Rahel Meister
Nach Hause
Eine Halloween-Story
Knaur e-books
Zusammen mit ihrer langjährigen Leidensgenossin, Gesprächskameradin und besten Freundin betreibt Rahel seit 2012 die Literaturseite »Clue Writing« (www.cluewriting.de). Dort publiziert sie wöchentlich eine Kurzgeschichte, in der jeweils fünf Stichworte vertextet werden und die an einem vorgegebenen Handlungsort spielen muss. Seit 2015 erscheinen die Geschichten zudem als Hörbuch-Episoden in Clue Writings hauseigenen Podcast, dem Clue Cast.
Rahel kümmert sich neben ihrer Schreibarbeit auch um die Audio- und Grafikbearbeitung, interviewt Literaturschaffende und freut sich, mit Gastautoren zusammenarbeiten zu dürfen.
Damit hat Rahels nicht nachlassende Freude an der Literatur in diesem Projekt ein Zuhause gefunden, das es ihr ermöglicht, ihren Enthusiasmus für die verschiedensten Themen und Genres mit einem breiten Publikum zu teilen.
Rahel Meister besteht darauf, dass Optimismus und Freundlichkeit ohne eine Portion Zynismus nicht funktionieren können, und ist der Überzeugung, dass schonungsloser Humor, zuweilen auch bitterböser, ein Zeichen von Respekt ist. Sie ist ein bekennender Leuchtstift- und Kaffeeliebhaber und findet Zuversicht in den Wissenschaften, die den Nachthimmel wie auch jede Faser unserer Biomasse faszinierender machen. Sturheit ist ihr zweitbester Gefährte beim Sport, und obwohl sie sich einen Büchernarr schimpft, werden ihre künstlerischen Aktivitäten meist von Hörbüchern und Fernsehserien begleitet.
Rahel lebt und arbeitet in der Schweizer Bergwelt und findet sich langsam damit ab, dass man Schnee nicht mit reiner Willenskraft wegschmelzen kann.
© 2015 der E-Book-Ausgabe Knaur eRiginals
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.
Redaktion: Stefanie Röder
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © Getty Images
ISBN 978-3-426-43662-2
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Für
die Schildkröte, die weiß, dass ihre Kraft aus den Beinen kommt,
und vom hoch erhobenen Kopf geleitet wird,
die Glühbirne, die dann am gefährlichsten leuchtet, wenn ihr Drähtchen nicht glüht,
und den Doktor, den Professor und die Wurst, die den Geräuschpegel des Alltags so schön erhöhen.
Ihr seid grandiotastisch, und ich liebe euch.
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Devin stand mit verschränkten Armen mitten auf der Straße und starrte den dürftig zersägten Baumstamm ratlos an. Sie hatten heute schon einige Zwischenstopps einlegen müssen, um wild wucherndes Gestrüpp beiseitezuschaffen, doch dieses Hindernis hielt ihrer kleinen Motorsäge hartnäckig stand.
»Wir müssen zu Fuß weiter, es ist ja nicht mehr weit«, meinte er nach einer Weile, zuckte mit den Schultern und drehte sich auf den Absätzen seiner Wanderstiefel, um seinen Rucksack aus dem Jeep zu holen. Finn, der bis jetzt verzweifelt an dem schweren Holz gezerrt hatte, kickte wütend ins herumliegende Herbstlaub, ehe er seinen Bruder ankeifte: »Ich habe dir gesagt, wir hätten besser ein Motorrad geklaut!«
Devin wusste nicht, worüber er sich mehr freuen sollte: über die Tatsache, dass sie nun einen Marsch von über fünfzig Kilometern durchs ausgestorbene Hinterland vor sich hatten oder dass Finn ihn den gesamten Weg lang auf seinen Denkfehler hinweisen würde. Wenn es etwas gab, auf das sich Devin immer hatte verlassen können, war es die ewige Besserwisserei seines kleinen Bruders. Das war schon so gewesen, als sie gemeinsam auf dem Rücksitz des lächerlich großen Geländewagens ihrer Eltern gesessen und sich die Zeit mit Reisespielen vertrieben hatten. Jedes Mal, wenn das Auto an einem Schild vorbeigefahren war, das Devin anhand Finns vager Hinweise hätte erraten sollen, grinste der Kleinere schadenfroh, bevor er ihm einen Vortrag darüber hielt, dass er bloß besser hätte aufpassen müssen. Finn war, wie man so schön sagte, ein guter Verlierer, aber ein miserabler Gewinner.
