Was Gotthold Ephraim Lessing, Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, was Wilhelm von Humboldt, J. J. Winckelmann, J. G. Herder und anderen Geistesgrößen unseres Volkes längst zuteil geworden ist, das besitzen wir von Immanuel Kant noch nicht: eine umfassende, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende und doch für alle wirklich gebildeten Deutschen lesbare Biographie, im Sinne der Darstellung seines Lebens und seines Lebenswerkes. Wenn jetzt der Verfasser mit vorliegendem, seit zwölf Jahren vorbereiteten Buche den Versuch einer solchen macht, so will er nicht bloß den Lebenslauf des größten deutschen Philosophen von neuem erzählen, auch nicht nur dessen System darstellen oder über Entstehung und Wirkung seiner Schriften im einzelnen berichten: das alles ist von ihm bereits an anderen Stellen geschehen. Sondern er will zeigen, wie Kants Werk aus seinem äußeren und inneren Leben, aus seiner Persönlichkeit, auf dem Hintergrunde seiner Zeit mit Notwendigkeit hervorgewachsen ist.
Wie weit auch die Lehre eines Philosophen bedingt ist durch seine Persönlichkeit, wie weit der bekannte Satz Fichtes seine Richtigkeit hat: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist", das ist freilich ein Problem für sich, das hier nicht weiter erörtert werden kann. Der Biograph jedenfalls muß sie in erster Linie aus dem Leben und der Person seines Helden entwickeln.
Der Plan zu dem Buche stieg in mir auf während der Arbeit und noch stärker nach der Vollendung meiner kleinen Kant-Biographie ('Kants Leben', Felix Meiner, 1911, 223 Seiten), wie das der aufmerksame Leser schon aus deren Vorwort merken konnte. Für die Ausführung boten sich zwei verschiedene Wege dar. Erstens der einer sogenannten "wissenschaftlichen" Biographie mit dem üblichen kritischen und gelehrten Apparat; was nach so mancher dankenswerter Vorarbeit der Kantphilologie in den letzten Jahrzehnten, vor allem der vorzüglichen Ausgabe des Briefwechsels und eines großen Teiles des Nachlasses in der Akademie-Ausgabe (Band X—XVI), durchaus im Bereiche der Möglichkeit lag. Dass ich eine solche wohl hätte abfassen können, glaube ich unter anderem durch meine kritische Quellenstudie über Die ältesten Kantbiographien (Ergänzungsheft der Kantstudien, Nr. 41, 1918) bewiesen zu haben, die ich — ebenso wie meine Charakterstudie Kant als Deutscher (Reichl, Darmstadt 1918) — als Ergänzungen zu vorliegendem Werk anzusehen bitte. Ich habe mich auch in der Sammlung des Materials innerhalb der letzten 14 Jahre keine Mühe verdrießen lassen, habe z. B. eine zweimalige Reise (1912 und 1916) nach dem fernen Königsberg nicht gescheut und bin auch, auf meine diesbezügliche Bitte bei Gelegenheit der Tagung der Kantgesellschaft in Halle Ostern 1914, von manchen Seiten in dankenswerter Weise unterstützt worden.
Allein ich muß diejenigen persönlichen oder Kantfreunde zu meinem Bedauern enttäuschen, die eine solche "wissenschaftliche", das heißt im Grunde doch nur gelehrte Kantbiographie von mir erwartet haben. Gewiß, exakte Erforschung der Einzeltatsachen ist die nächste und unumgänglichste Vorbedingung einer auf Wahrheit und möglichste Vollständigkeit Anspruch machenden Gesamtdarstellung. Aber mein Ehrgeiz ging höher. Ich wollte kein Buch bloß für die Gelehrten liefern, sondern ich wollte den großen Philosophen als Menschen und Denker meinen Zeitgenossen lebendig machen. Ich wollte ein Bild entwerfen, das den alten Kant, wie er lebte und dachte, so weit es einem Nachgeborenen möglich ist, leibhaftig vor unseren Augen wieder erstehen ließe; ich habe ihn daher auch mit Absicht möglichst häufig selbst zu Worte kommen lassen, anstatt mehr oder minder geistreiche Gedanken über ihn zu äußern. Und, obschon völlige Objektivität für den Historiker und erst recht für den Biographen, den Liebe zu seinem Gegenstand beseelen muß, unmöglich bleibt und, wäre sie erreichbar, zu blutleerer Farblosigkeit führen müßte, so habe ich doch auch in der Darstellung seiner Philosophie den historischen Kant, wie er meinen Augen erscheint, zu schildern gesucht, unabhängig von allen "Schul"-Rücksichten.
