Aber sie war nicht mit den Jahren vertrocknet, faltig und müde geworden, sondern sanft zu einer milden, rosigen alten Dame verblasst, die ebenso gern und oft lachte wie betete. Auch jetzt lächelte sie, und wie üblich hatte sich eine störrische Strähne ihres weißen Haars aus der engsitzenden Haube gelöst und kringelte sich an ihrer Wange. Seit sie im Frühjahr nach St. Frideswide gekommen war, hatte sie sich gelassen bemüht, eine »Schattennonne« zu sein, wie sie es nannte. Sie trug stets einfache graue Kleider, eine schlichte weiße Haube und einen weißen Schleier, aber sie gab offen zu, dass sie nicht die Absicht hatte, je die Gelübde abzulegen, und sie hatte sich die Eitelkeit bewahrt, ihr Haar ungeschoren zu lassen, wie diese eine Locke häufig bewies. Jetzt schob sie sie in die Haube zurück und antwortete auf Frevisses höfliche Frage mit einem ebenso höflichen: »Sehr gut, danke, Schwester.«
»In der Nacht hatte sie einen Arthritisanfall«, murmelte ihre Kammerfrau Margrete, die hinter ihr stand.
»Der ist längst vorbei«, entgegnete Lady Eleanor, ohne den Kopf zu wenden. Die meisten Gespräche zwischen ihr und Margrete verliefen so: Margrete blieb gewöhnlich drei Schritte hinter ihrer Herrin, wie es sich schickte, mischte sich aber in die Unterhaltung ein, wann immer es ihr passend erschien, und Lady Eleanor antwortete ihr, ohne den Kopf zu wenden. Die beiden hatten den größten Teil ihres Lebens zusammen verbracht – »Ich war länger mit ihr zusammen als mit einem meiner beiden Ehemänner«, hatte Lady Eleanor einmal bemerkt. Sie konnten stundenlang miteinander schweigen und sich wohl dabei fühlen oder, wie jetzt, lediglich ein paar scharfe Worte wechseln, die Lady Eleanor kaum ablenkten. Leichthin fragte sie: »Steht Ihr mit geschlossenen Augen hier, weil Ihr um Geduld mit meiner Nichte betet?«
Frevisses Lächeln wurde bitter. »So fromm war ich nicht, fürchte ich. Ich habe einfach nur die Sonne genossen.«
»Das kann auch Frömmigkeit sein, denke ich. Gottes Gaben zu genießen. Das ist sicher besser, als sie rüde einfach zu ignorieren.«
»Gewiss«, stimmte Frevisse zu. Sie hatte Freude an Lady Eleanors Direktheit und ebenso an ihrer Freundlichkeit. War sie immer schon so gewesen, oder kam das mit den Jahren und im Laufe des Lebens? Wie auch immer, ihre Art stand in starkem Kontrast zu der von Priorin Alys, ihrer Nichte. Dass Lady Eleanor auch eine Godfrey war, war einer der Gründe gewesen, aus denen Frevisse sich so heftig gegen ihr Kommen ausgesprochen hatte, als sie das Angebot erhalten hatten, sie als Pensionärin ins Kloster aufzunehmen.
Eine festgesetzte Summe Geldes als Gegenleistung dafür anzunehmen, dass eine adelige Dame den Rest ihres Lebens in behaglichem Komfort im Kloster verbringen konnte, war ein Wagnis, das Nonnenklöster manchmal eingingen, um viel Geld auf einmal in die Hand zu bekommen. Es war ein Wagnis, das St. Frideswide bislang mit gutem Grund vermieden hatte. Zu viele Geschichten über andere Konvente, die aus Not oder sogar unangebrachter Freundlichkeit der Versuchung nachgegeben hatten, machten auf erschreckende Weise deutlich, wie oft es vorkam, dass eine adelige Dame zwar ihre weltliche Verantwortung zurückließ, aber zu viele Bedienstete, Luxusgüter und Schoßhündchen mitbrachte oder sogar Familienangehörige in großer Zahl als Gäste empfing, was den klösterlichen Frieden doch sehr störte.
Neben diesem sehr unmittelbaren Risiko bestand die Gefahr, dass die Dame zu lange leben würde. Das Pensionsgeld war eine feste Summe, die gezahlt wurde, wenn sie ins Kloster kam. Wenn ihr Leben zu Ende ging, bevor ihr Geld es tat, hatte das Nonnenkloster einen Gewinn gemacht. Wenn sie länger lebte, stand es vor nicht vergüteten Ausgaben, die letztendlich und auf verheerende Weise jeglichen Vorteil weit überwiegen konnten, den der Besitz ihres Geldes am Anfang einbringen mochte.
