Michael F. Zimmermann
DIE KUNST DES
19. JAHRHUNDERTS
REALISMUS – IMPRESSIONISMUS –
SYMBOLISMUS
C.H.Beck
Die Kunst des 19. Jahrhunderts ist geprägt durch den Konflikt zwischen einer immer phantastischeren Historienmalerei und Tendenzen, die sich entschieden dem modernen Leben zuwandten. Im Realismus und im Naturalismus äußerte sich der wissenschaftliche, unternehmerische Geist des Industriezeitalters, aber auch die Sorge um die soziale Frage. Ihnen folgten Gegenströmungen wie der Dekadentismus und der Symbolismus, in denen die Innenwelt in den Vordergrund rückte. Michael F. Zimmermann erläutert, wie die verschiedenen «ismen» entstanden, was sie voneinander unterscheidet und wo die Grenzen zwischen ihnen fließend werden. Er stellt ihre Protagonisten wie auch die großen Einzelgestalten vor, die sich einer eindeutigen Zuordnung entzogen. Schließlich führt er in die neuen Medien dieser Zeit ein, allen voran die Fotografie, und erklärt, wie sie die Kunst der Epoche insgesamt veränderten.
Michael F. Zimmermann ist Professor für Kunstgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Lovis Corinth (2008).
I. Einführung: Die Industrialisierung der Bilder und die Befreiung der künstlerischen Subjektivität
Profil und Aktualität der Epoche
Eine neue Bildkultur
Suggestion und Reflexion
Zu diesem Buch
II. Kunst und Spektakel: Eine Begegnung im Jahre 1882
Im Varieté-Theater
Paris im Femininum
Der Betrachter: einbezogen und ausgeschlossen
III. Kunst im Zeitalter der -ismen I: Naturalismus – Impressionismus
«Akademische» Kunst, Kitsch und art pompier
Vorläufer des Impressionismus: Realismus und Naturalismus
Die Impressionisten als «Unnachgiebige»
IV. Kunst im Zeitalter der -ismen II: Dekadentismus – Symbolismus – Postimpressionismus
Dekadenz, Symbolismus und ihre Genealogie
Konvergierende Tendenzen: Der internationale Symbolismus
Zwischen Primitivismus und Ästhetizismus: Gauguin und sein Kreis
Hodler, Klimt, Munch: Der Tod im Leben
Cézanne, der große Außenseiter: Das Bild im Werden und das unmögliche Meisterwerk
V. Die Phantasie in der Epoche der Industrialisierung: Das System der Künste und der Medien
Die Fotografie und ihre Anwendungsbereiche
Das gedruckte Bild und die Durchdringung der Gesellschaft mit Bildern
Die Entstehung des modernen Bildplakats
Literaturhinweise
Bildnachweis
Personenregister
Im Zentrum der Kunst von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Belle Époque um die Jahrhundertwende steht die Malerei des Impressionismus – zunächst eine abfällige Bezeichnung für die Arbeiten von Künstlern, denen man vorwarf, sich mit flüchtigen Eindrücken zufriedenzugeben, ohne zu vollgültigen Werken zu gelangen. Die genannte Zeitspanne ist aber ebenso die Epoche der Industrialisierung, die auch die Reproduktion und die Produktion der Bilder erfasste: Neben die Gemälde und Skulpturen traten Illustrationen, Fotografien und schließlich Filme. Sie vermittelten Vorstellungen von fernen Welten, aber auch von der eigenen Gesellschaft, von den Reichen und Schönen wie von den Elenden und Hungernden. Das Publikum wurde durch eine steigende Zahl von Bildern gebildet und unterhalten, manipuliert und organisiert. Schließlich erlebte die Zeit auch erste Triumphe des Jugendstils und des Art Nouveau, der Konsumgesellschaft sowie des Vergnügungsbetriebs vom Varieté-Theater bis zum Film.