Jenem Lebendigmachen sollte ursprünglich noch eine größere Reihe zeitgetreuer Illustrationen (Bildnisse Kants aus seinen verschiedenen Lebensaltern, Porträts interessanter in sein Leben hineinspielender Persönlichkeiten, Abbildungen der Hauptstätten seines Lebens und seiner Wirksamkeit, Faksimiles und dergl.) dienen, die schon im Jahre 1916 zusammengestellt waren; wie denn überhaupt das Manuskript bereits im Frühjahr 1917 im wesentlichen fertig vorlag. Der Weltkrieg und seine Nachwehen haben, wie so manches andere, auch diese Absicht zunichte gemacht. Ich bin meinem langjährigen Verleger Herrn Dr. Felix Meiner zu Danke verpflichtet, dass er trotz aller Schwierigkeiten das Buch übernommen und zum Druck gebracht hat, so dass zur Jubelfeier von Kants 200. Geburtstag (22. April 1924) der erste Band sicher erschienen sein und der zweite sehr bald nachfolgen wird. Kürzungen mußten freilich noch an manchen Stellen eintreten, das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden und der literarisch-bibliographische Anhang auf das Notwendigste beschränkt werden, um das Werk nicht ins Ungemessene anschwellen zu lassen.
Dem Danke an den Verlag schließe ich denjenigen an die zahlreichen Gelehrten an, die mich durch wertvolle Beiträge und Ratschläge in meiner Arbeit unterstützt haben, deren Namen ich hier nicht sämtlich nennen kann. Vor allem gilt mein wärmster Dank den nie ermüdenden Freunden Arthur Warda und Otto Schöndörffer in Königsberg, dann Herrn Professor Arthur Liebert (Berlin), Oberbibliothekar Dr. Max Ortner (Klagenfurt) und dem inzwischen verstorbenen Geh. Admiralitätsrat Dr. Abegg (Berlin); weiter den Herren Oberschulrat Gerschmann (Königsberg), Amtsgerichtsrat Goeschen (Merseburg), Gymnasialprofessor A. Rosikat † (Königsberg), Prof. H. Vaihinger (Halle), Oberbibliothekar Emil Reicke und Fräulein R. Burger (Göttingen) sowie den Bibliotheksverwaltungen der Universitäten Königsberg, Marburg, Göttingen und Münster für die freie Benutzung ihrer Bücherschätze. Besonderen Dank habe ich auch der Buchhandlung von Gräfe & Unzer in Königsberg zu sagen, dass sie die Wiedergabe des dem Bande beigegebenen Beckerschen Bildes (nach dem für die Festschrift der Königsberger Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft hergestellten Farbenlichtdruck) gestattete.
Der Unvollkommenheit meines Werkes gegenüber einem Genius wie Immanuel Kant bin ich mir vollkommen bewußt. Aber ich mußte dies Buch schreiben. Es ist mir, als käme erst mit ihm meine Lebensarbeit an Kant zum Abschluß und zur Krönung. Und ich denke, eine mehr als 4½ Jahrzehnte hindurch geübte Beschäftigung mit dem Königsberger Weisen von der Zeit an, wo in meiner Vaterstadt Marburg Hermann Cohen den 17jährigen Studenten in die Tiefen Kantischen Denkens einführte, bis heute, wo ich selbst an der westfälischen Universität die Philosophie Kants zu lehren die Freude habe, gab mir ein gewisses Recht zu dem noch von keinem anderen unternommenen Wagnis. Wie weit es gelungen ist, das haben nun meine Leser zu entscheiden. Ich hoffe, sie haben, wenn sie das Buch aus der Hand legen, von Kants Geiste einen Hauch verspürt.
