Table of Contents
»Der allwissende Prinz«
Atlantic Dream - 4 Tage vor der Synchronisierung
Flamingo-Station - 4 Tage vor der Synchronisierung
Königreich der Träume - 4 Tage vor der Synchronisierung
Flamingo-Station - 4 Tage vor der Synchronisierung
Königreich der Träume - Tag der Synchronisierung
Königreich der Träume - 1 Tag nach der Synchronisierung
Flamingo-Station - 5 Jahre vor der Synchronisierung
Flamingo-Station - 4 Jahre vor der Synchronisierung
Flamingo-Station - 3 Jahre vor der Synchronisierung
Flamingo-Station - 2 Jahre vor der Synchronisierung
Flamingo-Station - 1 Jahr vor der Synchronisierung
Königreich der Träume - 1 Tag nach der Synchronisierung
Flamingo-Station - 1 Tag nach der Synchronisierung
Flamingo-Station - 2 Tage nach der Synchronisierung
Königreich der Träume - 2 Tage nach der Synchronisierung
Flamingo-Station - 2 Tage nach der Synchronisierung
Vorschau
Seriennews
Impressum
Königreich der Träume
Sequenz 8
von I. Reen Bow
Manchmal ist es notwendig, ein paar Schritte zurückzutreten, um das Ganze zu erkennen.
»Albert«, meldet sich Ninas Stimme, meine Assistentin, die meinen Prozess überwacht. »Bist du soweit?« Sie spricht ruhig und ich höre sie nur in meinem Kopf.
In der neuen Simulation befinde ich mich völlig allein. Es ist meine dreihundertzwölfte Testphase, doch diese ist entscheidend, denn heute werde ich auf eine Traumsequenz stoßen - immer wieder ein heikles Thema.
Meine nackten Füße stecken im glasklaren Wasser, in einem der zahlreichen Naturbecken, die eine Treppe formen. Ein leise rauschender Wasserfall verbindet die Becken miteinander und sorgt dafür, dass die einzelnen Becken stets gefüllt sind.
»Bin bereit«, antworte ich und beuge mich dann herunter, um meine umgekrempelten Hosenbeine, die langsam runterrutschen, bis zu den Knien hochzuziehen. Dann drehe ich mich um meine eigene Achse, betrachte die Berge, die vielen Hotels, die in die Landschaften integriert wurden, und schaue ich zu der Ruine der versunkenen Stadt zurück. Sie ist von einem komplexen Glaskonstrukt umstülpt und kann somit von Menschen betreten werden. Dieser Ort wirkt wie die perfekte Symbiose eines Urlaubsparadieses und einer versunkenen antiken Stadt. Das ist Atlantic Dream, die neue Simulation, die bald das Königreich der Träume ersetzen wird.
Als ich eine Beckenstufe auf die versunkene Stadt zugehe, beginnt die Erde zu vibrieren. Das Wasser, in dem ich stehe, zittert dabei ein wenig. Vorsichtig laufe ich weiter und passe auf, dass ich auf dem glatten Steinbeckenboden nicht ausrutsche. Ich steige dessen ungeachtet Stufe um Stufe hinab, wobei sich die Erdvibrationen kontinuierlich verstärken.
Dazu erklingt eine zarte Melodie. Als würde eine junge Frau singen. Das Lied ist schauerlich schön und ist mit Melancholie durchdrungen. Die Stimme wird immer klarer und die Lautstärke nimmt ebenfalls mit jedem Schritt zu. Wäre der Ort voller Touristen, würden sie alle zur Ruine eilen, denn der Gesang ist das Zeichen für eine kommende Traumerscheinung. Auch wenn das hier mein programmiertes Werk ist, weiß ich nicht, was mich erwartet, weswegen ich nervös bin. Gegen ein paar kreischende Touristen hätte ich im Moment nichts einzuwenden. Mein System hat allerdings noch keine Autorisierung, komplett in Betrieb genommen zu werden. Mein Team darf mit geringem Stromverbrauch immer nur kleine Teile der Simulation testen. Zu gerne würde ich meine Welt in voller Pracht bewundern.
»Nina, wie sind die Daten?«, frage ich.
