[1]
Europäische Integration
Anleitung zur theoriegeleiteten Analyse
UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz
mit UVK/Lucius München
[2]
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Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
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Redaktion: Marit Borcherding, Göttingen
Lektorat: Verena Artz, Bonn
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UTB-Band Nr. 3361
EPUB-ISBN 978-3-8463-3361-7
[5]Inhalt
Einleitung
Literatur
1. (Neo-)Funktionalismus und die funktionalen Triebkräfte der regionalpolitischen Integration
1.1 Theorie des (Neo-)Funktionalismus
1.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Neo-Funktionalismus
1.3 Neo-Funktionalistische Erklärung der Etablierung der Regional- und Strukturfondspolitik auf europäischer Ebene
1.4 Fazit
2. (Liberaler) Intergouvernementalismus und die wirtschaftspolitische Koordinierung souveräner Staaten in der Strukturfondspolitik
2.1 Theorie des (liberalen) Intergouvernementalismus
2.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem liberalen Intergouvernementalismus
2.3 Erklärung der Strukturfondsreform von 1988 aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus
2.4 Fazit
3. Sozialkonstruktivismus und der Einfluss regionaler Politikstile auf die angemessene Umsetzung europäischer Paradigmen
3.1 Sozialkonstruktivistische (Meta-)Theorie
3.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem sozialkonstruktivistischen Ansatz
3.3 Paradigmen der europäischen und regionalen Strukturpolitik
3.4 Fazit
[6]4. Multi-Level Governance und der institutionelle Wandel beim ebenenübergreifenden Regieren in der europäischen Strukturfondspolitik
4.1 Der Ansatz des Regierens im europäischen Mehrebenensystem
4.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Ansatz des Mehrebenenregierens
4.3 Erklärung des regionalen institutionellen Wandels in der Strukturfondsförderung aus Sicht des Mehrebenenregierens
4.4 Fazit
5. Europäisierung und die nationalen Rückwirkungen europäischer Regionalisierungspolitik
5.1 »Theorie« der Europäisierung
5.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Europäisierungsansatz
5.3 Erklärung der Rückwirkungen der EU-Regionalisierungspolitik aus Sicht des Europäisierungsansatzes
5.4 Fazit
6. Interessenvermittlung und der Einfluss von Regionen auf die europäische Regionalpolitik
6.1 Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem
6.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen in Bezug auf die Interessenvermittlung 177
6.3 Erklärung des Einflusses deutscher Länder im interaktiven europäischen System aus einer Perspektive der Interessenvermittlung
6.4 Fazit
7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz und die Legitimierung regionalpolitischer Prozesse in der Europäischen Union
7.1 Legitimationseffekte zivilgesellschaftlicher Beteiligung
7.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem zivilgesellschaftstheoretischen Ansatz
[7]7.3 Zivilgesellschaftstheoretische Erklärung von Partizipationseffekten in der Strukturfondsförderung
7.4 Fazit
8. Neo-Gramscianismus und die kritische Analyse des strukturellen Wandels in den Kandidatenländern der Europäischen Union
8.1 Die Perspektive des Neo-Gramscianismus
8.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Neo-Gramscianismus
8.3 Neo-gramscianische Untersuchung der Heranführungshilfen für Kandidatenländer der Europäischen Union
8.4 Fazit
[8][9]Einleitung
Am Anfang dieses Lehrbuches steht die Geschichte von einem Elefanten und den blinden Männern von Puchala (1971 : 267):
Einige Blinde begegnen einem Elefanten. Jeder befühlt ihn, um zu erfahren wie dieses Tier aussieht. Der eine ertastet den Rüssel und schließt daraus, dass es groß und schlank sein müsse; ein anderer befühlt ein Ohr und stellt sich eine längliche und flache Gestalt vor. Jeder hat das Studienobjekt sorgfältig untersucht und kommt doch zu einem anderen Schluss, weil jeweils unterschiedliche Teile des Tieres inspiziert werden. Jeder der Blinden hat indes genug empirische Evidenz gesammelt, um den Beschreibungen der anderen zu widersprechen und damit eine lebhafte Debatte über die Natur des Tieres zu entfachen. Der Fokus auf einen spezifischen Teil des Gesamtphänomens führt dann freilich zu ungenauen Einzelbeschreibungen, weil diese weder für sich betrachtet noch in ihrer Addition die gesamte Gestalt des Elefanten erfassen.
Die Lehre aus der Erzählung ist, dass die Erkenntnis über einen Gegenstand davon abhängt, wie man sich ihm nähert. Jede Herangehensweise ist selektiv und erfasst nur einen Teil des Phänomens. Genau dieses Problem will das vorliegende Buch seinen Lesern bewusst machen. Verdeutlicht werden soll, dass jede Forschung von einem bestimmten Blickwinkel ausgeht und folglich die Beschreibungen und Erklärungen je nach Fragestellung und theoretischer Perspektive variieren. Das Phänomen der internationalen Integration im Allgemeinen wie auch der europäischen Integration im Speziellen wurde und wird von zahlreichen Forschern untersucht, wobei sich jeweils unterschiedliche Ausschnitte, Dimensionen und Zusammenhänge im Fokus der Betrachtung befinden. Darüber hinaus beanspruchen die Forscher zumindest teilweise eine Deutungshoheit über das Themenfeld »Integration«, stellen ihr Teilphänomen entweder als wichtigstes dar oder halten es sogar für das einzig relevante (vgl. ebd.: 267 f.). Insofern lässt sich auch gut 30 Jahre nach Puchalas Artikel festhalten, dass noch nicht abschließend geklärt ist, wodurch sich der »Integrationselefant« genau auszeichnet und welche Schlussfolgerungen bezüglich des Gesamtphänomens zu ziehen sind: »Alas, the elephant
grew in size and changed in form at the very moment that the blind men sought to grasp it!« (ebd.: 268). Man könnte Puchalas’ Beobachtungen hinzufügen, dass Integration als ein Untersuchungsgegenstand der Politikwissenschaft auch heute noch stetig Veränderungen und Umformungen ihrer ursprünglich vermuteten Gestalt widerfährt und insoweit im Laufe der wissenschaftlichen Erarbeitung nicht nur stets an Größe hinzugewonnen hat, sondern zugleich eine hybride Gestalt aufweist, die es kontinuierlich zu reevaluieren gilt. Die nature of the beast (vgl. Risse-Kappen 1996) bleibt damit letztlich nur unvollständig bestimmt. Doch [10]beschränkt sich die politikwissenschaftliche Analyse der Europäischen Union nicht nur auf die klassischen Integrationstheorien, die sich mit dem Zustandekommen und dem Zustand des beast beschäftigen. Vielmehr hat sich die Untersuchung der EU mittlerweile auf unterschiedliche Phänomene und Ansätze ausgeweitet, die verschiedenen Teildisziplinen der Politikwissenschaft entnommen sind und sich nicht nur auf die Theorien der Internationalen Beziehungen beschränken.
