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Die ersten Strahlen der Morgensonne huschten über den See. Ein Frühkurs-Dampfer tutete von ferne. Ein für den Monat August schon recht kühler Morgenwind kräuselte die Wellen. Kommissar Kamber, dessen Vornamen Thomas man allgemein mit „Tom“ abkürzte, war ein Frühaufsteher. Kurz nach sechs Uhr war er zum Seeufer gegangen. Dort hatte er im kleinen Badhäuschen seinen Trainingsanzug mit dem sportlichen Schwimmdress vertauscht. In einem zügigen Brustcrawl schwamm er etwa dreihundert Meter in den See hinaus. Dort drehte er sich um und kehrte auf dem Rücken im Gleichschlag – seiner Spezialität – zum Ufer zurück, nicht ohne am Schluss des morgendlichen Vergnügens einen kleinen Endspurt hingelegt zu haben. An Land fröstelte ihn. Er trocknete sich ab und schlüpfte wieder in seinen Anzug. Er blieb eine Weile stehen. Wie er so dastand, eine breite kräftige Gestalt, strahlte er eine gewisse Ruhe aus. Er hatte ein scharfkantiges Gesicht mit einer bedeutenden Narbe auf der rechten Stirnseite. Aus den Strähnen seines Blondhaars tropfte das Seewasser über die Wangen. Mit seinen blauen Augen schaute er über den Schilfgürtel und den See zum jenseitigen Ufer, wo man in der klaren Luft jedes einzelne Haus erkennen konnte. Der Blick über das Wasser und die weiträumige Landschaft war für ihn so etwas wie ein kleines Geschenk zum Tagesbeginn. Immer wenn er morgens an einem Seeufer über die Wellen blickte, kam ihm der Tag in den Sinn, an dem er bei aufgehender Sonne mit einer blonden Kollegin an einem Seestrand stand. Nach einer überaus anstrengenden Nachtübung seines Korps war er damals zufällig am Seeufer mit einer Polizeiassistentin zusammengetroffen. Nach den wohl etwas übertriebenen Strapazen des nächtlichen Orientierungslaufs hockte sie überanstrengt und ausgebrannt am Boden. Kamber half ihr beim Aufstehen. Einer Eingebung des Augenblicks folgend, schloss er sie in seine Arme und strich ihr mit seinen Händen aufmunternd übers Haar. Das war der Anfang zu einer Verbindung, die zuerst zu einer guten Freundschaft und bald einmal zu einer schönen Liebschaft führte. Am Ende einer Woche trafen sich die beiden, Marie-Louise und Tom, jeweils nach Dienstschluss. Je nach Lust und Laune mischten sie sich das eine Mal in einer Disco unter die Jungen, wo sie die Nacht durchtanzten. Ein ander Mal zogen sie die Wanderschuhe an. Sie streiften auf Nebenwegen durch das Land, wanderten etwa einem Fluss entlang oder stromerten durch die Wälder. Den Tag beschlossen sie meist in irgendeinem Landgasthof. Dort setzten sie sich zu einem
einfachen guten Essen hin, bei dem ein frischer Wein nicht fehlte. Dann machten sie sich zu einem kleinen Nachtbummel auf, bevor sie in einem Zimmer des Gasthofs in die Kissen sanken. Marie-Louise beschäftigte sich im Dienst vor allem mit Verkehrsunfällen, wobei sie der Kommandant nicht zu schweren Fällen beizog. Eines Abends kam es auf einer Landstrasse zum Zusammenstoss eines Lastwagens, der Öl transportierte, mit einem Radfahrer, der zum Glück nur leicht verletzt wurde, aber der Sachverhalt musste doch polizeilich abgeklärt werden. Ein Kollege war mit einem Dienstwagen bereits weggefahren, als der Kommandant Marie-Louise fragte, ob sie mit ihrem Motorrad hinfahren könnte, um ihm behilflich zu sein. Sie war dazu ohne weiteres bereit und startete mit ihrer schweren Maschine. Es war dunkel und neblig. In einer Rechtskurve war ein Ölbelag auf der Fahrbahn, der bei der schlechten Sicht nicht zu erkennen war. Marie-Louise schlitterte auf dem Ölteppich auf die andere Strassenseite, stürzte und prallte mit dem Kopf auf einem Wehrstein auf, wo sie bewusstlos liegen blieb. Ein Automobilist, der aus der Gegenrichtung kam, konnte sie im letzten Augenblick sehen und stoppen. Er trug sie in seinen Wagen und führte sie sofort in das nächste Spital. Dort stellten die Ärzte eine schwere Kopfverletzung und zahlreiche Knochenbrüche fest. Ein ganzes Team unter der Leitung des Chefarztes, eines erfahrenen Chirurgieprofessors, arbeitete im Operationssaal pausenlos. Ihre Arbeit war erfolglos. Marie-Louise starb an den sehr schweren Folgen des Sturzes. Es traf Tom schwer, und von da an war er, der Kommissar Kamber, Alleingänger. Im August verbrachte er meist ein paar Tage in der kleinen Waadtländer Ortschaft Buchillon am Genfersee. Er war dort Gast bei seinem Freund Charlie, der den bescheidenen, in Seenähe gelegenen Gasthof mit dem