Impressum
Autor: Derik Peterson
AutorEmail: derikpeterson@t-online.de
Herausgeber:
Dirk Jost
Am Mühlbach 5
64853 Otzberg
Deutschland/Germany
derikpeterson@t-online.de
146 Seite(n)
78723 Wörter
409256 Zeichen
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Buchbeschreibung
1 Was einmal war
2 Eine Geburt
3 Waging am See
4 Der Aufbruch
5 Eine unangenehme Überraschung
6 Dunkelheit und Feuer
7 Durch den Wald
8 Endlich Menschen
9 Grenzfeste Riem
10 Bayrische Gastfreundschaft
11 Ein neues Zuhause
12 Sabine
13 Krieg
14 Die Schlacht
15 Eine Atempause
16 Der Aufbruch
17 Die Elfen von Larithin
18 Jaritha
19 Drachenfurcht
20 Wieder in der Feste
21 Der Turm
22 Die Entscheidung
Nachwort
Dieses Buch widme ich Sabrina M., die immer wieder auf‘s Neue den schweren Weg gegangen ist, mir begreiflich zu machen, dass konstruktive Kritik nicht schlimm ist.
Und den Kleinen.
Meinen Neffen, der Nichte und Freya.
Sabrina hat auch noch ein unglaublich tolles Cover gemalt, das aber leider irgendwann den Weg alles Irdischen gehen musste. Ich danke dir für das Cover, die Kritik und eine tolle Zeit.
Mein Dank geht auch meine anderen Helfer, Nicole, Matthias und Andreas. Ohne euch alle gäbe es die Althea Reihe nicht.
Die Welt hat sich in einer Katastrophe verändert, Elektrizität funktioniert nicht mehr, dafür jetzt aber Magie. Was übrigens so nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit passiert ist. Diesmal war die Umwandlung heftig, daher haben sich viele der überlebenden Menschen durch das spontane Erwachen der Magie verändert, in Ork, Zwerge, Elfen und noch einige andere magische Rassen.
Eine Elfin namens Althea versucht, ihren Weg zu finden, in einer völlig veränderten und fremden Welt und noch dazu in einem mindestens ebenso fremden Körper. Dabei ist noch ihr kleinstes Problem, dass sie einmal ein Mann gewesen war und sie in ihrem Körper kaum noch zurechtkommt.
Ihr weit größeres Problem ist, dass die Welt ein sehr gewalttätiger Ort geworden ist, auf den sie so nicht vorbereitet war. Sie lernt es auf die harte Tour zu überleben, auf einem sehr steinigen Weg in eine unbekannte Zukunft, in der alle Würfel für die Menschen neu gerollt wurden.
Es begann alles mit einem Sonnenuntergang. Sie wissen schon, einer derjenigen, die man nicht so leicht vergisst. Manchmal zehrt man noch wochenlang von der einen Erinnerung an einen solchen Moment. Unsere Sonne hing als riesiger, roter Feuerball am Horizont, ihr helles und Leben spendendes Licht spiegelte sich in den schneebedeckten Berggipfeln der Alpen wieder. Ich saß alleine auf einer hölzernen Bank inmitten einer grünen Wiese am Waginger See und genoss das wunderbare Naturschauspiel.
Es sah für mich so aus, als würden die Berge brennen, als hätte ein unheimliches und geheimnisvolles Feuer den Felsen und den Schnee entzündet. Es war bitterkalt auf der Bank, aber ich ertrug die Kälte problemlos. Also eigentlich, um ganz ehrlich zu sein, vielleicht auch doch eher ein bisschen weniger problemlos. Bestimmt aber doch wenigstens für eine Weile, belog ich mich selbst nicht wirklich sehr erfolgreich. Ich hing meinen düsteren Gedanken nach und sah trotzdem weiter gebannt nach Süden, ich konnte meine Augen einfach nicht von den feuerroten Berggipfeln lösen. Das fantastische Naturschauspiel hatte mein Innerstes fest im Griff. Als dann jedoch die Kälte anfing mir so richtig in die Knochen zu kriechen, konnte ich das schon bald nicht mehr ignorieren, die Zeit, mich selbst zu belügen, war schneller vorbei, als mir lieb war. Vielleicht war Spätherbst, oder besser gesagt Frühwinter, doch nicht die allerbeste Jahreszeit, um draußen einen Sonnenuntergang zu bewundern. Jedenfalls nicht für mich. Einmal Stubenhocker ...
Wir befanden uns in den ersten Geburtswehen des neuen Jahrtausends, es war die Zeit vor der großen Umwandlung, die damals die ganze Welt umfasste. Wenn ich es nur irgendwie geahnt hätte, was mich alles in der Zukunft erwartet, hätte ich mir deutlich weniger dunkle Gedanken gemacht und wäre stattdessen einfach laut schreiend davon gelaufen. Nicht, dass es mir irgendetwas genutzt hätte. Ich denke auch heute noch oft und gerne an die alten und friedlichen Zeiten mit warmen Erinnerungen zurück, vielleicht sogar ein wenig wärmer, als es mein Leben damals verdient hatte. Die Vergangenheit hatte jedoch immer etwas an sich, das einen dazu verführt, sie deutlich besser in der Erinnerung zu halten, als sie es eigentlich verdient.
Unsere Welt war aber auch wirklich nicht mehr ganz so schrecklich wie nicht einmal fünfzig Jahre davor. Es gab immer noch viel zu viel Böses und Furchtbares, Unmenschliches und Grauenhaftes. Aber es gab auch Hoffnung. Hoffnung auf eine Zukunft ohne Krieg, auf einen stabilen Frieden, ohne die furchtbaren Waffen des einundzwanzigsten Jahrhunderts in einem weiteren Weltkrieg benutzen zu müssen. Trotzdem, wenn man mich gerade in diesem Augenblick danach gefragt hätte, hätte ich wohl ausdrücklich nach Veränderungen verlangt. Manchen kann man es eben nie recht machen.
Wieder einmal alleine, hatte ich ein weiteres Mal bewiesen, dass ich offenbar zu einer einigermaßen glücklichen und ausgeglichenen Beziehung nicht in der Lage war. Ich vermisste diesmal meine Ex nicht besonders, wie auch die Mädchen davor, eigentlich war ich einfach nur erleichtert und genoss meine Einsamkeit. Merkwürdig, wie sehr sich die Gefühle mit der Zeit verändern. Nach einer gewissen Zeit der Einsamkeit wird das Gefühl immer beklemmender, immer unangenehmer, es verschiebt sich von etwas Positiven zu etwas Negativen.
Aber gerade jetzt erholte ich mich einfach nur von der erdrückenden Enge der Beziehung, die Einsamkeit war etwas Positives und Schönes für mich. Ich liebte das Mädel zwar immer noch sehr, aber die Luft zum Atmen tat mir gerade ziemlich gut, obwohl ich sie vermutlich nie wieder sehen würde. Ich war nicht mehr der Jüngste, aber auch nicht wirklich alt. Als einundvierzigjähriger Single macht man sich schon Gedanken, wie das Ganze wohl einmal mit einem enden würde. Ich wühlte mich tief in meinem ganz privaten Selbstmitleid. Eine eigene Familie, das war etwas, dass ich mir schon lange wünschte. Eigentlich schon in einem Alter, als meine Altersgenossen noch darüber nachgedacht haben, wie sie wohl das nächste Autotuning finanzieren konnten.
