Bianka Bleier


Kittelschürzen-
schönheit


Notizen einer
frommen Hausfrau




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Bestell-Nr. 395.288

ISBN 978-3-7751-7073-4 (PDF)
ISBN 978-3-7751-7065-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5288-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2011
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: GNB = Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Weiter wurden verwendet: Luther = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart; NLB = Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten; Elb = Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Witten; HfA = Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica US, Inc., Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Umschlaggestaltung: Kathrin Retter
Titelbild: thommy mardo / www.thommy-mardo.de
Bilder im Innenteil: privat; S. 16 und 47: thommy mardo
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany

Inhalt

Meiner Mutter

Selawie

Kittelschürzenschönheit

Schwellenangst

Der badische Krankenhaussegen

Gott könnte mich nett finden

Hundstage

Zeit-Wandel

Das Leben ist so schön,wenn es schön ist!

Mittelmaß, das Maß aller Dinge?

Zeitgeistern

Bildergeschichten

Dem Tag eine Bedeutung geben

Überraschungseier

Gott duzen?

Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen

Vatertag mit Wallungswert

Herz im Wald

Mein letzter Wille – lass mich los!

Eva-Maria LeiberRollenspiele

Den Bogen spannen und dann – langsam loslassen

Very important person

Lasst uns einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause

Leichten Sinnes durch das Leben

Genügsamkeit oder göttlicherApplaus

Wer bin ich?

Der kleine Prinz

Krümelmonster

Zeit der Erlaubnisse

Verachte die klein scheinendeKraft nicht

Rote-Kringel-Methode

Die Liebe bleibt

Sehnsuchtsmelodie

Von der Bohnenstange zum Genussbolzen

Hin und her gerissen …

Schuld oder Schuldgefühle?

Die Welt ist voll von Sachen und es ist wirklich nötig, dass sie jemand findet

Mut zur Lücke!

So ist das Leben?

Stille Zeiten

Ein Zimmer für mich allein

Anmerkungen

Meiner Mutter

»Selawie«, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn es nichts mehr zu sagen gab. So ist das Leben eben, man muss es nehmen, wie es kommt. Und mit dem Sterben – es ist halt noch keiner zurückgekommen und hat erzählt.

Seither gehe ich durchs Leben und frage mich: Wie ist es, das Leben? Und wohin werde ich eines Tages gehen?

Ich bin so froh um meine Zuversicht, zu einem Gott zu gehören, der mich ins Leben gerufen hat und diesem Leben Sinn verleiht. Um meinen Glauben, der mir Halt gibt, wenn es an meinen Lebensmauern rüttelt und wankt. Um die immer wiederkehrende Erfahrung, dass selbst das Vertrauen zu Gott ein Gottesgeschenk ist. All das ist in der Tat Grund genug, mit Gelassenheit, gespannter Vorfreude und Humor durchs Leben zu gehen.

Dieses Buch entstand beim Mitschreiben von »Selawie« im Laufe der letzten vier Jahre. Dies war die Zeit, in der unsere drei Kinder groß und stark wurden und mein Leben sich sehr veränderte.

Ich widme diese Zeilen meiner Mutter in großer Dankbarkeit.

Bianka Bleier

Selawie

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Tausendmal bin ich diesen Weg seither gegangen …

Ich gehe mit dem Hund um den See. Zum wievielten Mal eigentlich? Dann verstehe ich, wie die Redewendung »Wie aus heiterem Himmel« entstanden sein muss: Als ich an dem windig-blauen Wasser vorbeikomme, in dem sich ein paar heitere Schäfchenwölkchen spiegeln, macht eine Hirnwindung in mir Klick und verbindet mich mit einem längst vergangenen Moment: Der erste Tag in unserer ersten Wohnung in unserem gemeinsamen Leben. Neuanfang! Welch ein Zauber! Welches Neuland gab es zu entdecken! Welch ein Abenteuer! Auch Angst und Stress, ja. Aber Mut, Neugier und Motivation überwogen.

