Es ist erstaunlich genug, mit welch ausgeklügelter Technik Wildgänse ihren kräftezehrenden und temporeichen Weg vom Sommer- zum Winterquartier bewältigen: indem sie beim Windschattenfl iegen in der V-Formation mal die Führung an der Spitze übernehmen, mal am Ende des Schwarms den aerodynamischen Sog nutzen. Noch erstaunlicher aber ist, dass sie während des Flugs pausenlos miteinander kommunizieren, also über ihre jeweilige Verfassung bestens im Bilde sind und entsprechend reagieren können. Wenn eine Gans Probleme hat, begleiten sie in der Regel zwei andere Vögel bis zum Boden und bleiben bei ihr, bis sie sich erholt hat oder stirbt. Einfühlungsvermögen ist in der Tierwelt häufi g zu beobachten, alte Schimpansen etwa trösten ihre jungen Artgenossen, wenn die in wilden Streitereien den Kürzeren gezogen haben. Im Wald wiederum funktioniert die Verständigung über ein leistungsfähiges Netzwerk von Pilzfäden, das Energieschübe und Informationen von großen, alten Bäumen an Schösslinge weiterleitet.
In acht kurzweiligen Streifzügen nimmt uns Ferguson mit zu den Wurzeln des Lebens, verknüpft seine persönlichen Erfahrungen mit Erkenntnissen aus Biologie und Neurowissenschaften und würzt das Ganze mit einer Prise Philosophie. Eine Hommage an die Natur, die uns neben vielem anderen auch das Staunen lehrt.
Für meine liebe Mary,
die mir jeden Tag aufs Neue zeigt, wie es ist,
nach dem Hellen und zuverlässig Guten
in uns allen zu suchen – und es zu finden
Es gab eine Zeit in unserem Leben, als das sanfte Wogen von Bäumen und das Wispern von Wasser uns trösten und beruhigen konnte. Das Zwitschern der Vögel und das Quarren der Frösche machte uns Mut und bestärkte uns in einer elementaren Gewissheit: Egal was passiert, wir sind hier und schauen jeden Morgen voller Lebenslust hoch zur Sonne. Die Frühlingssäfte, die in die Wildrosen und Feigenbäume stiegen, wirkten auch in uns, das spürten wir; es war, als gebe es eine Verwandtschaft zwischen uns und diesen zarten jungen Trieben. Auch in uns lebte der große grüne Atem der Natur, wir spürten keine Trennung zwischen uns und der Welt. Das Rufen, das Singen, das Summen und Surren – alles war ein einziges großes Gespräch.
Von heute aus betrachtet erscheint dieser Zustand wie ein Traum. Aber dann und wann durchfährt uns wie aus dem Nichts ein Schauer, der den alten Reigen der Kindheit zurückbringt und die Gefühle wieder zum Leben erweckt, die uns so nah waren, als wir noch mit weit geöffneten Augen in die Welt schauten.
Meine eigene Ahnung vom Einssein mit der Natur wurzelt in meiner Kindheit und Jugend im Mittleren Westen der USA, in South Bend, einer Kleinstadt im Norden Indianas, die vom Maisanbau und der Stahlindustrie lebte. Natur gab es nur in winzigen Portionen: Da war der schmale Gartenstreifen hinter dem Haus, kaum größer als zwei aneinandergestellte Sofas, wo ich als kleiner Junge barfuß den tanzenden Schmetterlingen und Bienen zuschaute. Das Fleckchen Wiese, wo ich an Sommertagen während der Dämmerung mit einem Marmeladenglas herumstreunte und Glühwürmchen sammelte. Und der Bürgersteig der 27th Street, wo an einem düsteren Aprilnachmittag, als ich auf dem Heimweg von der Schule war, der Wind durch die Bäume rauschte und das Dröhnen des Donners in meiner Brust widerhallte.
