Das Lied vom Zaun
Wir schrieben das Jahr 1982. Die Supermächte standen sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. Der Kalte Krieg tobte. In aller Munde die Nachrüstungsdebatte, der Nato-Doppelbeschluss. Pershing-II- und SS-20-Raketen wurden aufgestellt.
Ich war damals hauptamtlicher Jugendleiter und wohnte in Hof, im Norden von Bayern, an der Grenze zur DDR. Viele trieb die Sehnsucht nach Frieden damals auf die Straße. Die Ostermärsche waren im Grunde Großdemonstrationen. Der Dekanatsjugendtag 1982 sollte unter dem Motto „Unterwegs zum Frieden“ stehen. Neue Lieder wollten wir singen, gegen diesen Wahnsinn und für unsere große Hoffnung.
Wenige Tage zuvor stand ich mit Kindern meiner Jugendgruppe am Schlagbaum an der Alten Ölsnitzer Straße, kurz hinter Kirchgattendorf, nur wenige Meter vom Minenfeld, von Selbstschussanlagen und vom Zaun entfernt. Die neunjährige Susanne zeigte nach drüben und sagte: „Dort drüben wohnt meine Cousine. Mit der darf ich erst spielen, wenn sie fünfundsechzig ist. Und dann mag ich nicht mehr mit ihr spielen.“
Das traf mich ins Herz. Welches Lied können wir in Anbetracht dieser Situation singen? Wir, die wir in Albträumen Raketen über uns hinwegfliegen sehen; wir, die wir uns immer wieder durch den Zaun, den Stacheldraht zu getrennten Verwandten und Freunden hinübersehnen? Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und brachte ein Lied zu Papier, das all die Bilder enthielt, die ich so klar und deutlich vor mir sah:
Das Lied vom Zaun
Ich war zum ersten Mal am Zaun,
wollt’ mit eigenen Augen schaun.
Ich war zum ersten Mal am Zaun –
jetzt träumen, hoffen, Friedensschlösser baun.
Will einen Weihnachtsbaum ins Minenfeld pflanzen,
will am Schlagbaum Volkstänze tanzen.
Von Gattendorf rüber nach Ölsnitz fahren,
wie es mal möglich war vor Jahren,
und dem Gegenverkehr mit der Lichthupe blinken,
jedem Auto vor Freude wie wild zuwinken.
Am Dreiländereck will ich Wasserräder baun,
möchte ungesiebt rüber nach Rossbach schaun.
Will von Wachturm zu Wachturm Girlanden winden,
und wo Minen waren, Champignons finden.
Die Grenzpfähle mit lustigen Hütchen schmücken
und in Mödlareuth an der Mauer Blumen pflücken.
Ich will aus Stacheldraht Kränze flechten,
will mit dem Wachsoldat eine Nacht durchzechen.
Einen Wachturm dann als Kanzel verwenden
und es hinausschreien an Ecken und Enden:
Wir wolln diesen Zaun aus den Angeln heben,
um endlich als ein Volk zusammenzuleben.
Wir sangen das Lied dann in der Hofer Michaeliskirche – Jugendliche, die nie etwas anderes kannten als den Zaun hinter der Haustür, und Erwachsene, die von ihren Eltern hörten, wie es damals war, als man noch ohne Visum nach Plauen fahren konnte. Manche haben geweint. Andere fanden es peinlich, dass von „einem Volk“ die Rede war. Das Lied geriet in Vergessenheit.
1989 riefen die Menschen bei den Montagsdemos in der DDR: „Wir sind das Volk!“ Und im November sah ich dann die Bilder des Liedes Wirklichkeit werden. Ich saß vor dem Fernseher und beobachtete aufgeregt, wie die Trabbis anrückten, wie die Schlagbäume hochgingen und die Lichthupen blinkten.
„Genau das hab ich gesehen!“, rief ich meiner Frau zu.