Neuanfänge – während ich den See umrunde, fallen mir viele weitere ein. Lassy, mein erster Hund, den ich bekam, als ich 13 war. Der Beginn meiner Beziehung mit Werner. War ich je glücklicher? Anna, unser erstes Kind. Der erste Tag mit ihr zu Hause, begleitet von Werners Brief, dem nie ein zweiter gleichkam. Der erste Tag mit Lena. Der so andere erste Tag mit Jan, als wir ihn endlich aus der Kinderklinik abholen durften. Der erste Tag im eigenen Haus.

Mit jedem Neuanfang Türen, die sich öffneten, und Türen, die sich schlossen. Jedem Anfang ging eine Entscheidung voraus. Erste Schultage – meine eigenen, kurze Zeit später die von Anna, Lena und Jan. Der erste Tag meiner Ausbildung in der Bibliothek. So viel Fremdes, Verheißungsvolles. Mein Neuanfang im Glauben, der mein ganzes Leben auf ein neues Fundament stellte.

Und dann, als ich glaubte, die Zeit der Anfänge sei vorbei, mein erster Artikel in einer Zeitschrift, mein erstes Buch, meine erste Lesung. Die Eröffnung der christlichen Buchhandlung, in der ich seither arbeite, die erste Nacht in dem Wohnwagen, in dem wir zehn Jahre lang auf Reise gingen …

Der erste Tag nach meiner Krebsoperation, die vorsichtig positive Prognose – neu geschenkter Anfang. Seither jeder Tag ein Neuanfang …

Und jeder Neuanfang birgt in sich bereits das Ende. Charly, unser erster gemeinsamer Hund, die erste Nacht neben ihm auf der Liege. Zehn Jahre später: Der Kreis schließt sich, als ich seine letzte Nacht auf einer Liege neben ihm verbringe. Für einen weiteren Neuanfang brauchen wir Kraft, Mut und wieder Entschlossenheit. Anna hält den Welpen auf der Heimfahrt in ihrem Schoß wie eine Wöchnerin – einen neuen Aufbruch miteinander teilen ist ein starkes, verbindendes Erlebnis. Mit Werner zusammen das erste Mal auf einem Pferderücken, der erste Ausritt in freier Wildbahn, der erste Galopp am Meer, der Neuanfang mit dem eigenen Pferd, als der Arzt sagte, mein Leben darf weitergehen …

Ich fahre zur Arbeit in die Buchhandlung. Ein junges Paar mit einem zehn Monate alten Mädchen sucht eine schöne CD, mit der das Mäuschen ins Leben tanzen lernen kann. Es ähnelt Anna auf bezaubernde Weise. Wehmütig weiß ich um die Anfänge, die diese Familie noch erleben darf.

Ich lege die zwanzig Jahre alte CD von Margret Birkenfeld auf, mit der mein Mäuschen damals tanzen lernte. Als »Ein kleines wildes Schäfchen« erklingt, bekomme ich feuchte Augen. Ich sehe Anna vor mir, wie sie zaghaft zu laufen beginnt, mit zarten zehn Monaten.

Als ich heimkomme, steht Anna im Morgenmantel in der Küche. Gleich läuft sie durch die Korridore ihres Ausbildungskrankenhauses, sie hat Spätschicht. Noch ein Augenblick mit ihr. Ich massiere ihren Rücken. Wie klein er einmal war. Immer noch hält sie ihn mir vertrauensvoll hin, immer noch mag sie es sehr, von mir verwöhnt zu werden. Bald wird sie aus meinem Leben gehen. Neuanfang, erster Tag in der eigenen Wohnung …

Dann bin ich wieder allein. Zeiten, von denen ich in den Sturm- und Drangzeiten nur träumen konnte. Ich genieße es, setze mich an den Schreibtisch und fange an zu schreiben. Meiner Mutter, die in fortgeschrittenem Alter auszog das Mailen zu lernen, vorrangig, um mit ihren Enkeltöchtern in Kontakt zu bleiben. Als Nebeneffekt vertiefen wir beide unsere Beziehung auf eine Weise, die uns sehr entspricht. Ich schreibe ihr vom Loslassenmüssen der Kinder und meine, schon die Antwort zu kennen: »Selawie« würde meine Mutter in ihrem unnachahmlichen Schreibstil bemerken, um viele gelebte Neuanfänge reifer als ich.