»Nicht schlecht. Siehst du schon etwas?«
»Nein, aber ich höre Lyris Lied.«
»Dann Augen auf, Boss.«
»Geht klar.«
Ich verlasse die Wasserbeckentreppe und laufe über den, durch die Sonne erwärmten, gepflasterten Weg, der direkt zum Eingang der versunkenen Stadt führt: Dort steht ein großes Gebäude, das direkt am Meer errichtet ist, keine Fenster besitzt und aus bemalten Wänden besteht, auf denen bizarre und traumähnliche Szenarien abgebildet sind. Monster und helle Geschöpfe sind ineinander verschlungen und bilden eine Einheit. Den Eingang zum Gebäude erreiche ich über eine breite Rampe, denn beim Design der Simulation haben wir dieses Mal auch an Barrierefreiheit gedacht. Rick hatte uns darauf hingewiesen, dass wir das im Königreich der Träume völlig außer Acht gelassen hatten. Dieses Mal werden wir für die Synchronisierung eine größere Vielfalt und eine reellere Umgebung garantieren. Vermutlich gibt es weitere Punkte, an die wir nicht gedacht haben, aber ich sorge dafür, dass wir uns täglich verbessern.
Nach Betreten des Gebäudes gelange ich in eine Galerie, die sich über zweiundzwanzig Stockwerke erstreckt. Das ist das Lyri-Eliot-Museum. In dem alten System wurde diese Einrichtung lediglich erwähnt, aber nie programmiert. Mit Hilfe von Menschen, die die Träumerin in der Realität gekannt haben, sind inszenierte Fotos und kopierte Gegenstände entstanden, die hier ausgestellt sind. Schulaufsätze, Tagebücher, Zeichnungen, Spielsachen, Kleidung. Nichts davon besitzen wir wirklich.
In dieser hohen Halle klingt das Lied der Träumerin sogar noch lauter. Es verfängt sich in den Windungen der Galerie und verstärkt sich beim Aufprall an der Decke. Ich durchquere das Haus zur gegenüberliegenden Tür und nehme dabei über meine nackten Füße den kalten, auf Hochglanz polierten Marmorboden wahr. Als ich die Tür öffne und in den dahinterliegenden Glasgang trete, verhallt der Gesang. Zumindest glaube ich das zunächst. Sobald ich jedoch die Tür hinter mir schließe und in dem Glasgang stehe, der vom Wasser umgeben ist, höre ich die Stimme wieder - dumpf und leise.
Von hier aus erkenne ich bereits das Glaskonstrukt, das um die Stadtruine erbaut wurde. Teilweise ragt es sogar aus dem Wasser heraus. Am Ende des Ganges angekommen, werfe ich einen Blick auf die Stadt. Die Glaskonstruktion ist doppelschichtig erbaut, einmal um die Gebäude herum zieht sich das gläserne Gebilde und noch ein zweites darüber. Somit können die Touristen die Ruine durch eine Art Aquarium betrachten. Doch das ist noch nicht alles: Ein komplexes Glastunnelsystem ist wie ein Labyrinth durch die Stadt errichtet. Gänge laufen an den Häusern vorbei, aber führen auch in einzelne Gebäude hinein. An besonders schönen Häusern sind Glaskonstrukte so in die Originalgebäude integriert, dass sie komplett begehbar sind. Dem Touristen von Atlantic Dream bleibt scheinbar nichts verborgen. Bis auf eine wichtige Sache. Und genau diese huscht gerade durch mein Sichtfeld, entschwindet dann jedoch sofort um die Ecke.
»Nina, ich habe etwas«, sage ich und laufe in die Glasstadt hinein.
Es dauert nur einen Augenblick, bis ich erneut eine Bewegung wahrnehme. Ich achte nicht darauf, wohin ich laufe. Meine Füße rennen eine Glastreppe hinab, wechseln von Gebäude zu Gebäude, durchqueren Gänge, die unter ehemalige Brücken führen. Dann finde ich Lyris realgewordenen Traum. Nun ja, in diesem Fall programmiert.
Es handelt sich um ein durchsichtiges Geschöpf, das irgendwie aus Lichtkonturen besteht. Es weist zwei große Kulleraugen auf, die mich an schwarze glatte Steine erinnern, die man gern über eine flache Seeoberfläche hüpfen lässt.