»Ja, klar«, murmelte Devin. »Zu schade, dass wir nicht mit hundertfünfzig Sachen in einen Straßengraben rasen können.«
»Du und deine Angst vor Geschwindigkeit«, neckte Finn lachend und klopfte seinem Bruder im Vorbeigehen auf die Schulter.
Laut seufzend schlug Devin die Fahrertür zu, schulterte sein Gepäck und legte kurz den Kopf in den Nacken. Das Rascheln der Blätter wirkte irgendwie hypnotisch. Der Wind fühlte sich angenehm kühl an, doch der Gedanke an den nahenden Winter ließ ihn kurz aufschrecken. Früher hatte sich kaum jemand Sorgen wegen der kommenden Kälte gemacht, die Jahreszeiten und das Wetter waren bestenfalls Gesprächsstoff für die kurzen Begegnungen mit den Nachbarn gewesen. Etwas, über das man mit den Leuten reden konnte, mit denen man sonst keine Interessen teilte. Heute hingegen brachte der erste Schnee des Jahres weit mehr mit sich als die Lust auf Schneeballschlachten und Glühwein, und je harscher der Herbst im Verlauf ihrer mittlerweile zweiwöchigen Reise wurde, desto ungeduldiger fieberte Devin seinem Ziel entgegen. Sie waren überstürzt aufgebrochen, statt ihr Vorhaben ordentlich zu planen, wie es ihnen von Kindesbeinen an beigebracht worden war. Sich Ende Oktober auf eine beschwerliche Fahrt einzulassen widersprach so ziemlich allem, was die beiden Brüder von ihren Eltern und später den Betreuern und Armeeleuten gelernt hatten. Doch für Devin bestand kein Zweifel daran, dass sie das Richtige taten, indem sie seiner impulsiven Idee folgten und dieses Wagnis eilig eingingen. Hätten sie gewartet, da war er sich absolut sicher, wäre es bei der Idee geblieben.
Frustriert ächzend warf Finn einen langen Ast auf den Baumstamm – als wollte er ihn mit dieser Drohgebärde dazu bringen, ihnen den Weg frei zu machen. Das nasse Holz federte unbeeindruckt ab und landete, wie sollte es auch anders sein, auf dem einzigen freien Fleck der Straße. Devin putzte sich die Nase mit einem Taschentuch, über dessen Bakteriendichte er nicht weiter nachdenken wollte, ehe er die Beifahrertür öffnete. Sie hatten nicht viel eingepackt, aber Devin kam sein Rucksack tausendmal schwerer vor, jetzt da er ihn tragen musste.
»Komm schon, lass uns keine Zeit verschwenden«, rief er dem Achtzehnjährigen zu und reichte ihm seinen graubraunen Baumwollschal. Finn ließ erstaunlich bereitwillig von seinem Feind, dem sturen Baumstamm, ab und zupfte an seiner Kleidung herum. Vermutlich tat er das nur, damit er Devin zuvorkommen konnte, der sich regelmäßig danach erkundigte, ob Finns Schulterholster auch gut saß. Bei ihrer Flucht aus der Sicheren Zone hatte Finn nämlich seine Waffe verloren, weil er einen der Lederriemen nicht richtig festgeschnallt hatte. Sie hatten also nochmals über die mit Stacheldraht ausgestattete Mauer klettern müssen, um nach der Pistole zu suchen, und wären dabei beinahe von einem Wachmann erwischt worden, dessen Aufgabe es war, Eindringlinge ohne Vorwarnung zu verwunden oder, falls notwendig, zu töten. Durch schieres Glück war die Wache in eine Funk-Diskussion verwickelt gewesen, sodass sie ungesehen davonkamen.
Natürlich hätten sie versuchen können, eine Genehmigung zu erhalten, nur war es bislang noch niemals jemandem gelungen, eine mehrwöchige Reise bewilligt zu bekommen – erst recht nicht, wenn es um etwas Persönliches ging.
