Plötzlich Hauptstadt
Warum Rom aus allen Nähten platzt
Ein ohrenbetäubendes Hupkonzert begrüßt mich schon am frühen Morgen, als ich aus den engen Gassen der Altstadt auf den Largo di Torre Argentina trete. Rund um den Platz ist der Verkehr vollkommen zusammengebrochen. Mitten auf dem Platz schlendern, völlig unberührt von dem Lärm, wild lebende Katzen durch die Ruinen antiker Tempelanlagen, wo einst Gaius Julius Caesar einem gemeinen Mordkomplott, unter Beteiligung seines Stiefsohnes Brutus, zum Opfer gefallen ist. Ganz ähnliche Mordgedanken scheinen auch einige der Autofahrer zu hegen. Sie haben ihre Fahrzeuge verlassen und brüllen aggressiv gegen das beständige Hupen an. Auch ich als Fußgängerin komme bald an meine Grenze. An der Piazza Venezia stehe ich plötzlich mit vielen anderen Menschen vor einer Absperrung. Ich drängele mich bis an das Gitter vor, um zu sehen, was los ist. Vor dem Vittoriano, dem sehr groß geratenen und schneeweißen Nationaldenkmal, tummeln sich hunderte von Soldaten in prächtigen Paradeuniformen und überall stehen Männer in dunklen Anzügen herum, mit Sonnenbrillen auf der Nase und Knopf im Ohr. Das Wort »Kranzniederlegung« macht murmelnd die Runde. Wer auch immer für wen einen Kranz niederlegen mag, er scheint eine wichtige Persönlichkeit zu sein, denn die komplette Piazza Venezia wurde für den Auto- und Fußgängerverkehr gesperrt. Statt den Platz einfach zu überqueren, würde ich ihn jetzt komplett umrunden müssen. Ein Zeitverlust von über zehn Minuten, den eine Dame links von mir nicht einfach hinnehmen will. Sie ist sehr schick, sehr dünn und vor allem sehr aufgeregt, während sie einem Polizisten erklärt, dass sie nicht gedenkt, einen Umweg zu laufen. Was ich bei den 12-Zentimeter-Absätzen, auf denen sie schwankt, auch gut verstehen kann.
»Sie können den Platz jetzt nicht passieren. Der Staatspräsident wird jeden Moment erwartet«, erklärt der Ordnungshüter.
»Che me ne frega«, lautet die Antwort, auf deren wortwörtliche Übersetzung ich anstandshalber verzichte. Sinngemäß jedoch wollte die Dame zum Ausdruck bringen, dass es sie nicht interessiert, wer da kommt. Sie will über die Straße!
»Jeden Tag dieses Chaos! Mal kommt die englische Königin, dann hält der Papst Audienz, beim nächsten Mal findet eine Kundgebung statt. Und wir können sehen, wie wir zur Arbeit kommen!« Zustimmendes Gemurmel ist von den Umstehenden zu hören, weil die hysterische Dame irgendwie nicht ganz unrecht hat. Es vergeht kaum ein Tag an dem kein Staatsgast mit seiner schwarzen Limousine und Blaulicht-Eskorte den Verkehr aufhält. Und wenn Papst Franziskus mittwochs seine Generalaudienz hält, stehe auch ich regelmäßig im Stau, an dem die Pilgermassen nicht ganz unschuldig sind.
Demonstriert wird in Rom auch mal gerne. Nicht nur von römischen Gewerkschaftsgruppen. Nein, diejenigen, die ihren Unmut über die Politik auf der Straße Ausdruck verleihen möchten, kommen busse- und zugweise aus ganz Italien in die Hauptstadt und blockieren, mit Fahnen und Plakaten ausgestattet, die wichtigsten Verkehrsadern.
Ein Herr neben mir muss meine Gedanken gelesen haben. »So ist das nun mal in der Hauptstadt! Zieh doch weg!«, ruft er der Dame zu und erntet eine Handbewegung, die eindeutig zeigt, dass ihr Herz weder an ihm noch an dem besonderen Status von Rom hängt.
