Das fröhliche Grinsen des Jungen bereitete ihr keine Freude.
Es war immer grausam, wenn eine Seele ihre geliebten Menschen verlies. Aber in diesem Fall war es besonders schlimm.
Momente, bevor Körper uns Geist sich schieden, tauchte sie auf. Der Vater flehte um das Leben seines Sohnes.
Unerhört, genau wie alle die anderen Zurückgebliebenen.
Als sie die Seele des Knaben vor ihr erschien, brach der Mann. Er schluchzte und schrie und schnappte gelegentlich so laut hörbar nach Luft, dass das Geräusch sogar die Maus in der Ecke erschreckte. Sie huschte schnell zurück in ihr Loch in der Wand und kauerte sich zusammen.
Der Junge lächelte sie an, als brächte sie ihm das schönste Geschenk auf Erden. Er schien vertraut mit ihr, obwohl sie sich nie zuvor gesehen hatten.
Er konnte seinen Vater weder hören, noch sehen.
Nein, sie war jedes Mal die Einzige, die das Leid sah, das in der Welt der Lebenden zurückblieb. Die Seelen beäugten nur das weiße Tor, das mit einer Hoffnung – einer Zukunft – lockte.
Er warf ihr einen letzten Blick zu. Er hatte keine Zweifel, den richtigen Weg zu gehen. Sie nickte ihm zu, dann verschwand er im Nebel – und mit ihm das Tor.
Sie blieb in der Zwischenwelt bei einem Mann zurück, der sich noch nie so allein gefühlt hatte.
Er war groß, besaß breite Schultern und trug einen Bart so schwarz wie Ruß. Als die Wut ihn überkam, zerschlugen seine zu Fäusten geballten Hände einen Wasserkrug. Er war stark und doch so zerbrechlich.
Dunkle Venen zeichneten sein Antlitz – ein Fluch, mit dem nur die scheußlichsten Menschen belegt werden konnten, die ihr Recht auf Leben verwirkt hatten.
Und dennoch, als er das leblose Gesicht seines Sohnes streichelte und ihm dabei eine einzelne Träne über die Wange lief, empfand sie Mitleid mit ihm.
Es war ein furchtbarer Beruf. Es gab niemandem, mit dem sie ihr Leid teilen konnte. Sie war allein, genau wie der Vater. Zur Einsamkeit verdammt in einer Welt, die sich nicht um sie drehte, in der sie machtlos war, nur ein Beobachter.
Neben ihm sitzend, trauerte sie um ein Kind, das sie nicht kannte. Wie sehr sie sich danach sehnte, ihn trösten zu können. Aber das stand nicht in der Jobbeschreibung. Er wusste ja noch nicht einmal, dass sie es sie gab. Ob Mann oder Monster, sie fühlte seine Einsamkeit, als wäre es ihre eigene.
Die Hinterbliebenen färbten immer ein wenig auf sie ab. Es war schwer zu abgrenzen, was sie selbst empfand. Vielleicht war sie nur ein Spiegel, der den Schmerz aufnahm und in zehntausendfacher Verstärkung an die Lebenden zurückschickte.
Und dann war es auch schon wieder Zeit aufzubrechen. Sie spürte den Sog der nächsten Seele, die gehen musste. Sie schloss die Augen und stand einen Moment später mit einer kleinen Gruppe Menschen in einem winzigen Raum. Sie hatten sich um eine Greisin herum versammelt, die blass auf ihrem Bett lag.
War der Tod weniger grausam für die Zurückgelassenen, wenn die Person ein langes und erfülltes Leben geführt hatte?
Sie selbst fühlte sich immer traurig. Sie zwang sich, dem Geist der Frau ein Lächeln zu schenken. Sie verstand ihre Freude nicht. Wer konnte schon sagen, was wirklich hinter dem Tor lag?