Am 25. Juli 1967 kam es zu einer der wohl seltsamsten Landpartien der deutschen Geistesgeschichte: Paul Celan und Martin Heidegger fuhren, chauffi ert von einem jungen Germanisten, zusammen zur legendären Hütte des Philosophen im Schwarzwald. Der Lyriker hat dieses erste Treffen der beiden in einem seiner bekanntesten Gedichte verewigt: ›Todtnauberg‹.
Ein Antisemit, der sich dem NS-Regime mit seiner berüchtigten Rektoratsrede einst angedient hatte, und der einzige Holocaust-Überlebende seiner Familie, der vor allem mit seiner ›Todesfuge‹ weltberühmt wurde – wie kam es, dass ausgerechnet diese beiden für kurze Zeit die Nähe des jeweils anderen suchten?
Was verband einen der wirkungsmächtigsten deutschen Philosophen und den bedeutendsten jüdischen Lyriker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert? Und warum konnte aus den insgesamt drei Treffen nie eine wirkliche Begegnung werden?
Hans-Peter Kunisch erzählt die Geschichte dieses versuchten »Gesprächs« zwischen dem Denker und dem Dichter so lebendig und anschaulich, wie dies erst neue Recherchen und Quellen möglich machen. So nah sind wir Paul Celan und Martin Heidegger bislang noch nicht gekommen.
Mitten durchs Moor, hat einer gesagt. Aber es sei nicht gefährlich. Wie auf Parkett gehe man auf diesem Steg. Der hat gut reden. Obwohl immer wieder ein paar Strahlen milder Nachmittagssonne durch die dichten grünen Blätter finden, ist der leicht abschüssige Holzsteg, auf dem sich die drei Männer bewegen, feucht und es gibt kein Geländer.
Drei Männer im Moor. Ein Dichter, ein Philosoph und einer, der glaubt, dass er mit beiden befreundet ist. Saumwege und kleine Inseln sieht man neben dem Steg, Wacholdergebüsch, Sumpfklumpen und Farnhügel. Manchmal steigen Blasen auf und ein Vogelruf fährt durch die Stille. Die drei tasten sich langsam voran. Aber keiner will, dass es so aussieht, als ob es ihm Mühe bereite. Also gehen sie möglichst gerade und unbeschwert. Und sprechen müssen sie auch noch. Alle drei wollen, dass die anderen erzählen, sie verstünden etwas von der Natur.
Gerhart Baumann ist der Einheimische hier. Er hat seine berühmten Gäste aus Freiburg hergefahren, weil er die Gegend um Tiefenhäusern, aus der seine Mutter kommt, schon als Kind kennengelernt hat. Paul Celan, der jüdische Dichter aus Czernowitz und Paris, wollte schon vergangenes Jahr mit Martin Heidegger in ein Hochmoor im Schwarzwald.
Ausgerechnet. Heidegger, der hier in der Nähe, in Todtnauberg, seine berühmte Hütte hat und sich gerne den Anschein eines Bauern im Sonntagsstaat gibt, aber mit Sein und Zeit auch einen der philosophischen Welterfolge des 20. Jahrhunderts geschrieben hat, versteht noch immer nicht genau, warum. Letztes Jahr begann es in Strömen zu regnen, und Celan hatte nicht das richtige Schuhwerk. Diesmal gibt es keine Ausrede mehr, auch wenn die drei in den waldigeren Teilen des Moors wieder zu schlittern beginnen.
Schon vor über einem Jahr hat Paul Celan in Paris in der Zeitung von der Aufführung eines Theaterstücks von Bert Brecht gelesen. Brecht erzählt darin, wie ein paar widerständige Politiker zu Beginn der Nazizeit aus politischen Gründen in einem KZ gelandet sind, das mitten im Moor liegt. Statt sich zu verbünden, schlagen sie, die aus verschiedenen Parteien kommen, sich mit den Schaufeln, mit denen sie Beton mischen müssen, beinahe die Köpfe ein. Noch immer können die »Moorsoldaten« sich nicht einigen, wie die Republik am besten zu verteidigen gewesen wäre, wer von ihnen die Zeichen der Zeit nicht richtig gelesen hat.