Das Wesen trägt einen langen Mantel aus Licht und auf dem Kopf hat es ein Hirschgeweih, in dem sich bereits Algen verfangen haben. Als es mich bemerkt, schwimmt es durch das Wasser zur Wand und berührt sie. Ich lege meine Hand auf die Glasfläche. Es betrachtet sie eine Weile neugierig, dann legt es seine Lichthand darauf.
Das Gefühl ist atemberaubend und bringt mich zum Lächeln. Die Hand der Traumerscheinung ist kleiner und zarter als meine und ich kann nicht aufhören, in die großen, dunklen Augen zu blicken. Dieser Traum scheint harmlos zu sein. Zumindest versucht es nicht, durch die Scheibe zu mir zu gelangen. Wir haben das System extra so programmiert, dass die Träume stets im Wasser und nur in der eingegrenzten Stadt auftauchen. Mehr als einen Sichtkontakt zu den Touristen sollen sie nicht haben. Es gibt keinen Ausgang, durch den die Träume aus der Stadt in den angrenzenden See gelangen können. Auf diese Weise sparen wir uns irgendwelche Traumauflöser, Beschützer, Verletzungen und Todesopfer - allgemein verzichten wir in dieser Simulation auf mögliche Gefahren. Es hätte sich sonst nicht mit der paradiesischen Idylle vertragen. Uns ist Sicherheit sehr wichtig, weswegen wir mit versteckten Programmen arbeiten. Sie sind überall in dem Glas, im Wasser, in der Luft - kleine unsichtbare Codes.
Das Wesen vor mich verliert bald das Interesse an mir und schwimmt davon. Meine Aufgabe besteht auch nicht darin, das Kerlchen zu bespaßen. Er ist programmiert und ich bin der Designer dieser Simulation, eine innigere Beziehung werden wir nicht aufbauen.
»Das reicht für heute«, sage ich und logge mich aus Atlantic Dream aus.
Sobald ich wieder in der Realität bin, spüre ich den Stuhl unter mir und die Virtual-Reality-Brille auf dem Kopf und dem Gesicht. Ich nehme sie ab und lege sie neben meiner Tastatur auf den Tisch.
»Und?«, fragt Nina. Ihr Blick ist leicht schelmisch und wahrscheinlich angeboren, denn so schaut sie fast immer.
»Die Landschaft ist beeindruckend. Und die Traumerscheinung wirkt natürlich. Ist selbstständig. Klammert sich nicht an die Touristen.«
»Bist du bis zum Schlaflabor gekommen?«, fragt Nina.
»Das ist zu weit weg, ich traue mich noch nicht, mich durch das System zu teleportieren. Das testen wir in einer der nächsten Phasen. Was mir fehlt, ist mehr natürliche Wasserumgebung. Mehr Fische, Algen oder solche Sachen. Und besseres Licht. Das erledige ich gleich heute.«
»Gut, dann starte ich die Renderfarm, wenn du fertig bist.«
»Du bist ein Schatz«, sage ich und Nina verdreht lächelnd die Augen.
»Schleimer« sagt sie und verlässt das Büro.
Ich schnappe mir ein paar Magnetkugeln und trenne sie voneinander, lasse sie aus kurzer Entfernung aufeinander knallen und löse sie erneut. Das wiederhole ich mehrmals und denke dabei darüber nach, wie ich die Simulation optimieren kann.
»Schon gehört?«, fragt Nina, als sie nach ein paar Minuten zurückkommt.
Sie stellt mir einen Kaffee auf meinen Tisch, den dritten heute. Ich versuche, ihn erst einmal zu ignorieren, um den Codeschnipsel für das unfertige Umgebungslicht anzupassen. Es ist echter Kaffee, den sich nur Gutverdienende leisten können, wozu mein Team und ich gehören. Dieser Umstand hat mich jedoch zum Kaffeejunkie gemacht.
Meine knochigen Finger gleiten über die Tastatur, als wäre ich ein Spitzenkomponist beim Erschaffen eines weltbewegenden Werkes. Schon als Kind liebte ich das Klappern von Tasten. Ich wollte immer die lauteste Tastatur haben, damit ich bei anderen irgendwie besonders rüberkomme - heute sind meine Codes wichtig und ich muss niemanden mehr mit Geklappere beeindrucken; es ist reine Gewohnheit geblieben, zum Bedauern meiner Mitarbeiter.