Diese Bedenken und die Tatsache, dass Lady Eleanor die Schwester von Priorin Alys’ Vater war, war für Frevisse Grund genug gewesen, ihr Ersuchen abzulehnen. Es hatte sogar andere unter den Nonnen gegeben, die ihr nicht nur zustimmten, sondern sich sogar trauten, das laut zu sagen. Der Austausch der Argumente für und wider in den täglichen Kapitelversammlungen hatte sich über mehr als einen Vormittag hingezogen. Aber jeder, der es wagte, sich gegen Priorin Alys zu wenden, musste feststellen, dass sie viele Methoden kannte, solche Leute ihr Missfallen spüren zu lassen. Sie würde nicht nachgeben, und weder vergaß noch vergab sie es, wenn jemand ihr die Stirn bot. Aus diesem Grund und auch wegen Priorin Alys’ beharrlich wiederholter Beteuerung: »Sie ist zu alt, um noch allzu lange zu leben, und wir brauchen das Geld dringend«, hatten die meisten der Schwestern schließlich doch zugestimmt.
Das Kloster war tatsächlich in Finanznöten gewesen, war es sogar immer noch. Das Ersetzen des hölzernen Schutzdachs für die Klosterglocke durch eins aus gemeißeltem Stein schien Priorin Alys’ Ambitionen für St. Frideswide nur noch vergrößert zu haben. Letztes Jahr hatte sie die Nonnen überredet, dem Bau des Schutzdachs für die Glocke zuzustimmen. Diesen Sommer hatte sie einfach verkündet, dass sie Steinmetze und Zimmerleute eingestellt hätte, die einen Kirchturm bauen sollten. Bezahlt werden sollte dieser Turmbau mit dem Pensionsgeld von Lady Eleanor. Die Auseinandersetzung um die Aufnahme von Lady Eleanor hatte alle so zermürbt, dass keine der Nonnen es gewagt hatte, Priorin Alys’ Zorn herauszufordern, indem sie ihr in irgendeiner Sache widersprach, wenn es irgendwie zu vermeiden war, selbst in einer so wichtigen Angelegenheit nicht. Nur Frevisse hatte sich getraut, eine kritische Frage zu stellen, und war wegen ihrer dünkelhaften Anmaßung zu einer Woche Brot und Wasser und hundert Ave Marias am Tag verurteilt worden. »Damit Ihr lernt, so demütig zu werden wie die heilige Jungfrau«, hatte Priorin Alys sie angefahren.
Das hatte ausgereicht, um die übrigen Nonnen zum Schweigen zu bringen, mit Ausnahme von denen, die begeistert alles unterstützten, was ihre Priorin zu tun beliebte. Jetzt konnten sie nur noch hoffen, dass Priorin Alys recht hatte und das Pensionsgeld ausreichen würde, um die Kosten für die Steine, die Bauleute sowie für das benötigte Blei zu decken. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie sparsam mit dem Pensionsgeld hätten wirtschaften sollen, anstatt es auf einmal für etwas auszugeben, das sie überhaupt nicht brauchten.
Der einzige Trost war, dass Lady Eleanors Anwesenheit sich als weit weniger störend erwiesen hatte, als Frevisse gefürchtet hatte. Als sie kurz nach Ostern eingetroffen war, hatte sie lediglich Margrete mitgebracht, einige wenige Möbelstücke und zwei wuschelige und glücklicherweise wohlerzogene Schoßhündchen. Entgegen Frevisses Erwartungen hatte sie sich problemlos in das Klosterleben eingefügt. Es hatte sich sogar gezeigt, dass sie eine Frau war, mit der Frevisse gelegentlich eine angenehme Unterhaltung führen konnte. Da sie denselben Weg hatten, gingen sie jetzt gemächlich zusammen den Kreuzgang herunter, während Margrete ihnen folgte. Lady Eleanor sagte: »Die Non ist nicht so gut verlaufen, nicht wahr?«
Frevisse hielt sich zurück und antwortete nur mit einem knappen »Nein«, aber sie wusste, dass die Schärfe in ihrer Stimme viel von dem verriet, was sie nicht sagte.