Paul Celan hat beide Elternteile in einem deutschen Lager in der Ukraine verloren. Sein ganzes Leben und Schreiben sind davon bestimmt. Celan kann nicht verstehen, warum Martin Heidegger sich 1933 als Rektor der Universität Freiburg für Hitler begeistert hat. Aber er kennt auch seine philosophischen Bücher und fühlt sich ihrer besonderen Sprache verwandt. Er möchte, dass Heidegger, der sich nie öffentlich zu seinen Verstrickungen in den NS-Staat geäußert hat, ihm erklärt, wie es dazu gekommen ist.
Celan mag das Halbdunkel des Moors, seine sanfte Unheimlichkeit. Durch sein anderes Licht, die brackige Luft und die leisen Geräusche holt es die Menschen aus ihrer Gegenwart. Es konserviert die Vergangenheit. Aber sie ist nicht erstarrt. Unter der beweglichen Moordecke, die wie ein Uhrglas gewölbt ist, schwingt das erdige, schwarze Wasser noch immer. Hier hält die Vergangenheit die Gegenwart in Bewegung. Doch auch die Zukunft ist unsicher. Ein falscher Schritt, und man ist verschwunden. Das Moor, denkt Celan, hebt die Zeit auf. Darum sind Menschen hier unsicherer als sonst. Überrascht müssen sie sich neu orientieren. Alles ist Gegenwart. Auch Heidegger wird sich dem stellen müssen.
Das Hotel Victoria in der Eisenbahnstraße, direkt am Colombipark, ist an diesem 24. Juli 1967 eine der besseren Adressen in der Freiburger Innenstadt. Die guten Zimmer haben noch immer kein eigenes Bad, die Holzböden des vor hundert Jahren erbauten Hauses knarzen an allen möglichen Stellen. Doch die getäfelten Wände, der dunkelrote Läufer auf der Treppe und die gediegenen Lüster lassen erahnen, warum Gerhart Baumann, ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literatur und einer der Bildungshonoratioren der Stadt, seine Universitätsgäste hier unterbringt. Auch die Umgebung passt. Aus den Fenstern kann man, auf einem kleinen Hügel, das »Schlössle« der Gräfin von Zea Bermudez y Colombi sehen, ihren stattlichen Witwensitz, um den herum im 19. Jahrhundert ein eindrucksvoller Park angelegt wurde.
Paul Celan kann sich durchaus geehrt fühlen. Der 46 Jahre alte Dichter der berühmten »Todesfuge«, die seit Celans erster Gedichtsammlung Mohn und Gedächtnis als Beweis dafür gilt, dass auch nach dem Holocaust Gedichte in deutscher Sprache möglich sind, soll an diesem Abend im 1100 Hörer fassenden Auditorium Maximum der Albert-Ludwigs-Universität lesen. Wahrscheinlich nur aus Übersetzungen »von Shakespeare bis Ungaretti. Celan begründete diese Entscheidung, Übersetzungen zu lesen, mit der vorläufigen Unmöglichkeit, seine Gedichte vorzulesen in einem Land, das die Kriegsschuld und die Schuld gegenüber dem Jüdischen Volk nicht abgetragen habe.« So berichtet es der Germanist Gerhard Neumann, damals Baumanns Assistent. Neumann hatte Celan über Elmar Tophoven, Samuel Becketts deutschen Übersetzer, in Paris kennengelernt und die Lesung vermittelt.
Die Gründe für Celans Absicht, »nur« Übersetzungen zu lesen, sind verständlich, muten aber auf den ersten Blick etwas eigenartig an. Er hat schon mehrfach in Deutschland eigene Gedichte vorgetragen. Nicht nur 1952 in Niendorf an der Ostsee, bei jener berüchtigten Tagung der Gruppe 47, auf der Celan im internen Wettbewerb um den Preis der Gruppe, deutlich abgeschlagen, immerhin die drittmeisten Stimmen erhielt. Aber Hans Werner Richter, der Tagungsleiter, verwies Celans melodisches Vortragspathos in einer Mischung aus Irritation und Perfidie bei Tisch in die Synagoge und verglich es mit dem rheinischen Singsang von Joseph Goebbels. Auch in Tübingen, Stuttgart, Frankfurt, Kiel, Hannover ist es in der Zwischenzeit zu Lesungen aus eigenen Werken gekommen. Celan hat 1958 den Bremer Literaturpreis und 1960 den Büchner-Preis, den angesehensten Preis für deutschsprachige Gegenwartsliteratur in Deutschland in Empfang genommen. Doch die Jahre 1959/60 markieren einen Wendepunkt.
