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»Der besorgte König«
Heute.
Drei Jahre zuvor.
Heute.
Teil 2
Seriennews
Impressum
Königreich der Träume
Sequenz 6
von I. Reen Bow
Tagträumen ist gesund und Wolkenschlösser sind mietfrei.
»In welchem Sektor befindet sich die Bahnstation«, fragt Jam Swarn. Dabei kaut er an seinem aus der Kantine geschmuggelten Butterbrot und lehnt sich aus dem Fahrerfenster des Pick-ups, auf dessen Motorhaube das rote Stationslogo klebt - eine Flamingo-Silhouette. Angewidert sieht er dabei hinab auf sein Essen, beißt dann aber erneut ein Stück ab. »Man möchte meinen, wenigstens die Köche würden würdigen, dass wir hier einen Knochenjob für die Allgemeinheit verrichten.«
»Knochenjob?«, frage ich, als ich um den Wagen herumlaufe und liebevoll die rostige Motorhaube tätschele. »Halte durch, altes Mädchen.«
»Wenn ich den Fraß ein weiteres Jahrzehnt ertragen muss, schaue ich freiwillig bei der Träumerin vorbei.«
»Das will ich sehen.«
»Also, wohin kommandieren sie uns heute ab?«, fragt Jam.
Ich steige ein und hole das dünne Mäppchen mit den Befehlsunterlagen aus der Innentasche meiner Soldatenuniform. Dabei streifen meine Finger einen in Plastik versiegelten Briefumschlag, woraufhin ich unwillkürlich lächeln muss. Allein das Wissen darüber, dass ich Jessicas Zeilen täglich bei mir trage, sorgt bei mir dauerhaft für gute Laune.
Mit der Aufklärung bezüglich des neusten Auftrags lasse ich mir Zeit, denn meine Gedanken schweifen ab, was Jam dazu bringt, unruhig auf seinem Sitz hin- und herzurutschen. Obwohl der Kerl der lässigste Typ ist, den ich kenne, ist er auch der Ungeduldigste, wenn es ums Warten geht.
»Warren, schlaf nicht ein«, sagt er. »Welcher Ring?«
»Weiß nicht, glaube fünfzehn«, sage ich, während ich endlich das Befehlsmäppchen öffne und durch das Protokoll blättere.
»Fünfzehn? Wäre blöd. Bist du dir sicher?«
»Ich schaue gleich nach.«
»Dave!«, grunzt Jam und stopft sich schnell den Rest seines Brots in den Mund, um daraufhin das Lenkrad mit beiden Händen zu umfassen und kurz daran zu rütteln.
»Ah, hier steht es. Wir müssen in den Süden, zur Bahnstation Terry im neunten Ring. Verlassene Stadt ohne Träume. Glück gehabt, was? Das ist sogar in Funkreichweite.«
Mit vollem Mund kann Jam nicht antworten, aber er nickt abwägend. Seine Augen sind hinter einer Sonnenbrille mit runden Gläsern versteckt. Sie verleihen ihm einen schneidigen Ausdruck. Endlich dreht er den Startschlüssel und schenkt dem alten Motor einen Funken Leben. Keine Ahnung, wie lange die Rosthaube uns auf Einsätze begleiten wird; ich stoße jedes Mal ein kleines Gebet aus, dass wir heil heimkommen, wenn wir losfahren.
»Terry«, sage ich nachdenklich. Da war ich noch nie. »Jungs, bereit?«, rufe ich aus dem Fenster und sehe in den Seitenspiegel. Mitchels Hand mit dem gehobenen Daumen schiebt sich von der Ladefläche vor, sodass ich sie im Seitenspiegel sehen kann. »Gib Gas«, gebe ich an Jam weiter und wir brechen auf.
Um nicht an die gefährlichen Träume zu geraten, die vom Ring Zero ausgehen, bleiben wir vier Ringe lang unter der Erde. Die unterirdischen Arme der Flamingo-Station reichen inzwischen sehr weit in die äußeren Ringe hinein. Ständig werden neue Areale angebaut. Allerdings ist es der reinste Irrgarten! Ohne gute Navigation würden wir uns sicherlich andauernd verfahren.