Man konnte es den Verantwortlichen nicht verübeln, schließlich waren sie nicht nur dafür zuständig, die Zone selbst zu schützen, sondern auch die Menschen, die sich dort ein Zuhause aufbauen wollten. Und jeder Trip war eine Gefahr, darüber ließ sich nicht streiten. Niemand durfte das weitläufige Gelände ohne Begleitung mehrerer Soldaten verlassen, und selbst mit einem gut ausgebildeten Trupp an der Seite war eine Rückkehr nicht garantiert, besonders dann nicht, wenn draußen jemand krank wurde. Devin salutierte gedanklich vor Andreas, einem seiner Freunde, den er kurz nach seiner Ankunft in der Sicheren Zone Nr. 42 kennengelernt hatte und der während einer Geiselnahme schwer verletzt worden war. Niemand wusste, was aus dem jungen Mann geworden war, nachdem man ihn in die Quarantänestation gebracht hatte. Kaum jemand, der durch diese Schleuse gehen musste, kam in einem Stück wieder heraus. So war es nun einmal, dachte Devin. Selbst die simpelste Krankheit war zu einem Risiko geworden, wenn man ihren Ursprung nicht kannte. Einem Risiko, das man nicht eingehen konnte.
Devin atmete einige Male tief durch und betrachtete Finn, der ungeschickt seinen Rucksack schulterte und danach die Säge auf die Ladefläche des Jeeps warf. Es hatte keinen Zweck, das unhandliche Ding mitzunehmen, obwohl es nicht einfach gewesen war, es aus dem Lager zu stehlen. Er überlegte einige Sekunden, ob er Finn nun endlich anvertrauen sollte, dass es gut möglich war, dass auch sie nie wieder in die Zone würden wiederkehren können, entschied sich jedoch dagegen. Der Jüngere hatte bislang viele der harten Entscheidungen nicht mitbekommen, glaubte Devin, der alles dafür tat, die brutale Realität von seinem Bruder fernzuhalten. Er hatte es seiner Mutter versprochen. Nur war er nicht mehr gänzlich überzeugt davon, dass er richtig handelte, wenn er Finn so vieles vorenthielt. Ihm wurde stetig klarer, dass sein kleiner Bruder nicht länger der freche Bengel war, der mit ihm auf dem Rücksitz Spiele gespielt hatte. Diesen Jungen hatten sie an dem Tag zurückgelassen, an dem er Finn von der Leiche seiner Mutter hatte wegzerren müssen. Ja, der Blonde verstand weit mehr von der Welt als Devin lieb war, doch entgegen seinen schlimmsten Befürchtungen hatte sich Finn seinen Humor und Optimismus bewahren können. Es war also vielleicht bald an der Zeit, ihn wie einen ebenbürtigen Gefährten zu behandeln.
»Also gut«, sagte Finn, während er seine rote Nase im Schal vergrub. »Dann mal los.«
Sie gingen nach Einbruch der Nacht noch ein Stück, bis sie hinter einer schmalen Abzweigung einen verwitterten Bauernhof sahen. Das Farmhaus war eine willkommene Entdeckung, die Aussicht darauf, im Freien schlafen zu müssen, war nämlich nicht sehr verlockend. Finn sprang die Treppe zum Hintereingang hoch und stieß einen Jauchzer aus.
»Nun brauchen wir bloß noch ein paar Kühe, Hühner und einen riesigen Hofhund, dann können wir gleich hierbleiben.« Er machte Witze, nichtsdestotrotz hatten Scherze wie diese für beide Brüder einen durchaus ernsten Hintergrund. Das Leben in der Nummer 42 mochte sie zwar gegen Gefahren abschirmen, bequem war es dennoch nicht. Der Platz war eng, und die hohen Grenzmauern ließen sich nur langsam ausbauen, viel zu langsam, um mit der stetig wachsenden Population mithalten zu können. Das hatte natürlich nicht nur alltägliche Unannehmlichkeiten wie lange Wartezeiten an der Lebensmittelverteilstelle zur Folge, sondern auch Versorgungsengpässe in den medizinischen Einrichtungen. Dazu kam, dass es zusehends schwieriger wurde, die Hygienezustände konstant zu überprüfen, insbesondere in den ärmeren Quartieren der Zone, in denen fließendes Wasser noch immer eine Seltenheit war.