Es ist eine verwinkelte, aber am Ende ganz einfache Geschichte. Sie hat mit einer Frau zu tun, die mit vielen berühmten Männern bekannt war und in ihren Erinnerungen Ich verzeihe keinem geschliffen davon zu berichten weiß. Ob Rainer Maria Rilke, mit dem sie liiert war, obwohl sie »seinen Schnauzbart über den Negerlippen nicht ausstehen konnte«, oder James Joyce – »dieser pedantische Egoist (…), ein arktischer Fisch, eine Kreuzung zwischen Hummer und Auster« – alle werden sie von Claire Goll, die 1891 als Clara Aischmann in Nürnberg geboren wurde, mit so knappen wie scharfen Charakterbildern bedacht. Und seit 1952 macht Claire, die ihn einmal »mein Päulchen« nannte, Celan das Leben zur Hölle.
Oder lässt er es sich von ihr zur Hölle machen? Manchmal weiß er das selbst nicht mehr genau. Aber seit Claire Goll ihre Pressekampagne, ursprünglich per geheimem Rundbrief, 1960 mit Zeitschriftenartikeln öffentlich gemacht hat – Celan soll die Werke ihres verstorbenen Mannes, des elsässisch-jüdischen Dichters Yvan Goll, plagiiert haben –, fühlt sich Celan zu Recht verfolgt. Und er liegt auch mit seinen sonstigen Mutmaßungen nicht falsch. Rezensionen konservativer Starkritiker zeugen von bundesrepublikanisch-plüschigem Antisemitismus nach dem Holocaust: Hans Egon Holthusen, der Celan in einer Kritik einen »Fremdling und Außenseiter dichterischer Rede« nennt, ist nicht nur der Autor von Der unbehauste Mensch, einem Nachkriegsbestseller zur geistigen Situation der Zeit. Er war auch Angehöriger der SS. Holthusen schreibt, Celan verfüge über eine »durch sich selbst inspirierte, aus rein vokabulären Relationen und Konfigurationen entwickelte Dichtersprache« – und reinigt sie damit von Wirklichkeit und Geschichte. Für die Holthusen, einst ein überschwänglicher Propagandist des NS-Systems, mitverantwortlich ist.
Auch Günther Blöcker, ein historisch weniger kompromittierter wichtiger Kritiker, versucht, Celans Gedichten die Relevanz zu nehmen, indem er sie zu »vorwiegend graphischen Gebilden« erklärt. Andererseits erledigt er die ihm unliebsame sprachliche Freiheit Celans mit dem Kurzkommentar »das mag an seiner Herkunft liegen«. Jeder Satz dieser Art ist für Celan ein Stich ins Herz. Gerade auch angesichts der kommenden Tage, vor denen er sich manchmal fürchtet.
Noch stehen die Fenster seines Zimmers im Victoria offen, aber vor einer Stunde hat er die schweren Vorhänge zugezogen. Sie lassen nur einzelne Flecken Licht herein, bewegen sich kaum. Celan hat Baumann gesagt, er wolle noch die Lesung vorbereiten. Jetzt liegt er auf seinem schmalen Bett und horcht, mitten am Nachmittag, auf alles, was von draußen kommt und durch seinen Körper geht.
Aber keine Straßenbahn »rast« hier durch seine »Stube«, kein Wagen geht über ihn hinweg, wie einst über Malte Laurids Brigge in Rilkes gleichnamigem Epochenroman der Moderne, der Celan damals nach Paris gelockt hat. Gerade hört er nur die hellen Stimmen einiger deutscher Kinder, die von irgendwoher nach irgendwohin laufen. Sie sind fröhlich und ausgelassen, auch wenn sie die Sommerferien in der Stadt verbringen müssen.
Celan lächelt. Er erinnert sich, wie die kleine, feine Edith Horowitz im Herbst Kastanien sammelte, um sie im Winter von ihrem Balkon zu werfen, wenn Paul mit dem Cousin und Friseursohn Gusti Chomed zusammen bei Schnee und Eis den Czernowitzer Töpferberg herunterrodelte. Worauf die ängstliche Edith neidisch war und sich freute, wenn Gusti und Paul sich über Treffer am Kopf und Kastanien im Schnee wunderten.
Celan liegt ganz ruhig und aufmerksam. Es ist, als spüre er mit allen Sinnen, wie das müdeste der lärmenden Kinder auf dem Mäuerchen an der oval geschwungenen Auffahrt des Colombi-Schlösschens sitzen bleibt und den Kopf etwas auf die Seite legt.