Münster, 12. Februar 1924
Karl Vorländer
Die heutige Provinz Ostpreußen ist altes Kolonialland. Nach der Abwanderung ihrer germanischen Bewohner zur Zeit der großen Völkerwanderung war sie beinahe ein Jahrtausend lang im Besitz der nachgerückten slavisch-baltischen Stämme: der Preußen und der ihnen stammverwandten Litauer und Masuren, gewesen. Fünf Jahrzehnte harten Kampfes brauchte daher der Deutsch-Orden zur Christianisierung und Wiedergermanisierung des Landes. An dessen weitere Geschicke: die zweihundertjährige Unterwerfung unter polnische Lehnshoheit, die Loslösung des Herzogtums Preußen von der Fremdherrschaft durch seine Verbindung mit Kurbrandenburg brauchen wir bloß zu erinnern. Uns interessiert hier nur der durch all diese geschichtlichen Wechselfälle, sowie durch die eigentümliche geographische Lage bestimmte Charakter der Bevölkerung. Das Deutschtum, das sich mindestens in den Städten tatkräftig durchgesetzt hatte und von der überdies nicht besonders drückenden polnischen Oberhoheit nur leicht beeinflusst worden war, hatte sich hier schon seit den Tagen der Ordensheere aus allen deutschen Gauen zusammengesetzt und trug daher ein besonderes Gepräge, das durch das Zusammenwohnen mit den alteingesessenen Litauern, Masuren und Letten höchstens noch stärker seiner selbst bewusst ward. Daneben hatten im sechzehnten Jahrhundert aus den Niederlanden vertriebene Mennoniten, gegen Ende des siebzehnten französische Refugiés Aufnahme gefunden, waren 1712 Schweizer herbeigerufen worden, um die durch die große Pest entvölkerten litauischen Landstriche neu zu besiedeln, waren endlich zwei Jahrzehnte später protestantische Salzburger in Tausenden von Familien dort ansässig geworden.
Andere Ausländer lockte die geographische Lage des Landes an, die es zum natürlichen Handelsvermittler zwischen den seefahrenden Engländern, Schotten, Holländern und Skandinaviern einer-, den slavischen Absatzgebieten des Hinterlandes, Rußland und Polen, sowie den baltischen Ländern anderseits machte. Blieben diese Angehörigen fremder Völker auch zum größeren Teile Gäste, die nur ihrer Handelsinteressen halber die Ostseeküste besuchten, so nahmen doch manche von ihnen ihren dauernden Wohnsitz im Lande. Mindestens in den Seestädten wie Königsberg, Pillau, Memel treffen wir zu Kants Zeit zahlreiche Engländer, Schotten, Franzosen, Holländer, Dänen an, von den noch zahlreicheren Polen, Litauern und Juden ganz zu schweigen. Kants eigene Familie leitete ihren Ursprung auf schottische Einwanderer zurück.
Eben diese Blutmischung, ja schon der Verkehr brachte in das etwas schwerfällige und selbständige, durch das lange Ringen mit der Ungunst der Natur und des rauhen Klimas zwar tüchtig, aber auch nüchtern und einförmig gewordene Wesen des Ostpreußen, namentlich in der Hauptstadt, einen belebenden, auffrischenden Zug und vermochte so der durch die entlegene Lage im äußersten Nordosten Deutschlands bedingten, durch die lange polnische Herrschaft über das westpreußische Zwischenland noch gesteigerten Gefahr geistiger Isolierung besser entgegenzuwirken. Anderseits führten die lebhaften Handelsbeziehungen zahlreiche ostpreußische, in erster Linie wieder Königsberger Kaufleute nicht nur nach den großen Ostsee-Handelsstädten Danzig und Stettin, Lübeck und Riga, sondern auch weiter nach Kopenhagen und Amsterdam, London und Petersburg. Auch für viele andere Gebildete wurde es allmählich zur Gewohnheit, eine Bildungsreise ins Ausland, d. h. zunächst ins "Reich", aber auch darüber hinaus nach Frankreich, den Niederlanden oder England zu unternehmen.
Infolge aller dieser Umstände hatte sich eine besondere seelische Eigenart in den Bewohnern dieses deutschen Außenpostens herausgebildet. Wohl findet sich auch, nach dem bekannten Sprichwort, das entgegengesetzte Extrem; aber im ganzen herrscht doch die kritische, sogar gegen das eigene Gefühl auf der Hut befindliche Nüchternheit, der Hang zum verstandesmäßigen Denken, ein mit festem Willen verbundenes trotziges Aufsichselbststehen, die Neigung zu scharfem und kühlem, indes doch mit dem Streben nach Gerechtigkeit gepaartem Urteil vor. Die anders gearteten Naturen, die Herder, Hamann, Zacharias Werner und E. T. A. Hoffmann haben zumeist früher oder später die Heimat verlassen.