Aber trotz allem war es mir nie vergönnt gewesen mich in einer Beziehung wiederzufinden, in der ich so etwas verwirklichen wollte oder konnte. Inzwischen war ich mir ziemlich sicher, dass es wohl an mir liegen musste. Mir war zwar nicht ganz klar, was genau der Grund dafür war, aber es musste einfach an mir liegen. Der Gedanke, dass es an allen anderen lag, war einfach zu beängstigend und zu verrückt.
Wie war es nur wieder dazu gekommen? Nun, das Übliche, der Computer und die Einsamkeit, die er mit sich brachte. In meinen Beziehungen waren Frauen niemals auf einen anderen Menschen eifersüchtig. Es war immer diese merkwürdige Maschine, die mein Leben so von Grund auf verändert hatte, nachdem ich den ersten Kontakt hinter mich gebracht hatte. Nach einigen Jahren und endlosen Studien, die ich mit den Augen vor dem Schirm und mit der Nase in Fachliteratur verbrachte, hatte ich mir in der Informationstechnologie-Branche einen Namen gemacht. Ich war anerkannter Spezialist und war auch ein bisschen stolz darauf, mit dieser Maschine Dinge vollbringen zu können, die für andere unmöglich waren.
Leider kostet es sehr viel Zeit, so gut zu werden, und das bekamen auch meine Partnerinnen ziemlich früh mit. Den Rest der Beziehung beschreibe ich gerne mit Phasen. Erst kommt die „Ich kann nicht glauben, dass diese Maschine für dich wichtiger ist, als ich es bin“-Phase, dann kommt die „Wenn ich jetzt nicht hart vorgehe, wird er immer mehr Zeit mit dieser Maschine als mit mir verbringen“-Phase, und dann kommt der lange und steinige Weg der Entfremdung. Der letzte Ausbruch, um der zu diesem Zeitpunkt völlig zerrütteten Beziehung schließlich zu entkommen, der war dann eigentlich nur noch Formsache, was ihn jedoch deswegen nicht schmerzloser machte.
Nun ja, eigentlich sollte ich mich doch mittlerweile an das alles gewöhnt haben. Dieses Mal war ich es gewesen, der die logische finale Konsequenz gezogen hatte. Was aber nicht immer so gewesen war. Und mit jeder weiteren Trennung tat es mehr weh, es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich einfach nicht. Ganz im Gegenteil. Es wird immer schlimmer. Es sind die Schmerzen in der Seele, die bleiben einem erhalten. Sie werden vielleicht taub, vernarben, bleiben aber für immer präsent.
Vielleicht ist es tatsächlich unmöglich, für jemanden mit meinem Beruf, eine wirklich glückliche Beziehung zu führen. Oder war es am Ende doch mein merkwürdiger Charakter, in dem das große Problem meiner Beziehungsunfähigkeit lag?
Eine andere Vermutung hatte ich noch. Ich war als ziemlich nett bekannt, auch weibliche Freunde hatte ich in meinem Leben immer reichlich gehabt. Nette Männer sind aber langweilig, viele Frauen bevorzugen meiner Meinung nach einen wilden und gefährlichen Mann, eben einen so richtig männlichen. Den können sie dann erfolgreich zähmen und das Familienglück ist perfekt. In dieses Bild passte ich nun mal gar nicht als überzeugter Pazifist. Ich habe meinen Wehrdienst aber trotzdem hinter mich gebracht. Meistens tue ich immer das, was gerade getan werden muss. Anweisungen Folge zu leisten fiel mir nicht sehr schwer.
Die Sonne war inzwischen nur noch eine kleine Scheibe und ich betrachtete bewundernd den rot glühenden Himmel und die wenigen Wolken, die sich gerade dort befanden. Dann versank die Sonne komplett hinter dem Horizont und es wurde dunkel.
Es ist immer wieder interessant, wie plötzlich sich manchmal der Tag dem Ende entgegen neigt und man sich in völliger Dunkelheit wiederfindet. Zeit ist wirklich relativ, in manchen Momenten rast sie dahin, in anderen ist sie zäh wie Honig. Oder erschien es mir einfach nur so, weil ich aus meinen viel zu trüben Gedanken erwachte? Ich musste mich jedenfalls im Stockdunklen an den Abstieg machen, in der Hoffnung, irgendwo mein Auto wiederzufinden. Mein guter, alter Opel Ascona Automatik, ein Familienerbstück, der mir deshalb sehr am Herzen hing, auch wenn er nicht mehr ganz der Jüngste war.
Dann wurde es auf einmal dunkler als nur dunkel. Alles um mich herum wurde abgrundtief und bodenlos schwarz. Eine absolute und totale Schwärze, eine Schwärze, die sich nicht nur durch das völlige Fehlen von Licht darstellte. Für einen Moment kam es mir vor, als wäre ich völlig alleine und einsam auf der Welt. Das letzte und einzige Lebewesen, so weit meine Sinne reichten, um mich herum war nur noch das absolute Nichts.
Es war der 29. November 2001, an dem die Welt, so wie ich sie kannte, unterging.
Ich kann mich noch an einen brennenden Schmerz erinnern, der mein Bewusstsein kurz danach auslöschte. Ich fühlte mich wie ein Mensch, der von einem unglaublich heißen und lodernden Flammenwerfer gebadet wurde. Es war das Furchtbarste an Schmerz, was ich bis dahin erlebt hatte. Vermutlich versank ich deshalb ziemlich schnell in eine erlösende Ohnmacht - man kann nur ein gewisses Maß an Schmerz ertragen, bis das Unterbewusstsein für Linderung sorgt und einem das Licht ausknipst.
Ich erwachte irgendwo an einem irgendwann, ohne auch nur das geringste Zeitgefühl, wie lange ich wohl im Dazwischen gewesen war. Völlig orientierungslos starrte ich an eine weiße Decke mit einer doppelten Neonröhre. Das Licht war zwar ausgeschaltet, trotzdem war es ziemlich hell in dem Zimmer. Über mir hing ein weißes Regalbrett, wie man es oft hässlich und schmucklos über Krankenhausbetten fand. Mein Körper hing an einer deutlich zu großen Menge von Schläuchen, einer ging durch die Nase in meinen Körper und ein weiterer durch einen Katheter in den Arm. Ich fühlte mich seltsam und merkwürdig leicht, ich war versucht, mich am Bett festzuklammern, um nicht davonzuschweben. Dann verschwanden die merkwürdigen und beklemmenden Eindrücke und alles wurde wieder beruhigend dunkel und schwarz. Ich versank erneut in einer tiefen Bewusstlosigkeit.