Dieses Lehrbuch dient dazu, die Entwicklung und den aktuellen Stand der Forschung im Bereich »europäische Integration« aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu erklären. Es unterscheidet sich von anderen durch seine didaktische Herangehensweise, indem exemplarisch am Politikfeld der Regionalpolitik bzw. Strukturfondsförderung verschiedene theoretische Erklärungsmodelle europäischen Regierens in der EU angewendet und damit unterschiedliche Aspekte der Regionalpolitik adressiert werden. Wir verwenden hierbei die Bezeichnung »Regionalpolitik« als einen Überbegriff, um sowohl die Strukturfondsförderung als auch die unterschiedlichen Strategien und Maßnahmen der Kohäsionspolitik zu erfassen, womit dann ebenso die seit 2007 von der Europäischen Kommission verwendete Bestimmung des Politikfelds berücksichtigt wird.
Das Manko bisheriger Einführungen und Lehrbücher besteht darin, dass sie sich meist entweder nur der theoretischen Herangehensweise (vgl. Bieling/Lerch 2006) oder der Darstellung der Entwicklung der EU und ihrer institutionellen Verfasstheit widmen (vgl. Pfetsch 2005, Pollak/Slominski 2006, Baum-Ceisig/Busch/Nospickel 2007, Tömmel 2006) — ohne einen erkennbaren theoretischen Zugriff. Die Theorien zur Erklärung des Regierens in der EU werden oft separat in einem Theoriekapitel abgehandelt.
Durch diese Herangehensweise stehen theoretische Zugriffe und empirische Darstellungen unverbunden nebeneinander, was das theoriegeleitete Arbeiten im Themenfeld »europäische Integration« für Studenten schwer erlernbar werden lässt. Für die Lehre heißt dies ein mühevolles Zusammenstückeln unterschiedlicher Texte und Lehrbücher, um Theorie und Empirie zusammenzuführen. Der wichtige Schritt der Operationalisierung einer Theorie für den jeweiligen Gegenstand und die Reflexion darüber bleibt der Arbeit im Seminar und den wissenschaftlichen Hausarbeiten überlassen.
Es existieren zumindest drei Lehrbücher, die dieses Manko erkannt haben: Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004, Holzinger et al. 2005 und Wiener/Diez 2009. Das Buch von Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt (2004) hält den Ansatz der Verknüpfung jedoch nicht konsequent durch und ist im Übrigen nicht als Anleitung für das theoriegeleitete Arbeiten für Studierende konzipiert. Hingegen stellt sich das Werk von Holzinger et al. in den Einzelkapiteln eher als jeweiliger State-of-the-Art-Artikel in unterschiedlichen Politikfeldern dar. Wiener/Diez geben in ihrem Band ein zweifaches Ziel an: Sie möchten zum einen in die Integrationstheorien einführen und zum [11]anderen die Entwicklung der Theorien aufzeigen. Die Gliederung der einzelnen Kapitel verweist zwar auch auf die Umsetzung der jeweiligen Theorie im Politikfeld der EU-Erweiterung, doch sind diese Kapitel häufig nur einige wenige Seiten lang und damit kaum als Anleitung zum theoriegeleiteten Arbeiten geeignet.
Das vorliegende Lehrbuch ist demgegenüber explizit der Verknüpfung theoretischer Erklärungsansätze mit der Empirie europäischer Integration gewidmet. Es konzentriert sich auf ein Politikfeld, damit für den Leser und vor allem für Studierende deutlich wird, dass (1) ein Gegenstand auf ganz unterschiedliche Art und Weise beleuchtet werden kann und (2) je nach Auswahl des theoretischen Zugangs und der Fragestellung ganz unterschiedliche Ausschnitte aus der europäischen Integrationswirklichkeit in den Blick genommen werden. Wechselt man mit dem theoretischen Ansatz auch das Politikfeld und damit den Gegenstand, wird die selektive und für die Analyse prädestinierende Wirkung theoretischer Herangehensweisen nicht im gleichen Maße deutlich. Zudem stellt die Operationalisierung der Fragestellung einen schwierigen Schritt der Analyse dar, der besonders hervorgehoben werden soll.