Veränderungen können mir Angst machen, aber meistens profitiere ich von ihnen, liegt im Wandel die Chance zu einem weiteren Neubeginn. Ich glaube, dass wir im Geiste nicht alt werden, solange wir dem Zauber des Anfangs Raum und Gestalt geben. Beim Schreiben spüre ich, wie Freude in mir aufsteigt, gespannt auf all das Neue, was noch kommen mag.

»Schaut nach vorne, denn ich will etwas Neues tun! Es hat schon begonnen, habt ihr es noch nicht gemerkt? Durch die Wüste will ich eine Straße bauen, Flüsse sollen in der öden Gegend fließen.« Jesaja 43,19 (HfA)

Gott liebt Neuanfänge! Nie lagen Ende und Anfang näher beisammen als in Jesu Tod und Auferstehung. Damit hat Gott uns eine Perspektive geschenkt, die an den Beginn der Menschheitsgeschichte anknüpft. Mit jeder Geburt eines Menschen beginnt Gott etwas aufregend Neues, voller Pioniergeist, Neugier, Vorfreude, Leidenschaft, Liebe.

Und dann bereitet er uns Werke, in denen wir wandeln können, immer wieder aufs Neue. Wenn wir unser Land erweitern wollen, schenkt er uns Mut, Hoffnung und Beistand. Wenn wir uns von ihm entfernt haben, wartet er auf uns, geht uns nach, läuft uns entgegen, um den Neuanfang zu proklamieren. Er wird nicht überdrüssig, mit uns neu zu beginnen, ja, er jubelt jedes Mal aufs Neue vor Begeisterung. So ein himmlischer Jubel, den muss man erst mal versuchen sich vorzustellen …

Gottes Lieblings-Neuanfang heißt Umkehr, Vergebung, Versöhnung. Nach außen hin eher unspektakulär birgt derartiger Neuaufbruch ein Riesenpotenzial an Veränderung. Und gerade ist der Vater des Anfangs damit beschäftigt, im Himmel Wohnungen für uns zu bauen für einen wirklich spektakulären Neubeginn …

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegen senden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse1

Kittelschürzenschönheit

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Unbeschwerte Kittelschürzenschönheit 1962

Ich stehe in der Buchhandlung und werde zum hundertsten Mal auf mein schwanger wirkendes Bäuchlein aufmerksam gemacht.

Ich stehe vor meinem Kleiderschrank und finde nichts Passendes. Nichts, was mir passt, nichts, was zusammenpasst, nichts, was für einen bestimmten Anlass passt.

Ich stehe in der Umkleidekabine. Mein Deo versagt. Textile Entscheidungen sind für mich Schwerarbeit – bei jedem Kleidungsstück die Frage, ob es passt: zu meiner Figur, meiner Garderobe, meinem Stil, meinem Alter, meinem Lebensgefühl und zu meinem Geldbeutel. Wenn das durchstanden ist, taucht die Überlegung auf, ob es überhaupt nötig ist angesichts der Armut der Welt und der Mühe, die es kostete, den Betrag dafür zu verdienen. Und so weiter.

In solchen Momenten beneide ich die unbeschwerte Kittelschürzenschönheit meiner Oma, die sich keine Gedanken um ihre Garderobe machte, die nicht im Traum daran dachte, ihre Haare zu färben, Diät zu halten oder Bauch-Beine-Po-Martyrium zu betreiben. Zur Zeit der Kittelschürzen war die Welt noch keine Bühne und frei von Schönheitschirurgen, Schönheitsfarmen, Schönheitswahn.

Omas Garderobe bestand aus zwei Basisteilen: dem Dreiteiler Rock, Pullover, Kittelschürze. Und dem Sonntagskleid. Das Ganze ging so: Werktags zog sie den Rock an, der gerade sauber war, den obersten Pullover vom Schrank, darüber einen ihrer vier Kittelschürzen, eben den, der gerade an der Küchentür hing. Und sonntags ihr Sonntagskleid. Sehr entspannend! Meine Mutter meinte dazu neulich: »Du hast deinen Schurz ausgezogen und warst angezogen.«

In meinem Leben gab es zwei ähnliche Situationen:

A) Ich bin klein, meine Mutter kauft meine Kleidung und legt sie mir morgens auf mein Bett.