ausgesuchten Namen „Zum Schilfrohr“ ein wenig mit der linken Hand führte. Die weissgetünchte Fassade des Hauses war dem See zugewandt, zwischen den Fensterreihen rankten sich Reben empor, neben dem Haustor glänzte das Wirtshausschild mit einem Schilfbündel in der Sonne. So war Kamber auch dies Mal nach dem Verlust seiner Freundin wieder dort eingekehrt und seiner Gewohnheit gemäss am Morgen nach dem Ankunftstag zum See schwimmen gegangen. Nach dem Bad schlenderte er, die Badetasche über die Schulter gehängt, leichten Schrittes vom Seeufer zum Gasthof zurück. Als er nicht mehr weit von seinem Ziel entfernt war, rannte ihm Charlies Hund im Karacho entgegen. Es war ein noch recht junger Sennenhund, der den Namen „Rambo“ trug. Zu Unrecht, denn er war durchaus kein wilder Raufbold, sondern ein zutraulicher, friedfertiger Hund, der niemandem etwas zuleide tat. Er sprang bellend an Kamber hoch und war ausser sich vor Freude. Sie waren Freunde geworden. Wenn der Kommissar durch die Gegend wanderte, war Rambo meist sein Begleiter. Er wartete jeweils mit Ungeduld auf den Augenblick, in dem Kamber beim Weggehen die Tür öffnete und ihm „Komm’ Rambo!“ zurief. Kommissar und Hund langten in neckischem Spiel beim Gasthof an. Kamber öffnete die Tür der Wirtsstube. Sie war nicht sehr geräumig, etwa ein Dutzend Tische fanden darin Platz. Die meisten standen an der Fensterfront, von ihnen aus hatte man einen wundervollen Blick auf den See hinaus. An der einen Wand neben der Theke warb ein älteres, farbenfrohes Plakat mit Segelschiffen für die Stadt Lausanne, an den andern Wänden hatte Charlie einige ausgesuchte Grossaufnahmen des Waadtländer Photographen Marcel Imsand aufgehängt: Schloss Chillon in einer ungewöhnlichen Perspektive von der Seeseite her, ein alter gründlich überholter Dampfer in voller Fahrt vor den Reben der La Côte, der Genfer Jet d’Eau mit den Konturen der Stadt im Morgenlicht. Suzette, eine muntere Welsche in verblichenen Jeans und roter Bluse, war im Restaurant beim Aufräumen. Zum Teil war noch aufgestuhlt. Suzette hatte den Staubsauger bis in alle Ecken geschoben und war im Begriff, den Rest der Stühle wieder hinzustellen. Sie strich sich mit der Hand das schwarzgelockte Haar aus der Stirn. „Bonjour commissaire, toujours matinal“, begrüsste sie Kamber, als er zur Tür eintrat. „Guten Tag, Mademoiselle Suzette“, erwiderte er. Mit einer den Raum umfassenden Geste und mit anerkennendem Nicken fügte er bei: „Wo Sie sind, ist immer alles blitzblank und in bester Ordnung, félicitations!“ Suzette fragte, ob er das Frühstück wünsche. Er rieb sich die Hände. „Sehr gern“, sagte er, denn nach dem Morgenschwimmen meldete sich der Hunger. Suzette kannte seine Wünsche und brachte ihm Fruchtsaft, kräftiges dunkles Brot, Butter, Honig und starken heissen Kaffee, der seinen feinen Duft bis zur Tür verströmte. Im Radio sang Edith Piaf „Dansez, dansez Mylord“. Suzette summte mit. Kamber blickte durch die Fensterscheiben. Der Briefträger, ein junger Mann mit langen schwarzen Haaren, kam auf seinem Motorrad dahergefahren. Er stellte es lässig an den Gartenzaun, betrat die Gaststube und übergab Suzette die Postsachen. Irgendetwas sagte er ihr leise ins Ohr. Suzette lachte auf und drohte ihm mit dem Zeigfinger. Der Briefträger grüsste den Kommissar, verliess die Gaststube und schwang sich wieder auf sein Motorrad. Suzette sah die Briefschaften durch, nach einiger Zeit kam sie an den Tisch Kambers. „Votre courrier, commissaire“. Es war nichts Dringendes, die gestrige Zeitung, eine kleine ergänzende Weisung seines Kommandanten, der Brief einer besorgten Mutter, deren Sohn in ein Strafverfahren verwickelt war. Nach dem Morgenkaffee nahm Kamber seine Shag-Pfeife aus der Tasche, kratzte sie gründlich aus und stopfte mit Sorgfalt den feinen Holländer Tabak ein, den er in einer flachen Metalldose bei sich hatte. Das Streichholz flammte auf, die ersten Rauchkringel des Tages stiegen in die Luft, die ersten Züge aus der Pfeife waren stets ein besonderer Genuss. „Ça sent bon“, bemerkte Suzette im Vorbeigehen. Kamber blieb eine Weile sitzen und genoss die morgendliche Stille.
  • Formate: epub
  • ISBN: 9783905960259
  • Verlag: UNIVERSAL FRAME
  • Autor: Sven Dolder
  • EAN: 9783905960259
  • Buchtyp: E-book
  • Sprache: Deutsch
  • Kopierschutz: Kein Kopierschutz
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Kamber, Kommissar
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