In diesem Zusammenhang sei auf die insbesondere durch King/Keohane/Verba (1994) und vorliegend zumindest grundsätzlich ebenfalls vertretene Herangehensweise aufmerksam gemacht, der zufolge auch in qualitativen Studien eine weitgehend formale Strukturierung anwendbar ist, die traditionell eher dem Bereich quantitativer Forschung zugeschrieben wird. Damit in Einklang lautet das von King/Keohane/Verba in Designing Social Inquiry explizit formulierte Ziel: »Our main goal is to connect the traditions of what are conventionally denoted quantitative
and
qualitative
research by applying a unified logic of inference to both […]. This logic tends to be explicated and formalized clearly in discussions of quantitative research methods.« (ebd.: 3). Wenn sich also sowohl quantitative als auch qualitative Untersuchung auf eine gemeinsame logic of inference — und daraus folgend auf eine gemeinsame Strukturierung — stützen können, eröffnet sich so die Möglichkeit, qualitative Forschung stärker an formalen Grundsätzen zu orientieren. Zugleich lässt sich damit der irrigen Vorstellung entgegentreten, dass »qualitative research cannot be systematic and scientific« (Munck 1998 : 34). Dennoch soll Munck darin zugestimmt werden, dass die konkrete Interpretation dieser allgemeinen Idee durch King/Keohane/Verba problematisch ist, weil sie durch ihren Fokus auf ein spezifisches quantitatives Modell1 zielführende Vorschläge zur qualitativen Forschung deutlich einschränken (ebd.: 34 ff.). Dadurch wird indes nicht verhindert, dass qualitative Forschung zumindest in einigen Bereichen und auf Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses der Strukturierung gesellschaftswissenschaftlicher Forschung sich einer formaleren Herangehensweise bedienen kann und — normativ gewendet — auch bedienen sollte, um damit zu [12]einer fruchtbaren und »intermethodologischen« wissenschaftlichen Forschung beizutragen.
Genau diesen Weg beschreitet das vorliegende Lehrbuch, ohne jedoch die darin eingeschriebene Problematik zu vernachlässigen. Deswegen soll hier explizit und mit Munck (1998 : 36) anerkannt werden, dass die Differenzen zwischen quantitativer und qualitativer Forschung eben nicht »only stylistic and […] methodologically and substantively unimportant« (King/Keohane/Verba 1994 : 4) sind, sondern in einzelnen Bereichen tatsächlich als tiefgreifend gelten können. Munck erwähnt zahlreiche Beispiele solcher Unterschiede, sei es mit Blick auf die unterschiedlichen Voraussetzungen für konzeptuelle Validität und deren Messung, das Problem der Endogenität, oder bezüglich Überlegungen zur Reliabilität oder Replizierbarkeit empirischer Daten. Diese Liste ließe sich fortschreiben und präzisieren, hier soll jedoch der Hinweis darauf genügen, dass die vorliegend gewählte Herangehensweise nicht ohne Probleme daherkommt. Sie wird in diesem Buch dennoch verfolgt, weil unseres Erachtens die Vorteile gerade in Hinblick auf die Lehre deutlich überwiegen: Nicht nur wird den Studierenden eine umfassendere Einsicht in die politikwissenschaftliche Forschung ermöglicht, zugleich werden sie in die Lage versetzt, ihre eigenen Arbeiten klarer und zielführender zu strukturieren und durchzuführen. Schließlich sei erwähnt, dass mithilfe des vorliegenden Buches wichtige methodologische Kompetenzen vermittelt werden können, die sich auch über das Studium hinaus als nützlich erweisen mögen.
In unserer zum Teil langjährigen Erfahrung in der Lehre wurden die Fallstricke und Schwierigkeiten des theoriegeleiteten Arbeitens deutlich: Diese beginnen bereits bei der Formulierung einer Fragestellung, die auch tatsächlich dem gewählten Theorieansatz entspricht. So sollte beispielsweise eben nicht nach den Interessen der politischen Akteure gefragt werden, wenn man eine neo-funktionalistische Herangehensweise wählt. Die Fragestellung sollte das zu erklärende Phänomen adressieren — meist wurde dies als abhängige Variable gefasst.
Eine Variable stellt einen operationalisierten Begriff für eine veränderliche Größe dar. Nach der Stellung in einem System von Aussagen unterscheidet man zwischen abhängigen Variablen (sie stellen das zu Erklärende dar, auch Explanandum genannt) und unabhängigen Variablen (dies sind die erklärenden Variablen, auch Explanans genannt). Eine Variable, die in die Wechselbeziehungen zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen einwirkt, wird intervenierende Variable genannt.
Die daraufhin gebildeten Hypothesen sollen kausale Zusammenhänge für die Erklärung des adressierten Phänomens formulieren. Nicht alle in diesem Buch verwendeten theoretischen Ansätze eignen sich in gleicher Weise für die Formulierung von kausalen Hypothesen. Wo dies nicht der Fall ist, werden wir explizit darauf hinweisen. Für einige Studierende ist die Hypothesenbildung ein schwieriges Unterfangen und nicht wenige formulieren Zusammenhänge mit Phänomenen, nach [13]denen in der Fragestellung nicht gefragt wurde. Allerdings gelingt eine kohärente Formulierung von Fragestellung und Hypothese in den meisten Fällen noch recht gut.
Wenn in der Politikwissenschaft eine Hypothese formuliert wird, so ist dies die Bezeichnung für eine wohlbegründete Annahme über das Vorkommen eines Sachverhaltes oder die Wechselbeziehung zweier oder mehrerer Größen im Sinne der oben definierten Variablen, die entweder vorläufig und noch zu prüfen oder bereits geprüft und vorläufig als gültig akzeptiert ist. Hypothesen lassen sich testen, d. h. sie können auf ihre logische Konsistenz und Übereinstimmung mit der Empirie des untersuchten Gegenstandes hin überprüft werden (vgl. Schmidt 2010 : 346).