»Von mir aus sollen die Mailand zur Hauptstadt machen. Die können doch sowieso alles besser als wir. Stand gestern noch in der Zeitung.« In die ich auch einen Blick geworfen hatte. Und tatsächlich stand dort zu lesen: Mailand hat weniger Arbeitslose. In Mailand funktioniert der öffentliche Nahverkehr, es gibt sogar Fahrradwege. In Mailand ist die Kriminalitätsrate geringer. Mailänder sind pünktlich und genau. Mailänder tragen etwas zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts bei, während Römer es verbrauchen. Der Klassenprimus im italienischen Städtevergleich liegt ohne Zweifel im Norden, während Rom, rein statistisch gesehen, oft die Negativranglisten anführt. Als Rom 1871 offiziell zur Hauptstadt des Königreich Italiens ausgerufen wurde, gab es vermutlich weniger Statistikämter, und wohlmöglich lagen ganz andere Beweggründe der Entscheidung zugrunde.
Ein Dorf wird Hauptstadt
Der Entscheidung, Rom zur Hauptstadt zu machen, lag keine zwingende Logik zugrunde. 1860 hatte sich Italien zu einem Königreich vereint. Hauptstadt wurde nicht Rom, sondern erst Turin, später dann Florenz. Die Ewige Stadt gehörte zum Kirchenstaat, in dem der Papst das Sagen hatte. Der wiederum beabsichtigte keineswegs, seinen Machtbereich gegenüber dem italienischen König freiwillig aufzugeben, was er gezwungenermaßen 1870 nach dem Einmarsch der italienischen Truppen in Rom dann doch tat. Er flüchtete in den Vatikan, der Kirchenstaat wurde aufgelöst und Rom wurde Hauptstadt, obwohl die Stadt am Tiber ganz weit davon entfernt war, dem Bild einer modernen europäischen Hauptstadt zu entsprechen. Während in London schon seit fast zehn Jahren eine U-Bahn verkehrte und Paris sich in eine prestigevolle Metropole verwandelte, wurde rund um das Kolosseum Obst und Gemüse angebaut, und durch die Straßen streunten auch mal Kühe und Ziegen. Die ehemalige Caput Mundi, »Hauptstadt der Welt«, glich eher einem großen Dorf mit ländlichem Charme, eingebettet in die Überbleibsel einer großartigen Vergangenheit.
Etwa 200.000 Menschen lebten innerhalb der Grenzen der alten Aurelianischen Mauern, geplagt von Hochwasser und schlechten hygienischen Lebensbedingungen. Am Ende waren es Roms Symbolkraft als einstiges Zentrum des Römischen Imperiums und seine zentrale Lage, die König Vittorio Emanuele II. in den ehemals päpstlichen Palast auf den Quirinalshügel einziehen ließen. Mit ihm kam unweigerlich der Regierungsapparat nach Rom, besetzte die alten Paläste und errichtete neue gigantische Verwaltungs- und Regierungsbauten. Zudem wurde Wohnraum benötigt für die vielen Beamten und die Menschen, die aus dem landwirtschaftlich geprägten und nach einer Agrarkrise hungernden Süden auf der Suche nach Arbeit in die Stadt strömten. Nach nur zehn Jahren hatte sich die Bevölkerung der Stadt mehr als verdoppelt. Während den 22 Jahren unter faschistischer Regierung knackte Rom die Eine-Million-Bevölkerungsgrenze. Neben gigantischen Protzbauten entstanden neue Stadtviertel für den nicht enden wollenden Strom an Migranten aus dem Mezzogiorno, den südlichen Regionen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einem Volksentscheid wurde Italien zur Republik. Rom wurde nicht nur Sitz der Staatsregierung, ihrer Institutionen, Beamten und Verwaltungsangestellten, sondern auch Standort für die Verwaltungsstrukturen der Region Latium und der Provinz Rom.
Die geballte politische Macht am Tiber hatte eine magische Sogwirkung, der sich vor allem Banken, Versicherungsgesellschaften und Bauunternehmen nicht entziehen konnten. Bürokratie und Wohnungsbau (und die Spekulation mit dem daraus entstehenden Wohnraum) sollten über Jahrzehnte die boomenden Branchen in Rom sein. Immer mehr Menschen strömten in die Hauptstadt, um dort zu arbeiten oder in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Rom dehnte sich unkontrolliert aus, ohne dass dieses schnelle Wachstum von infrastrukturellen Maßnahmen begleitet worden wäre. Städtebauliche Planungen gab es zwar viele in all den Jahren, nur hinkten sie dem ständig wachsenden Bedarf an vor allem günstigem Wohnraum hinterher. In den 1960er-Jahren lebten bereits über 2 Millionen Menschen in Rom. Neben den rasant hochgezogenen schicken Mehrfamilienhäusern in Zentrumsnähe entstanden an den Rändern der Stadt ganze Wohnviertel ohne Baugenehmigung und Anschluss an die öffentliche Wasser- und Stromversorgung. Jahrelang wurde dort das Wasser aus Brunnen geholt und der Strom stundenweise illegal abgezapft. Allen halbherzigen politischen Maßnahmen zum Trotz, blühte der illegale Wohnungsbau in Rom lange Jahre, und am Ende blieb nichts weiter übrig, als die Wohngebiete gegen eine Gebühr zu legalisieren und an die städtische Versorgung anzuschließen.