Zunächst kommen uns noch Fußgänger entgegen und wir müssen oft anhalten, um sie vorbeizulassen, doch schon bald fahren wir durch kilometerlange Tunnelabschnitte, sodass wir gut vorankommen. Hin und wieder müssen wir jedoch auch durch größere Siedlungen fahren, die sich ebenfalls im Einflussbereich der Station befinden. Man beachtet uns kaum. Wir sind nur ein Militärfahrzeug von vielen. Das unterirdische Straßenbild wird davon geprägt. Die oberen Straßen nutzen wir nur in Notfällen. In der Regel fahren dort nur die Spezial-Truppen, zu denen meine Jungs und ich nicht gehören. Aber selbst die werden nur selten hinausgeschickt. Die Arbeit in den ersten zwei Ringen ist meist für das Kanonenfutter gedacht - Personen, die straftätig geworden sind und von der Station extra von überall aus der Welt herbeigeschafft werden, weil die anderen Menschen Angst vor ihnen haben und sie sowieso loswerden wollen. Ich versuche, nicht an diese Leute zu denken. Ich muss mich abgrenzen, um meinen Job überhaupt machen zu können. Wenn ich unvorsichtig bin, gefährde ich meine Männer und werde selbst zum Futter für die Alpträume da draußen.
»Warst du nicht vor zwei Tagen erst da oben?«, fragt Jam, als wir dem Ausgangstor näherkommen.
»Hmhm«, bestätige ich.
»Und wie ist es da gerade so?«
Ich zucke mit den Schultern. »Schauen wir mal.«
Jam atmet tief ein und verzieht den Nacken etwas, als würde er verzweifelt eine Anspannung loswerden wollen. »Keine Ahnung, was du an den Träumen so toll findest, Warren.«
Ich grinse lediglich in mich hinein und spüre in meiner Brust ein drückendes und gleichzeitig sehnsüchtiges Gefühl. Mein Geheimnis, warum ich gerne in die traumkontaminierte Welt hinausfahre, wird niemand verstehen, außer vielleicht Jessica und Rick. Jetzt, da ich an ihn denke, fällt mir wieder ein, dass er heute Morgen eine aufgeregte Nachricht hinterlassen hat. Er will persönlich mit mir sprechen. Dabei hat er so geheimnisvoll getan. Also hat es etwas mit der Simulation zu tun. Ricks Verschwiegenheit bringt mich manchmal auf die Palme, aber gleichzeitig schätze ich ihn auch genau dafür. Ich bin froh, dass mich die heutige Aufgabe ablenken wird und ich nicht den ganzen Tag darüber nachdenken muss, bis wir uns treffen, was er mir berichten will. Dennoch werfe ich einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr und seufze.
Neun Stunden warten.
Am Tor zum fünften Ring reiche ich die Genehmigungspapiere aus dem Fenster. Ein Kadett nimmt sie entgegen und überprüft sie. Dass er neu ist, erkenne ich an seinem Eifer, mit dem er jede einzelne Zeile des Passierscheins prüft und uns immer wieder neugierig beäugt.
Jam schiebt die Sonnenbrille auf seinen Kopf und versenkt sie in dem dunklen, dichten Schopf, den er längst mal kürzen sollte. Wir sind nur der Isolationstrupp, was ein schönerer Name für Putzhilfe ist. Aber unsere unbedeutende Position erlaubt es uns, so individuell auszusehen, wie es uns gefällt, abgesehen von der Militäruniform, die wir tragen und pflegen müssen.
»Junge, wir wollen heute noch raus. Wenn du Action erleben willst, steig ein, ansonsten tritt beiseite. Wir machen das nicht zum ersten Mal.«
»Lass ihn seinem Job nachgehen«, sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und sage dann zum Kadett, »Sorry, er hat ein Date mit der Träumerin.«
»Ha, ha!«, gibt Jam von sich.