In der Analyse verlieren zahlreiche Studierende jedoch Fragestellung und Hypothese vollständig aus den Augen. Hier finden sich zum Teil zusammenhangslose historische Abrisse sowie langatmige Deskriptionen, die mit dem zu erklärenden Phänomen in keinerlei Verbindung stehen. Das Fazit solcher Analysen stellt zudem häufig ein Sammelbecken für all jene Aussagen über den behandelten Gegenstand dar, die man immer schon einmal mitteilen wollte. Den Schlusssatz bildet dann die typische normative Wende im Sinne einer »Alles-wird-gut-Aussage«. Ohne Anleitung können diese Fehler nicht einfach vermieden werden. Nur durch exemplarisches Durchführen theoriegeleiteten Arbeitens sowie die Umsetzung des Gelernten in eigene Analysen kann politikwissenschaftliches Arbeiten im Sinne einer analytisch-empirischen Herangehensweise gelingen. Dieses Buch soll einen Teil dazu beitragen, eine solche Anleitung für Studierende zu bieten.
Die theoriegeleitete Analyse eines politikwissenschaftlichen Gegenstandes ist nach unserer Erfahrung im Bereich der europäischen Integration — wie auch in allen anderen Themenfeldern der Politikwissenschaft — eine der schwierigsten intellektuellen Leistungen, die Studenten zu erbringen haben. Genau dies ist aber das Handwerkszeug, das sie erlernen müssen, und es ist unseres Erachtens nach kein hierauf explizit zugeschnittenes Lehrmaterial für die Lehre zur EU verfügbar.
Jedes Kapitel dieses Buches ist dafür in der gleichen Weise gegliedert:
Ziel des vorliegenden Lehrbuches ist nicht die vollständige Abarbeitung ganzer Theorieansätze, sondern lediglich eine pointierte Anwendung erklärungsrelevanter Aspekte auf die Regionalpolitik der Europäischen Union. Somit soll hier keine [14]lückenlose Präsentation aller relevanten Theorien geleistet werden — es kommt vielmehr auf die exemplarische Anwendung am Beispiel eines spezifischen Politikfelds an. Zudem konzentrieren wir uns nicht nur auf die gängigen Integrationstheorien, sondern nehmen auch Erklärungsansätze geringer und mittlerer Reichweite in unser Buch auf, die im Bereich der EU-Forschung angewandt werden, jedoch nicht unbedingt zur Erklärung der Entstehung der Integration dienen.
So ist beispielsweise die Literatur, die sich mit der Erklärung von Phänomenen der Interessenvermittlung in der EU beschäftigt, im Rahmen von lehrbuchartigen Artikeln rar gesät. Deren Akteure sind innerhalb der meisten Ansätze dabei entweder überhaupt nicht relevant oder nehmen eine lediglich periphere Rolle ein. Hinzu kommt, dass keine »Theorie« der Interessenvermittlung existiert, die einfach auf die Analyse der EU-Regionalpolitik übertragen werden könnte. Vielmehr gilt sie als eher eng gefasstes Feld der politikwissenschaftlichen Analyse und damit als akademisches Nischenprodukt — selbst in der Forschung zur europäischen Integration. Trotzdem ist gerade die Interessenvermittlung ein wichtiger Aspekt des Regierens im europäischen Mehrebenensystem und sollte daher nach unserem Dafürhalten in keinem Lehrbuch fehlen.
Ähnlich ist dies im Falle zivilgesellschaftstheoretischer Ansätze, die im Rahmen von Lehrbüchern zur europäischen Integration ebenfalls zumeist fehlen — von deren Kombination mit beispielhaften empirischen Anwendungen ganz zu schweigen. Dabei werden zivilgesellschaftliche Akteure und die aus deren Beteiligung erwarteten demokratischen Effekte zumeist in wissenschaftlichen Arbeiten zur demokratischen Legitimität der EU behandelt, die im Rahmen der Diskussion über legitimes Regieren jenseits des Nationalstaates unter Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure entstehen. Auch in diesem Zusammenhang fehlt eine ausgearbeitete zivilgesellschaftliche Theorie der europäischen Integration, weswegen solche Akteure vorliegend unter Rückgriff auf normative Konzepte aus der Politischen Theorie betrachtet und mit Hilfe einer eigenen Typologie untersucht werden.
Schließlich findet insbesondere die Anwendung neo-gramscianischer Perspektiven an konkreten empirischen Beispielen nur selten Einzug in Lehrbücher zur europäischen Integration, selbst wenn diese Herangehensweise im Einzelfall zumindest innerhalb des Theorieteils der vorgestellten Ansätze behandelt wird. Hierbei gilt es zu beachten, dass sich der Neo-Gramscianismus aufgrund seiner kritischen und insofern nicht problemlösungsorientierten Herangehensweise vom Großteil der Mainstream-Theorien und -Ansätze wesentlich unterscheidet. Im Gegensatz zu anderen Integrationstheorien sind neo-gramscianische Ansätze darauf ausgelegt, Prozesse der europäischen Integration und den damit einhergehenden strukturellen Wandel kritisch zu hinterfragen, historische Entwicklungen nachzuvollziehen und innere Widersprüche aufzudecken. Diese im Vergleich zu den meisten anderen Ansätzen ungewohnte Perspektive soll die große Bandbreite der integrationsbezogenen Theorielandschaft veranschaulichen und so gleichsam einen Blick über den Tellerrand des theoretischen Mainstreams hinaus ermöglichen.