Mit etwa elf Jahren fuhr ich dann auf meinem violetten Bonanzarad regelmäßig in den einige Blocks weiter westlich gelegenen Potawatomie Park, mit seinen von Eichen und Ahornbäumen gesäumten Wegen, deren gewaltige Stämme ich nicht einmal zur Hälfte umfassen konnte. In der Nähe gab es auch ein Gewächshaus mit einer Bananenstaude, einem Avocadobaum und Orchideen. Und gleich um die Ecke einen winzigen Zoo mit einem altersschwachen Löwen, sechs schreienden Pfauen, einem schnaubenden Esel und – wirklich wahr – einer Kakerlaken-Ausstellung.
Nachdem ich als Erwachsener rund vierzig Jahre lang die entlegensten Regionen der Erde durchstreift und etwa fünfzigtausend Kilometer auf Wegen durch unberührte Wildnis zurückgelegt habe, könnte man vermuten, dass mir meine schlichten Kindheitserlebnisse mit der Natur heute allenfalls drollig vorkommen. Aber so ist es nicht. Sie gingen tief und waren sehr bedeutsam. Auf ihre Art haben sie mich genauso geprägt wie die unermesslichen Weiten der ostafrikanischen Savanne, die Einsamkeit im hoch gelegenen Hinterland des Yellowstone Parks, wo sich Bergkuppe an Bergkuppe reiht, oder die stille Kälte der arktischen Tundra.
Die Glühwürmchen, die Bienen und die riesigen Eichen im Potawatomie Park haben mich auf die wechselnden Gezeiten der Welt eingestimmt und mich hellhörig gemacht für das Zwitschern und Summen, Schnauben und Rauschen, das sich jeden Tag wahrnehmen lässt. Sie haben nicht nur meine Neugier angestachelt und meine Fähigkeit zu staunen gestärkt, sondern mir auch das überwältigende Gefühl vermittelt, selbst Teil all dessen zu sein. Die Chrysanthemen im Blumenkasten unter dem Kinderzimmerfenster gehörten auf unbeschreibliche Weise zu meinem eigenen leuchtenden Sommergefühl. Das grelle Federkleid des Kardinals in unserem Ahorn war für mich der Inbegriff von Rot. Das Gurren der Trauertaube im Apfelbaum neben der Garagenzufahrt unserer Nachbarn kam mir schon beim ersten Hören seltsam vertraut vor und wirkte unglaublich beruhigend auf mich.
Egal wer wir sind und wo auch immer wir unsere Kindheit verbracht haben: Die Natur hat uns vertraut gemacht mit dem Zauber des Sich-Entfaltens. Egal ob sie uns in überreicher Fülle begegnet wie in der tiefsten Wildnis oder als Spinnennetz in einem Winkel der heimischen Garage, meinetwegen auch als schlichte Pusteblume, die in den Ritzen am Straßenrand wächst – die Natur berührt uns.
Und das Wichtigste: Anders als man es uns immer wieder weismachen will, verschwindet diese Magie nicht einfach aus unserem Leben, sie weht nicht weg, wird nicht ins Unerreichbare entrückt. Denn was wir einmal erfahren haben, ersetzen wir auf dem Weg durch spätere Lebensphasen ja nicht durch etwas anderes, sondern wir fügen dem Vergangenen nur etwas hinzu. Wir tauschen nicht aus, sondern ergänzen. Ganz gleich, wo und wie Sie jetzt leben – womöglich mitten in der Stadt und vielleicht sogar die meiste Zeit in Innenräumen –, die Natur ist für Sie da. Sie gibt Halt und Inspiration und hilft jedem Einzelnen, sich zu dem Menschen zu entwickeln, als der er oder sie gedacht ist. Zugleich hält die natürliche Welt auch eine ganze Reihe von grundlegenden Lehren für uns bereit. Jede einzelne von ihnen hilft uns, genauer zu verstehen, was nötig ist, damit das Leben glückt.
Mit diesem Buch will ich ins Bewusstsein rufen, wie viel Neues die Naturwissenschaft jeden Tag sichtbar macht und was wir durch diese erstaunlichen Entdeckungen über uns selbst und für unseren Alltag lernen können. So können wir erfahren, was es mit dem Lebendigsein auf sich hat. Dazu kommt ein zweites Anliegen: Ich möchte meine Leserinnen und Leser dazu anregen, sich einzulassen auf die starken Gefühle, die Naturerfahrungen in uns wachrufen, und sich vertrauensvoll und freundschaftlich mit ihnen zu verbinden. Denn diese Gefühle leiten uns letztlich zu den tiefsten, befriedigendsten Ebenen unseres Wesens.