»Albert? Hörst du zu? Ist wichtig.«
Ninas Dringlichkeit und der betörende Kaffeegeruch lenken mich vom Arbeiten ab. Meine Finger tasten nach der Kaffeetasse. Ich stoße mich leicht mit den Füßen am Boden ab und rolle mit dem Bürostuhl einen Meter zurück, bevor eine Kiste mich ausbremste. Dort liegen Datenträger mit Fehlermeldungen aus dem Königreich der Träume-System. Die letzten Monate habe ich mit der Analyse des Systems verbracht, um Atlantic Dream zu optimieren.
»Sie wollen Unbefugte in Ryans System lassen«, sagt Nina.
Ich runzele die Stirn, bevor ich einen kleinen Schluck Kaffee trinke und erschöpft in meinem Stuhl versinke.
»Wen?«
»Irgendwelche Spinner, die sich ein wenig amüsieren wollen.«
Ich muss an Jessica denken, die zum Opfer solcher Idioten werden könnte. Allein die Vorstellung, irgendwelche dreckigen Griffel betasten ihren Körper, macht mich wütend, doch ich versuche mich, ruhig zu verhalten. Meine Befürchtungen entsprechen sicherlich nicht der Realität.
»Wozu?«, frage ich schließlich.
»Kannst du es dir nicht denken?«
Doch, leider viel zu bildhaft. »Ryan will die Fehlerquote erhöhen«, brumme ich und lege ein Bein auf mein Knie.
Nina zuckt mit den Schultern und lehnt sich mit dem Rücken lässig an einen massiven Aktenschrank. Sie trägt ihr Haar kurz wie ein Mann und auch ihre Figur ist zierlich und eher mager als kurvig. Dennoch gehört sie zu den Frauen, die Männer um den Finger wickeln - mit diesen großen, grünen Augen, die einen durchbohren und sprachlos machen. Ich wäre ihr gerne mal verfallen, wäre da nicht Jessica.
»Was willst du jetzt machen?«, fragt sie.
»Ist doch nur ein Gerücht. Solange keine nervigen Touristen aus der Realität reingehen, unternehmen wir nichts. Ryan würde niemals zulassen, dass ihm jemand in das System pfuscht. Woher hast du diese Info überhaupt?«
»Von einem Soldaten, mit dem ich gestern ...«
»Keine Details«, bitte ich.
»Mit dem ich nur was trinken war. Du denkst nur das Schlechteste von mir.«
»Nein. Nein. Ich trenne Privates und Geschäftliches. Das weißt du doch.«
Sie wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Von wegen! Was ist mit -«
»Du wolltest mir von dem Gerücht erzählen.«
»Feigling«, flüstert sie, dann steckt sie die Daumen in ihren Gürtel. »Soll irgend so eine politische Maßnahme von General Malor sein. Zur Wahlzeit machen sie die bescheuertsten Dinge.«
»Das funktioniert doch eh nie! Leere Versprechungen. Selbst der General hat nicht die nötige Macht.«
»Keine Ahnung. Ryan lässt sein System ganz schön verkommen. Der würde jetzt vermutlich jeden Mist unterschreiben, um das Königreich am Netz zu behalten. Ihm bin ich gestern ebenfalls in der Bar begegnet - er war hackedicht. Er scheint andauernd in die Simulation abzutauchen.«
»Das hatte ich befürchtet«, sage ich und deute zu der Kiste mit Fehlerprotokollen, die sich in letzter Zeit häufen. »Der fährt seine Simulation noch gegen die Wand. Wir müssen das direkt vor Ort überprüfen.«
»Soll ich reingehen?«, fragt Nina.