»Was denn, du wolltest doch schon lange eine Sonderbehandlung.«
»Ja, aber dabei habe ich an eine Solderhöhung gedacht oder eine Einladung zu einem schicken Bankett, nicht den da.«
Der Kadett bleibt unbeeindruckt. »Bin neu hier«, sagt er und versenkt den Blick erneut in die Überprüfung des Passierscheines.
»Was du nicht sagst«, knurrt Jam.
Er verdeckt seine Augen wieder mit der Sonnenbrille und beginnt einen Rhythmus auf dem Lenkrad zu trommeln, was mich nervös macht. Ich verpasse ihm einen leichten Seitenhieb, damit er aufhört.
»Soll ich seinen Job auch noch machen?«, murmelt er. »Ja, ja. Schon gut. Bin ruhig.«
»Wie ist die Lage da draußen?«, frage ich, um die Situation etwas zu entkrampfen.
»Seit drei Tagen richtig entspannt. Könnte glatt einen Spaziergang wagen.« Während er das sagt, sieht der Kadett nicht einmal auf.
Das kann alles bedeuten. Dass uns zum Beispiel eine längere Ruhephase bevorsteht, was erklären würde, weswegen wir überhaupt zu einem Bahnhof geschickt werden. In nächster Zeit steht wohl eine größere Lieferung an. Es könnte aber auch sein, dass eine Alptraumwelle erwartet wird, und wir deswegen zum Aufräumen der Schienen verdonnert werden, damit eine wichtige Zustellung noch rechtzeitig durchkommt.
Ich hoffe auf das Erstere. Ich liebe Lyris Traumerscheinungen, weil ich mich ihr durch sie näher fühle, aber ich hasse ihre dunklen Träume. Nicht wegen ihrer grotesken Vorstellungskraft, sondern weil ich mir Sorgen um sie mache. Alpträume hat sie schon früher dazu benutzt, ihrer Angst eine Form zu geben und sich hinter ihnen zu verstecken, als seien sie ihre Schutzmauer.
Ich vermisse dich so sehr.
»Ihr könnt durch.« Der Kadett reicht mir die Genehmigung. Er gibt seinem Kollegen am Tor ein Zeichen, dieses zu öffnen, und winkt uns dann, weiterzufahren.
»Halleluja«, sagt Jam.
Ich lege zwei Finger auf meine Stirn zu einem kleinen Salut und löse ihn lässig mit dem Blick zum Kadetten. Dieser nimmt diese Geste ernster und salutiert, wie man es ihn eingedrillt hat. Daraufhin prustet Jam und sagt: »Du bist fieser als ich.«
»Und ich dachte, es würde mir niemals Spaß machen, die Kleinen zu ärgern«, gebe ich zurück. »Ich verstehe inzwischen, warum wir damals herumgeschubst wurden. Da muss wohl jeder durch.«
Wir plaudern über unsere Ausbildungszeit. Wir lachen, lenken uns ab, versuchen unsere Angst nicht zu zeigen, denn wenn das Tor hinter uns zugeht, weiß niemand, was passiert, falls was passiert. Seltsamerweise habe ich beim Rausfahren in Gesellschaft immer ein flaues Gefühl im Magen. Alleine ist es leichter, da trage ich keine Verantwortung für die anderen und sie wiederum müssen auch nicht auf mich aufpassen.
Die Luft vor dem Tor flimmert schwarz und weiß, als würden wir durch einen durchsichtigen, sich bewegenden Marmorstein fahren. Ich mache mir Sorgen um die Jungs auf der Ladefläche. Ein Blick durch das kleine Rückfenster verrät mir aber, dass es meinen Kameraden - Bane und Mitchel - gut geht. Die Umgebung ist lediglich von einem Traum eingefärbt, welcher weder giftig noch ätzend zu sein scheint. Auch wenn die Traumkalypse bereits seit neun Jahren andauert, haben wir uns alle noch nicht daran gewöhnt, uns auf das Unbekannte einzulassen. Manchmal lähmt uns die Angst, auf etwas zuzugehen, das gefährlich aussieht. Gleichzeitig haben wir die Vorsicht entwickelt, uns nicht von harmlosen Dingen täuschen zu lassen. Denn ein Traum ist unberechenbar und man muss mit allem rechnen, ohne dabei die Lässigkeit zu verlieren, die es in dieser Welt braucht. Anderenfalls würde man verrückt und damit arbeitsunfähig werden. Und helfende Hände sind so wichtig.