Bei den Montagsdemos in Leipzig konnte man die Menge „Wir sind ein Volk!“ rufen hören. Und ich sah auch die letzte Zeile meines Liedes Realität werden. Leider habe ich damals nie mit einem Wachsoldat eine Nacht durchgezecht, aber wie so viele war ich trunken vor Freude. In den oberfränkischen Kirchen beteten wir in Dankgottesdiensten den 126. Psalm:
„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan!“
Mir ist das alles noch sehr nah und doch ist es bald zwanzig Jahre her. Susanne hat mittlerweile mit ihrer Cousine gespielt oder sie waren als Teenager in der Plauener Disco. Nach Ölsnitz ist es jetzt keine Weltreise mehr, sondern ein Katzensprung. Die Blumen in Mödlareuth habe ich gepflückt – dort, wo einst die Mauer das Dorf teilte. Das habe ich mir nicht nehmen lassen. Genauso wenig wie das Träumen und das Hoffen und das Glauben und das Singen. Gegen alle Vernunft oder gerade ihr folgend.
Horst Bracks, Pfarrer, Jahrgang 1965 , Heilsbronn
Ein Überfall in der Sandgrube
Angefangen hat alles in einer kleinen Sandgrube. Wir waren neu im Dorf. Scheidung, neuer Vater, und nun der Umzug in dieses 150-Seelen-Dorf am Ende der Welt, in dem alle Plattdeutsch sprachen. Ich war sieben und schüchtern.
Immerhin gab es da diese Sandgrube bei dem kleinen Waldstück hinter unserem Haus, die ich bei einem meiner ersten zaghaften Spaziergänge entdeckt hatte. Ich liebte es, darin zu spielen. Ich saß im Sand und widmete mich meinem Spiel. Ich baute einen Zoo. In einem Weckglas hatte ich Tiere gesammelt: einige Marienkäfer, zwei Regenwürmer, einen Tausendfüßler, einen kleinen Frosch, einen dicken schwarzen Mistkäfer, drei Raupen, einen Ohrenkneifer – den hatte ich im Hausflur aufgelesen und von meiner Mutter ein dickes Lob bekommen – und einige Ameisen. Sie alle krabbelten im Glas munter durcheinander. Ab und zu klopfte ich auf den Deckel, damit die Ameisen, die die Wände hochkletterten, nicht durch die Luftlöcher entkommen konnten, sondern wieder zurück auf den Boden fielen. Für jede Tierart grub ich ein eigenes Gehege in den Sand. Das für den Frosch war besonders tief und hatte einen kleinen See, den ich mit Plastikfolie ausgelegt und mit Wasser gefüllt hatte. Der Mistkäfer bekam eine Höhle. Für die Raupen baute ich eine Hütte aus Ästen und Blättern.
Ich war so versunken in meine Arbeit, dass ich die Schritte auf dem Trampelpfad überhörte, der aus dem Wald zur Sandgrube führte. Eine Art Indianergeheul setze ein. „Da ist der Neue! Los, auf ihn!“ Sand spritzte in mein Gesicht. Ich war völlig überrumpelt, wurde umgestoßen, und ein fetter Kerl, sicher neun oder zehn, setzte sich auf mich. Er drückte seine Knie auf meine Arme. „Hey, was soll das?“ schrie ich den Dicken an. „Was das soll? Du wirst gleich sehen, was das soll!“ zischte er und drückte sein ganzes Gewicht auf meine Arme. Ich heulte auf. „Das ist unsere Sandgrube“, meldete sich eine zweite Stimme und bellte mich an: „Was hast du hier verloren?“ „Aber ich …“ Ich konnte nicht weiterreden, der zweite Angreifer schob mir eine Handvoll Sand in den Mund. Ich spukte und prustete. Doch schon folgte die nächste Fuhre Sand.
„Du meinst, dass man sich als Neuer alles erlauben kann? Nicht mit uns, Freundchen, nicht mit uns. Ist das klar?“
Und wieder rieb er mir Sand in den Mund, während der andere mich festhielt. „Holger, das ist genug“, sagte der erste Angreifer jetzt. „Was, schon genug?“ Holger schien enttäuscht. „Ich weiß was Besseres. Schau mal da.“ Ohne loszulassen, zeigte er mit dem Kinn auf das Glas. „Na, Sandfresser, was willst du zuerst? Einen Regenwurm oder eine Raupe?“ Er lachte schallend los, Holger lachte mit.