B) Ich bin schwanger, riesendick und trage im Wechsel die altrosé Latzhose mit dem letzten noch passenden Schwangerschaftsoberteil oder das zeltförmige, royalblaue Hängekleid.

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Zwei Generationen später

Ich empfand das nicht als Einschränkung, sondern als ein ziemlich unaufgeregtes Verhältnis zu Kleidung. Kleidung als Nebensache sozusagen. Hauptsache angezogen.

Auf Fotos erstrahlt meine Oma in würdiger Kittelschürzenschönheit (und ich in zufriedener Schwangerschaft). Oma war schön! Ich mochte jede einzelne ihrer Lebensspuren. Es fehlte ihr nicht an Ausstrahlung, die viel mit Lachfalten, Lebenserfahrung und Gelassenheit zu tun hatte. Wenn frau sich wohlfühlt in ihrer Haut, strahlt das aus ihr heraus.

Dass an Omas linker Hand ein Finger fehlte, weil sie sich beim Brombeerpflücken eine Blutvergiftung zugezogen hatte, war ein Zeichen ihrer Originalität, kein Schönheitsfehler. Ob sie je zu- oder abgenommen hat, dafür hatte ich kein Auge, wohl aber für ihren gütigen Blick und ihre Weichheit. Witwe und vierfache Tochtermutter … Anna musste nicht schön sein, konkurrieren, gefallen, sie war schön. Auf die Frage, wer schöner war, Oma oder Miss Universum, war die Antwort für die von ihr heiß geliebte Enkelin klar wie Kloßbrühe. In den Augen eines geliebten Menschen ist man immer schön, er besitzt den Schlüssel, die Geheimzahl, er sieht ins Innere, wo die wahre Schönheit wohnt.

Schwellenangst

Urlaub mit Freunden an einer Felsküste. Leicht amüsiert beobachte ich sie beim Schnorcheln. Wie das aussieht, wie sie da mit Atemrohren auf dem Wasser herumtreiben – irgendwie unbeholfen und unspektakulär! Und wie herrlich plump sie mit ihren Riesenflossen aus dem Meer watscheln …

Sollen sie doch gucken, wenn sie unbedingt wollen, ich kann mich zügeln. Mich werden sie nicht in dieses kalte Wasser voller Seeigel und Feuerquallen reinkriegen. In Wirklichkeit bin ich träge, wasserscheu und habe Angst vor meiner eigenen Ungeschicklichkeit im Umgang mit dieser Ausrüstung – jedenfalls komme ich mit der Haltung bis zum vorletzten Tag ungeschoren davon. Bis einer von ihnen mich unter den Armen packt und meint, er werde nicht nach Hause fahren, bevor er mir nicht das Schnorcheln beigebracht habe.

Da hilft kein Argumentieren, kein Hochmut und kein Zieren – plötzlich finde ich mich mit fremden Gummischuhen an den Füßen und Taucherbrille im seichten Wasser wieder.

Ich habe Angst, mit dem Atmen nicht zurechtzukommen, Feuerquallen zu streifen, einen Wadenkrampf zu bekommen, zu erfrieren, ich habe Angst, nichts zu sehen.

Es kostet mich einiges, durch die Wasseroberfläche zu tauchen. Noch nie habe ich einen Blick da hinuntergeworfen und ich grusle mich. Mein Freund hilft nach, ermutigt mich mit praktischen Tipps, schubst mich hartnäckig, ist da. Ich gewöhne mich an die Kälte. Ich gewöhne mich an den Atemschlauch. Ich trete in das Meer ein, ohne viel zu erwarten.