»Nein, das mache ich selbst. Ich brauche dich hier.«
Jetzt grinst sie und verschränkt die Arme vor der Brust. »Ist das klug, Albert? Du weißt, dass Ryan dich nur herausfordern will, damit das Release von Atlantic Dream verschoben wird.«
»Weiß ich. Aber so wie er sich verhält, wird es bald nur noch unsere Simulation geben.«
»Ja, das glaube ich auch. Er erinnert mich an meinen Alkoholikervater. Mit seinem Verhalten hat er die Ehe ganz schön demoliert. Ryan wird das echt noch bereuen.«
»Tut mir leid, wegen deiner Familiengeschichte, Nina.«
»Haben wir nicht alle jemanden auf eine tragische Weise verloren? Die Traumkalypse sollte Trauerkalypse heißen. Die ist echt fies.«
»Ist sie.« Ich nehme einen weiteren Schluck und rolle mit dem Stuhl an meinen Schreibtisch zurück, wo ich die Tasse abstelle und das Steuermodul für die Designerschnittstelle anklicke. Während es sich aufbaut, sehe ich zu Nina und sage: »Ich muss da rein. Wenn ich keine Lösung für Ryans Fehler finde, starten wir nie. Kommst du hier zurecht?«
»Sicher doch, Boss.« Sie zwinkert mir zu, doch ich wende mich sofort von ihr ab und fülle das Eingabefenster aus.
Nina reicht mir die Virtual-Reality-Brille und sieht mich ernst an. »Stell aber keinen Unsinn an, ja?«
»Ich doch nicht.«
»Albert?«
Ich rolle mit den Augen. »Ist okay, ich gebe mein Bestes.«
»Das hoffe ich für uns alle.« Sie setzt sich auf einen Bürostuhl und rollt an meinen Arbeitsplatz. »Rutsch rüber, ich übernehme das Einloggen.«
Nina zieht die Tastatur zu sich, dabei kommt eine Glückwunschkarte hervor, die ich längst vergessen hatte.
»Hattest du Geburtstag?«, fragt sie.
»Vor einem Monat etwa.«
Sie beißt sich leicht beschämt in die Lippe, doch ich hebe bereits die Hand.
»Nicht wichtig.« Schnell schnippe ich die Geburtstagskarte zu meinen Notizen und Unterlagen.
»Wie alt bist du denn geworden?«, lässt Nina nicht locker, während sie die Protokollmaske weiter mit Datum und Grund des Eintauchens ausfüllt.
»Siebenunddreißig.«
»Wow. Die Anlage hier macht das Ältersein möglich.«
Wir grinsen beide. »Hoch lebe Flamingo-Station«, sage ich.
»Sei mal nicht so zynisch. Bist du bereit?«
Ich nicke. »Danke für die Hilfe.«
»Habe ich denn eine andere Wahl? Ich bin deine Assistentin.
»Du bist ein Schatz, Nina.«
»Ja, ja, schon gut. Du wiederholst dich.«
Das Gute an Simulationsdesignern ist, dass wir kein Red Tea-Serum benötigen, um in das Programm einzutauchen. Und wir haben Zugriff auf jede Menge nützlicher Tools. Das System sieht uns als Teile von sich an und stößt uns nicht ab. Zu Beginn des Projektes Goldener Käfig sollten auch die Simulationsreisende auf diese Weise abtauchen, aber es hätte niemals zu einer Synchronisierung zwischen der programmierten Welt und der echten geführt. Deswegen sind Jessica und ihre Kollegen die Schnittstellen zur Realität und wir Programmierer sorgen dafür, dass die Simulation um sie herum problemlos läuft.
Nachdem ich die Virtual-Reality-Brille aufgesetzt habe, benötige ich keine drei Sekunden, um mich in die Simulation einzuloggen. Die Neurotransmitter sorgen dafür, dass ich die simulierte Luft spüre, die Aromen von Hotdogs rieche und die lauten Stimmen der Touristen um mich herum höre. Schnell versuche ich, mich zu orientieren. Ich befinde mich in einer Menge Gruftis, die mit trägen Augen die Stadt betrachten.