Die Idee, aufs Land zu ziehen und sich dort autark versorgen zu können, hatte also durchaus etwas Verlockendes an sich. Hauptsächlich für Devin, denn obwohl auch sein Bruder nicht sonderlich begeistert war von all dem Dreck und Elend, mit denen sie in der Siedlung tagtäglich konfrontiert wurden, war es für Finn mit seinem geselligen Wesen weniger schwierig, mit den vielen Menschen auszukommen. Devin hatte selbst nach Langem noch den Eindruck, in seinen eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein, und suchte, wenn er die Zeit dazu fand, die Einsamkeit am äußeren Rand der 42. Vielleicht, grübelte er, während er ein rotes Plastikauto aus dem trockenen Gras fischte, würden sie das eines Tages wirklich durchziehen, gemeinsam etwas Neues erschaffen, eine Zukunft, die sie selbst gestalten konnten. Abwesend klopfte er den Dreck von dem Spielzeug, bevor er es vor der Tür ablegte. Das hatte er als Kind in seinem Elternhaus auch so gemacht und damit seinen Vater in den Wahnsinn getrieben.
»Kommst du?«, wollte Finn wissen.
Devin nickte und warf einen wehmütigen Blick auf sein Fundstück, ehe er seinem Bruder in die Küche folgte.
Hier draußen gab es nicht viele Häuser. Auch vor dem Krieg war die Gegend eher verlassen gewesen, das Land war schlichtweg nicht fruchtbar genug und die nächste Stadt lag mindestens vier Autostunden entfernt. Nicht, dass sich ein Ausflug dorthin noch gelohnt hätte, alle Städte waren seit mehr als dreizehn Jahren unbewohnt, der Aufwand, sie wiederaufzubauen, wäre einfach zu groß gewesen. Devin hatte einmal davon gehört, dass reiche Leute in ihren Ferien Touren nach Greenville unternahmen und sich vom Militär durch die Ruinen führen ließen. Finn fand das geschmacklos, hielt es für komplette Ressourcenverschwendung, doch Devin konnte den Reiz verstehen, würde selbst gerne die verfallenen und zugewachsenen Hochhäuser sehen. Devin war dreiundzwanzig, und anders als sein Bruder konnte er sich noch einigermaßen daran erinnern, wie es vor dem Infektionskrieg gewesen war. Damals hatte es noch keine Sicheren Zonen gegeben, jeder hatte sich frei bewegen können, zumindest innerhalb des Landes.
Seine Mutter hatte oft gescherzt, dass er im Herzen ein Nomade wäre, denn sogar im zarten Kindergartenalter konnte Devin es kaum mehr als einen Nachmittag am selben Ort aushalten. Selbstverständlich hatte er nicht gewusst, was ein Nomade überhaupt sein sollte, aber dieses Wort war ihm lieber gewesen als die Wahrheit, dass er im Hort ständig Heimweh nach seiner Mutter gehabt hatte. Trotzdem waren ihm die Geschichten über Weltreisen und Abenteuer in fremden Ländern stets die liebsten gewesen. Bis heute war Devin fasziniert von exotischen Landschaften und lärmigen Metropolen. Irgendwann, so viel Zuversicht war ihm bis heute geblieben, würden die Flieger wieder starten und auf fremden Kontinenten landen. Aber ziemlich sicher trennten sie noch Jahrzehnte des Wiederaufbaus vom Himmel.
Die internationale Kommunikation war kurz nach den ersten Ausschreitungen abgebrochen, mutmaßlich aufgrund eines Terroranschlags, genau wusste das jedoch niemand. Selbst die Leitungen der Regierung waren kurz darauf ausgefallen. Deshalb war es unmöglich, die Situation in Übersee einzuschätzen. Das Beste, was sie tun konnten, war zu hoffen, dass die Lage in Europa, Asien und Australien wenigstens nicht schlimmer ausgeartet war als hier. Tess, eine verschrobene Jägerin aus ihrer Siedlung, die wohl schon lange vor dem Ausbruch der Infektion an ihren Überlebensplänen gebastelt hatte, behauptete, dass sich bestimmt ein Großteil der Zentraleuropäer in die Berge hatte retten können. Sie war ebenfalls der Meinung, dass Europas Gesundheitswesen schneller reagiert und Quarantänezonen eingerichtet haben musste. Devin behielt Vorbehalte gegen die Glaubwürdigkeit dieser Theorie. Wenn es tatsächlich große Kolonien von Überlebenden in Europa gäbe, deren Gesellschaft mittlerweile wieder normal funktionierte, wie Tess sagte, wieso war dann bislang noch niemand zu ihnen gekommen? Würde eine gesunde, starke Gesellschaft nicht früher oder später über den Ozean fliegen, um zu sehen, wie viele von ihnen noch am Leben waren?