Gegen Ende der 1990er Jahre hatte ich das Glück, Lavoy Tolbert kennenzulernen, einen stillen, liebenswerten und ausgesprochen wissbegierigen Mann aus Utah, damals fünfundsechzig Jahre alt. Lavoy war früher Lehrer – er unterrichtete Naturwissenschaften und war bei seinen Schülern sehr beliebt. Viele von ihnen stehen immer noch in Verbindung mit ihm. Sein Leben lang hat er die Wildnis des amerikanischen Südwestens durchstreift und bis heute – er ist inzwischen Mitte achtzig – fühlt er sich dem Boden unter seinen Füßen aufs Innigste verbunden. Er verbringt fast ebenso viele Nächte auf einer Matte unter freiem Himmel wie zu Hause im Bett. Die Menschen, sagt Lavoy, sind seit Jahrtausenden hinaus in die Natur gegangen, um Antworten auf große Fragen zu finden und ihr Weltverständnis zu justieren. Auf der Grundlage dieser Erfahrung haben sie ihr Leben neu ausgerichtet. Genau das tut auch Lavoy. Nicht zuletzt deshalb, weil – so drückt er es aus – die Natur exzellente Referenzen hat.
»Man muss sich das bloß mal vorstellen: Die Natur schaut auf eine Erfolgsgeschichte von 4,6 Milliarden Jahren zurück – sie hat das Beste hervorgebracht, was existiert. Es gibt nichts Großartigeres als das, was uns jeden Tag und jede Nacht umgibt. Noch auf dem harmlosesten kleinen Waldspaziergang begegnen wir lauter Champions.«
Eine Geschichte, die Lavoy immer wieder gerne erzählt, handelt von einem Farmer. Jede Woche, Monat um Monat und Jahr um Jahr, bringt der Farmer seinen alten Ackergaul zur Rennbahn und lässt ihn gegen die Vollblutpferde antreten. Eines Tages fragt ihn ein Freund, wieso er dauernd Startgeld für Rennen zahlt, die sein Pferd sowieso nie gewinnen kann.
»Da hast du wohl recht«, sagt der Farmer und reibt sich am Kinn. »Der alte Gaul packt das nie. Aber was soll’s, ihm tut halt die Gesellschaft gut.«
Auch wir werden auf den folgenden Seiten in bester Gesellschaft sein, wenn wir der Natur in großem und kleinem Maßstab begegnen, in Hinterhöfen, in Parks und in der Wildnis. Manchmal werden wir uns auch dem dicht gewebten Netz der Natur in uns selbst widmen, denn im Grunde ist jeder von uns ein prachtvolles Beispiel für die Kraft und Anmut der Schöpfung.
Und dieses Buch hat noch ein anderes, mindestens genauso wichtiges Leitthema: Es geht darin um die Rückkehr nach Hause, um ein Ankommen in mehrfachem Sinn. Unter Rückkehr verstehe ich nicht unbedingt eine Reise zurück an den Ort, wo wir aufgewachsen sind – zu dem Backstein-Wohnblock oder der Vorort-Villa mit dem sorgfältig gestutzten Rasen, zu dem weißen Häuschen im Craftsman-Stil an einer Allee im Stadtzentrum oder auf den alten Hof mit der Scheune, dem grünen Traktor und den großäugigen Kühen. Gemeint ist hier ein anderes, weit größeres Zuhause: das Heimatgefühl, das auf unserer naturgegebenen Verwandtschaft mit den Wundern dieses Planeten beruht, eine tiefe Verbundenheit, die es wiederzuentdecken und als Leitbild für unser Leben zu nutzen gilt.