Die Siedlungen, an denen wir vorbeifahren, stehen leer. So nah am Ring Zero will niemand leben. Nur vereinzelt begegnen uns auf Einsätzen Bewohner, die sich geweigert haben, fortzugehen. Menschen, die sich nicht vor den Träumen fürchten, aber leider auch Leute, die aus anderen Städten wegen Überbevölkerung vertrieben wurden und die kein besseres Heim gefunden haben. Das Leben in diesen Siedlungen ist aber gefährlicher, als sich durch die Wildnis zu schlagen. Schwere Traumwolken hängen über ihnen. So bezeichne ich die hohe Konzentration an real gewordener Traumenergie, die sich fast schon wie flimmernde Kuppeln über die betroffenen Städte stülpt. Die Traumwolken über den Ortschaften auf unserem Weg sind nicht so dicht wie die Großstädte sie zu beklagen haben. Auch sind es kein Vergleich zum Ring Zero, der als das Nest der Träumerin bezeichnet wird. Diese alptraumhafte Mitte liegt in Jackson Mississippi - der Geburtsstadt von Lyri Eliot. Meiner ehemaligen Heimat.
Die marmorierte Luft erstreckt sich etwa eine Meile auf unserem Weg, sodass wir nicht gleich mitbekommen, dass wir über einen schwarzen Boden fahren, der aus geleeartigen kleinen Kugeln besteht, die von den Rädern in alle Richtungen geschleudert werden. Dieser Untergrund erinnert mich an den Kaviar, den die oberste Regierungsebene der Flamingo-Station noch immer gern verspeist. Meine Eltern hatten vor der Traumkalypse einmal dieses furchtbare Zeug zu ihrem Hochzeitstag gekauft und auch mir etwas zum Probieren gegeben. Es fühlte sich wie viele winzige Styroporkugeln im Mund an. Das Geräusch, das jetzt entsteht, wenn die Reifen diese Kugeln zum Davonspringen oder sogar Platzen bringen, klingt genauso grässlich wie damals beim Zerbeißen der kleinen Kügelchen.
»Reisende Traumerscheinung. Hast du gute Bodenhaftung?«, frage ich Jam, der daraufhin mehrfach das Lenkrad einhändig hin- und herbewegt. Der Wagen rutscht auf dem Untergrund wie auf Glatteis.
»Bin vorsichtig«, sagt Jam. Er setzt sich aufgerichteter hin und krallt sich mit beiden Händen in das Steuer.
Kurz darauf fahren wir wieder durch eine normal wirkende Landschaft. Luft und Boden wirken nicht außergewöhnlich. Ich spüre, wie die Anspannung von uns allen abfällt. Wir sind bisher keinen Monstern oder gefährlichen Naturphänomenen begegnet. Dabei sind mir seltsame Naturerscheinungen lieber als Monster. Sie sind zwar beängstigend, aber sie greifen einen nicht aus heiterem Himmel an.
Doch dann gelangen wir kurz vor Terry an einen merkwürdigen Laubwald. Es ist bereits Herbst. Das Laubwerk ist rot und gelb und sieht traumhaft schön aus. Dieser Wald wirkt vollkommen, als hätte ihn jemand gezeichnet. Das Licht ist atemberaubend, die Farben satt und nirgends gibt es einen Makel. Das bereitet Jam und mir Sorgen. Perfekte Dinge sind in der Traumkalypse ein Indiz für eine Traumerscheinung.