Was ich sehe, ist eine Offenbarung! Freundliches Blau überall! Wo ich trübe Dunkelheit vermutet habe, finde ich ein lichtes Universum, einen stillen Ort voller Farbe und Licht. Ich bin fassungslos. Weiter vorne, noch ziemlich diffus, bewegt sich etwas. Also schwimme ich hin, weil ich mir das anschauen will. Und so, wie das Leben um mich herum an Form und Farbe gewinnt, entrückt die Welt über mir ins Unwirkliche. Die neue Welt ist jetzt die Realität und ich bin hingerissen. Ein großer Schwarm gelbgrau gestreifter Fische – keine Ahnung, wie sie sich absprechen – schwimmt synchron unter mir her, durch eine Landschaft von Felsschluchten, Sandbänken und hin und her wehenden Pflanzen. Ich sehe Seegurken, Seeigel, einen Oktopus, Schwärme von kleinen und größeren Fischen, Quallen und anderes Unaussprechliches. Noch weiter vorne ist noch mehr Leben, also schwimme ich noch weiter …

Es ist unglaublich: Flossen an, in die Brille spucken, Schnorchel in den Mund, sich einfach treiben lassen und staunend nach unten sehen – welch eine Entspannung! Mir ist egal, wie das von oben aussieht. Ich fühle mich leicht, stromlinienförmig und beschenkt. Ich lebe, hier und jetzt. Ich durchquere Felsspalten, schwimme um kleine Inselchen, sehe den Wellen von unten zu und bin kaum noch aus dem Wasser zu bekommen, fasziniert von dieser neuen Welt unter der Oberfläche, die gar nicht neu ist, nur in meiner Wahrnehmung.

Bisher wähnte ich beim Schwimmen die Meereswelt unter mir dunkel und leer. Ich hätte es wissen müssen, die anderen hatten davon erzählt – aber welch ein Unterschied, es zu sehen! Nur wenn ich mich darauf einlasse, die Oberfläche durchdringe und die gewohnte Welt hinter mir lasse, erfahre ich die neue Wirklichkeit.

Die unsichtbare Welt ist wirklich voller Leben! Die Meeresoberfläche ist eine dünne, durchlässige Linie, unter der eine andere Wirklichkeit existiert, ob ich sie wahrnehmen will oder nicht. Horizonterweiterung – plötzlich wird etwas vom Himmel für mich vorstellbar:

Der Himmel ist da, er beginnt bereits hier, unsichtbar zwar, aber dennoch wirklich, ganz gleich, wie ich darüber denke – und die Wand dazwischen ist dünn und durchlässig. Wer sie durchschritten hat, möchte sich nicht mehr mit dem Leben an der Oberfläche begnügen.

»Das ist die ständig wiederkehrende Versuchung. Ich gehe hinunter an das Wasser, doch statt zu tauchen oder zu schwimmen oder mich treiben zu lassen, plansche und spritze ich herum, ängstlich darauf bedacht, mich nicht in die Tiefe zu begeben, und halte mich an dem Rettungsseil fest, das mich mit meinen zeitlichen Dingen verbindet.«

C. S. Lewis2

Der badische Krankenhaussegen

Ich bin mit Jan in der Uniklinik, um abklären zu lassen, ob sein Hormonspiegel stimmt. Jan ist ziemlich klein für sein Alter und die Pubertät hat noch nicht eingesetzt. Tapfer warten wir anderthalb Stunden in der Warteschleife. Mein Geduldsfaden reißt zuerst. Ich gehe zu der Klinikkönigin hinter der Glasscheibe und flüstere drohend: »Mir ist langweilig!« Wenn ich gewusst hätte, was auf uns zukommt, hätte ich mich gern noch geduldet. Dr. Hadschiselihamovidsch erklärt mir in gebrochenem Deutsch tadelnd, dass eine Hormontherapie bei Jan ebenso unumgänglich wie schon fast zu spät sei. Jan soll stationär aufgenommen werden für einige klärende Tests. Das Wort »stationär« ruft heftige allergische Reaktionen sowohl in mir als auch in Jan hervor. Diesbezüglich verbindet mich eine fünfzehnjährige Geschichte mit meinem entwicklungsverzögerten kleinen Prinzen.