»Der Jammer ist«, erklärte Lady Eleanor, »dass Alys durchaus mit dem Herzen dabei ist. Nur mit den Gedanken nicht.«
Frevisse unterließ es, zu sagen, was sie von Priorin Alys’ Kopf hielt. Sie erreichten die Ecke des Kreuzgangs, an der sich ihre Wege trennten. Lady Eleanors Gemach lag noch ein Stück weiter entfernt, während Frevisses Ziel der düstere Durchgang war, der zur Klosterpforte führte. Normalerweise sollte keine Nonne ohne besondere Erlaubnis und ohne guten Grund den abgeschlossenen Bezirk der Klausur verlassen, aber die Ordensregel des Heiligen Benedikt bestimmte, dass jedes Benediktinerkloster Reisenden Unterkunft und Verpflegung zu gewähren hatte. Selbst die Ärmsten sollten als Gäste aufgenommen und ihre Bedürfnisse gestillt werden. Als Schwester Hospitalaria des Klosters oblag es Frevisse, dafür zu sorgen, dass dies auch tatsächlich geschah. Die beiden Gästehäuser, die das Tor zum äußeren Hof flankierten, oblagen ihrer Verantwortung, und sie kam und ging, wie ihre Pflichten es erforderten. Sie wusste, dass Priorin Alys sie nur zur Schwester Hospitalaria gemacht hatte, um sie soviel wie möglich aus den Augen zu haben, aber das scherte sie nicht. Besser das, als Cellerarin zu sein und täglich direkt mit Priorin Alys zu tun zu haben, wie Schwester Juliana es musste, die für die Verpflegung, die Bediensteten und den Nutzgarten zuständig war.
Unglücklicherweise waren in den letzten beiden Jahren als Gäste hauptsächlich Godfreys gekommen, die entweder Priorin Alys oder Lady Eleanor oder beide besuchen wollten. Aber stets genossen sie die Gastfreundschaft des Klosters und brauchten wenig oder nichts für ihren Unterhalt aufzubringen, wenn man von den Geschenken absah, die sie manchmal mitzubringen beliebten. Zugegebenmaßen waren einige unpassend großzügig gewesen, insbesondere Lady Eleanors ältester Sohn, der zu Mittsommer gekommen war, um zu sehen, wie es seiner Mutter ging. Aber Priorin Alys lud allzu oft die jeweiligen Besucher ein, den Abend bei Wein und guter Unterhaltung mit ihr in ihrer Amtswohnung zu verbringen. Manchmal war das Gelächter noch im Dormitorium auf der anderen Seite des Kreuzgangs zu hören. In letzter Zeit schienen sie nur zu oft diesem Gelächter zu lauschen, anstatt zu schlafen.
Schlimmer noch, die Nonnen, die gegenwärtig gerade am höchsten in der Gunst ihrer Priorin standen, wurden manchmal eingeladen, an den Lustbarkeiten teilzunehmen. Ihr offenes Entzücken darüber und die Leckerbissen an Klatsch, die sie hinterher austeilten, hatten dazu geführt, dass nur zu viele der Schwestern darum wetteiferten, in ihrer Gunst zu bleiben, um ihre Chancen zu verbessern, zu den Auserwählten zu gehören. Nur Schwester Claire, Schwester Perpetua, Schwester Thomasine und Frevisse blieben ausgeschlossen, weswegen die anderen ein wenig auf sie herabsahen. Schwester Thomasine war natürlich zu versunken in ihre Pflichten und das Gebet, um das zu bemerken. Frevisse bezweifelte, dass sie auch nur den Baulärm mehr als flüchtig wahrnahm, geschweige denn, wie Priorin Alys ihre Abende verbrachte. Auch dass ihr Vetter Sir Reynold und sein Gefolge momentan die Gästehäuser besetzt hielten, war ihr wohl kaum aufgefallen.
Während des letzten halben Jahres war Sir Reynold immer häufiger gekommen, gewöhnlich nur in Begleitung von einigen Männern und Bediensteten, und meist war er nicht länger als ein paar Tage geblieben. Aber vor zwei Wochen war er ohne vorherige Anmeldung aufgekreuzt, mit einem guten Dutzend seiner Ritter und Knappen und obendrein deren Bediensteten im Gefolge. Bislang hatte er nicht zu verstehen gegeben, wann er wieder aufzubrechen beabsichtigte. In den Gästehäusern war kaum mehr Platz für andere Gäste, die unerwartet eintreffen mochten, nicht einmal für Reisende, die nur eine einzige Nacht bleiben wollten. Und die Vorräte, die zumindestens bis Weihnachten hätten reichen sollen, wurden viel zu rasch aufgezehrt.