[15]Trotz dieser besonderen Berücksichtigung bisher vernachlässigter Ansätze fehlen die klassischen Integrationstheorien keinesfalls. So haben wir die Theorien des (Neo-) Funktionalismus sowie des (liberalen) Intergouvernementalismus an erster Stelle zur Erklärung herangezogen. Zusätzlich zu diesen beiden schon fast obligatorischen Perspektiven haben wir uns der in den letzten Jahren stark weiterentwickelten (sozial-) konstruktivistischen Herangehensweise gewidmet:
Das erste Kapitel befasst sich mit der von Mitrany (exemplarisch 1933 und 1943) entworfenen Theorie des Funktionalismus und der von Haas (1958 und 1964) erarbeiteten Erweiterung zum Neo-Funktionalismus. Hier geht es mit Blick auf die Regionalpolitik zuvorderst um die funktionalen Triebkräfte der regionalpolitischen Integration. Empirisch steht dabei die Vergemeinschaftung der Regionalpolitik als eigenständige Politik auf der europäischen Ebene, die sich in den 1970er Jahren vollzog, im Fokus unserer Betrachtung. Erkennbar ist, dass insbesondere das aus den sozio-ökonomischen Strukturen und Krisenphänomenen der Mitgliedstaaten heraus entstehende Problembewusstsein auf die Tagesordnung der Europäischen Gemeinschaft gehoben wurde. Zusätzlich spielte der Problemdruck aus den benachbarten Politikfeldern eine wichtige Rolle, hier vor allem die Wirtschafts- und Währungspolitik und die EU-Erweiterung sowie die Verlagerung dieser Politik aus der alleinigen Zuständigkeit der nationalen Behörden hin zu den Institutionen der europäischen Ebene.
Im zweiten Kapitel wird dann anhand der von Moravcsik (1993 und 1998) entwickelten Theorie des (liberalen) Intergouvernementalismus die wirtschaftspolitische Koordinierung souveräner Staaten in der Strukturfondspolitik untersucht. Konkreter geht es darum, die intergouvernementalen Verhandlungen zur Strukturfondsreform aus dem Jahre 1988 zu erklären. Diese werden in den wichtigsten Gipfeltreffen identifiziert und auf Grundlage des situationsstrukturellen Ansatzes von Zürn (1992) als ein Koordinationsspiel mit Verteilungskonflikt verstanden. Unter Rückgriff auf einige der Annahmen von Moravcsik im Rahmen seiner intergouvernementalen Theorie wird argumentiert, dass sich die Reform der Strukturfonds als side payment interpretieren lässt, das die »reicheren« den »ärmeren« Mitgliedstaaten für deren Zustimmung zur Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes zahlen.
Zahlreiche Ansätze zur Analyse der europäischen Integration in den letzten Jahren inkorporieren konstruktivistische Elemente, weswegen wir uns im dritten Kapitel der sozialkonstruktivistischen Betrachtung des regionalen Umgangs mit europäischen Angeboten widmen. Dabei wird mit Rückbezug auf Knodt (1998) gezeigt, dass Politikstile regional variieren und für die Nutzung der europäischen Angebote durch die regionalen Akteure von Bedeutung sind. Mittels einer Analyse der Strukturfondsförderung in Niedersachsen beschreiben wir das regionale Routinehandeln sowie die vorherrschenden Paradigmen im Sinne eines Politikstils. Damit wird die Frage adressiert, unter welchen Bedingungen die Idee der Partnerschaft als eine europäische Herausforderung auf regionaler Ebene aufgenommen wird und ob dies zu einer Änderung [16]der Politikgestaltung führt. Dies verweist zugleich auf eine Orientierung an der von March/Olsen (1989) konzeptualisierten Logik der Angemessenheit als Grundlage regionalen Handelns.
Vor allem zwei theoretische Ansätze haben in den letzten Jahren die europäischen Analysen dominiert: Zum einen ist dies der seit Mitte der 1990er Jahre insbesondere von Marks (1992 und 1993) bzw. Marks, Hooghe und anderen (Marks et al. 1996) entwickelte Ansatz des Mehrebenenregierens, der sich mittlerweile einen festen Platz unter den politikwissenschaftlichen Ansätzen zur Analyse der EU erobert hat. Zum anderen handelt es sich um den Erklärungsansatz der Europäisierung, der spätestens seit den Überblicksartikeln von Radaelli (2000 und 2003) für die Erklärung von EUinduzierten Veränderungen auf der nationalstaatlichen sowie subnationalen Ebene bevorzugt herangezogen wird.
Zunächst steht dabei im vierten Kapitel das Mehrebenenregieren und damit der Multi-Level-Governance-Ansatz im Fokus unserer Betrachtung, mit dessen Hilfe der institutionelle Wandel beim ebenenübergreifenden Regieren in der europäischen Strukturfondspolitik erklärt werden soll. Als Basis für die empirische Untersuchung dient ein weiter Institutionenbegriff, der sowohl die formale Organisation von Politik als auch das Routinehandeln sowie die Konzepte legitimen Regierens beinhaltet. Dabei wird anhand der Daten aus dem Forschungsprojekt »Regionen als Handlungseinheiten in der europäischen Politik« (vgl. Kohler-Koch/Knodt 1999) geprüft, ob sich ein institutioneller Wandel in der Form einer Übernahme europäischer Konzepte einstellt und falls ja, welche Faktoren für die Ausgestaltung dieses Wandels bestimmend sind. In diesem Zusammenhang steht die Annahme, dass der institutionelle Wandel auf regionaler Ebene sowohl durch Vorgaben der europäischen Ebene wie auch durch Einbindung der und Angebote an die regionalen Akteure verursacht werden kann.
Anschließend untersuchen wir im fünften Kapitel die Europäisierung und damit die nationalen Rückwirkungen der europäischen Regionalisierungspolitik und beschäftigen uns genauer mit den Änderungen der regionalen Struktur in Rumänien im Rahmen des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union. Mit Radaelli (2006) gehen wir hierbei davon aus, dass Europäisierung weniger als Erklärung für Teilphänomene der Integration dient, als vielmehr selbst ein zu untersuchendes und zu erklärendes Phänomen darstellt. Theoretisch greifen wir in diesem Zusammenhang auf die Vorarbeiten von Schimmelfennig/Sedelmeier (2005a und b) zurück, modifizieren und erweitern sie jedoch für die vorliegende Fragestellung. Empirisch zeigen wir, dass die von der EU ausgehende und durch das Adressatenland umgesetzte Europäisierung der Regionalisierungspolitik nur unter bestimmten Bedingungen zum einen überhaupt erst ermöglicht wird. Zum anderen soll geprüft werden, welche Faktoren das Ausmaß der Europäisierung wesentlich beeinflussen (vgl. Corcaci 2007).