Früher oder später erwachte ich erneut, meinem völlig unzuverlässigem Zeitgefühl nach vielleicht sogar Jahre nach dem ersten Mal, und blickte in das grelle, weiße Licht der Sonne, die durch ein Fenster schien. Es war ein sehr heller Tag, viel zu hell für die winterliche Jahreszeit fand ich, und die Heizung hatten sie hier wohl auch zu hoch aufgedreht, allerdings war es nicht unangenehm warm.
Ich schloss die Augen wieder, das grelle Licht schmerzte einfach unerträglich. Mein Körper fühlte sich an, als wäre eine Dampfwalze darüber gefahren, jeder einzelne Knochen und Muskel tat mir weh. Der Teil meines Körpers, der nicht schmerzte, war einfach nur völlig taub, sodass ich mir nicht mal sicher sein konnte, überhaupt noch alle Körperteile zu besitzen.
Es stank furchtbar hier, dieser Eindruck dominierte meine Sinne geradezu als Nächstes, nachdem ich erfolgreich die Schmerzen einigermaßen ausgeblendet hatte. Es war ein strenger Geruch nach Angst, altem Schweiß und Medizin. Noch dazu angereichert mit modrigem Pilzgeruch, was die Auswahl an Gerüchen nicht gerade verbesserte.
Ich setzte mich auf, was ich gleich darauf wieder bereute. Das ganze Zimmer drehte sich um mich herum, was doch eigentlich unmöglich war. Insbesondere, da ich doch sofort die Augen geschlossen hatte, als es damit anfing. Aber irgendwie war ich mir des Zimmers trotzdem noch bewusst. Und es drehte sich, völlig außer Acht lassend, dass es eigentlich völlig unmöglich war. Ich empfand das Zimmer sofort als ziemlich rücksichtslos.
Unendlich langsam beruhigte sich die ganze Sache, und die Welt und das Zimmer hörten irgendwann damit auf, sich zu drehen. Dafür kamen jetzt ganz neue Schmerzen und wurden mit jeder Sekunde schlimmer. Mein ganzer Körper fühle sich an, als würde ich in kochendes Wasser getaucht, meine Haut brannte und das Fleisch darunter wurde gerade von einem unbarmherzigen Höllenfeuer gar gekocht.
Ich erinnere mich nicht mehr daran, geschrien zu haben. Aber ich würde auch nicht dagegen wetten, die Schmerzen waren einfach unerträglich. Plötzlich und ohne Vorwarnung ebbten die brennenden Schmerzen jedoch genauso schnell ab, wie sie gekommen waren, und ich fing an, mich einigermaßen zu beruhigen. Mein Herz klopfte nicht mehr ganz so schnell, das Adrenalin und die Angst gingen etwas zurück. Und dann sehr viel später einmal, nach einer kleinen, gefühlten Ewigkeit, beschloss mein Körper, sich endlich etwas normaler anzufühlen. So wie sich ein Körper eben eigentlich so anfühlen sollte.
Als ich schließlich die Augen wieder öffnen konnte und mich umsah, erkannte ich mit getrübtem Blick wenigstens so viel, dass ich nach wie vor alleine in dem Zimmer war. Es sah nach einem normalen Krankenhauszimmer aus, aber irgendwie seltsam vernachlässigt, nicht so ordentlich gepflegt und desinfiziert, wie es sonst durch Heerscharen von Krankenschwestern sichergestellt wurde. Die Bettwäsche war nicht gerade sauber, auch meine eigene nicht, und eins der beiden anderen Betten in dem Zimmer war sogar umgeworfen.
Ich versuchte, mich aufzurichten, um aufzustehen, als plötzlich wieder alles dunkel wurde.
Das nächste Mal, als ich wieder aufwachte, fielen mir Bewegungen schon deutlich einfacher. Das vorherrschende Gefühl war zur Abwechslung grimmiger Hunger, und ich war schier am Verdursten, mein Mund war völlig trocken und verklebt. Leider konnte ich immer noch nicht vernünftig fokussieren, ich sah nach wie vor alles völlig verschwommen und unscharf.
Ich setzte mich erneut auf und bemerkte ein Ziehen an meinem Arm und an meiner Nase. Mein Arm war an einen leeren Tropf angeschlossen. Die Plastikkanüle steckte noch in meiner Vene. Mir wurde sofort übel. Ich hasste Nadeln. Ich hasse Nadeln auch heute immer noch, sie begegnen mir nur seltener. Ich zog sie zitternd und sehr vorsichtig heraus, es spritzte sofort ziemlich viel Blut aus der Wunde. Mir wurde noch übler. Ich bekam Panik, drückte den Daumen auf die Wunde und wartete. Ich hatte mich ziemlich eingesaut, das Bett war allerdings nicht merklich schmutziger dadurch. Erst nach einer ganzen Weile konnte ich endlich die Klebestreifen entfernen und den Daumen für etwas anderes nutzen.
Als Nächstes waren die Schläuche in meiner Nase dran. Ich zog daran und wurde mit einem Schmerz belohnt, der sich anfühlte, als ob ich gerade versuchte, mein Gehirn durch die Nase zu entfernen. Das Gefühl dieses Ding jetzt herausziehen zu müssen war jedoch übermächtig, also legte ich den Kopf in den Nacken und zog. Der Schmerz war mehr als nur eklig, meine Nase brannte, mein Kopf drohte zu explodieren und ich hatte immer wieder das Gefühl ersticken zu müssen, bis das Ding endlich heraus war. Ich atmete schnell und stoßweise, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
Ich schaute mich erneut in dem Zimmer um, und wieder war ich mir des Zimmers und der Dinge darin merkwürdig deutlich bewusst. Mir war aus irgendeinem Grund auch sofort klar, wo das Zimmer ein Waschbecken hatte, ohne dass ich diese Richtung blicken musste. Dort war Wasser, und ich war am Verdursten.
Ich stand vorsichtig auf, glücklicherweise diesmal bewegungsfähig, ohne gleich wieder in Ohnmacht zu fallen, und schwankte zum Waschbecken. Ich drehte den Wasserhahn auf und trank, genau wie jemand, der gerade einem wochenlangen Trip durch die Wüste entkommen war. Ich hielt mich trotzdem einigermaßen erfolgreich zurück und legte beim Trinken wenigstens ein paar Pausen ein, ich wollte das Wasser durchaus auch bei mir behalten.
Ich musste mich zum Hahn weiter als gewohnt nach unten bücken, was mir irgendwie falsch vorkam. Das Waschbecken musste wohl ziemlich tief hängen.
Mein Blick war anfangs immer noch ziemlich verschwommen, klärte sich aber zu meiner Beruhigung mittlerweile zunehmend auf. Das Wasser schmeckte besser und süßer als die großartigste Limonade. Zwar hatte ich Leitungswasser schon immer gemocht, das hier jedoch war echt einmalig, und es fühlte sich auf meinem Gesicht einfach wunderbar an. Viel passte erwartungsgemäß nicht in den Magen, und mir wurde trotz aller Vorsicht schnell übel.