Am Morgen, während der Terz, waren Sir Reynold und seine Männer ausgeritten, wie sie es manchmal taten, unter viel Gelächter, Gebrüll und dem Klappern von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes. Und obwohl sie zurückkommen würden, hatte Frevisse die Gelegenheit ergriffen, die Unordnung, die dadurch geschaffen wurde, dass zu viele Männer zu viele Tage lang müßig in den Tag hineinlebten, beseitigen und alles gründlich reinigen zu lassen. Jetzt wollte sie überprüfen, ob alles so geschehen war, wie sie es angeordnet hatte, in der Hoffnung, dass sie bereits wieder im Kloster sein würde, wenn Sir Reynold und seine Männer in den Hof einritten. Je weniger sie von ihnen zu sehen bekam, desto besser.
Da es keinen Sinn hatte, sich zu beklagen, hatte sie außerhalb der Kapitelversammlung nichts von dem erzählt, was vorging, aber als sie und Lady Eleanor gemeinsam stehenblieben, erkundigte sie sich: »Haben mein Neffe und seine Männer Euch sehr viel Ungemach bereitet?«
Frevisse versuchte, leichthin zu antworten, als sei es nicht nötig, ihren Worten große Beachtung zu schenken: »Genug, ja.«
Mit einem stillen Lächeln – sie kannte ihren Neffen Sir Reynold weit länger, als Frevisse das Missvergnügen hatte – entgegnete Lady Eleanor: »An Eurer Stelle würde ich dafür sorgen, dass er und seine Männer jeden Abend beim Nachtmahl ein Schlafmittel in ihr Bier bekommen. Und morgens am besten auch, bis der Aufenthalt hier sie so sehr langweilt, dass sie aufbrechen.«
»Es wäre ein Trost, wenn wir eine ungefähre Vorstellung davon hätten, wie lange sie noch bleiben wollen.« Frevisse machte nicht den Versuch zu verbergen, wie ernst sie das meinte.
Lady Eleanor nickte. »Ich weiß. Der einzige Trost, den ich Euch anbieten kann, meine Liebe, ist, dass nichts ewig dauert.« Ihr Lächeln, warm und voller Mitgefühl, vertiefte sich, als sie hinzufügte: »Auch wenn es einem manchmal so scheint.«
Frevisse lächelte zurück und stimmte zu, dass Trost darin lag, wenn man die Dinge im richtigen Verhältnis sah – nicht unbedingt der Trost, den sie gebraucht hätte, aber dennoch ein gewisser Trost.
Sie trennten sich. Lady Eleanor ging in ihr Gemach, Frevisse das kurze Stück durch das kalte, dunkle Gewölbe zu der Klosterpforte aus massiven Holz, die während der Nacht verriegelt, tagsüber aber nicht verschlossen war. Zwar hätte hier laut der Ordensregel eigentlich den ganzen Tag und die ganze Nacht ein Pförtner Wache halten sollen, aber St. Frideswide war zu klein, als dass sich diese Mühe gelohnt hätte. Irgend jemand war immer nahe genug an der Pforte, um zu hören, wenn jemand Einlass begehrte. Und es war unwahrscheinlich, dass es einem unerwünschten Eindringling gelingen würde, unbemerkt durch das Torhaus an der Straße zu kommen, dann durch den äußeren Hof mit den vielen Wirtschaftsgebäuden und zahlreichen Knechten, die jeden Fremden bemerken und ausfragen würden, und schließlich durch den Torweg in den inneren Hof, denn all das lag zwischen der Klosterpforte und der Außenwelt. Der einzige andere Weg in den Innenhof führte durch den belebten Küchenhof und eine kleine Seitenpforte.
Einige von Sir Reynolds Bediensteten verbrachten den Nachmittag damit, müßig im Hof zwischen dem Klausurbezirk und den Gästehäusern herumzulungern. Sie lagen ausgestreckt auf den Stufen zum neuen Gästehaus oder hatten sich um den Brunnen versammelt, wo die Sonne zur Zeit am wärmsten war. Frevisse überquerte den Hof und strebte auf das ältere der beiden Gästehäuser zu, scheinbar ohne auf Sir Reynolds Männer zu achten. Sie hatte den Kopf so weit gesenkt, dass ihr Schleier nach vorne fiel und ihr Gesicht verbarg, um zu zeigen, dass sie gewillt war, die Männer zu ignorieren, wenn sie diese Höflichkeit erwiderten, was sie auch taten.