Nichts war so schlimm, wie wenn Paul von seinem kleinen Vater – die Mutter war einen ganzen Kopf größer – nach Schlägen in die leere Kammer gesperrt wurde. Sie hatte nur ein winziges Fenster, das zum Hinterhof ging. Jedes Mal musste Paul warten, bis der Vater, der den Schlüssel mitnahm, aus dem Haus ging und die Mutter ihrem kleinen Jungen aus dem Fenster helfen konnte. Etwas später begann der Junge, Rilke zu lesen:
Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. (…)
Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat.
Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen.
Pauls Vater Leo Antschel, dessen Namen Celan in ein anagrammatisches Pseudonym verwandelt hat, als er in rumänischen Zeitschriften zu veröffentlichen begann, war nach dem Ersten Weltkrieg als arbeitsloser Bautechniker in den Brennholzhandel geraten: ein einfacher, unsicherer, meist erfolgloser Mann, der große zionistische Überzeugungen hatte und gerne seiner Schwester nach Palästina gefolgt wäre.
Für Celans Mutter Fritzi, geborene Schrager, waren deutsche Bücher und die sanfte Natur der Bukowina das größte Glück. Sie, die kein Gymnasium hatte besuchen dürfen, wollte im Bildungswettstreit der Bürger von Czernowitz, die ihre Kinder alle für Genies hielten, vorne mitmischen. Als Einzelkind war Paul gefordert. Grenzen gab es zuerst beim Geld: Klavier war teuer, Celan sollte Geige spielen. Mit der Zeit gelang es ihm, sich von der Pflicht zu befreien. Er war in anderen Dingen begabt, lernte die Sprachen viel schneller als andere.
Als Celan vor zwei Jahren, 1965, von einer Reise nach Frankfurt zurückkam, stand auf einmal Ilana Shmueli in Paris vor der Tür. Drei Tage blieben sie zusammen und erzählten davon, wie die stolze Stadt Czernowitz sich noch habsburgisch gab, obwohl sie seit den Verträgen von Versailles zu Groß-Rumänien gehörte. Wie das Deutsche die Sprache blieb, in der die Juden lasen und schrieben und noch lange nicht ahnten, dass es auch die Sprache ihrer Mörder sein würde. Aber Französisch, meinte Ilana, die damals Liane Schindler hieß, noch jetzt, hielten sie in Czernowitz für eleganter und Verlaine für den raffiniertesten ihrer Götter. Auch Ilanas Mutter, die aus Wien kam, liebte die Literatur. Ihr Vater arbeitete in Czernowitz ebenfalls im Holzhandel, allerdings erfolgreich. Als Kind wurde sie mit der Kutsche zur Schule gebracht.
Celan wird von Rilke nach Paris geholt, aber auch die Zeit schickt ihn dorthin: Er soll Medizin studieren, doch in Wien und »im Reich« ist das, 1938, für Juden nicht mehr möglich. In Frankreich wird das rumänische »Baccalaureat« noch anerkannt.
So macht sich Celan zum Studienbeginn auf den Weg nach Tours, wo er das erste Jahr absolvieren wird. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hält sein Zug in Berlin. Die »Reichskristallnacht« geht nur knapp an ihm vorbei, wie er im Gedicht »La Contrescarpe« erzählt:
Über Krakau
bist Du gekommen, am Anhalter
Bahnhof
floß deinen Blicken ein Rauch zu,
der war schon von morgen.
In Paris bleibt Celan bei seinem Onkel Bruno Schrager, der Schauspieler hat werden wollen. Die Eltern haben es ihm nicht erlaubt, und so verdient er sein Geld mit dem Rezitieren heiliger und anderer Texte, erst in Czernowitz, dann auf dem Montmartre und anderswo. Damals ist Celan von Paris begeistert. All das zu sehen, von dem er nur hat träumen können! An Gusti Chomed schreibt er anschließend, traurig und allein, aus Tours:
Schau, in Paris ist es so, daß überall das Leben herumsteht, auf den Straßen und in den Häusern, überall. Da ist Notre Dame und der Louvre und das Musée Rodin, Kirchen und Gärten, Konzerte, Theater.
Tours, das ist Öde, Alleinsein, Bangnis.
Auf der Durchreise hat sich Celan damals wohlgefühlt in der für ihn viel zu teuren Stadt. Aber als er zehn Jahre später wiederkommt, um zu bleiben, fühlt er sich bald wie in Tours.