Ich lehnte die Arme müde auf das Waschbecken und schaute in den Spiegel. Im Spiegel war jedoch nicht mein Spiegelbild, sondern ein ganz anderes Bild. Das Bild war unfassbar schön und absolut fotorealistisch, durch leichte Bewegungen bekam es sogar einen dreidimensionalen Eindruck. Eine wunderschöne Frau blickte mir entgegen. Ihr Haar war schulterlang, völlig weiß, und sehr, sehr fein, fast so fein wie Spinnenseide. Ihre Schönheit wurde allein dadurch getrübt, dass die Haare unangenehm matt und ziemlich verklebt waren, als hätte sie diese eine ganze Weile nicht gewaschen. Ihr Gesicht war fein geschnitten, zierlich und hatte eine kleine und gerade Nase. Sie war völlig ungeschminkt.
Ich mochte das an Frauen, Schminke war nicht mein Ding, war sie noch nie gewesen. Ihre Haut war sehr blass, man konnte leicht die blauen Adern am Hals durch die Haut hindurchsehen. Ihre Augen hatte eine unmenschliche, goldene Iris, mit kleinen senkrechten Schlitzen anstelle von menschlichen runden Pupillen, die mich neugierig anstarrten. Ihr Blick war sehr irritierend, ich war versucht, die Augen niederzuschlagen und ihrem Blick auszuweichen. Die Ohren waren deutlich länger als normal und oben spitz zulaufend. Sie sah fast genau so aus, wie ich mir die Elfen beziehungsweise Elben aus dem Herrn der Ringe immer vorgestellt hatte. Unwirklich schön und auch völlig unmenschlich in ihrer artfremden Schönheit.
Als ich den Kopf drehte, um mir ihre Ohren besser anschauen zu können, drehte sie ihren Kopf mit. Als wäre sie ein Mimic, der alle meine Bewegungen nachäfft. Ich schaute mir den merkwürdigen „Spiegel“ genauer an, um zu sehen, welche Art von Monitor das wohl war, und auch da machte sie wieder jede meiner Bewegungen mit. Ich hob meine rechte Hand, um den Spiegel zu berühren. Die Hand, die sich von unten in mein Blickfeld schob, war jedoch nicht meine Hand, es war ganz offensichtlich ihre Hand. Sie hatte sehr zierliche Hände, die zu ihrem Gesicht passten, fast schon zu lang und zu dünn für meinen Geschmack. Da die Finger etwas zu lang waren, machten sie sogar einen leicht spinnengliedrigen Eindruck. Ich führte meine Hand dicht vor die Augen, ihre Hand bewegte sich wieder mit.
Dann fielen auf einmal alle Puzzleteile zusammen, meine Realität machte einen fast merklichen Ruck, als die Perspektiven in den richtigen Rahmen rutschten, und mir wurde auf einmal klar, was ich da anblickte. Es war völlig unmöglich, es war total krank. So etwas gab es doch nicht, so etwas konnte es nicht geben. Nach einer Weile völliger Fassungslosigkeit begriff ich, wen ich da ansah. Ich selbst war diese Frau, ich war dieses Spiegelbild.
Ich berührte meine Wange und fühlte die zu dünnen Finger in ihrem Gesicht, in meinem Gesicht. Ich war sie und sie war ich. Ich griff in meine Haare, und diese fühlten sich genauso verklebt an, wie ihre ausschauten. Auch machte das Spiegelbild zuverlässig alle Bewegungen mit, die ich vorgab. Ich konnte die Realität nicht länger verleugnen, sie war zwar eine völlig unmögliche und verzerrte Realität, aber es war doch anscheinend jetzt meine Realität.
Ich zog mir die Haare vor die Augen, sie sahen genauso aus wie ihre. Unsicher schlug ich mir mit der flachen Hand fest auf die Wange. Der Schmerz fühlte sich sehr real an. Ich kniff mir in den Arm, auch hier keine Überraschungen, sondern einfach nur Schmerz.
Ich zog das Krankenhaushemd aus, ich war wie erwartet nackt darunter. Ich sah keine Haare. Ich war völlig haarlos, bis auf die auf dem Kopf und den Augenbrauen, nicht einmal die Unterarme wiesen welche auf. Die Haut passte zu dem Gesicht, sehr bleich und fast durchscheinend zart. Kein Gramm Fett, die Muskeln zeichneten sich unter der Haut deutlich ab, leider auch einige Knochen. Ich war eher unterernährt, was ich von meinem alten Ich nicht gerade sagen konnte, auch wenn ich mir wenigstens ein paar Muskeln im Fitnessstudio antrainiert hatte. Hatte ich das Wort Stubenhocker schon erwähnt?
Was war nur mit mir passiert, und vor allem - wie war es geschehen? Wie kam ich in den Körper einer Frau und warum? Mir wurde wieder schwarz vor Augen, ich krallte mich am Waschbecken fest, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Mir war in den Moment völlig klar, dass ich vermutlich einen Schock hatte. Immerhin wurde mir gerade die Realität ziemlich brutal unter den Füßen weggezogen. Ich war durcheinander und verwirrt, es fühlte sich alles sehr real an, aber es war doch bestimmt nicht real. So etwas konnte nicht real sein, es durfte nicht real sein, ob ich wohl wahnsinnig geworden war und Halluzinationen hatte?
Wenn man über so etwas in schicken Büchern liest, kommt es einem immer viel einfacher vor. Der Held geht halt einfach irgendwie weiter und tut, was gerade eben so angesagt ist und getan werden muss. Man hat üblicherweise dann gleich auch noch praktischerweise eine wichtige Aufgabe bekommen. Meine eigene und gerade erlebte Realität sah jedoch völlig anders aus.
Ich kam mir nicht nur völlig verloren vor, ich zweifelte auch noch heftig an meinem eigenen Verstand. Ich wandte mich vom Spiegel ab und sah mich um. Ich war eindeutig viel zu durcheinander für diesen Anblick und verschob eine eingehendere Untersuchung meines Körpers auf später. So etwas kann man nicht einfach so akzeptieren, das braucht Zeit. So viel Zeit wie möglich. Wie irgendwie möglich. Ein Zitat des berühmtesten aller Detektive kam mir in den Sinn.
„Wenn Du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist.“
Also sollte ich, anstatt weiter mit dem Unmöglichen zu hadern, meinen alten Körper wiederzubekommen, anstatt dessen erst einmal herausfinden, was eigentlich mit mir passiert war und mich mit diesem vorerst mal abzufinden.
Ich sah mich um und untersuchte das Zimmer. Ein Schrank enthielt meine Kleidung, ein T-Shirt, abgetragene Jeans und meine Unterwäsche. Die Kleidung, wie ich sie heute, nein wohl nicht heute, aber an dem Tag getragen hatte, als ich den Sonnenuntergang bewundert hatte und meinen eindeutig zu dunklen Gedanken nachgehangen war. Irgendwie kamen mir gerade meine Probleme von damals ziemlich belanglos vor. Damals, war es heute oder damals gewesen?