Wenn sie auch sicher sein konnte, dass sie nur deshalb Schwester Hospitalaria war, um Priorin Alys sowenig wie möglich unter die Augen zu kommen, hatte sie nicht das Recht, ihre Pflichten zu vernachlässigen oder zu trödeln und länger als nötig für die Arbeit zu brauchen. So rasch, wie es die Sorgfalt erlaubte, machte sie sich also daran, zu regeln, was geregelt werden musste. Erfreut sah sie, dass es dem Gesinde im Gästehaus gelungen war, mehr wieder in Ordnung zu bringen, als sie gehofft hatte. Da sie jetzt die Chance hatte, die Vorräte gründlicher zu überprüfen, stellte sie aber auch fest, dass sogar noch mehr aufgegessen und ausgetrunken war, als sie angenommen hatte.
Frevisse sprach das Ela gegenüber an, der Magd, die das Gästehaus-Gesinde leitete, während sie in den wenigen übriggebliebenen Bündeln mit Zwiebeln herumstocherte, die von der Decke des Vorratsraumes herabhingen, um sicherzugehen, dass sie nicht von Fäulnis befallen waren. Ela sagte: »Es war die Rede davon, dass sie heute was mitbringen würden, wie sie’s schon zweimal gemacht haben. Keine klaren Worte, wohlgemerkt, so dass ich nicht überrascht wär, wenn nichts draus wird. Aber es war die Rede davon, weil das, was wir haben, nicht gut genug für sie ist, deshalb. Sie wollen was Besseres.«
»Können sie gerne haben, wenn sie es mitbringen«, gab Frevisse kurz zurück.
Ela war für die Gästehäuser zuständig, wenn Frevisse nicht da war, und keine der beiden leugnete gegenüber der anderen, wie wenig es ihnen gefiel, Sir Reynold und seine Männer auf dem Hals zu haben, aber sie machten sich nicht die Mühe, das ausführlicher zu erörtern. Dazu bestand auch keine Notwendigkeit. Sie hatten lange genug zusammengearbeitet, um sich zu verstehen.
Die Vorratsräume waren das letzte, was Frevisse hatte überprüfen müssen. Da das jetzt erledigt war, stand es ihr frei, sich ins Kloster zurückzuziehen, ohne sich zuvor mit Sir Reynold abgeben zu müssen, genau wie sie gehofft hatte. Aber als Frevisse die Treppe von der Küche hochkam, wurde diese Hoffnung durch die nur allzu vertraute Stimme von Priorin Alys zerstört, die am anderen Ende des großen Saals des Gästehauses stand und jemanden beschimpfte. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber die Verärgerung war deutlich und verriet, dass jemand sich das Missfallen der Priorin zugezogen hatte. Frevisse zuckte zusammen und blieb stehen, aber dann holte sie tief Luft und trat in den hohen Saal, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden und die meisten Gäste und ihre Diener schliefen. Die Tische für das Nachtmahl waren noch nicht aufgestellt, so dass der große Saal bis auf die Bänke leer war und Priorin Alys reichlich Raum zum Geifern und Toben hatte, was sie auch weidlich ausnutzte. Sie hatte sich drohend vor Nell aufgebaut, einer der Küchenmägde, und verkündete mit voller Lautstärke und toll vor Wut: »Und glaub bloß nicht, ich wüsste nicht, was ihr hier macht! Ihr esst und trinkt mehr, als ihr zugeteilt bekommt, ihr diebisches Pack, und dann wird meinen Verwandten vorgeworfen, dass sie uns alle Vorräte wegessen! Legt rein, wen ihr wollt, aber mich könnt ihr nicht täuschen! Und glaub ja nicht ...«
Nell ließ den Ansturm der Worte mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern über sich ergehen, vermutlich mit dem ängstlichen Gedanken, dass es sehr wahrscheinlich noch Schläge hageln würde, bevor Priorin Alys mit ihr fertig war. Priorin Alys war zu ihrer Zeit auch einmal Schwester Hospitalaria gewesen, und das Gesinde im Gästehaus wusste so gut wie jeder andere, dass sie überzeugt war, durch einen harten Schlag könne begriffsstutzigen Personen besser als durch alles andere etwas eingebleut werden – und nach Priorin Alys’ Ansicht waren alle Menschen außer ihr selbst begriffsstutzig.