Noch ein Jahr nach seiner Ankunft hat er nicht wirklich in die große Stadt gefunden. Da lernt er bei einem befreundeten Lyriker Yvan Goll und dessen Frau kennen. Celan trägt noch einen Brief für Yvan bei sich. Sein Mentor in Bukarest, Alfred Margul-Sperber, hat ihn ihm mitgegeben. Celan besucht das Paar an einem Sonntag in ihrem Zimmer im feinen Hotel Palais d’Orsay. Er liest vor, und beide sind beeindruckt. Yvan Goll notiert Anfang November 1949 in seinem Tagebuch:
Paul Celan, 31, rue des Écoles, hatte mir einen Brief mit Grüßen von Sperber geschickt. Er liest uns Gedichte aus »Der Sand aus den Urnen« mit inspirierter Stimme vor, und Claire und ich finden sie beide dort bewundernswert, rein und wissend, wo die Schatten von Rilke und von Trakl vor seinem klaren Genie langsam verlöschen. Vor allem »Todesfuge« ergreift und entzückt uns.
Celan ist gleichzeitig schüchtern und sehr stolz. Er ist mit vollem Recht von seiner Mission als Dichter überzeugt. Er ist der typische, geistig anspruchsvolle Jude aus Czernowitz.
Er hatte Claire acht rote Rosen mitgebracht, er, der im Quartier Latin ohne einen Sou dahinvegetiert. Wir haben ihn zu einem kleinen Abendessen eingeladen.
(Ü.: BARBARA WIEDEMANN)
In einem Brief an die Wiener Kinderbuchautorin Erica Lillegg berichtet auch Celan von der Begegnung:
Vergangenen Sonntag war ich bei Ywan Goll. Ein wirklicher Dichter. Ein Mensch. Der erste, dem ich in Paris begegne.(…) Ein langes Jahr habe ich gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. (…) Ywan Goll kennt alle Größen unserer Zeit. Rilke, Joyce, Picasso. Alle. Und dabei ist er bescheiden. Und sterbenskrank.
Goll hat Leukämie, was man Celan nicht gleich erzählt. Schon damals erwähnt er auch Claire:
Kennst Du seine Frau, Claire Goll? Sie war lange Zeit die Freundin Rilkes. Sie ist Schriftstellerin. »Wissen Sie«, meinte sie, »wir fürchteten, Sie könnten einer sein, der Gedichte schreibt, aber kein Dichter ist. Sie sind aber ein Dichter, ein wirklicher«. Und Iwan Goll, der das wahrscheinlich besser weiß als sie, meinte dasselbe.
Ich brauche ein paar Menschen, auch in der Nähe. Warum musste ich ein volles Jahr warten, ehe ich Goll kennen lernte?
Rote Rosen. Celan war ein gutes Dutzend Mal im Krankenhaus, er war mit Claire auf dem Friedhof, hat sie in der Zeit nach Yvans Tod begleitet, hat versprochen, Yvans Gedichte zu übersetzen.
Claire schien ihn zu mögen. Er hat noch ihre Briefe und Karten. Einen Kugelschreiber von Yvan hat sie ihm geschenkt und dazu notiert:
Er hat mit ihm den Mythe de la Roche Percée geschrieben. Vielleicht wird er auch für Dich, liebes Paulchen, ein Instrument der Inspiration. (26.11.1950)
Liebes Päulchen, entschuldige meine Nervosität heute am Telephon (…) (7.6.1951)
Liebes Päulchen, einen warmen Gruß aus Metz (…). (16.8.1951)
Wie sich alles verändert hat. Heute ist Celan nur noch froh, wenn er nicht an Claire denken muss. Er hätte nie gedacht, dass diese schöne Frau, die sich mit sechzig Jahren in eine stark geschminkte Gouvernante zu verwandeln begann, ihm mit ihren Intrigen einmal den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Manchmal fühlt er sich nur noch von ein paar Spinnweben gehalten, und sobald er sich zu bewegen versucht, zerfallen auch sie.
In einem Brief von 1956 hat Celan dem Schriftsteller Alfred Andersch, der durch seinen Roman Die Kirschen der Freiheit bekannt geworden war, eine Szene aus der Todesnacht von Yvan Goll geschildert. Andersch war damals Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk.