Der Impressionismus führt eine aufstrebende urbane Mittelschicht vor. Sie ergreift von der Landschaft Besitz, die immer mehr in die Reichweite der neuen Verkehrsmittel kommt. Natur ist hier nicht mehr schicksalhafte Gegenkraft des menschlichen Strebens. Für Ausflügler und für Touristen wird sie zur Stimmung. Diese auch sozial immer mobilere Gesellschaft findet Eingang in unser heutiges imaginäres Museum: Im Impressionismus begegnen wir uns selbst. Hervorgegangen war er aus Realismus und Naturalismus, deren Hauptvertreter wie Gustave Courbet und Jean-François Millet, später Wilhelm Leibl und Max Liebermann dem bürgerlichen Kunstpublikum die oft noch düsteren Welten einer vorindustriellen, vom Fortschritt benachteiligten Welt präsentierten. Die fortschrittsgläubige Zeit wandte sich zuerst dem Fremden zu, dem vom Fortschritt Ausgeschlossenen, bevor das Eigene durch Bilder neu erlebbar gemacht wurde. Zeitgleich setzten sozialistische und kommunistische Bewegungen die soziale Frage auf die Agenda, und Realisten wie Naturalisten schlossen sich ihnen an. Erst im Impressionismus triumphierte dann eine unternehmerische Generation, die von Wissenschaft, Technik und freier Warenzirkulation, von Arbeit und Kapital die Lösung der historischen Herausforderungen erwartete. Der Aufbruch hielt jedoch nicht ewig an: Enttäuscht von der industrialisierten Welt, aber auch vom Alltag parlamentarischer Debatten, schuf man wieder Platz für Träume und Phantasien, für die Mythen und Religionen aller Zeiten. Die Gegenbewegungen fasste man bald unter dem Stichwort des Symbolismus zusammen.
Der zeitliche Rahmen dieser Entwicklungen wird durch die Jahre 1848 und 1900 abgesteckt. Am Anfang standen Revolutionen, die seit März 1848 ganz Europa erschütterten und – trotz ihres Scheiterns – Ziele der Emanzipation und Demokratisierung setzten. Das Ende markiert ein Medienereignis, die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900, auf der sich die Belle Époque feierte. Dazwischen lag der Aufbau moderner Nationalstaaten, besonders in Italien und Deutschland, dem im Ersten Weltkrieg der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches folgen sollten. Prägend für die Epoche waren auch die Fortführung des älteren Kolonialismus bis zur Aufteilung der gesamten Welt sowie die Entdeckungen Charles Darwins über die Evolution von Mensch und Tier durch natürliche Zuchtwahl sowie ihre Auswirkungen auf Sozialdarwinismus, Nationalismus und Rassismus.
Die Welt der Kunst des späteren 19. Jahrhunderts soll in diesem Buch von ihrem Zentrum aus betrachtet werden: «Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts», so Walter Benjamin 1935, ist ein Kosmos, ein gebauter Traum des neuen Bürgertums, in dem das Bild, das sich die Moderne von sich selber machte, immer wieder neu ausgemalt wurde.
Seit der Aufklärung waren die Bilder aus ihrer ursprünglichen Einbettung in gesellschaftliche Rituale und den religiösen Kult entlassen worden. Bildgattungen wie die Historien- und Landschaftsmalerei verloren ihre Bindung an überkommene Erwartungshaltungen. Das Glück fand sich nicht mehr in Arkadien, in der Idylle oder im Interieur, sondern in diesseitigen Träumen von Luxus und Erotik, die man jedoch in eine ausschweifende Antike oder in einen «ewigen» Orient hineinprojizierte. Umgekehrt war der Schrecken nicht mehr in der Unterwelt oder in Martyrien beheimatet, sondern fand sich in Krieg und Tod, Krankheit und Wahnsinn. In immer neuen Schüben hatte zuvor die Romantik als eine «permanente Revolution» (Charles Rosen und Henry Zerner) den Bildern neue Höhen und Tiefen des Emotionalen erschlossen. Seit Mitte des Jahrhunderts griff dann die Fotografie in die Produktion und Zirkulation der Bilder ein.