Den darauf folgenden Kapiteln liegen Herangehensweisen zugrunde, die in überblicksartigen Darstellungen wie der vorliegenden zwar eher eine Seltenheit sind, jedoch neuartige Perspektiven auf das Politikfeld »Regionalpolitik« eröffnen:
[17]Das sechste Kapitel zur Interessenvermittlung in Europa behandelt den Einfluss von Regionen auf die europäische Regionalpolitik und damit deren Verfolgung von Interessen im europäischen Mehrebenensystem. Da keine ausbuchstabierte Theorie der Interessenvermittlung existiert, wird auf einzelne theoretische Anknüpfungspunkte zurückgegriffen. In der Regionalpolitik vertreten dabei vor allem die Regionen als territoriale Akteure ihre Interessen und wenden zu diesem Zweck höchst unterschiedliche Strategien der Interessenvermittlung im Mehrebenensystem an. Dabei lassen sich fünf zentrale Strategien identifizieren, die empirisch am Beispiel der Informationsbüros der deutschen Länder untersucht werden. Zugleich fragen wir auf Grundlage einer Studie von Knodt/Große Hüttmann aus dem Jahre 2007 (vgl. Knodt/Große Hüttmann/Kotzian 2011) danach, welche Strategien der Interessenvermittlung angewendet werden, als wie erfolgreich man diese wahrnimmt und wodurch sich diesbezügliche Unterschiede zwischen den einzelnen Informationsbüros erklären lassen.
Im siebten Kapitel wird die Legitimierung regionalpolitischer Prozesse in der Europäischen Union anhand einer zivilgesellschaftstheoretischen Herangehensweise beleuchtet. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, unter welchen Bedingungen die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure innerhalb europäischer Entscheidungsprozesse in der Regionalpolitik zu einem Zuwachs an demokratischer Legitimität führt und ob die derzeitige Praxis einen solchen Legitimationsgewinn bereits impliziert. Um diese Frage zu beantworten, werden zwei Idealtypen der Einbindung entwickelt, die auf der Vorarbeit von Knodt (2005) basieren. Hierbei verspricht eine Orientierung am prozeduralen Kommunikationsmodell im Gegensatz zum selektiven Konsultationsmodell eher Legitimationsgewinne. Empirisch werden dazu beispielhaft drei deutsche Länder verglichen — Niedersachsen, Berlin und Baden-Württemberg. Diese fokussierte Anwendung verdeutlicht die demokratischen Effekte des prozeduralen Modells, erlaubt es allerdings nicht, generalisierbare Aussagen zu treffen.
Das abschließende achte Kapitel eröffnet eine neo-gramscianische und damit genuin kritische Perspektive auf den strukturellen Wandel in den Kandidatenländern der Europäischen Union. Empirisch betrachten wir die Heranführungshilfen für Beitrittskandidaten zur Europäischen Union, die als finanzielle Ressourcen im Rahmen regionalpolitischer Maßnahmen dazu dienen, Kandidatenländer im Beitrittsprozess zu unterstützen. Hierbei stützen wir uns insbesondere auf die theoretischen Vorarbeiten von Gill (2000, 2003) und zeigen auf, dass die Europäische Union aus der Sicht neo-gramscianischer Ansätze als Teil eines westlichen transnationalen historischen Blocks verstanden werden kann. Anhand dreier Prozesse der Umstrukturierung soll zudem verdeutlicht werden, dass die EU im Sinne des Neo-Gramscianismus mithilfe von disziplinierenden Instrumenten wie den Heranführungshilfen versucht, die mittel- und osteuropäischen Kandidatenländer und potenziellen Beitrittskandidaten in den bestehenden »neoliberalen Schirm« zu integrieren und somit alternative Entwicklungspfade für diese Staaten zu verdrängen.
[18]Wie bereits erwähnt beansprucht dieses Buch keineswegs, einen auch nur annähernd vollständigen Rundumschlag in den Herangehensweisen an die Erklärung europäischer Phänomene vorzulegen. Vielmehr sind wir vollkommen zufrieden, wenn es einen Beitrag dazu leistet, Studierenden der Politikwissenschaft theoriegeleitetes Arbeiten näher zu bringen. Aus diesem Grund sollten Studierende nach Lektüre eines oder mehrerer Kapitel des Buches in der Lage sein:
Insgesamt möchten wir dabei nochmals hervorheben, dass die gegebenen Beispiele eine Möglichkeit der Umsetzung des theoretischen Ansatzes darstellen, die jedoch keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit erhebt. Vielmehr soll sie Studierende zum selbständigen und kreativen, aber auch reflektierenden Arbeiten ermuntern. Dabei lässt sich das Buch unseres Erachtens zunächst einmal »so wie es ist« in der Lehre verwenden. Davon abweichend kann auf dessen Grundlage die untersuchte Empirie innerhalb der Regionalpolitik variiert werden. Schließlich liegt eine weitere Herangehensweise selbstverständlich darin, einfach das Problemfeld für die Studierenden auszutauschen. Somit kann das Buch entweder nachvollziehend-verstehend genutzt werden oder aber als Anleitung zur theoriegeleiteten Analyse der europäischen Integration inklusive der Übertragungsleistung auf ein neues Anwendungsfeld.
Literatur
Baum-Ceisig, Alexandra/Busch, Klaus/Nospickel, Claudia 2007: Die Europäische Union. Baden-Baden.