Jan drückt die aufsteigenden Tränen weg. Jungs dürfen weinen, aber dass er es jetzt nicht tut, ist so männlich. Und um seine Männlichkeit geht es ja. Es folgt ohne Vorwarnung eine ziemlich entwürdigende Untersuchung. Mein Herz zieht sich zusammen, als ich sehe, wie wenig einfühlsam der eigentlich sympathische Arzt Jan behandelt. Ich erlebe wieder, wie falsch Jan oft eingeschätzt wird, dem es schwerfällt, sich auszudrücken und Blickkontakt zu halten. Die meisten Leute denken dann, dass gar nichts in ihm ist, was er ausdrücken könnte.

Situationsstark lässt sich Jan bereits in der Cafeteria mit Wurstsalat und Cola trösten, während ich selbst noch knabbere an der Aussicht, Jan ein Jahr lang täglich eine Hormonspritze geben zu müssen in der vagen Hoffnung auf ein paar Zentimeter Wachstum. Ich bin wirklich stolz auf ihn.

Später bringe ich Jan ins Bett und bitte Jesus, im Krankenhaus alles vorzubereiten, Jan mutig und stark zu machen und uns freundliche Menschen zu schicken, die gut mit Jans dünnen Venen umgehen können. Es ist schwierig, bei Jan Blut zu holen, früher war es der reine Albtraum. Als ich meine Zähne putze, höre ich Jan zum ersten Mal allein und laut beten. Er legt Jesus seine ganze Angst hin, die er mir nicht gestanden hat. Dann stellt er sich dem Unvermeidlichen. Ich bin gerührt über seinen Glauben, sein Vertrauen, seine Tapferkeit.

Ich maile einer Freundin, die Jan ins Herz geschlossen hat, dass er die nächsten Tage oft gepiekst und infusioniert wird, dass das sein großer Schrecken ist, und bitte sie, mit dafür zu beten, dass er tapfer sein kann und die Ärzte seine Venen gut finden.

Morgens kurz vor der Autobahnauffahrt kommt mir die Idee, noch einmal umzudrehen und das altbewährte Zauberpflaster zu suchen. Als ich Jan das Betäubungspflaster aufklebe, sehe ich mit Schrecken, dass dessen Haltbarkeitsdatum längst überschritten ist. Der Arzt kommt erst nach einer Stunde, um die Braunüle zu legen, und ich befürchte, dass der Wirkstoff nicht mehr wirkt – falls er es je getan hat. Zwanzig Minuten lang kämpft der Oberarzt darum, eine Vene zu finden. Ich bin dankbar, dass es kein Berufsanfänger macht. Die stehen die ganze Zeit über in dreifacher Ausfertigung an Jans Bettende. Sie unterhalten sich mit ihm über Fußball und lenken ihn auf die liebenswerteste Weise ab. Drei Engel in langen weißen Kitteln. Jan liegt ganz entspannt da. Immer wenn die Angst kommen will, fragt ihn ein Fußballengel weiter aus über sein Lebensthema. Ich sehe Jan, der tapfer hinhält, den Oberarzt, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, und endlich sitzt die Nadel in Jans Vene. Sie können Infusionen durchlaufen lassen, Medikamente reinspritzen und halbstündlich Blut holen, ohne Jan jedes Mal zu quälen.

Als sie gehen, sagt Jan: »Die waren aber nett! Das hat Gott aber gut gemacht mit denen!«

Gott ist da, das merkt sogar Jan. Was heißt eigentlich »sogar« – welch überhebliche Haltung. Noch bevor ich an Gott denke, kapiert Jan, dass er unser Gebet erhört hat. Wieder freue ich mich an dem, was da in Jan ist.

Und ich denke dankbar seufzend: Ja!

Abends finde ich eine Mail von meiner Freundin.

»… es soll Jan nichts mangeln. Mögen seine Hormone sich mehren, möge er behutsame Menschen um sich haben in der Klinik, Menschen, die seine schöne Seele sehen und die mit ihm über Fußball reden können.

Möge er ruhen in Gottes Geborgenheit, möge Gott sein klopfendes Herz vor den Herren in Weiß besänftigen und langsamer schlagen lassen.