Ich begann zu zappeln und versuchte, mich zu befreien. Doch der Angreifer hockte schwer auf mir und ich wurde ihn nicht los. In meiner Verzweiflung spuckte ich ihn an. Oder vielmehr: Ich versuchte es. Aber mein Mund war noch voller Sand und der Brei aus Spucke und Sand fiel zurück in mein eigenes Gesicht. Holger und sein Kumpel bogen sich vor Lachen.
„Der sabbert ja, der Kleine, wie niedlich.“
„Nein, dem läuft das Wasser im Munde zusammen.“ Holger gluckste vor Vergnügen über seinen Witz. Er nahm jetzt das Glas, schraubte es auf und fingerte nach einem Regenwurm. „Sieht lecker aus, was, Sandfresser?“
Er schwenkte den Regenwurm über mein Gesicht. Der ringelte sich nervös hin und her, zog sich zusammen und dehnte sich wieder, ihm schien kaum weniger unbehaglich zumute zu sein als mir. Ich nahm noch einmal alle Kraft zusammen und warf mich hin und her. „Lass mich los! Was soll das denn?“
Doch ich kam nicht frei. Der Dicke hielt mich noch fester und rammte mir eine Faust in die Seite. Holger griff nach meinem Kinn. Mit der anderen Hand schwenkte er den Regenwurm.
„Lecker, lecker, lecker! Wo du herkommst, ist es da nicht wie in China, wo man gerne Regenwürmer isst?“
Ich war erschöpft. Die Hand, die mein Kinn hielt, war zu stark. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich schloss die Augen und erwartete angewidert den Wurm.
Plötzlich knallte etwas. „Au!“, heulte Holger neben Hannes auf. Eine Hagebutte hatte ihn am Kopf getroffen, Samenkerne und Saft klebten an seiner Stirn. Schon kam die nächste geflogen. Und noch eine. Vor Schreck lockerte der Dicke seinen Griff. Ich reagierte sofort. Ich warf ihn ab und stürzte mich auf ihn mit einer Hand voll Sand, die ich dem überraschten Typen ins Gesicht klatschte. Im selben Moment stürzte sich jemand auf Holger. Nach einem kurzen Handgemenge saß ich auf dem Dicken, der Unbekannte auf Holger. „Spinnt ihr eigentlich, oder was? Er hat euch doch gar nichts getan“, brüllte mein unerwarteter Retter jetzt und stieß Holger sein Knie so fest in die Seite, dass der aufstöhnte.
„Haut bloß ab!“, knurrte er sauer und rutschte zur Seite. Ich ließ den Dicken ebenfalls frei, und die beiden rannten durch den kleinen Trampelpfad davon. Ich sah ihnen nach, dann sah ich meinen Retter an. Ein dunkelhaariger Junge, dessen Gesicht mit Sommersprossen übersät war, etwas älter als ich. Er grinste mich an.
„Ich bin Martin“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen, „hab ich gerne gemacht, ich kann die beiden sowieso nicht leiden.“
So begann unsere Freundschaft. Bald waren wir unzertrennlich. Wir übten Flugkopfbälle auf der Dorfwiese, machten Fahrradtouren. Im Sommer fischten wir Forellen in den kleinen Teichen rund ums Dorf, im Winter fuhren wir auf der Waldpiste unsere Schlitten kaputt. Wir rauchten heimlich gemeinsam die erste Zigarette. Wenn wir mal wieder etwas ausgefressen hatten, warnten unsere Eltern uns gegenseitig vor dem schlechten Umgang. Recht hatten beide.