Bieling, Hans-Jürgen/Lerch, Marika (Hg.) 2006: Theorien der europäischen Integration. 2. Aufl., Wiesbaden.
Corcaci, Andreas 2007: Effektive Europäisierung: Zur Integration dreier Modelle am Beispiel Rumäniens. B. A.-Thesis, Institut für Politikwissenschaft. Darmstadt.
[19]Gill, Stephen 2000: Theoretische Grundlagen einer neo-gramscianischen Analyse der europäischen Integration, in: Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen (Hg.): Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie. Münster, 23—50.
Gill, Stephen 2003: A Neo-Gramscian Approach to European Integration, in: Cafruny, Alan W./Ryner, Magnus (Hg.): A Ruined Fortress? Neoliberal Hegemony and Transformation in Europe. Lanham, 47—70.
Haas, Ernst B. 1958: The Uniting of Europe. Stanford.
Haas, Ernst B. 1964: Beyond the Nation-State. Stanford.
Holzinger, Katharina et al. 2005: Die Europäische Union. Theorien und Analysenkonzepte. Paderborn.
King, Gary/Keohane, Robert O./Verba, Sidney 1994: Designing Social Inquiry: Scientific Inference in Qualitative Research. Princeton.
Knodt, Michèle 1998: Tiefenwirkung europäischer Politik. Eigensinn oder Anpassung regionalen Regierens? Baden-Baden.
Knodt, Michèle 2005: Regieren im erweiterten europäischen Mehrebenensystem — die internationale Einbettung der EU. Baden-Baden.
Knodt, Michèle/Große Hüttmann, Martin/Kotzian, Peter 2011: German Länder Information Offices in the EU: An Empirical Analysis of Regional Interest Representation, in: Tübinger Arbeitspapiere zur Integrationsforschung (TAIF) Nr. 7/2011. Tübingen.
Kohler-Koch, Beate/Conzelmann, Thomas/Knodt, Michèle 2004: Europäische Integration — Europäisches Regieren. Wiesbaden.
Kohler-Koch, Beate/Knodt, Michèle 1999: Regionales Regieren in der EU: Befunde eines empirisch vergleichenden Projekts, in: Nitschke, Peter (Hg.): Die Europäische Union der Regionen. Subpolity und Politiken der dritten Ebene. Opladen, 167—194.
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[21]1. (Neo-)Funktionalismus und die funktionalen Triebkräfte der regionalpolitischen Integration
Das erste Kapitel betrachtet ein Teilphänomen der EU-Strukturfondspolitik aus neofunktionalistischer Perspektive. Dabei wird im Folgenden die Vergemeinschaftung des Politikfelds »Regionalpolitik« auf der europäischen Ebene untersucht, die sich in den 1970er Jahren vollzog. Zur Darstellung der funktionalistischen Sichtweise der Strukturfondspolitik wird in drei Schritten vorgegangen: Zunächst folgt eine Einführung in die Theorie des (Neo-)Funktionalismus. Aus dieser werden dann die Fragestellung entwickelt und Hypothesen zur Erklärung abgeleitet. Der letzte Schritt erklärt die Strukturfondspolitik anhand dieser Hypothesen theoriegeleitet.2
1.1 Theorie des (Neo-)Funktionalismus
Der Funktionalismus bzw. Neo-Funktionalismus stellt die Frage nach den Triebkräften der Integration. Um die Antwort der Funktionalisten auf diese Frage zu verstehen, muss man die Voraussetzungen ihrer Argumentation kennen. Sie gehen dabei von folgenden Prämissen aus (vgl. Wolf 1999 : 39):
1. Die Welt ist pluralistisch, d. h. eine Vielzahl von Akteuren und Institutionen ist an politischen Entscheidungen beteiligt.
2. Diese Entscheidungen werden aber auch von den bestehenden sozio-ökonomischen Strukturen beeinflusst. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gruppen sorgen für deren Vermittlung.
3. Moderne Gesellschaften sind durch eine zunehmende Arbeitsteilung gekennzeichnet. Diese führt zur Differenzierung und Segmentierung der Gesellschaft sowie zur Abhängigkeit zwischen den einzelnen Segmenten.
In diesen Prämissen werden die wichtigen Triebkräfte für die gesellschaftliche Entwicklung, so auch der europäischen Integration, vermutet. Dabei stehen Strukturen und Funktionen im Mittelpunkt und nicht normative Zielvorgaben, Macht und Interessen einzelner Akteure.
Der Ausgangspunkt für die funktionalistische Erklärung der europäischen Integration liegt in den Arbeiten des Diplomaten David Mitrany, der seine zentralen Gedanken in seinen beiden Hauptwerken »The Progress of International Government« von 1933 [22]und »A Working Peace System« von 1943 als Reaktion auf die negativen Erfahrungen mit dem Völkerbund als konfliktregelnde internationale Instanz dargelegt hat.
Mitrany hat früh erkannt, wohin die Schwächen der Konstruktion des Völkerbundes führen würden und ein funktionierendes internationales Systems für die Staatengemeinschaft skizziert.