Wie viele Menschen heute in Rom leben, weiß man nicht so ganz genau. Mit der Zeit hat man ein wenig den Überblick über die Sozialbauten und die Anzahl der darin wohnenden Menschen verloren. Gemeldet sind zumindest knapp 3 Millionen. Flächenmäßig ist Rom siebenmal so groß wie Mailand, mit einem historischen Stadtkern, der nie für die infrastrukturellen Anforderung einer Millionenmetropole angelegt wurde, und einem zersiedelten Stadtrand, der kaum bis gar nicht an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen ist. Nur zum Vergleich: Rom verfügt über ein halb so langes Metro-Schienennetz wie München. Dafür gibt es in keiner anderen Stadt Europas so viele Autos, die sich tagtäglich durch den ewigen römischen Stau quälen. Hinzu gesellen sich Busse voll mit Touristen aus der ganzen Welt, die das einzigartige Kulturerbe der Stadt bewundern möchten. Und egal mit welchem Verkehrsmittel, ob individuell oder in der Gruppe angereist, am Ende treffen sie sich alle in den engen Gassen der historischen Altstadt und in den Schlangen vor den bekanntesten Sehenswürdigkeiten wieder.
Ein nicht zu vernachlässigender Publikumsmagnet ist zudem der kleinste Staat der Welt, der mitten in Rom liegt. Der Vatikan hat zwar nur ungefähr 900 Einwohner, zieht jedoch Millionen von Pilgern an, die nicht nur zu den Veranstaltungen des Papstes, sondern auch zu den bedeutenden römischen Gotteshäusern strömen. Bei solch einer angespannten Gemengelage kann eben auch etwas so harmloses wie eine Kranzniederlegung der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und den nächsten Verkehrsinfarkt auslöst.
Übrigens hat die hysterische Dame von der Piazza Venezia am Ende doch ihren Willen bekommen. Um sie vor dem Unmut der umstehenden Passanten zu retten, die ihr den freimütigen Vorschlag, dem ungeliebten Konkurrenten Mailand den Ehrentitel Hauptstadt zu überlassen, wirklich übel nahmen, musste der Polizist für die Dame das Absperrgitter öffnen.
Do it yourself
Wer einmal selbst die sonst so vom Verkehr geplagte Piazza Venezia frei von Autos und Motorrädern erleben und dabei einen Blick auf einen italienischen Ministerpräsidenten oder Staatspräsidenten werfen möchte, sollte am 4. November, dem Tag der Streitkräfte (Giornata delle Forze Armate), oder am 25. April, dem Fest der Befreiung (Festa della Liberazione), vormittags auf der Piazza Venezia vorbeischauen. Traditionell wird an diesen Tagen von einem hohen italienischen Würdenträger ein Kranz am Altar des Vaterlandes, dem Nationaldenkmal zu Ehren des Königs Vittorio Emanuele II., kurz dem Vittoriano, abgelegt.
Piazza Venezia • Tram 8 bis Venezia, Bus 40, 60, 64, 70, 81, 87, 117, 492 bis Piazza Venezia
Paläste der Macht
Palazzo del Quirinale
In luftiger Höhe auf dem Quirinal, einem der sieben römischen Hügel, ließ sich Papst Gregor XIII. Ende des 16. Jahrhunderts eine Sommerresidenz in beachtlichen Ausmaßen bauen. Der Palast, in dem 30 Päpste logierten, bis im Jahr 1870 die italienischen Könige einzogen, ist größer als das Weiße Haus in Washington und der Buckingham Palace in London. Auf die mehr als 1.200 imposanten Säle und aufwendig gestalteten Räume verteilen sich unglaubliche Kunstschätze, die die diversen Bewohner im Laufe der Zeit hinterlassen haben. Im Inneren des Komplexes befindet sich auf vier Hektar ein gepflegter Barockgarten. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist dieses nicht gerade bescheidene Gebäude der Sitz der italienischen Staatspräsidenten. Wer einmal diese Pracht mit eigenen Augen sehen und die schicken Uniformen des Kürassierregiments der Präsidenten-Leibgarde von Nahem bewundern möchte, muss sich mindestens fünf Tage vor seinem Besuch online [http://palazzo.quirinale.it/visitapalazzo/prenota_de.html] für eine Führung anmelden. 30 Minuten vor dem Besuch muss man sich am Eingang einfinden, um die Personalien abzugleichen. Also bitte nicht den Personalausweis vergessen.