Unsere Tage sind inzwischen meist derart vollgestopft mit Terminen und Aufgaben, dass wir nicht mehr genug Zeit haben, um stehen zu bleiben und den Himmel zu betrachten, den Regengeruch wahrzunehmen oder den Rufen eines Gänseschwarms zu lauschen, der über unseren Köpfen dem Winterlager zustrebt. Doch da gibt es etwas Entscheidendes zu bedenken: Was, wenn das Ausmaß, in dem wir unsere Verbindung mit der Natur und ihrer Weisheit verloren haben, gar nicht nur an unserem Abgelenktsein liegt, sondern auch an der Grundhaltung, die uns vermittelt wurde? Der Löwenanteil unserer Vorstellung von der Welt beruht – genau wie bei allen Generationen vor uns – auf einem Flickenteppich unterschiedlichster kulturell bedingter Denkweisen und sozialer Gepflogenheiten, zu denen auch die über lange Zeiträume weitergegebenen wissenschaftlichen Überzeugungen gehören. Die meisten von ihnen betrachten wir als gottgegebene Wahrheiten. So sind die Dinge eben, glauben wir. Doch oft genug sind sie das nicht, ganz im Gegenteil.
Um ein Beispiel zu geben: Ein elementarer Glaubenssatz, der die Menschheit seit rund zweitausend Jahren prägt – eine Unterströmung, die manchmal zur reißenden Flut wird –, besagt, dass wir Menschen außerhalb oder gar über der Natur stehen. Diese Vorstellung eines Abgetrenntseins von der Umwelt verführt dazu, in eine passive Haltung wegzudriften. Wir laufen dann Gefahr, die Verbindung zur Natur komplett zu verlieren; vielleicht finden wir das, was uns umgibt, dann sogar schlichtweg langweilig.
Zugleich gehören viele von uns jener resoluten Gruppe von Menschen an, die die Grundregeln der physischen Welt möglichst perfekt meistern und in den Griff kriegen will. Das oft grässlich unvorhersehbare Leben auf diesem oft grässlich unkontrollierbaren Planeten soll möglichst steuerbar werden. Und die Menschheit hat in der Tat erstaunlich viel in den Griff gekriegt. Unsere Klugheit hat uns eine unüberschaubare Zahl von nützlichen Dingen verschafft – von Lasern über Medikamente, schnelle Autos und Mobiltelefone bis hin zu Kinofilmen, Bluejeans und Marsraketen. Doch auf dem Weg dorthin haben wir das Leben und damit auch uns selbst fragmentiert und isoliert, haben es in immer kleinere Einheiten zerteilt, immer in dem Glauben, das würde uns am Ende Sicherheit bescheren.
Dieses Weltbild ist aber keine zwingende Realität, sondern eine auf Einzelwahrnehmungen beruhende Perspektive. Das heißt, wir können es ergänzen, ihm etwas hinzufügen. Wenn wir unsere Verbundenheit mit der Natur stärken, stoßen wir wesentlich weiter vor als mit dem bloßen Intellekt und können auch sinnliche Erfahrungen, Gefühle und Intuition integrieren. Nichts spricht dagegen, weiterhin zu analysieren, zu zerlegen und Vorhersagen zu treffen. Aber all das bekommt erst dann den angemessenen Stellenwert, wenn wir zugleich feiern, wie viele Geheimnisse und Wunder die Welt birgt und wie vieles im Leben unsere Erkenntnis übersteigt. Entgegen der landläufigen Vorstellung von Wissenschaftlichkeit geht es in den Naturwissenschaften von heute weniger um Antworten als darum, mit offenen Fragen zu leben.
Neuerdings kreist ein großer Teil der Forschung um die Tatsache, dass unsere Welt aus einem ausgedehnten, hochdynamischen Zusammenspiel von Rhythmen und Beziehungen beruht. Nach und nach setzt sich die Einsicht durch, dass es so etwas wie einen Baum, einen Hund, eine Sonnenblume, einen Menschen im Grunde gar nicht gibt. Zumindest nicht so, wie wir uns das lange vorgestellt haben, nämlich als abgetrennte Einzelwesen. Wir alle sind eng verbunden mit dem unüberschaubar großen Spektrum von Lebensformen und Lebensprozessen, das es auf diesem Planeten gibt, und werden unsererseits nachhaltig von ihnen geprägt.