Eine Freundschaft in Nordfriesland mit einer gewissen Tom Sawyer Romantik. Nur, dass ich sie wirklich erlebt habe. Als junge Erwachsene trennten sich unsere Wege durch Ausbildung und Studium. Bei einem Wiedersehen nach Jahren merkten wir beide mit etwas Wehmut, dass der Zauber verflogen war. Alles hat seine Zeit. Unsere Leben passten nicht mehr zusammen. Martin war ein Einsiedler geworden, ich ein Großstadtmensch.
In diesem Jahr werde ich 56. Fast ein halbes Jahrhundert ist seit dem Überfall in der Sandgrube vergangen. Wenn ich heute zurückblicke, merke ich, dass ich ihr eine Grunderfahrung verdanke: Da war ein Freund, der mich gerettet hat. Jemand, den ich zunächst nicht kannte, und der trotzdem für mich gekämpft hat. Einer, der sich auf die Seite des Schwachen und Unterlegenen gestellt hat. Ein Wunder, irgendwie.
Und so ist es kein Wunder, dass sich diese Erfahrung sogar in meinem Glaubensleben spiegelt. Bei mir ging ab der Pubertät und als junger Erwachsener vieles schief, ich wurde suchtkrank. Dann fand ich zum Glauben. Ich erlebte, wie Jesus mich gegen die Übermacht von Alkohol und Spielhallen in Schutz nahm. Er hat mich rausgehauen und freigemacht. Jesus ist mein Freund geworden.
Uwe Heimowski, Pastor, Jahrgang 1964, Gera
Das Geschenk
Liebe Anna,
wir haben uns lange nicht gesehen. 38 Jahre ist es her – und ich frage mich, wie es dir seitdem ergangen ist.
Weißt du noch, damals in der 1. und 2. Klasse, da waren wir Freundinnen. Wir, zwei schüchterne 7-Jährige, die gern Latzhosen trugen und im Unterricht miteinander flüsterten. Ich erinnere mich noch gut an deine roten Wangen, dein Lächeln, deinen inneren Frieden.
Du wusstest es nicht, aber mein Leben damals war schwierig. Inneren Frieden kannte ich nicht. Ich wohnte bei meiner Mutter, aber ein richtiges Zuhause hatte ich nicht. „Sicherheit“ und „Geborgenheit“ waren Worte, die ich hörte, aber nicht verstand. Es war eine dunkle Zeit.
Schon im Kindergarten hatte ich mich sehr auf die Schule gefreut. „Schule“ hieß für mich „groß werden“ – und das wollte ich! So einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es dann aber doch nicht. Die Tage vergingen auch in der Schule nicht schneller als zu Hause, das Lernen war anstrengend und alles war mir zu laut, zu schnell, zu viel.
Umso mehr freute ich mich, dass du da warst. Wir verbrachten gern Zeit zusammen – und eines Tages hattest du Geburtstag. Viele deiner Freunde waren eingeladen, auch ich. Ich hatte schon gehört, was man sich so schenkte: Puppen mit Klappaugen, Rollschuhe mit richtigen Stiefeln dran und sogar kleine Kassettenrekorder! So teure Sachen! Ich staunte nicht schlecht.
Über deine Einladung freute ich mich, aber ich hatte auch Angst. Würde meine Mutter überhaupt erlauben, dass ich komme? Und wenn nicht, wäre ich dann noch deine Freundin? Und was sollte ich dir schenken, ich hatte nicht viel! Von meiner Mutter bekam ich Taschengeld, 5 Mark im Monat. In dem Monat hatte ich aber nur noch 1,50 übrig … Was sollte ich nur machen?
Nach der Schule schlich ich nach Hause. Meine Mutter saß in der Küche und las Zeitung. Meine Hände zitterten. Ich wollte dir so gern etwas schenken, etwas „richtiges“, wie die anderen Kinder! Ich holte tief Luft.
„Ute?“ Ich räusperte mich. „Mama“ nennen durfte ich meine Mutter nicht. Sie seufzte und schaute hinter der Zeitung hervor. „Ich bin zum Geburtstag eingeladen, bei der Anna. Kannst du mir ein bisschen Geld geben, damit ich ihr was kaufen kann?“ Ich hielt den Atem an.