Meine Aufmerksamkeit wurde durch weitere Fragen von meinem Körper abgelenkt, die wie Regentropfen immer zahlreicher wurden und sich in einem sicher schon bald überlaufendem Fass sammelten, meinem armen Kopf. Warum war das andere Bett in dem Krankenzimmer umgestoßen und warum war alles so verwahrlost? Meine Kleidung war relativ sauber, im Gegensatz zu mir selbst, meine Achseln rochen nach einigen Tagen ohne Wäsche. Das Krankenzimmer hatte doch sicher ein Bad. Ich öffnete eine der beiden Türen und fand tatsächlich eines dahinter.
Also ging ich zur Dusche und wusch mich gründlich; diesen fremden Körper zu waschen war allerdings nicht ganz einfach. Mein Unterbewusstsein rief mir ständig irgendwelche Bemerkungen zu, die alle mit verrückt, Zeit für die Klapse und Ähnlichem zu tun hatten. Meine Haut war definitiv deutlich sensibler als früher, und vor allem unglaublich weich und zart. Die Dusche hatte kein warmes Wasser, wie auch schon das Waschbecken zuvor.
Das störte mich jedoch merkwürdigerweise überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, mir kam die Temperatur sehr angenehm vor. Seife und Shampoo waren auch vorhanden. Irgendwann hatte ich endlich den Eindruck nun einigermaßen sauber zu sein und suchte mir ein Handtuch. Ich fand eines an einem Haken an der Wand. Es war jedoch nicht in einem Zustand, dass ich mich damit abtrocknen wollte, ich zog die Nase kraus wegen des Geruchs und lies es hängen.
Also streifte ich das Wasser, so gut es ging, mit den Händen ab und wrang meine Haare aus. Dann wollte mich zum Trocknen wieder in das Bett legen. Das aber plötzlich nicht mehr sonderlich verlockend roch, also blieb ich etwas ratlos stehen. Ich lief unruhig in dem Zimmer hin und her und entschloss mich irgendwann ungeduldig dazu, meine Klamotten einfach halb nass anzuziehen. Ich war definitiv in dieser merkwürdigen Situation lange genug nackt herumgelaufen.
Ich fühlte mich nach der Dusche trotz allem merklich besser, langsam kam ich wohl wieder zu Sinnen. Das nächste Problem war, dass meine Kleidung mir überhaupt nicht mehr passte. Meine Unterhosen rutschten mir sofort wieder bis an die Knöchel. Das T-Shirt war noch einigermaßen brauchbar, allerdings viel zu kurz und viel zu weit. Meine Hosen waren auch viel zu weit und zu kurz, ich konnte sie aber wenigstens mit meinem Gürtel fixieren. Im allerersten Loch. Eigentlich brauchte ich doch das Letzte. Die Stiefel waren ebenfalls zu weit, passten überhaupt nicht mehr und waren völlig unbenutzbar.
Bei dem Versuch sie erfolglos anzuziehen, fing ich unvermittelt an zu weinen. Ich hatte meine Schuhe gemocht, es waren feste Stiefel und wirklich gut geeignet, um durch einen kalten und unfreundlichen Winter zu kommen. Und ich hatte eigentlich immer meine Füße gemocht. Standfeste Füße. Nicht allzu hässlich, so für Männerfüße jedenfalls.
Für die Winterjacke war es hier drinnen deutlich zu warm, aber ich würde sie bestimmt brauchen, wenn ich nach draußen kam.
Ich hatte seit Jahren nicht mehr geweint. Hormone, redete ich mir ein, wohl eine weitere Veränderung, die mit diesem weiblichen Körper daher kam. Tatsächlich war ich jedoch bis in meine Grundfesten hinein erschüttert, weiblich oder nicht. Ich öffnete die andere Tür, die wie erwartet zum Flur führte. Ich wollte mich jetzt endlich mit jemandem unterhalten, endlich Antworten auf meine unzähligen Fragen bekommen.
Der Flur war jedoch völlig leer, und auch alle anderen Zimmer in dem Stock. Es herrschte eine fürchterliche Unordnung, als ob jemand das Krankenhaus absichtlich verwüstet oder durchsucht hatte. Der größte Teil des Inventars, wie Medikamente und Geräte, war unerwarteterweise noch da. Die Türen standen offen, die Scheiben waren teilweise zerbrochen.
Alles sah danach aus, als ob das Krankenhaus seit Längerem völlig leer stand. Aber warum war ich dann noch hier? Irgendwie wurde alles um mich herum immer undurchsichtiger. Die klare und reine binäre Logik, die ich immer so an den Maschinen bewundert hatte, half mir gerade überhaupt nicht weiter. Mein Wissen war auf eine solche Situation nicht anwendbar, ich konnte mir absolut nicht erklären, was hier passiert war.
Der Strom war abgeschaltet, jedenfalls funktionierte keines der elektrischen Geräte, nicht mal das Not-Licht. Auch die Telefone waren so funktionslos wie alles andere.
Die gute Nachricht war, dass ich mich so langsam etwas sicherer auf den Beinen fühlte. Dabei war ich barfuß unterwegs, ich fühlte mich jedenfalls deutlich besser als noch eine Stunde zuvor. Dass ich noch keine Menschenseele getroffen hatte, verursachte bei mir ein allerdings merkwürdiges Gefühl in der Magengegend.
Was mich sofort wieder an meinen Hunger erinnerte, mein Magen knurrte übel gelaunt vor sich hin. Das ganze Krankenhaus war völlig leer, jedenfalls die Bereiche, die ich durchsuchte. Ich war versucht nach Hilfe zu rufen, wagte es jedoch aus irgendeinem Grund nicht. Ich brauchte aber dringend etwas zu essen, das Gefühl war mittlerweile stärker als alles andere.
Also verließ ich das Gebäude, um mich draußen umzusehen. An der Tür hing ein Messingschild.
Krankenhaus und Alten-Pflegeheim Waging am See
Salzburger Str. 29
83329 Waging am See
war darauf zu lesen. Ich war also nicht sehr weit weg von dem See, an dem ich meinen Wochenendausflug gemacht hatte. Der Ort hier war nicht einmal hundert Kilometer von meinem Apartment entfernt.
Die Sonne schien mir warm und freundlich ins Gesicht, die Temperatur hier draußen war genauso sommerlich warm wie im Gebäude. Die Erkenntnis, was das bedeutete, traf mich so hart und so plötzlich wie eine Ohrfeige. Ich musste monatelang außer Gefecht gewesen sein, es war doch gerade erst Anfang Winter gewesen! Diese ganze Geschichte kam mir immer unwirklicher vor, wie ein nichtendenwollender Albtraum. Ich kniff mich erneut in den Arm. Es tat weh.