Nach den Revolutionen des Jahres 1848 warfen Künstler mit vorher ungekannter Insistenz in ihren Werken auch ethische Fragen an das Bild auf: Vermittelten Bilder überhaupt ein verantwortbares Bild des Menschen und der Welt als Raum für einzelnes und gesellschaftliches Agieren? Wenn Courbet 1849 die verrohten Steinklopfer an der Straße durch das Tal der Loue zeigte, so wollte er die Zeitgenossen mit dem übersehenen Leben konfrontieren, dem alle menschlichen Rechte verwehrt wurden. Die seinerzeit zirkulierenden Bilder hingegen wurden dieser Wirklichkeit nicht gerecht. Die Stellungnahme zur sozialen Frage wurde untrennbar von der durch jeden Einzelnen zu verantwortenden Suche nach seinem Platz. Karrieren wie die Courbets und Manets, Vincent van Goghs oder Edvard Munchs zeugen von dieser Suche, zugleich nach persönlichem und gesellschaftlichem Sinn.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte das Leben in ein Spannungsfeld zwischen Idealisierung und Kritik: So wurde die Familie zum Idyll stilisiert, aber auch als Ursprung von Ängsten und Neurosen befragt. Die Nation wurde zur ewigen, überhistorischen Heimat ihrer Bürger übersteigert, aber auch als Ort der Ungleichheit und der rassistischen Selbstabschließung kritisiert. Das Geschlechterverhältnis wurde auf die Klischees öffentlicher Männlichkeit und privater Weiblichkeit, aggressiver Welteroberung und mütterlicher Erfüllung reduziert. Frauen verkörperten das «ewig Weibliche», «fatal» für die Männer, die in ihnen der Natur und dem Tod begegneten. Zugleich fanden Künstlerinnen, die, wie Berthe Morisot oder Mary Cassatt, emanzipiert am öffentlichen Leben teilnahmen, allgemeine Anerkennung. Die Religion wurde mit neuer Innigkeit einer vielleicht allzu bilderfreudigen Phantasie nahegebracht. Zugleich wurde sie als Feindin der Aufklärung karikiert oder mit anderen Religionen quergelesen – synkretistisch und dadurch relativierend. Aufklärung schließlich wurde als Religion des Fortschritts verabsolutiert. Oder sie wurde als lähmende Krankheit einer durch überzogene Arbeitsteilung dekadent gewordenen Gesellschaft verabschiedet, welche nur durch die Gegenmythen des Primitivismus heilbar erschien.
Das spätere 19. Jahrhundert lebte von diesen Antagonismen. Im gleichen Zuge spaltete sich die Welt der Bilder auf in solche, die auf unmittelbare Wirkung und gesteigerte Illusion aus waren, und andere, die zur Reflexion einluden. Die Reflexion galt den Phantasmagorien, die eine immer opulentere Historienmalerei vorführte, zunehmend aber auch der Werbung, dem käuflichen Spektakel und der politischen Propaganda. Sie betraf jedoch ebenso das Bild selbst: Im Bild wurde philosophisch ausgelotet, was Bilder eigentlich leisten und welche Freiheiten sie der Imagination gegenüber den Manipulationen der industrialisierten Phantasie erschließen. Immer deutlicher standen Suggestion und Bildaufklärung einander gegenüber – hier der Blickfang, dort die Einladung zum zweiten Blick. Über Kunst wurde im späteren 19. Jahrhundert nicht nur philosophiert, sondern sie wurde selbst philosophisch. Eine Minderheit im Kunstbetrieb hatte sich von der industrialisierten Bildproduktion abgesetzt und einen davor geschützten Bereich reklamiert. Solche Selbstkritik der Gesellschaft im Medium des Bildes wurde in diesem Bereich einer autonomen Kunst toleriert und bald sogar erwartet. Zwar war die Kunst durchweg geprägt von den großen Themen des 19. Jahrhunderts, Leben, Arbeit, Eros und Geschlecht, und oft spielte sie die Begleitmusik zum Siegeszug des Liberalismus. Den Aus- und Zurichtungen des Menschen durch neue Ideologien – von Anarchismus, Sozialismus und Kommunismus bis zu Nationalismus, Sozialdarwinismus, Imperialismus und Rassismus – stellte die Kunst jedoch zugleich immer wieder neue Bereiche des Menschlichen entgegen, die im Kanon des Akzeptablen noch keinen Platz hatten: die Kreativität von «Naturvölkern», die keineswegs nur abwertend als «Primitive» bezeichnet wurden, die schöpferische Kraft der Kinder, Außenseiter und Geisteskranken, schließlich die mäandrierenden Tagträume, in denen eine unzensierte Phantasie in die Wunschbereiche jenseits der Stereotypen vorstieß.
Im 19. Jahrhundert eroberte sich die Kunst eine Freiheit, die sie zuvor niemals besessen hatte. Erst seit dem späten 18. Jahrhundert galt sie als eigener Zugang zur Wahrheit. Ihre Freiheit wurde durch autonome ästhetische Standards fernab aller kommerziellen oder ideologischen Indienstnahmen gesichert. Sie zielte auf gesellschaftliche Wirksamkeit – allerdings auf eine Wirksamkeit von eigener, genuin künstlerischer Art. In diesem ausdifferenzierten Bereich autonomer Kunst hatte das Menschliche sein Recht, auch gegen vorgefasste Vorstellungen immer neu zu Gestalt – und damit zu sich selbst – zu finden. Die Ausübung einer freien, autonomen Kunst wird heute zu Recht als unveräußerliches Menschenrecht für alle beansprucht. Die institutionelle Verankerung dieses Rechts aber hat im 19. Jahrhundert begonnen.