Meine Mutter sah mich nicht an. „Dafür hast du doch Taschengeld!“
„Ich… Ich hab nur noch 1,50…“, murmelte ich.
„Dann hättest du halt was sparen müssen! Von mir kriegst du jedenfalls nix!“
„Aber“, flehte ich, „die Mütter von den andern Kindern, die kaufen denen die Geschenke!“ Mein Bauch tat weh. „Bitte!“
„Tja, ich bin aber nicht andere Mütter! Du hast dein Taschengeld, basta!“ Ihre Hand knallte auf den Tisch. Was sollte ich denn bloß für 1,50 Mark kaufen? Sollte ich Anna sagen, dass ich nicht kommen durfte? Jemanden um Geld bitten? Aber wen? Mir fiel niemand ein.
Am Tag danach, zwei Tage vor deinem Geburtstag, ging ich in die Stadt. Ich lief an den Schaufenstern vorbei, die mit prall gefüllten Federmäppchen, Skateboards und Monchichis dekoriert waren. Als mir bewusst wurde, dass ich nichts davon würde kaufen können, ging ich nach Hause. Auf dem Weg kam ich an einem Krämerladen vorbei. Ich beschloss, mich darin umzusehen. Ich musste doch irgendwas Schönes für dich finden! Dann entdeckte ich sie: eine große Schachtel mit Aufklebern, ganz hinten in der Ecke. Je drei Blatt in Folie verpackt, Autos, Herzen, Tiere. „Da! Blumen! Rosa, gelbe und orange Blumen! Die gefallen Anna bestimmt!“ Ich griff zu. Nur 1,10! Sogar für ein Stück Geschenkpapier reichte mein Geld.
Zu Hause packte ich die Aufkleber ein. Ich war erleichtert – zumindest würde ich nicht mit leeren Händen dastehen! Und doch machte sich Angst in mir breit. Was, wenn ihr mein Geschenk nicht gefällt? Oder wenn sich jemand darüber lustig macht? Es sind ja nur Aufkleber! Ich rieb mir den Bauch.
Als ich am nächsten Tag vor deiner Tür stand, war ich nervös. Wann sollte ich dir mein Geschenk geben? Und wie? Ich klingelte. Als du die Tür öffnetest, brachte ich nicht mehr als „Hallo“ und „Alles Gute zum Geburtstag“ heraus. Die Aufkleber hielt ich hinter meinem Rücken versteckt.
Nach und nach trudelten die Gäste ein. Dann schlug deine Mutter vor, die Geschenke auszupacken. Ich riss die Augen auf. Vor allen? Jetzt? Wir stellten in einem kleinen Kreis Stühle auf und setzten uns. „Das ist von mir!“, rief Melli und gab dir das erste Geschenk. „Meine Mama hat’s gekauft!“ Ich weiß noch, wie du das Papier aufgerissen hast. „Es ist ein Federmäppchen!“, rief Melli. Ich schluckte. Genauso eins wie die im Schaufenster… Dann nickte mir deine Mutter aufmunternd zu: „Na, Ellie, willst du?“
Ich blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. „Ich geb’s dir lieber später, Anna, ok?“
Als alle Geschenke ausgepackt waren und auf dem kleinen Beistelltisch neben dir ihren Platz gefunden hatten, rief uns deine Mutter zu: „Es gibt Kuchen! Wer will?“
Alle stürmten auf den gedeckten Tisch zu. Außer ich – und du.
„Anna?“, flüsterte ich. „Ich hab noch was für dich. Ich hab mich nicht getraut, dir das vorhin zu geben.“ Ich holte das Geschenk hinter meinem Rücken hervor. Klein, flach und unscheinbar schien es über meiner Hand zu schweben, neben den anderen Geschenken, die sich auf dem Beistelltisch türmten. Sogar ein Schulranzen war darunter. Einer dieser viereckigen, die nicht umfielen, wenn man sie hinstellte und den Deckel aufklappte.
„Danke!“, sagtest du lächelnd.