Besonders faszinierend an diesem Paradigmenwechsel – denn nichts anderes ist der Versuch der Wissenschaften, aus dem vorgegebenen Rahmen auszubrechen, in den wir sie eingesperrt haben – erscheint mir das Bemühen einiger Forscher, klassische Naturwissenschaften mit der Weisheit von Naturvölkern zu verbinden. Shawn Sigstedt zum Beispiel, ein Ethnobiologe aus Harvard, begann in den 1990er Jahren als einer der Ersten von zahlreichen weißen, nicht-indigenen Forschern mit indianischen Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten, darunter auch Frank Dukepoo, Professor für Genetik an der Northern Arizona University und Angehöriger des Hopi Tribes. Sigstedt berichtet, diese Zusammenarbeit habe ihm eine ganz neue Perspektive vermittelt. Er habe gelernt, die Welt vor allem unter dem Gesichtspunkt von Verbindungen und Zusammenhängen zu betrachten.
»Die Begegnung mit dieser traditionellen Kultur hat mir unsere blinden Flecken bewusst gemacht«, bemerkt Sigstedt. »Die Weltvorstellung der Native Americans ist komplett anders als unsere – für sie ist die Welt ein Geflecht von Prozessen und Beziehungen.« In der Folge hat Sigstedt völlig andere Fragen in den Mittelpunkt seiner Forschungsarbeit gestellt.
Und indem wir neue Fragen stellen, verändern wir die Welt.
Dass uns die innere Verbindung mit der Natur als großem Ganzem verloren gegangen ist, hat tiefgreifende Folgen, wie MIT-Systemforscher und Bestsellerautor Peter M. Senge deutlich macht: Wir haben damit, sagt er, nämlich auch die Fähigkeit eingebüßt, Interdependenzen wahrzunehmen. Wenn wir jetzt beschließen, Interdependenzen verstärkt in den Blick zu nehmen, kommen wir einen bedeutenden Schritt weiter. Dann beschäftigen wir uns nicht länger nur mit der Frage, wie Prozesse ablaufen, vielmehr geht es nun um die Frage, was überhaupt gegeben sein muss, damit diese Prozesse dauerhaft weiterlaufen. Wie neue Forschungen zeigen, hat das immer mit Austausch und dem Zusammenwirken mehrerer Elemente zu tun. Da sind die Pilze, die den Waldboden mit Nährstoffen anreichern, und die Bäume, die den von den Pilzen freigesetzten Stickstoff brauchen, um keimen und wachsen zu können, und schließlich wir Menschen, die ohne den von den Bäumen produzierten Sauerstoff keinen Atemzug tun könnten.
Bei einem Nature-Writing-Workshop, den ich vor einigen Jahren im Yellowstone National Park gab, war unter den Teilnehmenden auch Schwester Helen Prejean. Sie hatte für ihre Arbeit mit Menschen in Notsituationen damals bereits große Anerkennung erfahren – nicht zuletzt durch ihren Kontakt mit zwei zum Tode verurteilten Mördern, Elmo Sonnier und Robert Willie. Die Gespräche, die sie mit den beiden führte, waren die Basis für ihr bemerkenswertes Buch Dead Man Walking, zu dem später ein Film gleichen Titels entstand.
Am letzten Tag des Workshops machte unsere Gruppe eine Wanderung auf dem Specimen Ridge Trail. Die immer neuen Blicke auf das Grasland des Lamar-Valleys waren überwältigend, die Aussicht erinnerte an die Savannenlandschaft der Serengeti. Bisons durchstreiften den Talboden, kleine Gruppen von Gabelhornantilopen lagerten am Rand eines Espenwäldchens, Rotschwanzbussarde drehten im Wind ihre Pirouetten. An einer Stelle blieb Schwester Helen stehen und kam auf die religiöse Vorstellung von der Verkündigung zu sprechen. Bis dahin kannte ich das Wort nur als Lehrbegriff im Zusammenhang mit dem gleichnamigen christlichen Fest – der Erzengel Gabriel hatte Maria verkündet, ihr sei es bestimmt, den Sohn Gottes zu gebären. Doch Schwester Helen hatte ein viel umfassenderes Verständnis von Verkündigung. Ihr gelte alles, was etwas Neues, Frisches in die Welt bringt, als Verkündigung, erklärte sie; alles, was Ideale lebendig werden lässt und ihnen einen greifbaren Platz in unserem Alltag gibt.