In den folgenden Kapiteln wird der Leser zunächst vor einem Bild von Édouard Manet in das Jahr 1882 entführt. Anschließend werden künstlerische Programme um die verschiedenen -ismen des späteren 19. Jahrhunderts vorgestellt und exemplarische Werke besprochen. Abschließend werden neue Medien von der Fotografie bis zum Bildplakat erörtert. Wer sich über die Institutionsgeschichte des Kunstsystems informieren will, findet dazu einen Text auf der Website des Autors (s. Literaturhinweise, S. 123). Der Leser kann die Kapitel einzeln lesen oder die Reihenfolge der Lektüre ändern.
In der Kunstgeschichte beherrschte bis in die 1960er Jahre eine zwar geistesgeschichtlich grundierte, doch prinzipiell werkimmanent vorgehende Formgeschichte das Feld. Man schilderte, wie die Kunst sich in dem hier behandelten Zeitraum immer mehr von den Traditionen des Pittoresken verabschiedete und ihre eigenen Verfahren vorzeigte, statt sie hinter der Illusion zu verbergen. Die Fläche des Bildes wurde von Paul Cézanne bis zum Kubismus als die des objet-tableau, des Gemäldes als Gegenstand, akzeptiert; die Farbe wurde von Manet bis zu Kandinsky fortschreitend von der Bindung an die dargestellten Objekte gelöst und als abstraktes Ausdrucksmittel zu sich selbst befreit. Ziel war die Abstraktion als internationale Kunstsprache, die in der amerikanischen Malerei seit 1945 und in der «westlichen» Kunst der 1950er Jahre Triumphe feierte. Dem trat seit den 1970er Jahren eine vor allem sozialgeschichtlich sensible New Art History entgegen. Die Autonomie einer ihren eigenen Formgesetzen folgenden Kunst suchte sie als «bürgerliche Illusion» zu entlarven. Von einer Sozialgeschichte, die ganze Gesellschaftsformationen wie auf der Bühne nach Klassen aufmarschieren und die Kunstwerke diesen «Hintergrund» illustrieren lässt, hat man sich heute jedoch ebenso verabschiedet wie vom utopischen Formalismus der klassischen Moderne. Soziale Verhältnisse, wissenschaftliche und kulturelle Entwicklungen, ideologische Formationen bilden gemeinsam das diskursive Gewebe, welches das Denken und Leben bestimmt. Im späteren 19. Jahrhundert spielten dabei Faktoren wie Völkerpsychologie und Nationalismus, Darwinismus und Rassismus eine Rolle, aber auch zukunftsweisende Tendenzen wie die Anfänge eines transnationalen Ausstellungs- und Publikationswesens, die physiologische Erforschung der Sinnesorgane und des Nervensystems, schließlich die Begründung der modernen Soziologie und Psychologie (einschließlich der Psychoanalyse).
Der Philosoph und Historiker Michel Foucault, auf den die Analyse von Diskurssystemen zurückgeht, hat auch den Begriff des medialen «Dispositivs» erfunden. Gemeint ist damit das System der Medien und der Künste, das die Produktion wie Rezeption von Texten und Bildern insgesamt reguliert. Die Begriffe «Diskurs» und «Dispositiv» führen uns darauf, dass selbst unsere Wünsche und Träume, so unmittelbar sie von uns Besitz ergreifen, doch vermittelt (eben durch «Medien») sind. Eine Kunstgeschichte, die danach fragt, was uns ein Künstler sagen will, verliert vor diesem Hintergrund ihren Sinn. Statt der Intention des Künstlers sollten wir uns dem zuwenden, was er tut, seinen Verfahren, seinen Positionen zum Gegebenen. Die Diskursanalyse bemüht sich darum, ein Produkt der Bildkultur in verschiedene Kontexte zu stellen. Die Untersuchung medialer Dispositive ist darauf aus, den Zusammenhang der Produktion und Rezeption von Medien wie Malerei, Fotografie oder Plakatkunst zu durchleuchten. Dafür ist die Rezeptionsgeschichte unerlässlich. Sie wertet die Quellen aus, welche die tatsächliche Wirkung eines Werkes historisch bezeugen, während eine fragwürdig gewordene Wirkungsästhetik erklärt, wie ein Werk vor dem Hintergrund der kunsthistorischen Tradition vermeintlich wirken muss. Ein Gemälde wie Manets Bar in den Folies-Bergère wird in diesem Buch nicht aus den vermeintlichen Intentionen des Künstlers, auch nicht aus vorherigen Werken und Traditionen erklärt, sondern in ein intermediales Feld gestellt. Titelseiten der illustrierten Presse, Karikaturen, Plakate und Romane markieren den Kontext, zu dem Manet Stellung bezog. Welche Wahrheiten ein solches Kunstwerk einem modernen, großstädtischen Leben entreißt, welche Facetten des Menschlichen es neu erschließt, dies bleibt die Hauptfrage.