Es war unwahrscheinlich, dennoch hörte Devin der Jägerin gerne zu, wenn sie beim Abendessen enthusiastisch von den Schweizer Bergen erzählte, wo sich die Leute in Bunkerlabyrinthen hatten verstecken können, bis das Schlimmste vorüber gewesen war. Ihre Fantasie von einer heilen Welt war für ihn mehr als reine Dinner-Unterhaltung, sie lud ihn zum Schwärmen ein, ließ ihn im Geist die Fremde erkunden. Wenngleich dieser Traum wohl ewig einer bleiben würde, beruhigte Devin die Idee, dass nach all der Trostlosigkeit irgendwo die große weite Welt auf ihn warten könnte.
Die beiden Brüder hatten sich in das obere Stockwerk des Farmhauses zurückgezogen, nachdem sie die Küche und den Keller nach Vorräten und Waffen durchsucht hatten. Da sie mit relativ leichtem Gepäck reisten, vertrauten sie darauf, dass die Leute in der Hitze des Gefechts nicht stapelweise Dosensuppen in ihre Autos geladen hatten.
»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Finn mit vollem Mund, was Devin dazu veranlasste, mit den Augen zu rollen. Ihre Mutter hatte großen Wert darauf gelegt, dass sie sich anständig benahmen, weswegen es ihn ärgerte, dass Finn sich immerzu wie ein Wilder aufführen musste. Vorhalten konnte er es ihm allerdings nicht, schließlich war er gerade mal sechs Jahre alt gewesen, als sie ihre Eltern verloren hatten.
»Es ist bald Mitternacht«, antwortete er und fügte mit krächzend verzerrter Stimme hinzu: »Halloween!«
Der Jüngere runzelte die Stirn und lachte dann bitter: »Die Nacht der Untoten, was?«
»Sorry«, murmelte Devin betreten. »Trotzdem: Ich mochte Halloween schon immer.«
»Das war ja klar, Hauptsache du hast eine Ausrede, dich zu verkleiden«, meinte Finn lauthals loslachend und nahm dann einen noch viel größeren Bissen.
»Wie bitte? Das musst ausgerechnet du sagen, Mister ›Damenkleid‹!«
Ein Stückchen Trockenfleisch segelte in einer hübschen Parabel über ihre improvisierte Feuerstelle, landete auf dem Wohnzimmerboden, und Finn grölte los. Er verschluckte sich heftig, dass er erst aus der Wasserflasche trinken musste, ehe er kichernd erwidern konnte: »Ich war Donna Noble aus ›Doctor Who‹, du Banause!«
Devin würde wohl nie so richtig verstehen können, was sein Bruder an dieser kitschigen Fernsehserie fand, aber er war froh, dass er sich für etwas begeistern konnte. Noch schöner hätte er es natürlich gefunden, wenn einer der Plünderer mal wieder neue Blu-Rays mitbrächte. Man mochte es kaum glauben, selbst der beste Film verwandelte sich in ein Fest der Langeweile, wenn man ihn sich immer und immer wieder ansehen musste – sogar ›Monty Python’s Life of Brian‹.
»Dir ist schon klar, dass du dich auch einfach als ›Der Doktor‹ hättest verkleiden können?«, wollte Devin mit spöttischem Unterton wissen.
»Wo ist denn da der Witz? Wenn wir diesen unsäglichen Tag schon feiern müssen, dann wenigstens mit etwas Humor, und dafür ist Donna perfekt«, verkündete Finn so ernst, wie er nur konnte. »Oder meinst du eine Zombie-Aufmachung würde besser passen?«
Beinahe automatisch schüttelte Devin den Kopf. Nein, noch mehr von diesen Biestern brauchte nun wirklich niemand! Es war unvorstellbar, doch Hannes, einer ihrer Nachbarn, hatte ihnen beiden erzählt, dass sich die Menschen früher tatsächlich als Zombies verkleidet hatten. Wenn das heute jemand wagte, würde man ihn wohl schon auf der Türschwelle zur Halloween-Party erschießen.
»Also gut, Fräulein Noble, ich gebe mich geschlagen.« Finn gluckste zur Bestätigung und wandte sich dann wieder seinem Abendessen zu.