Ich senkte den Blick. „Ich … Ich hätte dir gern was anderes geschenkt, aber ich hatte kein Geld.“ Ich schluckte, meine Wangen brannten. „Ich hoffe, sie gefallen dir trotzdem “
Vorsichtig schielte ich zu dir hinüber – und sah in ein Gesicht, das vor Freude strahlte.
„Oh, sind die schön! Die kann ich für mein Poesiealbum benutzen! Die gefallen mir sehr, danke!!!“ Ich konnte es nicht fassen. Mit einem Mal fiel die Last der vergangenen Tage von mir ab und in mir breitete sich ein warmer Frieden aus.
Dieses Erlebnis ist der Grund, warum ich dir heute schreibe, Anna. Ich möchte, dass du weißt: Nicht nur ich habe dir zu deinem Geburtstag etwas geschenkt, sondern du auch mir. Etwas, von dem ich bis heute zehre, wenn es in meinem Leben dunkel wird. Etwas, für das ich auf ewig dankbar bin. Weißt du, in schweren Zeiten hat mir mein Glaube oft geholfen. Besonders Bibelstellen, die mit Licht zu tun haben, schenken mir immer wieder Kraft und Hoffnung. Eine erinnert mich immer an dich: „Herr, du machst die Finsternis um mich hell, du gibst mir strahlendes Licht.“ (Ps. 18,29)
Wie du dich damals an deinem Geburtstag über mein Geschenk gefreut, wie du mich angenommen und mir die Last damit abgenommen hast – das ist ein Licht, das bis heute mitten in meine Dunkelheit hineinstrahlt. Du warst, bist und bleibst ein ganz besonderes Geschenk für mich! Von ganzem Herzen: Danke!
Deine Ellie
Ellie Hanson, Hausfrau, Jahrgang 1975, Bayern
Freude verstehen – auch wenn das Leben nicht so läuft
Die Frage „Können Sie mich verstehen?“ stelle ich seit acht Jahren sehr häufig. Mal bin ich dabei freundlich und ehrlich, mal genervt und wütend. Vor allem bei notwendigen Telefonaten mit öffentlichen Stellen wie Behörden, Ämtern, Arztpraxen etc. ist es für mich echt ein Problem, verstanden zu werden.
Wenn ich unbekannten Menschen gegenüberstehe und anfange zu sprechen, kommt diese Frage allerdings nicht so häufig; die Reaktionen sind dann eher witzig – die Augen werden vor Erstaunen größer, der Mund steht oft offen, Stirnrunzeln …
Den Menschen, die ich anspreche, steht eine auf den ersten Blick völlig normal aussehende Frau gegenüber, Mitte 40, klares Auftreten, vielleicht etwas zu bunt gekleidet, meistens mit drei Töchtern – wie Orgelpfeifen – im Schlepptau. Und dann …
… dann fange ich an zu sprechen und die Mimik meines Gegenübers verändert sich oder es herrscht erst mal Stille in der Leitung. Mein Auftreten und mein Sprechen sind so konträr, dass ich zunächst Verwirrung beobachte.
Die Ursache dieser Reaktionen ist meine veränderte Sprechweise, die sehr nasal und „verschwommen“ ist. Am ehesten mit einem Schlaganfallpatienten vergleichbar. Jedenfalls nicht mehr der Norm entsprechend.
Als die Diagnose kam, war ich in der 40. Schwangerschaftswoche, und wir haben jeden Moment mit der Geburt unserer 3. Tochter gerechnet. Bei mir war ein bösartiger Tumor im linken, oberen Gaumenbereich festgestellt worden. Dass ich an Speicheldrüsenkrebs erkrankt war, konnte ich erst zwei Jahre später so formulieren. Das Wort „Krebs“ war lange Zeit tabu für mich.
Das Wichtigste vorweg: Ich bin seit über 6 Jahren krebs- und tumorfrei! Gott sei Dank!
Drei Wochen nach Salomes Geburt begannen die Behandlungen; erst nur Operationen, dann aber, nachdem Ende 2013 ein Rezidiv festgestellt worden war, doch eine Strahlentherapie.