Da ich mehrere Wochen nicht eingetaucht war, überprüfe ich zuerst das Protokoll der letzten Tage. Es erscheint vor meinem inneren Auge als Code. Ich kann mir auch die Videoaufzeichnungen ansehen, aber dazu müsste mein realer Körper in der Zentrale der aktuellen Simulation sitzen, ich würde von meinem jetzigen Standpunkt unnötigerweise wertvolles Datenvolumen auffressen. Ich suche nach großen Ausschlägen und Markierungen im Code, die darauf hinweisen, dass das Königreich der Träume wegen einer hochstufigen Sequenz geschlossen wurde. Schnell entdecke ich eine Ungereimtheit, die ich überprüfen muss. Denn bevor das System keine Synchronisierung mit der Realität aufweist, dürfen solche hohen Stufen nicht eingespielt werden, damit das System nicht vorzeitig – wegen des verschwenderischen Verbrauches von Ressourcen - flöten geht. Die Stadt wurde sogar evakuiert und in den Untergrund heruntergefahren. Allein das frisst schon so eine große Menge Strom, dass die gesamte Flamingo-Station für zwei Monate hätte versorgt werden können. Energie ist zwar keine Mangelware, aber wir brauchen sie für den Synchronisierungsprozess.
Doch nun haben wir die unappetitlichen Horrorreste, die durch die Straßen schleichen und an den Häusern entlangkriechen. Skelettähnliche Ranken, Geister, die wie leere Ballons aussehen, Zombies, die so fit sind wie Erbrochenes; ihr Fleisch fällt schon beim Zusehen von den Knochen und hinterlässt widerwärtigen Schleim. Keine Ahnung, warum diese Freaks die Traumerscheinungen so toll finden. Mir wird übel, wenn ich sie sehe - simuliert oder real.
Ich muss mich vom aufkommenden Ekel ablenken, also schaue ich auf meine Hände. Sie sind die eines Teenagers. Das lässt mich grinsen, denn im Gegensatz zur neuen Simulation, bin ich im Königreich der Träume deutlich jünger. Dieses Aussehen habe ich nur für Jessica programmiert, damit ich sie unterstützen konnte, als sie mit den Simulationsreisen begonnen hat. Inzwischen würde sie über mein kindliches Aussehen lachen.
Der Gedanke an Jessica trübt meine Motivation. Ich habe mit ihr eigentlich die Abmachung, dass ich mich nicht in ihre Simulationspräsenz einmische. In der Vergangenheit hatte das zwischen uns ein paar Mal zu heftigen Streitereien geführt. Noch immer erinnere ich mich an ihre wütenden und enttäuschten Blicke, die sie mir danach zuwarf.
Ich verbringe den gesamten Tag damit, die Systemfehler vor Ort zu sammeln. Jedoch schweifen meine Gedanken immer wieder zu Jessica. Es ist unklug, ihren Standort zu überprüfen, dennoch mache ich es und kann mich nicht einmal mehr selbst belügen: Ich ziehe mit Absicht Kreise um ihren blinkenden Punkt auf der Karte in meinem Kopf. Dabei vermeide ich zunächst Sichtkontakt, doch irgendwann schaffe ich es nicht mehr und beobachte sie aus der Ferne.
Dabei werde ich Zeuge, wie sie ein Zombie angreift. Bei diesem Anblick bemerke ich, wie mein Herz fast stehenbleibt und meine Füße sich von allein auf sie zu bewegen. Ich zwinge mich, stehenzubleiben, denn ich habe ja versprochen, mich herauszuhalten. Allerdings ist es nicht normal, dass ein Resttraum so viel Energie besitzt, dass er einen Sequenzwächter zu Boden ringen kann. Ich überprüfe die Programmierung und erkenne Zusatzcodes, die eindeutig nicht dorthin gehören. Schnell kopiere ich diese in den Zwischenspeicher und versehe sie mit einer kurzen Notiz an Nina:
Finde heraus, wer das geschrieben hat.
Jessica gelingt es nicht, sich von dem Zombie zu befreien. Sie sprüht zu viel Solve und bekommt dadurch kaum Luft. So langsam komme ich ins Schwitzen, doch dann helfen ihr Rick und Ben aus der Situation.
Es fühlt sich an, als wüsste das System, dass es bald abgeschaltet wird. Alles geht vor die Hunde. Warum macht Ryan nichts dagegen?
Eigentlich sollte es mir Spaß machen, Ryan die Sicherheitslücken unter die Nase zu reiben. All das, was ich finde, geht auf seine Kappe. Dafür ist die Situation jedoch viel zu ernst, als dass ich Schadenfreude empfinden könnte. Mein System wird nur deswegen sicherer laufen, weil ich Zugriff auf alle Fehler und Erfolge von Königreich der Träume