Vor nicht einmal einer Stunde war mir noch nichts Unwirklicheres als mein neues Ich vorstellbar gewesen. Das relativierte sich gerade etwas angesichts meiner Umgebung, eine menschenleere Stadt war durchaus ebenfalls äußerst unwirklich. Ich fragte mich fast schon zwangshaft, was war nun eigentlich wirklich unwirklicher, sich nach einem Blackout in einem fremden Körper oder sich in einer menschenleeren Stadt wiederzufinden. Mir waren das eindeutig gerade zu viele wirklich und unwirklich, um noch mental gesund zu sein. Ich schob die äußerst beunruhigenden Gedanken fürs Erste beiseite und konzentrierte mich anstatt dessen auf meine Umgebung.
Ich nahm meine Umwelt viel direkter und intensiver wahr, als ich es gewohnt war. Ich hörte ungewohnt viele Tiere im Ort, überall war Bewegung, nicht nur die üblichen Vögel, sondern auch andere Tiergattungen, in einiger Entfernung bellte ein Hund unfreundlich und durchdringend. Der Wind ließ einen Baum rascheln, das Geräusch kam mir fast vor wie ein klassisches Konzert, so intensiv und mit Dutzenden von Instrumenten. Ich sah mit einer unglaublichen Schärfe in der Ferne, ich konnte sehr viel mehr Details als früher ausmachen, obwohl ich nie kurzsichtig gewesen war. Ganz im Gegenteil, aber das hier war etwas völlig anderes. Jedes noch so kleine Detail enthielt unglaublich viele Informationen, die mein Gehirn erstürmten. Ich hatte ganz offensichtlich nicht nur das Geschlecht gewechselt, es gab noch sehr viel mehr an mir, was jetzt anders war.
Die Straße vor dem Krankenhaus war menschenleer und schaute in etwa so aus, wie sie es in einem Endzeitfilm getan hätte. Es parkten einige Autos ganz normal so, wie man es erwarten würde, andere waren gegen Hindernisse geprallt oder einfach mitten auf der Straße liegen gelassen, kein Einziges bewegte sich oder hatte Insassen.
Gegenüber auf der anderen Straßenseite sah ich das Verkehrsamt inklusive einer Touristeninformation und ich fing, angesichts der Situationskomik, an laut und schallend zu lachen. Das glockenhelle Lachen verunsicherte mich jedoch zutiefst, und ich verstummte wieder. Was sollte ich jetzt nur tun? Irgendetwas unglaublich Furchtbares war passiert. Ich hoffte, dass es wenigstens nur diesem einen Ort hier widerfahren war und nicht noch mehr Orte erwischt hatte.
Vielleicht wurde hier ein Staudamm errichtet und sie hatten deshalb alles evakuiert - aber warum waren dann all die Autos zurückgelassen worden? Vielleicht eine Katastrophe? Die Häuser sahen intakt aus, Erdbeben hatte es jedenfalls schon mal keins gegeben. Und wie hatte ich all die Zeit überleben können, jemand musste doch für Nahrung und Medikamente gesorgt haben, oder ich hätte das monatelange Koma ganz sicher nicht überstanden. Koma, das klang schon mal wie eine richtige und vernünftige Erklärung dafür, dass ich so lange weggetreten war. Nicht, dass mir die Erkenntnis gerade auch nur im Geringsten weiterhalf.
Mein dann doch mittlerweile ziemlich grimmiger Hunger meldete sich durch lautes Magenknurren erneut zu Wort. Ich musste schnellstens etwas zu Essen finden. Allzu viele Reserven hatte mein neuer Körper offensichtlich eher nicht. Ich band die überflüssige Kleidung und meine Schuhe in der Jacke zusammen und warf sie mir über die Schulter. Dann ging ich die Straße einfach in einer Richtung los, irgendwo musste sich doch irgendwo etwas Essbares auftreiben lassen.
Was mir alles durch den Kopf ging, als ich die Straße durch das Dorf lief, kann ich heute nicht mehr beschreiben. Meine Gedanken waren völlig konfus, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, alles war wie in Watte gepackt. Wie war ich in diesen Körper gekommen und warum war das Krankenhaus leer und verlassen? Normalerweise wurden Krankenhäuser nicht einfach so geschlossen, und schon gar nicht, wenn noch Patienten darin lagen! Irgendwie musste ich eine Antwort auf meine Fragen bekommen, und zwar möglichst bald, bevor ich völlig durchdrehte. Aber diese Gedanken brachten mich gerade auch nicht weiter.
Ich fing stattdessen an, wieder etwas mehr auf meinen neuen Körper zu achten, als ich vorsichtig die Straße entlang ging. Es fühlte sich überhaupt nicht nach meinem Körper an, soviel war schon mal sicher. Ich war ziemlich groß, viel zu groß für eine Frau, sogar größer als mein altes Ich früher. Ziemlich lange Beine, soweit ich beurteilen konnte, die zumindest beim Laufen guten Dienst verrichteten. Ich bemerkte, dass ich ziemlich leichtfüßig unterwegs war, verglichen zu früher. Ich war nicht wirklich dick gewesen, ein paar Pfunde zu viel vielleicht, aber durchaus doch eher unsportlich.
Trotz des durch den Hunger doch sehr geschwächten Zustands konnte ich weiter und kraftvoller ausschreiten, als es mir in meinem alten Körper möglich gewesen war. Jedenfalls, bis ich in ein Steinchen trat oder etwas anderes Spitzes, meine Fußsohlen hatten keine Hornhaut und die Sohlen waren sehr schmerzempfindlich. Trotzdem, in diesen Beinen steckte sehr viel mehr Kraft, als ich es von meinen alten her gewohnt war. Und ich war nicht in dem körperlichen Zustand, den ich von einem monatelangen Koma erwartet hätte, meine Muskeln funktionierten hervorragend, was eigentlich biologisch und medizinisch eine Unmöglichkeit war.
Ich brauchte dringend etwas zu essen und am besten gleich noch Schuhe, dieses neue Bedürfnis kam ziemlich bald durch die schmerzenden Sohlen, die nackt über den Asphalt laufen mussten. Meine Prioritäten änderten sich durch den Fußmarsch schnell. Hinter mir im Krankenhaus wagte ich es trotzdem nicht, nach Nahrung zu suchen. Allein die Vorstellung, mir verfaulten Krankenhausfraß anzutun, war mir zuwider; außerdem war mir das verlassene Gebäude nicht ganz geheuer.
Ich ging also weiter, an einem ziemlich ungepflegten Park vorbei, die Pflanzen darin waren alle völlig unbeschnitten wild gewuchert und das Gras war über einen halben Meter hoch. Die bunten Häuser des Ortes waren dafür sehr hübsch, die Gegend war wie viele andere in Niederbayern sehr gepflegt und auf Tourismus ausgerichtet. Jetzt sah sie nicht mehr so schön sauber aus, viele Türen und Fenster waren offen oder kaputt, es lag überall Müll auf den Straßen, die Fugen waren mit Gras und Unkraut bewachsen.
Ich ging auf eines der Häuser zu und klingelte. Ich konnte keine Klingel hören, also klopfte ich laut mit der Faust an die Tür. Die Tür öffnete sich, war nicht einmal verschlossen. Ich ging vorsichtig hinein und rief laut „Hallo?“ Wieder zuckte ich nervös zusammen, als ich eine viel zu hohe Stimme hörte, die eindeutig nicht zu mir passte. Niemand antwortete. Ich durchsuchte die Zimmer, man hatte die Wohnung anscheinend in großer Eile verlassen und es war auch nicht viel mitgenommen worden. Das Telefon war hier auch tot, und auch hier war kein Strom. Was war nur passiert?