Insgesamt bin ich in den letzten acht Jahren 18 Mal operiert worden, mehrmals wirklich große und lange OPs von bis zu 11 Stunden, ich war zwei Wochen im künstlichen Koma, in dem ich aufgrund einer Medikamentenunverträglichkeit grauenhafte Alpträume durchlebte, hatte drei Halsröhrenschnitte, wurde wochenlang künstlich ernährt, habe viel Haut-, Gewebe- und Knochentransplantationen mitgemacht; und ich werde auf „meiner“ Station in der Klinik mittlerweile mit herzlichen Umarmungen empfangen, weil wir uns einfach schon so lange und gut kennen! Die letzte OP fand Mitte September 2019 statt und ging drei Stunden. Grund hierfür sind Strahlenschäden, die eine gravierende Wundheilungsstörung im Schläfenbereich verursacht haben.
In diesen Jahren habe ich aufgrund der vielen Eingriffe im Gaumen- und im linken Gesichtsbereich mein normales Sprechen sowie einige Nervenstränge verloren, was eben zu dieser markanten Veränderung im Sprechen und der Mimik geführt hat. Aber ich habe das Leben zurückerhalten, gewonnen und behalten! Und das ist Gottes Werk in, an und mit mir. Ohne Gottes Gnade würde ich nicht mehr leben.
Und damit bin ich beim Thema „Freude“: Wie kann man trotz einer derartigen Lebensgeschichte dennoch von Freude sprechen? Für mich ist Freude nicht mit oberflächlichem „Spaß-haben“ oder „Partymachen“ gleichzusetzen. Freude ist eine tiefe Emotion, eine innere Haltung, gekoppelt mit Dankbarkeit.
Eine der ersten nachhaltigen Übungen zum Umgang mit der Erkrankung gab mir mein Psychologe. Anstatt mich zu bemitleiden, was ich nach der ersten Operation lieber gehabt hätte, hat er mir nahegelegt, einen „Lebensstil der Dankbarkeit“ zu praktizieren. Wenn mein Mann mich nicht an die Hand genommen hätte, hätte ich diese Übung vermutlich erst mal verweigert. So habe ich aber erlebt, dass der Fokuswechsel – weg von dem Entsetzen, der Angst vor der Zukunft, der Warum-Frage – hin zum Dank über jede Kleinigkeit bis hin zu unseren Kindern und der wunderbaren Versorgung durch unsere Großfamilie und meine behandelnden Ärzte, mich innerlich in Balance gehalten hat und sich dadurch „göttliche“ Freude ausgebreitet hat, die ganz unabhängig von den Umständen ist.
Und ich habe immer wieder konkrete Freudenmomente erfahren, zum Beispiel als ein nach der Strahlentherapie entstandenes Ödem an der Schädelbasis plötzlich einfach nicht mehr da war oder als mir völlig unerwartet eine Stelle in einer Klinikschule angeboten wurde! Dazu sei erwähnt, dass ich Gymnasiallehrerin bin und mein Beruf auch wirklich meine Berufung ist. Es war ein harter Schlag für mich, wegen der veränderten Sprechweise nicht mehr an einer normalen Schule unterrichten zu können. Dass ich jetzt an der Klinikschule Jugendliche, die akute psychische Probleme haben und in diesen Phasen ebenfalls nicht mehr der Norm entsprechen, unterrichten und ermutigen darf, ist ein riesiges Geschenk von Gott! Es bereitet mir echt jeden Unterrichtstag Freude, an dieser Schule zu sein! Ich durchlebe alle Emotionen Gott gegenüber. Das Geniale an Ihm ist, dass Er alles erträgt und sich Seine Liebe zu mir nicht ändert. Mein Konfirmationsvers steht im Lukasevangelium. Jesus spricht: „Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre!“ (Lukas 22,32)
Welche Kraft und Freude in diesen Worten steckt, habe ich in den letzten acht Jahren neu verstehen und erleben dürfen: Jesus selbst betet für mich!
Annette Glaser, Lehrerin, Jahrgang 1974, Pfinztal