»Pass auf den Nebel dort auf«, sage ich und deute auf eine Stelle links vor uns. Etwas an der Erscheinung ist seltsam: Der Nebel wirkt nicht durchscheinend, sondern als bestünde er aus glänzenden winzigen Glaskugeln, die in der Luft schweben. Jam drosselt die Geschwindigkeit des Fahrzeugs und zieht den Wagen etwas nach rechts, sodass wir an diesem sonderbaren Gebilde vorbeifahren. Grundlos hängen unzählige Kugeln an scheinbar unsichtbaren Fäden. Sie sind etwa so groß, wie der Kaviar, über den wir gerade geschlittert sind. Die Kugeln könnten allerdings eher aus Glas oder Eis bestehen. Das ist ebenfalls eine reisende Traumerscheinung, die sich manifestiert, wenn die Traumstrahlung, die von Ring Zero ausgeht, auf ein Hindernis stößt, so wie dieser Wald hier oder die Straße, über die wir gefahren sind. Oft sind die wandernden Träume nicht so kritisch, wie die, die in Städten auftauchen. Die in den Städten lebenden Menschen bilden während ihrer Schlafphasen einen Kanal für die Träumerin, Bäume, Sträucher oder Fahrbahnen stellen offensichtlich keine so guten Leiter dar.
»Da hat jemand die Zeit angehalten«, sagt Jam ehrfürchtig. Dafür zieht er sogar seine Sonnenbrille vom Gesicht und wirft sie lieblos auf das Armaturenbrett.
»Wir können froh sein, dass es uns nicht den Weg blockiert. Das Zeug ist wie eine Wand«, stelle ich fest. »Auf dem Rückweg sollten wir diesen Wald umfahren. Ich will nicht wissen, wie dieses Glas sich in der Nacht verhält.«
»So lange bleiben wir doch hoffentlich nicht.«
»Besser, wir rechnen damit.«
»Na fein.« Jam tritt aufs Gas und bringt uns wohlbehalten aus dem Wald heraus.
Vor uns erstreckt sich Terry, eine kleine, gemütliche Stadt - zumindest war sie es ein Mal. Jetzt ist sie unbelebt. Zum Glück sieht man keine Traumwolke am Himmel. Das lässt darauf schließen, dass die Bewohner Terry noch vor einer Übersiedlung und dadurch einer Vergrößerung des Traumkanals für Lyris Alpträume aufgegeben haben. Trotzdem lautet unser Auftrag, den Bahnhof von reisenden Träumen zu befreien. Es wird mich nicht überraschen, wenn eine Menge Glaskugeln auf den Schienen entdecken, dies scheint wohl ein traumhafter Trend in der Gegend zu sein.
Die Bahnhaltestelle, um die es sich handelt, gehört nicht zum alten Stadtbild und wurde von der Flamingo-Station in den letzten Jahren für die zusätzliche Wartung der Schienen gebaut. Die Station ist auf die nahtlose Versorgung mit Lebensmitteln, Rohstoffen und Arbeitskräften angewiesen. Der winzige Bahnhof besteht aus einem einzigen Gleis und einem kleinen provisorischen Kontrollhäuschen, in dem nicht einmal ein Raum für einen Bahnarbeiter vorgesehen ist. Alles wird automatisch durch die Technik, die in dem Häuschen verarbeitet ist, gesteuert. Da niemand vor Ort ist, muss manchmal ein Isolationstrupp wie unserer vorbeikommen, um die Schienen von Träumen zu befreien.
»Was zur Hölle ist das?«, fragt Bane, als er entdeckt, was uns hier erwartet.
Auf den Schienen ist ein Berg bunter Gläser. Die Sonneneinstrahlung macht es zunächst schwer, genau zu erkennen, worum es sich hierbei handelt, doch als ich der Bahnsteigkante näherkomme und in die Hocke gehe, muss ich beinahe loslachen. Die Situation ist allerdings zu seltsam, sodass ich nur einen skeptischen Blick hinbekomme.