So verstanden ist Verkündigung ein wunderbarer Fingerzeig, unserem Planeten Respekt zu erweisen, und zwar in der eigentlichen, ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Respektieren heißt nämlich schlicht und einfach »wieder hinsehen«. Und tatsächlich ist es höchste Zeit, wieder hinzusehen – und damit die Welt neu zusammenzufügen.
Vor einer Weile bin ich über eine Geschichte gestolpert, die ein junger Anthropologe in den frühen 1920er Jahren erlebt hat. Er war von der Harvard University in den amerikanischen Westen geschickt worden, um das Leben des Pit River Tribe zu dokumentieren – einer vom Aussterben bedrohten Kultur. Über Monate hinweg zeichnete er dessen Sprache auf, lauschte den Geschichten, die man mit ihm zu teilen bereit war, machte Notizen über Sitten und Gebräuche. Als er eines Tages mit einer Gruppe von Stammesältesten in der Nähe eines Salbeigebüschs am Dorfrand saß, fragte er sie nach ihrem Wort für die Neuankömmlinge im Land – für Leute wie ihn, seine Familie und seine Kollegen, die alle von weißen Europäern abstammten.
Die Stammesführer schauten sich kopfschüttelnd an und wollten nicht antworten, erinnert sich der Forscher. Erst nach vielem guten Zureden atmete einer der alten Männer tief durch und ergriff das Wort.
»Unser Name für deine Leute ist inalladui«, erklärte er. »Inalladui.«
Man kann sich gut vorstellen, wie der junge Anthropologe das Wort wiederholte, die melodischen Laute über seine Zunge fließen ließ.
»Wie schön das klingt«, sagte er vielleicht, woraufhin die Ältesten vermutlich mit den Augen rollten.
»Es bedeutet Landstreicher«, fuhr der Alte fort. »Jemand, der auf der Welt kein Zuhause hat. Du und deine Leute, ihr bewegt euch so hastig durchs Land. Euch liegt nichts daran, euch mit den Tieren, den Pflanzen oder den Menschen zu verbinden, die hier leben. Das verstehen wir nicht. Wir glauben, dass etwas in eurem Innern tot sein muss.«
In gewisser Weise stimmt das tatsächlich: Lange schien etwas in uns abgestorben zu sein. Uns fehlte der Sinn für die elementaren Energien, die uns körperlich und geistig gesund erhalten. Wie Jane Goodall bemerkte: »Die Verbindung zwischen unserem allzu klugen Gehirn und unserem Herzen ist uns verloren gegangen.« Die Aufgabe, die sich uns heute stellt, besteht nicht darin, etwas komplett Neues anzustreben. Woher sollte das auch kommen? Vielmehr ist es an der Zeit, unsere Sinne wiederzuerwecken und die Wahrnehmungsfähigkeit zurückzuerlangen, die im Grunde schon seit jeher in uns liegt.
Wir sind selbst Natur.
Wenn wir diese unverrückbare Tatsache fest im Blick behalten und uns von der lange gehegten Illusion verabschieden, es gebe einerseits die Natur »da draußen« und andererseits uns, rücken einige unserer schwerwiegendsten und hartnäckigsten Probleme in ein neues Licht. Zugleich, und das ist ebenso wichtig, können wir Kraft aus dem Wissen ziehen, dass uns auf einer grundlegenden Ebene alles gegeben ist, was wir brauchen.
Acht Lehren der Natur bringen uns auf den Weg; jede von ihnen ist ein Fenster, das uns erlaubt, zugleich nach außen und nach innen zu schauen. Und die Perspektiven, die wir dabei gewinnen, zeigen uns eine völlig andere Realität als die, in der wir uns vor vielen Jahren eingerichtet haben.