Doch aus welcher Situation heraus erarbeitete er diese Konzeption? Nach dem Ersten Weltkrieg hatte man versucht, ein friedliches Zusammenleben der Völker durch die Etablierung einer internationalen Organisation – eben den Völkerbund – sicherzustellen. Er sollte die Konflikte zwischen den Staaten auf friedliche Weise beilegen und so zu einem homogenen weltpolitischen System führen. Der Ausgang des Unterfangens ist bekannt – der Zweite Weltkrieg bereitete diesem Versuch ein definitives Ende. Präsident Wilsons Idee einer liberal-demokratischen Weltregierung, zu welcher der Völkerbund ein erster Schritt sein sollte, konnte aus mehreren Gründen keine Gestalt annehmen. Einige der wichtigsten seien holzschnittartig und im Hinblick auf das spätere Verständnis der Darlegungen Mitranys an dieser Stelle genannt:3 (1) Die USA selbst, als die wirtschaftlich und finanziell stärkste Macht auf der internationalen Bühne, blieb dem Völkerbund fern. (2) Großbritannien und Frankreich konnten ihre unterschiedlichen Vorstellungen zur Konzeption des Völkerbundes nicht in Einklang bringen. Während Frankreich den Völkerbund zum Eckpfeiler eines kollektiven Sicherheitssystems ausbauen wollte, sah Großbritannien ihn nur als ein zusätzliches und ergänzendes Instrument zum klassischen »Konzert der Mächte«. (3) Die dritte alliierte Hauptmacht, Italien, wendete sich nach der Regierungsübernahme Mussolinis immer entschiedener vom Völkerbund ab und trat 1937 aus. Zuvor hatten dies schon die totalitären und faschistischen Regime Japan und Deutschland im Jahr 1933 getan. (4) Die Sowjetunion spielte die Rolle eines isolierten Außenseiters — sie gehörte dem Völkerbund nur in den Jahren zwischen 1934 und 1939 an und wurde dann ausgeschlossen. (5) Innerhalb des Völkerbundes spielten eher Beamte und Diplomaten aus klein- und mittelgroßen Staaten wie Belgien, Spanien, Griechenland und den skandinavischen Ländern eine Rolle. Die Großmächte hingegen sprachen dem Völkerbund keineswegs ein Monopol für die internationale Politik zu. Sie verlagerten zahlreiche diplomatische Aktivitäten auf andere Ebenen und Institutionen – etwa auf Botschafterkonferenzen, die an die Bündnispraxis des Ersten Weltkriegs anknüpften. Die sich so etablierende Konferenzdiplomatie zeichnete sich durch eine variable Besetzung und eine Themenvielfalt aus und bewegte sich im Bereich der »high politics«4. (6) Von der Erörterung der zentralen Reparationsprobleme und der Frage [23]der Abrüstung blieb der Völkerbund ausgeschlossen. (7) Unter dem Eindruck sich häufender Völkerrechtsverletzungen entwickelten die demokratischen Großmächte in den 1930er Jahren eine Strategie der »Zweigleisigkeit«. Im Völkerbund schloss man sich dem Ruf der Klein- und Mittelmächte sowie innerstaatlicher Gruppen nach Sanktionen als politisches Mittel der Konfliktregulierung an; um politische und militärische Konsequenzen zu vermeiden, signalisierte man jedoch gleichzeitig über diplomatische Kanäle Entgegenkommen. Die Folge waren halbherzige und wirkungslose Sanktionen und Ansehensverluste des Völkerbundes. Das System der »kollektiven Sicherheit« wurde zunehmend ausgehöhlt. (8) Darüber hinaus war der Völkerbund fast ausschließlich mit sicherheitspolitischen Fragestellungen befasst. Im Hinblick auf Wirtschaftspolitik konnte er keine langfristige Wirksamkeit entfalten. Vor allem die Weigerung der Franzosen, internationale Organisationen in die Diskussion von Kernfragen der Wirtschafts- und Finanzordnung einzuschalten, beschränkte seine Funktion auf Not- und Aushilfsmaßnahmen. Die Forderung der Weltwirtschaftskonferenz 1927 nach freiem Welthandel blieb unbeantwortet. Zugleich schlug die Londoner Währungs- und Wirtschaftskonferenz 1933 in ihrem Bemühen fehl, den Abrüstungswettlauf zu stoppen und das internationale Währungssystem zu stabilisieren (vgl. Heideking 1983).
Die Konsequenz aus diesen Defiziten des Völkerbundes war die Flucht in Nationalismus, Bilateralismus und Autarkismus. Aus diesem nicht funktionierenden System heraus konzipierte Mitrany seine Theorie des Funktionalismus. Mitranys zentrales Anliegen war es, ein auf Dauer gestelltes, den Frieden sicherndes System zu schaffen.5
Die zentrale Frage lautete also: Wie ist Frieden herzustellen? Dies sollte indirekt über die Zusammenarbeit von Staaten erreicht werden. Die Zusammenarbeit sollte sich dabei auf die Bereiche konzentrierten, in denen die Staaten gemeinsame Interessen aufwiesen. Auf diesen Sachbereichen liegt dementsprechend auch der Fokus der Analyse. Sie stehen im Mittelpunkt und sind Ausgangspunkt der Erklärung, nicht hingegen die Interessen der souveränen Nationalstaaten. Aus einem solchen Sachbereich heraus ergeben sich sachlogisch Art und Umfang der internationalen Zusammenarbeit.
Diese kausale Verknüpfung konstituiert das Prinzip des Funktionalismus und Neo-Funktionalismus, das Mitrany bereits 1933 auf die lakonische Formel »form follows function« brachte. Die Form der Zusammenarbeit ergibt sich demzufolge aus der Funktion innerhalb eines spezifischen Sachbereichs. Die Formel »form follows function« ist bereits aus der Architektur und dem Design bekannt und erklärt sich durch die Rückbesinnung auf diese Bereiche meist besser. So folgten die klaren Formen des Bauhauses in Architektur und Design aus den 1920er Jahren, die den schnörkelreichen [24]und ausladenden Jugendstil ablösten, dem gleichen Prinzip: Die Funktion eines Gegenstandes bestimmt seine Form. Ein Stuhl muss funktional sein, d. h. er muss der Funktion »Sitzen« optimal entsprechen. Diese Entsprechung bestimmt als Kriterium sein Aussehen. Anders verhält es sich dagegen bei einem Stuhl aus der Epoche des Jugendstils, bei dem die dekorative Form im Vordergrund steht und die Funktion »Sitzen« nachrangig ist.