Ich durchsuchte alle Zimmer in dem Haus und fand keinen Menschen, nichts, es war völlig unbewohnt. Aber genau so möbliert, als würde das Haus nur darauf warten, dass die Anwohner zurückkehrten. Das vorletzte Zimmer war nicht ganz leer. Als ich die Tür öffnete, sprang mir eine halb verhungerte Katze mit einem sehr lauten Miau entgegen und lief an mir vorbei in Richtung Tür. Ich erschrak fast zu Tode, zitternd ging ich einen Moment in die Knie. Trotzdem betrat ich kurz darauf das Zimmer. Das Fenster stand offen und hatte der Katze wohl als Eingang gedient, ansonsten war der Raum aber ebenso leer.
Essen, ich musste dringend etwas Essen. Vorräte hatte ich in dem Haus keine gefunden, es musste doch irgendwo in der Nähe einen Laden geben. Ich ging die Straße weiter und sah bald darauf ein Lebensmittelgeschäft. Es war in der Nähe der Dorfkirche, auf die ich gerade zumarschiert war. Ich betrat den kleinen Laden, ein Reformhaus, wie mir die Ladenfront mit großen Lettern verriet.
Die Tür des Ladens war aus den Angeln gehoben, das Glas in der Mitte zersplittert. Ich stolzierte vorsichtig barfuß um die Glasscherben herum und wünschte mir erneut ein paar Schuhe. Das Schaufenster war interessanterweise noch unbeschädigt. Der Laden war relativ klein, aber angefüllt mit Regalen, die teilweise umgestürzt waren und teilweise noch aufrecht standen.
Im Großen und Ganzen machte der Laden einen völlig verwüsteten Eindruck. Augenscheinlich war aber nur wenig gestohlen, jedenfalls schätzte ich das mal so auf den ersten Blick. Die Kasse war auch nicht aufgebrochen, was das Ganze irgendwie noch ungewöhnlicher machte, welcher Mensch bei einigermaßen klarem Verstand verwüstete einen Laden und ließ das Geld und die meisten Waren da? Der Laden machte den Eindruck, als hätten hier Kinder ziemlich wild gespielt, und zwar ohne die Aufsicht ihrer Eltern.
Eine schnelle Untersuchung des Ladens ergab nichts Gefährliches, also gehorchte ich dem Willen meines Magens und suchte nach etwas Essbaren. Ah, und da waren sie! Feinstes Dosenfutter, davon hatte ich mich vor meinem Koma auch gerne mal öfter, teilweise sogar monatelang ernährt, also würde es diesen Körper bestimmt auch nicht gleich umbringen. Ich war versucht, ein bisschen Geld auf die Tresen zu legen. Schließlich war das hier eigentlich Diebstahl.
Mein Geldbeutel war noch in der Hose, mit allen Papieren und, soweit ich mich erinnerte, auch mit dem Geld, dass ich an jenem Tag am See dabei gehabt hatte. Nicht, dass es viel gewesen war. Oder mir die Papiere mit diesem Gesicht noch irgendwas genutzt hätten. Eine operative Geschlechtsumwandlung nahm mir wohl auch keiner ab, dafür waren die Veränderungen dann doch etwas drastisch. Ich musste unwillkürlich bei dem Gedanken lachen, und erschrak wieder über meine eigene Stimme, das klang doch alles furchtbar hoch. Früher hatte ich eine ziemlich angenehme Stimme gehabt, wie man mir mal gesagt hatte. Um genau zu sein eine heimliche Liebe aus fernen Landen, die ich eine Weile nur telefonisch und über das Internet kannte.
Ich fand schließlich in dem ganzen Gerümpel ein paar Dosenfrüchte, ein paar fertige Mahlzeiten wie Suppen, die man nur erwärmen musste, und einen Öffner. Ich öffnete sofort eine Dose mit Pfirsichen und aß die Pfirsiche gierig einfach mit den Händen. Die Soße war auch gleich leer getrunken. Die Früchte waren sehr lecker und sie füllten erfreulich den Magen. Die Dosen waren viel zu klein, fand ich in dem Moment, und öffnete gleich eine Zweite, die ich ebenso gierig leerte. Der Saft lief mir über das Kinn, aber das war mir gerade ziemlich egal. Danach ging es mir deutlich besser.
Plötzlich überfiel mich das beklemmende Gefühl, das Haus könnte vielleicht doch nicht ganz leer sein, und ich startete eine weitere Untersuchung, diesmal vor allem genauer im hinteren Teil des Ladens und dem Bereich, der in den Hinterhof führte. Aber auch hier war niemand da, und keiner reagierte auf meine Rufe.
Mein erstes „Hallo!“ ließ mich erneut zusammenzucken. Irgendwie musste ich wieder an meinen alten Körper kommen, dachte ich befremdet. Nur - wie sollte ich das anstellen? Trotzdem, es war eine Sache, hinter einer Frau her zu sein, die so aussah wie ich jetzt, aber die Frau selbst zu sein war doch ziemlich beängstigend.
Nicht zum ersten Mal an diesem Tag hatte ich meine Umgebung völlig aus dem Fokus verloren und stand regungslos mitten im Laden, voller Erschütterung über den Zustand, in dem sich das Dorf befand, den Zustand, in dem ich mich befand, und die völlige Abwesenheit von Menschen. Das Wort Plünderung ging mir noch durch den Kopf, als ich mir ein Taschenmesser einpackte, das neben der Kasse lag. Ich versuchte jedoch, so gut es ging, mich nicht weiter ablenken zu lassen.
Am liebsten wäre mir eine Waffe gewesen. Ich war verunsichert wegen der gruseligen Zustände in dem verlassenen Städtchen. Aber welche Waffe wäre sinnvoll gewesen? Ich wollte ganz sicher nicht auf einen ebenfalls verunsicherten Polizisten oder Soldaten stoßen, der mir vielleicht aus Versehen das Licht ausblies, weil er mich für gefährlich oder einen Plünderer hielt.
Ich verließ den Laden und sah mich weiter in dem Dorf um. Die Straßen waren überall völlig ungepflegt. Hier hatte auch schon lange kein Straßendienst mehr gereinigt. Wenn der dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre, hätte aber alles doch bestimmt noch mal ganz anders ausgesehen, das hier war nicht die Folge eines Krieges, das war irgendwie anders. Unerklärlich und völlig unverständlich. Meine Generation war so ziemlich die Erste, die mit der fürchterlichen Drohung eines Atomkrieges aufgewachsen war. Endzeitszenarien und unrealistische Geschichten darum gab es haufenweise, bis sich die meisten Menschen endlich nach jahrzehntelangen Streitereien auf die Wahrheit geeinigt hatten. Nach dem Schreckgespenst Atomkrieg wäre einfach gar nichts mehr gekommen, nur noch Tod und Verfall für alle.