Ich drehe mich zu den Jungs um und frage: »Sind das Gutscheingläser?«
Jam bückt sich nach einem Behältnis und geht dann ebenfalls in die Hocke. Er schüttelt das zerbrechlich aussehende Glas und schiebt den glitzernden Verschlusskorken mit dem Daumen und einem Ploppgeräusch vom Gefäß. Seelenruhig zieht er mit seinen Wurstfingern ein buntes Papierröllchen heraus und entrollt es. Dabei verzieht er nicht einmal sein Gesicht.
»Süße Wunschzettel von der Träumerin«, sagt er lässig.
Er stellt das Glas auf den Boden und klopft sich die Hände an der Hose ab. Erst jetzt bemerke ich den Glitzer, der auf dem Zettel klebt. »Mit Mädchenträumen kommen wir klar.«
Mein Herz meldet sich in einem antreibenden Trommelrhythmus, wenn ich sehe, wie viel Arbeit vor uns liegt. Um ehrlich zu sein, ist es nicht die Beschäftigung, die mich in Unruhe versetzt, es sind die Träume auf den Zetteln in den Glasgefäßen. Große Wünsche eines kleinen Mädchens. Beinahe höre ich Lyris singende Stimme, während ich sie vor meinem inneren Auge sehe, wie sie unschuldig und frei von Sorge ihre Sehnsüchte aufschreibt und mit Glitzerpulver bestreut. Der Gesang verfängt sich in meinen Gedanken und zieht meinen Magen zusammen. Durch meine Arbeit vergesse ich keine Sekunde lang, dass Lyri im Ring Zero feststeckt und ihre Träume und Alpträume in die Welt sendet, aber oft verdränge ich die Tatsache, dass sie ein echter Mensch ist, mit wahren Empfindungen.
Situationen wie diese hier, vermiesen mir manchmal die Laune. Ich fühle mich dann, als hätte ich Lyri verraten und würde täglich gegen sie arbeiten. An diesen Momenten frage ich mich, ob ich das Mädchen, mit dem ich früher jede Sekunde meiner Freizeit verbracht habe, nicht mehr wahrnehme, ihre Hoffnung ignoriere. Vielleicht schickt sie mir deswegen diese Wunschgläser, damit ich mich erinnere. Dabei muss ich gar nicht nachlesen, was auf den Zetteln steht, um zu wissen, dass meine Freundin sich dort, wo sie jetzt ist, nicht wohl fühlt.
Langsam erhebe ich mich, lasse die Realität in meine Gedanken. Hinweis hin oder her, diese Gläser müssen von hier fortgeschafft werden. Ich überschlage grob den Zeitaufwand für die Aufgabe. Einige der Gefäße sind zu Bruch gegangen, die Glasscherben knirschen unter meinen Sohlen. Ein leichter Wind weht die bunten Papierröllchen wie Herbstlaub über den Bahnhof. Diese Zettel stellen wohl kein Problem für den Zug dar, aber die Gläser sind ein Hindernis. Daneben ist die Traumenergie hier nicht nur für uns spürbar, sie zieht vor allem weitere Träume an, die verloren umherwandern. Diese Schienenstrecke ist wichtig. Wir können nicht riskieren, dass darüber eine Traumwolke entsteht.
»Wieso haben wir keine Schubkarren?«, frage ich.
Schubkarren haben wir zwar nicht, aber wir nutzen zum Transport unsere Rucksäcke, in denen eigentlich unser Proviant steckt. Essen und Getränke legen wir auf die Autositze und befüllen die Taschen mit den Wunschgläsern. So tragen wir mehrere Fuhren zum Pick-up und kippen diese vorsichtig auf die Ladefläche.
Es ist keine aufregende Arbeit. Rucksack bepacken, Treppe hoch zum Wagen, ausladen, runter zum Gleis, von vorn beginnen. Die Monotonie lässt meine Gedanken abschweifen und in einer kurzen Trinkpause, nutze ich den Moment, mit meinen Augen den Schienen in die Ferne zu folgen. Dabei stelle ich mir meine eigene Reise mit dem Zug von vor drei Jahren vor. Sicherlich werden auch wieder viele hoffnungsvolle Bewerber für eine Stelle in der Flamingo-Station