Versetzen wir uns in die Epoche des späteren 19. Jahrhunderts und blicken mit einem Kunden in die Augen einer geistesabwesenden Bardame (Abb. 6). Die Örtlichkeit, an der es zu dieser etwas verstörenden Blickbegegnung kommt, entspricht so wenig den Standards des Akzeptablen wie ihre Wahl als Schauplatz eines Gemäldes, das uns dazu einlädt, uns in den so flüchtigen Augenblick hinein zu versenken. Wir haben uns in die Folies-Bergère, ein 1869 nahe der rue Bergère gegründetes Varieté-Theater, verloren. Schon der Ort steht für den Eroberungszug von Kommerz und Spektakel. Auf dem Grundstück hatte 1860 ein Geschäft mit angeschlossenem Garten, einer folie, eröffnet, in der man zu Getränken durch Chansons und Tanz unterhalten wurde. 1864 war eine salle des spectacles angefügt worden. 1869 schloss man den Laden und erweiterte dafür die Darbietungen – nach dem Vorbild des Londoner Theaters Alhambra – zum umfassenderen Programm eines Varieté-Theaters. Geboten wurde nun in stetigem Wechsel eine Mischung aus meist etwas anstößigen Liedern, Volkstheater und Commedia dell’Arte, Pantomimen und Operetten, Clownerien und Akrobatik, vor allem aber Ballett und aufreizenden Cancan-Tänzen. Das Programm war also populär, aber anspruchsvoller und abwechslungsreicher als das der sogenannten café-concerts und der städtischen Zirkusse. Neuartige, in bunten Farben gedruckte Bildplakate warben für das Etablissement, das mit einem Eintrittspreis von 2 Francs pro Abend nicht die armen Leute anzog. Als Gestalter der Poster konnten populäre Künstler von Jules Chéret (Abb. 1) bis Henri de Toulouse-Lautrec gewonnen werden. Bald war nicht nur das Programm auf seine Art exklusiv, sondern auch das Publikum. Die Besucher verharrten keinesfalls passiv im Saal, sondern erlebten sich selbst als Teil des Spektakels. Nach den Ereignissen der Jahre 1870/71 übernahm ein neuer Pächter, Léon Sari, das Etablissement. Auf einer umlaufenden Empore des Saales ließ er kurzerhand die hinteren Sitzreihen entfernen und einen Umgang anlegen. Dieser déambulatoire wurde zur bevorzugten Promenade der Besucherinnen und ihrer Verehrer, sozusagen ein zu karnavalesker Stimmung gesteigerter Boulevard. Das Volk, das auf dieser inszenierten Promenade lustwandelte, konnte seinem eigenen Treiben in großen Spiegeln an der Wand zusehen. An einer Reihe von Bars, die gern an junge Engländerinnen verpachtet wurden, bot man anregende Getränke feil.
In diesem lärmenden Spektakel lässt uns Manet innehalten: Während wir gerade ein Getränk bestellt haben, verweilt unser Blick unerwidert für einen Augenblick auf dem Gesicht der momentan etwas verträumten Bardame. Mit beiden Armen auf die Kante ihres Tresens gestützt, bietet sie ihre durch das Korsett wie gedrechselt wirkende Silhouette dem Betrachter frontal dar. Vor ihren hellen Händen entfalten sich Stillleben erlesener Flaschen mit bekannten Etiketten, auch eine Fruchtschale mit Mandarinen ist zu sehen, alles Dinge, die sie servieren wird. Bald wird sie sicher ein Glas neben das kleine Blumenväschen vor sich stellen; der Perlwein wird neben der gelben und der rosa Rose vielleicht noch duftiger schäumen. Ihr Dekolleté ziert ein weiteres Blumenarrangement, ebenso perfekt wie fragil. Wenige Jahre bevor man erotisch attraktive Frauen auf Plakaten systematisch als Vermittlerinnen von Werbebotschaften zu zeigen beginnt, führt Manet uns eine moderne Abundantia