Piazza del Quirinale • Metro A bis Barberini oder Repubblica, Bus 40, 60, 64, 70, 170 bis Via Nazionale-Quirinale • Dienstag, Mittwoch, Freitag bis Sonntag nach Reservierung 9.30 bis 16 Uhr, letzter Eintritt für den Rundgang 1 ist um 14.30 Uhr, für den Rundgang 2 um 13.30 Uhr. Der Rundgang 1 ist kostenfrei. Es fallen nur Reservierungsgebühren in Höhe von 1,50 € an. Rundgang 2, der auch durch die Gärten führt, kostet 10 €.
Palazzo Montecitorio
650 Abgeordnete haben ihren Sitz im Palazzo Montecitorio, in der die Abgeordnetenkammer seit 1871 tagt. Vorher befand sich in dem Gebäude aus der Mitte des 17. Jahrhunderts der päpstliche Gerichtshof. Der Palazzo ist regelmäßig am ersten Sonntag im Monat für die Öffentlichkeit [www.camera.it] zugänglich, zeitgleich geben Militärkapellen auf dem Vorplatz Musikkonzerte. Dort steht ein äußerst erwähnenswertes Objekt. Auf der Piazza di Montecitorio reckt sich ein ägyptischer Obelisk in den Himmel, der einst als Zeiger der riesigen Horologium Augusti, der Sonnenuhr des Kaiser Augustus, auf dem Marsfeld diente. Bevor man die wunderbaren Treppen von Gian Lorenzo und die pompösen Korridore des Palastes sehen darf, muss man ein Ticket ziehen. Der Ticketschalter öffnet ab 9.30 Uhr und befindet sich Via degli Uffici del Vicario, Ecke Via delle Missione. Man kann die Uhrzeit für die Besichtigungstour wählen und muss sich zehn Minuten vorher am Eingang des Palazzo einfinden.
Piazza di Montecitorio • Metro A bis Barberini, Bus 62, 63, 71, 80, 83, 85, 160, 492 bis Largo Chigi • jeden ersten Sonntag im Monat außer im August 10.30–15.30 Uhr
Palazzo Madama
Der Palast in direkter Nähe zur Piazza Navona ist Schauplatz von oftmals hitzigen Sitzungen des italienischen Senats, der zweiten italienischen Kammer. Benannt wurde das Gebäude aus den Anfängen des 15. Jahrhunderts nach Madama Margherita von Österreich, die mit ihrem Ehemann, einem Herrn aus der berühmten Familie der Medici, zeitweise dort residierte. Mit Gründung der Republik zog der Senat in den Palast, der nach umfangreichen Renovierungsarbeiten nun einen großen Sitzungssaal besitzt, in dem 315 Senatoren auf fünf Jahre gewählt Platz finden. An jedem ersten Samstag im Monat (außer August) kann das Gebäude kostenfrei besucht werden. Die Besichtigungstour startet alle 20 Minuten und dauert circa 40 Minuten. Ab 8.30 Uhr kann man ein Ticket am Eingang ziehen, das zum Besuch des Palazzo Madama zwischen 10–18 Uhr berechtigt. Wer die große Aula des Senates sehen möchte, sollte vorher auf der Homepage [www.senato.it] schauen, ob die Besichtigung tatsächlich stattfindet. Wer einfach nur einen neugierigen Blick auf italienische Senatoren werfen möchte, sollte sich gegen 11 Uhr in den Cafés auf der Piazza di Sant’Eustachio oder der Piazza della Rotonda einfinden.
Piazza Madama • Metro A bis Barberini, Bus 30, 70, 81, 87, 492 bis Senato • jeder erste Samstag im Montag 10–18 Uhr, außer im August