Um sich Finns Tischmanieren nicht weiter ansehen zu müssen, stand der Ältere auf und schlurfte in den vorderen Teil des zerfallenen Wohnzimmers, dorthin, wo das Dach noch intakt war und sie ihre Rucksäcke hingelegt hatten. Einst hatte dieses Haus jemandem viel bedeutet, dachte Devin, als er mit den Fingerspitzen über das schimmlige Polster eines Lesesessels strich. Es war einfach, sich vorzustellen, wie es hier früher einmal ausgesehen haben musste. Alles stand noch an seinem Platz – Möbel, Blumentöpfe, Krimskrams, sogar Fotos einer glücklichen Familie mit drei Kindern. Bloß waren die Möbel verrottet, die Töpfe hatten schon lange kein Grün mehr gesehen und auf den sorgfältig aufgestellten Figürchen und Bildern lag eine dicke, schleimige Staubschicht, die alles in einen modrigen Schleier hüllte. Nur bei ihrer Feuerstelle, dort, wo das Dach eingestürzt war, lagen bunte Blätter, und es wucherte Unkraut, das sich dem Herbst noch nicht ergeben hatte.
»Finn?« Devin ließ vom Sessel ab und drehte sich zu seinem Bruder um. »Die Leute, die hier gewohnt haben …«, er unterbrach sich, wusste, dass er den Satz nicht beenden musste, damit Finn ihn verstand. Diese Frage hatten sie sich beide schon so oft gestellt. Immer, wenn sie in einem der längst verlassenen Häuser übernachteten, in der Vergangenheit anderer Menschen campierten, tauchte sie auf. Eine richtige Antwort gab es freilich nie.
»Lass es, Devin«, murmelte Finn sichtlich niedergeschlagen. Als sie noch mit ihren Eltern unterwegs gewesen waren, hatte ihr Vater ihnen stets gesagt, dass sich die Fremden bestimmt rechtzeitig hatten retten können, dass sie in einem der Stützpunkte oder einer kleinen Siedlung in Sicherheit waren. Mit dem Tod ihrer Eltern hatten sie aufgehört, an diese Märchen zu glauben. Die Bewohner dieses Hauses waren, ebenso wie alle, die den beiden Brüdern wichtig gewesen waren, längst nicht mehr am Leben.
»Tut mir leid«, war das Letzte, was Devin an diesem Abend sagte. Er wollte nicht mehr herumalbern, wollte nicht an Halloween denken und erst recht nicht an die erste ›Süßes, sonst gibt’s Saures‹-Tour mit seinen Kindergartenfreunden.
Finn schien der Appetit ebenfalls vergangen zu sein, denn er verstaute den Rest seines spärlichen Abendessens im Rucksack, ehe er wortlos seinen Schlafsack ausrollte. Wie meistens hatte er sofort die beste Schlafecke für sich beansprucht und machte es sich zwischen der feuchtnassen Couch und einem hohen Regal so gemütlich, wie es in dieser Umgebung eben möglich war.
»Hast du beide Eingänge gesichert?« Devin erwiderte nichts, hatte seinen Bruder nicht gehört, weil dieser seinen Baumwollschal über die Nase gezogen hatte. »Hey«, rief Finn schlussendlich etwas lauter. Er deutete zur Wendeltreppe, bevor er sich wiederholte: »Hast du beide Eingänge gesichert?«
Devin schien erst irritiert, nickte dann jedoch selbstsicher. Er hatte die leeren Dosen nicht bloß zwischen den Türrahmen, sondern auch bei den Fenstern aufgestellt. Niemand und, noch viel wichtiger, nichts konnten in das Haus kommen, ohne dass sie es hörten.
»Gut. Na dann, schlaf gut, du Verkleidungssüchtiger.« Finn grinste und verschwand in einem Wust aus Schlafsack, Schal und Decke. Kurz darauf unterbrach eine Eule die Stille, Devin löschte die Petroleumlampe und legte sich ebenfalls schlafen.
Mit der stoischen Gelassenheit eines Heiligen rüttelte Finn alle paar Minuten an Devin. Dieser hörte im Halbschlaf, dass sein Bruder ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackte, rührte sich jedoch nicht. Erst das Versprechen auf eine Tasse Instantkaffee, den sie der alten Nonne, die in ihrer Nähe wohnte, geklaut hatten, bewegte ihn dazu, aus seinem Schlafsack zu kriechen.