Und das hier sah einfach nicht danach aus, viel zu wenig Zerstörung, nicht einmal genug Vandalismus für irgendwelche Aufstände. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass in Deutschland ein Bürgerkrieg ausgebrochen war, so stark hassten sich die verschiedenen Volksgruppen bei uns nun auch wieder nicht. Einen Bürgerkrieg hatte es vor kurzem in Jugoslawien gegeben, aber es sah hier auch nicht wirklich nach Krieg aus. Sogar die Preußen und die Bayern hassten sich nicht mehr stark genug für einen weiteren Bürgerkrieg, der letzte lag sehr lange zurück. Nirgendwo funktionierte der Strom, also konnte ich auch kein Radio oder einen Fernseher einschalten, der mir vielleicht endlich hätte Auskünfte geben können. Was hätte ich jetzt für eine Nachrichtensendung gegeben! Früher hatte ich oft gelangweilt weggeschaltet, um stattdessen einen schönen Film zu sehen. So verändern sich Interessen manchmal im Leben.
Die Häuser in dem Dorf waren wohl alle verlassen, einige offene durchsuchte ich. Ich fand nirgends Menschen, dafür scheuchte ich ein paar weitere verwilderte und scheue Katzen auf. Nagetiere gab es anscheinend genug, die meisten Katzen waren ziemlich gut genährt, nur ein paar wenige so halb verhungert wie die Erste. Vögel waren in ihren Käfigen verhungert und skelettiert, Aquarien waren ungepflegt und die Fische darin verschwunden. Einige der Häuser hatten verschlossene Türen, bei einigen davon klopfte ich lautstark ohne Erfolg an. Die ganze Stadt war anscheinend völlig menschenleer und verlassen.
Ich hoffte aber immer noch wenigstens auf ein lokales Phänomen; dass noch mehr Städte wie diese hier aussahen, konnte und wollte ich mir nicht vorstellen.
Ich fühlte mich völlig allein. Hier mitten auf der Straße in Waging fühlte ich mich genau wie in dem Moment, als ich das Bewusstsein verloren hatte. Ich kam mir vor wie der einzige Mensch auf Erden, der Einzige, der überlebt hat. Die Einzige. Eiskalte Schauer liefen mir den Rücken hinunter. Was sollte ich nur tun? Nur nicht den Mut verlieren.
Wenigstens würde ich wohl erst mal nicht verhungern oder verdursten. Ich musste jedoch dringend andere Menschen treffen. Menschen, die mir sicherlich erzählen konnten, was passiert war. Und ich wollte nach Hause. Mein Auto! Ich hatte keine Ahnung, wo es war, irgendwo am Waginger See, vermutlich abgeschleppt. Bei dem Gedanken fiel mir die Polizei ein. Die würden wissen, was mit der Karre war. Also, irgendwie nach Hause kommen, Menschen treffen, Polizei aufsuchen, mein Auto zurückverlangen, ein neues Bild für meinen Führerschein, meine Ausweise … ich stöhnte innerlich auf, als mir meine völlig unmögliche Lage klar wurde.
Aber ohne Hilfe kam ich trotzdem nicht weiter. Wo waren die Menschen nur? Ich wohnte in der Nähe von München, München war ganz sicher nicht verlassen, München war eine Millionenstadt. Ich musste also irgendwie nach München kommen, und am besten gleich noch nach Hause. Ich hatte damals ein Apartment in der Nähe von Riem, ein kleines Kaff mit dem Namen Aschheim. Sie wissen schon, bei Riem, wo mal der Flughafen war und jetzt das große Messegelände.
Ein Auto für den Weg dort hin zu stehlen, der Gedanke behagte mir irgendwie dann doch wieder nicht, das war schon noch mal etwas anderes als ein paar Lebensmittel zu stehlen. Ich musste mich aber für die Reise ausrüsten und mir das Notwendigste aus den Läden hier borgen und hoffen, dass mich niemand dabei erwischte. Was ich aber angesichts der fehlenden Leute für relativ unwahrscheinlich hielt.
Viel mehr Sorgen machte mir eigentlich die Tatsache, dass nicht deutlich mehr geplündert worden war. Was hielt die Leute davon ab, sich den Kram zu holen? Eine biologische Katastrophe? Irgendetwas sehr Gefährliches und Unsichtbares hielt sie vielleicht davon ab, Strahlung oder Kampfmittel oder so etwas in der Art. Dem ich mich dann gerade unwissend aussetzte. So bald wie möglich aus der Gegend zu verschwinden war ganz sicher eine gute Idee für mich. Aber nicht ohne Schuhe und nicht ohne wenigstens ein bisschen Ausrüstung.
Einen Fahrradladen fand ich zu meiner Freude als Nächstes, als ich weiter die Straße entlang lief, neue und schicke Fahrräder waren erwartungsgemäß überall in dem Laden verteilt. Ein Fahrrad war sicherlich ein tolles Fortbewegungsmittel, also betrat ich den Laden. Ein geländegängiges Mountainbike war schnell ausgesucht, und ab da war ich wenigstens schon mal deutlich schneller als vorher unterwegs.
Ich fuhr die Straße ein wenig hoch und fand dort einen Sportladen. Ich war begeistert, das war echt ein Glücksfall. Hier würde ich sicherlich alles finden, was ich gerade brauchte. Ich ging hinein, und der Laden war fast unversehrt. Als Erstes weckte eine Latte zum Messen der Körpergröße meine Aufmerksamkeit, das interessierte mich doch, wie groß ich jetzt eigentlich war. Ich stellte mich an die Messlatte und schob das gepolsterte Holzstück auf meinen Kopf. Ich war fast zwei Meter groß, das waren fast 20 cm mehr als früher, und das als Frau. Ich wiederholte die Messung zwei Mal, um ganz sicher zu gehen, dass ich keinen Fehler gemacht hatte, bis ich endlich glaubte, was die Latte mir da erzählen wollte.
Ich zuckte mit den Schultern, das war nichts, was ich zurzeit ändern konnte, stattdessen sah ich mich weiter um. Der Laden hatte wirklich alles Mögliche zum Thema Sport, und dann noch etwas, was ich hier überhaupt nicht erwartet hatte.
An einer Wand hing doch tatsächlich zu meiner großen Überraschung ein uraltes Samuraischwert. Der Preis, der daran hing, war geradezu lächerlich hoch, mein Auto war deutlich weniger wert gewesen. Ich nahm es herunter und testete kurz die Balance, es schien mir in Ordnung zu sein. Natürlich verstand ich nichts von Schwertern, es war aber deutlich besser als gar keine Waffe. Meine Fechtstunden waren zwar schon eine Weile her, vierzehn Jahre oder so, aber das musste reichen. Ich kam mir merkwürdig vor, auch ein wenig peinlich berührt, aber aus irgendeinem Grund erschien es mir richtig so. Das Schwert kam mir wichtig vor, ich fühlte mich sicherer damit.