Als uns die Krankenschwestern ins Sterbezimmer riefen, lautete der »Schmerzensschrei« der »deutsch-französischen Dichterin« – lachen Sie bitte nicht –: »My darling!« Die beiden Krankenschwestern verstanden nämlich weder Deutsch noch Französisch …
Claire war mit ihrem Mann ins American Hospital gefahren und fühlte sich dort wie auf einer Bühne.
Manchmal denkt Celan, dass er Claire falsche Hoffnungen gemacht hat. Die Intensität, mit der ihn diese schrille Frau noch nach 15 Jahren verfolgt, deutet auf etwas, das tiefer liegt als die Plagiate, die sie ihm vorwirft. Vielleicht hatte sie sich den charmanten, kleinen Juden aus dem armseligen Osten, der ihr schon zum Auftakt Rosen überreicht hatte, ganz selbstverständlich zum unterwürfigen Lebensbegleiter auf Dauer sowie zum mehr oder weniger unbezahlten Übersetzer auserkoren. Sie konnte nicht dulden, dass er mit Gisèle auf einmal die Frau kennengelernt hatte, die er heiraten wollte.
Der jungen, auf selbstverständliche Art freundlichen Adligen und Künstlerin, von der er ihr anfangs nichts erzählt hatte, musste Claire sich unterlegen fühlen. Und durch Mohn und Gedächtnis war er selbst auf einmal beinahe berühmt geworden, berühmter jedenfalls als Yvan und Claire. Er wollte nicht mehr – für sie und unter ihrem Namen – für wenig Geld Übersetzungen von Yvans Gedichten anfertigen. Wahrscheinlich hat er sie in ihren Augen »verraten«, und sie hat es ihm heimgezahlt.
Celan liegt immer noch auf seinem schmalen Bett im Freiburger Hotel Victoria und fühlt sich schwer, so schwer wie die alten, dunkelroten Vorhänge, aus denen Staubwolken kamen, als er sie vorhin bewegte. Er sollte aufstehen, Ausschau halten nach dem, was hinter ihnen geschieht. Nicht in unendlichen Erinnerungen kramen.
Ob die Luft in dieser kleinen deutschen Stadt, die er in diesen Tagen zum ersten Mal sieht, noch so frisch und leicht ist wie eben, als er durch ihre Straßen ging, ob es so schwül geworden ist, wie er es hier drinnen empfindet?
Während Celan regungslos daliegt, spürt er, dass ihn die Unruhe, die es ihm in den letzten Jahren so schwer gemacht hat, auf Menschen zuzugehen, wieder zu erfassen beginnt. Es sind Zufälle, denkt er, wenn noch irgendetwas passiert. Bei Ilana war es vor zwei Jahren die Überraschung. Es war keine Anstrengung. Es war etwas Neues, das aus dem ganz Alten kam. Plötzlich war sie da. Er wird sie in Israel besuchen müssen, wo sie mit Mann und zwei Kindern lebt. Er hat keine Ahnung, was sie dazu sagen wird, aber irgendwann muss es sein.
Claire Golls Fälschungen sind inzwischen erwiesen. Die Tübinger Celan-Expertin Barbara Wiedemann hat ein ganzes Buch darüber geschrieben. Unter anderem hat Claire Celans Übersetzungen der Gedichte Yvans nicht zurückgegeben und anhand seiner Übersetzungen unveröffentlichte Gedichte Golls verändert. Die »Todesfuge« gab es, bevor Claire für den toten Yvan ähnliche Bilder benutzte, das zeigt schon Yvans Tagebuch. Genau genommen hat Claire nicht nur Celan, sondern auch ihren Yvan betrogen. Aber damals ist das noch nicht für jedermann klar. Wer hat wann wem was zu- und zurückgeschickt? Das kann nicht nachverfolgt werden, solange Claire Briefe und Tagebücher zurückhält, in Texten von anderen herumpfuscht.
Celans ganze Existenz, die Wirklichkeit, auf der sein Werk fußt, seine Glaubwürdigkeit, seine Wahrhaftigkeit stehen auf dem Spiel. Celan fühlt sich von beinahe allen deutschen Freunden, die die Details der Debatte nicht verstehen, verlassen, gerät in Wahnvorstellungen.
Im Winter 1962 hat er mit Frau und Kind in Savoyen Skiurlaub gemacht. Er ist noch jetzt über sich entsetzt, wenn er sich daran erinnert, dass er dort einen zufälligen Passanten der Komplizenschaft mit Claire bezichtigt hat: »Vous aussi, vous êtes dans le jeu!« Sie, auch Sie sind mit im Spiel!