Frevisse, die ebenso um Nell fürchtete wie Nell selbst und wusste, dass Priorin Alys am sichersten von ihrer Raserei abgelenkt werden konnte, wenn man ihr ein anderes Ziel für ihre Wut anbot, ging durch den Saal auf die beiden zu und sagte, viel zu laut, um respektvoll zu klingen: »Ehrwürdige Mutter, kann ich etwas für Euch tun?«
Wie erwartet ging Priorin Alys auf sie los. »Schwester! Wo wart Ihr, als ich nach Euch Ausschau hielt? Ich habe gesehen, was hier im Gange ist. Glaubt nur ja nicht, dass ich es nicht mitbekommen habe.«
Frevisse machte eine kleine Handbewegung, die Nell bedeuten sollte, sich aus dem Staub zu machen, solange sie vergessen war. Nell schob sich, die Hände in der Schürze zusammengekrampft und die Schultern immer noch hochgezogen, unauffällig auf die Küchentreppe zu, während Priorin Alys sich bedrohlich dicht vor Frevisse aufbaute und verkündete: »Ich habe genug gesehen, um Euch hier und jetzt zu warnen, dass Eure Rechnungsbücher lieber besser geführt sein sollten, als ich es vermute, denn sonst werdet Ihr von heute an bis zur Fastenzeit dafür büßen. Und wo ist mein Vetter hin? Wieso ist er noch nicht zurück?«
Frevisse zwang sich, mit gleichmütiger Stimme zu antworten und den Blick gesenkt zu halten, um wenigstens den Anschein von Demut zu bewahren. »Ich weiß es nicht, Ehrwürdige Mutter.«
»Er sollte längst zurück sein!«
Es blieb Frevisse erspart, eine Antwort darauf zu finden. Im Hof waren das Klappern von Hufen, Lachsalven und laute Männerstimmen zu hören. Priorin Alys drehte sich ruckartig zur Tür um. »Da ist er ja!« verkündete sie so triumphierend, als hätte sie gerade einen Punkt bewiesen, den Frevisse halsstarrig geleugnet hätte.
Da sie nirgendwo anders hingehen konnte, folgte Frevisse ihr aus dem Saal hinaus und trat hinter ihr auf den obersten Treppenabsatz. Auf dem Hof war die Schläfrigkeit des sonnigen Nachmittags einem lautstarken Durcheinander von Berittenen gewichen, zwischen denen Knechte umherhasteten. Es war ein heilloses Gewirr von Pferden und Männern, und der Hof hallte wider von heiserem Gelächter und rauhen Ausrufen, als wäre ein Schwarm Saatkrähen darin gelandet. Priorin Alys blieb auf dem obersten Absatz der Treppe stehen und blickte, die Hände in die Hüften gestemmt, finster auf das Gewühl hinunter, bis sie den gefunden hatte, den sie suchte. Über das Gewimmel von Männern und Stimmen hinweg brüllte sie ihm zu: »Reynold, du Schwachkopf, nächstes Mal lässt du die Pferde schön im äußeren Hof, vielen Dank!«
»Base!« brüllte Sir Reynold zurück, ohne gekränkt zu sein, nahm seine Reitkappe ab und warf sie ihr, über die Köpfe der anderen Männer hinweg, zu. Priorin Alys fing sie auf und schleuderte sie zurück, weniger treffsicher, aber er streckte den Arm aus und fing die Kappe unter dem Gesicht des Mannes neben ihm auf, während sie rief: »Du hast mich gehört, Reynold! Nächstes Mal lässt du die Pferde gefälligst im äußeren Hof!«
»Stets zu deinen Diensten!« rief Sir Reynold lachend zurück und verbeugte sich schwungvoll vom Sattel aus. Er war schwergliedrig, grobknochig und muskulös. Er sah Priorin Alys so ähnlich – abgesehen davon, dass er überdurchschnittlich groß war –, dass man ihn gut für ihren Bruder hätte halten können anstatt für ihren Vetter. Auch waren beide gleich jähzornig und leicht reizbar, wie Frevisse festgestellt hatte. Sie würde nur höchst ungern in der Nähe sein, wenn sie jemals beide gleichzeitig auf jemanden losgehen sollten. Oder aufeinander, was wahrscheinlich noch schlimmer sein würde.