»Wird sicher seltsam«, sagte Finn zwischen zwei Schlucken und beobachtete einige Augenblicke die trübe Brühe, ehe er erläuterte: »Das alte Haus zu sehen, meine ich.«
Devin konnte nur heiser zustimmen. Als er zum letzten Mal dort gewesen war, waren die ersten Berichte im Fernseher gelaufen und die meisten der Nachbarn hatten über ihre Familie gelacht, weil sie sofort ihre Koffer gepackt hatten. Genutzt hatte es seinen Eltern trotzdem nichts, dachte Devin traurig.
Was mit ihnen passiert wäre, wenn sie nicht sofort weggefahren wären, wollte sich Devin gar nicht erst ausmalen. Er konnte sich nur noch sehr flüchtig an die anderen Kinder im Quartier erinnern, an deren Väter und Mütter gar nicht mehr, dennoch schauderte es ihn, daran zu denken, was vermutlich mit ihnen geschehen war. Zu dem Zeitpunkt, als die Städte zum Katastrophengebiet erklärt worden waren, waren sie schon in der maroden, weit abgelegenen Ferienhütte ihres Großvaters angekommen. Was seinerzeit in den Vorstädten, seinem früheren Zuhause, vor sich gegangen war, konnte Devin nur erahnen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte er letztlich. Er wollte Finn nicht wissen lassen, wie sehr es ihm davor graute, zurückzukehren, immerhin war er es gewesen, der diese Reise unbedingt hatte machen wollen. Weshalb genau er mit seinem kleinen Bruder seit Tagen durch das unbewohnte Gebiet irrte, war ihm selbst noch nicht klar. Finn hatte er gesagt, dass er ihm zuliebe das Hochzeitsfoto ihrer Eltern holen wollte. Dass er sich selbst davor fürchtete, die Gesichter der beiden könnten in seinen Erinnerungen verblassen, verschwieg er. Vielleicht wollte er auch nur noch einmal das Gefühl haben, zu Hause zu sein. Sicher, die Kinderstätte, oder besser gesagt, das Waisenhaus, der 42, in der sie aufgenommen worden waren, nachdem man sie gefunden hatte, war okay gewesen. Devin hatte sich auch große Mühe gegeben, die Wohnung, die ihnen später zugeteilt worden war, schön einzurichten, aber es war nicht dasselbe. Sein Bruder kannte nichts anderes. Ihn hingegen hatte das Heimweh nach dem Vorstadthäuschen mit dem weißen Zaun nie so richtig verlassen. Wahrscheinlich, überlegte Devin, brauchten auch Nomaden ein Nest.
»Wollen wir?«, fragte der Jüngere. Devin gähnte ausgiebig, kratzte sich am Bauch und hätte sich am liebsten wieder hingelegt. Das Nervigste daran, kein Morgenmensch zu sein, war, mit einem Morgenmenschen ein Zimmer teilen zu müssen. Man konnte sich an alles gewöhnen, so Devins Überzeugung, an alles außer ans Aufstehen. Leider hatte es keinen Zweck, sich noch länger gegen den Aufbruch zu sträuben, Finn würde nur noch ungeduldiger werden, und er wollte nicht erneut erleben, wie die Stimmung seines Bruders von frühmorgendlicher Freundlichkeit zu gehässiger Ungeduld kippte. Also murmelte Devin kurz angebunden: »Von mir aus.«
Die Sonne war noch nicht am Horizont erschienen, glühte jedoch schon hinter den bewaldeten Bergen und versprach etwas Wärme mitzubringen. Finn hatte, wie an jedem anderen Ort, an dem sie bisher übernachtet hatten, einige Wildblumen vor die Tür gelegt, dann waren sie losmarschiert. Nun schleifte der jüngere Bruder seinen Rucksack achtlos hinter sich her, lief hüpfend und in Schlangenlinien die Straße entlang. Woher er diesen Überschuss an Energie nahm, war Devin ein Rätsel, genauso wie das mit den Blumen. Die Geste mochte zwar nett gemeint sein, in der Realität war dieses florale Geschenk aber eher eine Brotkrumen-Spur, die andere auf ihre Fährte führen konnte, als ein Denkmal an die längst verschollenen Familien.
»Ich will in meinem Bett schlafen, wenn wir da sind.« Finn klang überraschend fröhlich und warf den Älteren damit völlig aus dem Konzept. »Mit heraushängenden Füßen und allem, was dazugehört.«