Das war vor fünf Jahren. Er wird von all dem endlich loskommen müssen. Vielleicht sind schon die nächsten Tage ein guter Anfang. Da geht es um ein anderes Spiel. Es geht um mehr als um eine Betrügerin.
Celan hat schwere Bedenken gehabt vor seinem Freiburger Auftritt. Aber schon sein erster Spaziergang heute Vormittag hat ihn in mildere Stimmung versetzt. Überall plätschern die Bächlein in der freundlichen kleinen Stadt. In allen Buchhandlungen stehen seine Gedichte im Schaufenster. Auch Von Schwelle zu Schwelle, Sprachgitter und Die Niemandsrose. Das literarische Freiburg, daran besteht kein Zweifel, wartet auf Paul Celan. Das Niveau der Stadt, hat er mittags gegenüber Gerhart Baumann, so scherzhaft wie freudig, behauptet, sei mit dem von Paris vergleichbar. Baumann hat gelächelt.
Beide wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass genau dies das Ziel der besonderen Schaufensteraktion war: dass sich der berühmte, aber schwierige Gast in der Stadt von Anfang an wohlfühlen möge.
Und dafür verantwortlich zeichnet ausgerechnet Martin Heidegger, dem Celan aus guten Gründen misstraut. Heidegger ist für Celans Interesse an der kleinen Universitätsstadt Freiburg verantwortlich, aber auch für die Reserve ihr gegenüber. Ausgerechnet in Freiburg haben sie den Eigensinnigen aus Meßkirch zum Philosophie-Fürsten gemacht, dessen umstrittenen Denk- und Lebensweg Celan seit Langem verfolgt.
Heidegger hat seinen Buchhändler Fritz Werner dazu angehalten, die Kollegen zu informieren, damit sie ihre Schaufenster mit Celan schmücken. Denn auch Heidegger weiß, dass es zu einem Treffen zwischen Celan und ihm kommen soll. Auf Gerhart Baumanns briefliche Anfrage hat er enthusiastisch geantwortet:
Schon lange wünsche ich, Paul Celan kennen zu lernen. Er steht am weitesten vorne und hält sich am meisten zurück. Ich kenne alles von ihm, weiß auch von der schweren Krise, aus der er sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch vermag.
Celan indessen, den die Werke Heideggers nie gleichgültig gelassen haben, wird bei dem Gedanken an das geplante Gespräch zwischen ihm – dem anerkannt wichtigsten jüdischen Gegenwartsdichter deutscher Sprache – und dem bewunderten, tief deutschen Autor des philosophischen Weltbestsellers Sein und Zeit immer unbehaglicher zumute, je näher es rückt.
An Gisèle hat er geschrieben, Franz Wurm, ein befreundeter Lyriker, Jude und in Prag geboren, habe ihm aufgetragen, »Heidegger Grüße auszurichten, was mich nicht gerade beglückt. In Wahrheit ist das Ziel meiner Reise Frankfurt, das heißt die Unterredungen mit Unseld (…).«
Celan will die Bedeutung des Treffens vor sich selbst herunterspielen. Kein Wunder. Heideggers politische Verstrickungen, die Nähe zur nationalsozialistischen »Bewegung« sind in dieser Zeit zwar noch nicht vollständig, aber doch in wichtigen Einzelheiten bekannt. Heideggers Werke freilich bleiben Celans eigenen in der Suche nach einer neuen, unverbrauchten Sprache, die aus einer alten, verschütteten entwickelt werden muss, verwandt. Seit er Heideggers Sprache zum ersten Mal begegnet ist, liest Celan sie immer wieder mit Staunen. Aber er will diesem zwielichtigen Menschen mit dem Treffen keinen »Persilschein« ausstellen.
Das ist er seinen Eltern schuldig, die in Michailowka, in einem deutschen Konzentrationslager in der Ukraine gestorben sind. Der Vater an Typhus, die Mutter durch Genickschuss. Die unsägliche Claire hat ihren Tod »legendär« genannt.
Es wäre ein Wunder, wenn das Treffen mit Heidegger keine neue Aufregung brächte. Das kann Celan gerade nicht brauchen. Die schwere Krise, aus der er kommt, da hat Heidegger recht, sie ist noch lange nicht überstanden.