Die geistige Bewegung ging hier im allgemeinen freilich langsamer vor sich als in dem lebendigeren Zentrum Deutschlands, den sächsisch-thüringischen Landen, oder den rheinischen und schwäbischen Gebieten; aber sie ging im ganzen auch mehr in die Tiefe. Zwar wurde von den literarisch Gebildeten die bei der Langsamkeit der damaligen Verkehrsmittel doppelt weite Entfernung von Leipzig, dem Mittelpunkte des deutschen Buchhandels, sowie den sonstigen Sitzen geistigen Lebens öfters schmerzlich empfunden. Aber das Land und mit ihm die geistig von ihm abhängenden und genährten Nachbargebiete Livlands, Kurlands und Westpreußens, besaßen doch seit der Reformationszeit nicht bloß einen wirtschaftlichen, sondern auch einen geistigen Mittelpunkt, in dem die ostpreußische Art wie in einem Brennpunkt verdichtet erscheint, in der einzigen großen Stadt Ostpreußens, mit ihrer von dem ersten Preußenherzog 1544 begründeten alma mater Albertina, der Stadt Königsberg.
Seitdem der Böhmenkönig Ottokar im Jahre 1255 das Schloß, im Jahre darauf die, wie es heißt, nach ihm benannte Gemeinde Königsberg gegründet, hatte die Stadt eine bedeutsame Entwicklung durchgemacht. Genauer gesagt: die drei Städte, die erst in Kants Geburtsjahr (1724) zu einer einzigen vereinigt und bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts noch durch Tore voneinander abgesperrt waren, ja im Jahre 1455 einander noch bekriegt hatten: die um das Schloß entstandene Altstadt (gegründet 1264), die seit etwa 1300 östlich davon sich bildende neue Stadt oder Löbenicht, und die auf einer Insel des Pregel im Süden erbaute Stadt Kneiphof (1324). Von den Hochmeistern, um Fremde anzuziehen, mit zahlreichen Vorrechten ausgestattet, blühte Königsberg rasch auf, trat in die Hansa ein, wurde 1457 nach dem Verluste der Marienburg Sitz des Hochmeisters, seit 1525 Residenz des evangelisch gewordenen Herzogs. Durch häufige Einwanderung von Ausländern, die auch während des hierher nicht gedrungenen dreißigjährigen Kriegs nicht stockte, immer mehr angewachsen, zählte sie 1706 bereits über 40 000 Einwohner und war so, an Bevölkerungszahl wie an Bedeutung, die zweite Stadt des am 18. Januar 1701 mit gewaltigem Prunk hier gestifteten Königsreiches Preußen. Nur vorübergehend durch pestartige Seuchen geschwächt, erreichte sie — mehr durch Zuwanderung von außen als durch Geburtenüberschuß — um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Zahl 50 000, ungerechnet die starke Garnison nebst deren Familienangehörigen. Für das Jahr 1787 gibt Baczko die Einwohnerzahl auf 55 663, ohne die etwa 7—8000 Köpfe zählende Militärbevölkerung, an; die Zahl der Häuser auf mehr als 4300, dazu gegen 600 Speicher und 1000 Ställe. Um das Ganze, d. h. die drei Städte und die dazu gehörigen "Freiheiten" und Vorstädte, zog sich seit 1626 ein Wall mit 32 Rondellen und 8 Toren; übrigens für eine ernstere Verteidigung kaum geeignet, ohne Außengräben und leicht ersteigbar.
Wer damals nicht den Seeweg wählte, sondern mit der Berliner Post in Königsberg einfuhr, gelangte, ohne dass sich schon von weitem die Großstadt angekündigt hätte, durch das Brandenburger Tor — so nach dem einige Meilen südwestlich an der Heerstraße liegenden alten Städtchen genannt — in die hintere oder äußere, dann in die vordere Vorstadt, von denen wenigstens die erstere noch um 1840 fast durchweg aus sehr dürftigen, meist ein-, höchstens zweistöckigen Häusern bestand. In der noch heute in ihrer Hauptstraße den alten Namen tragenden Vorderen Vorstadt, der Geburtsstätte unseres Philosophen, die sich bis an den Pregel erstreckte und häufig unter den verheerenden Bränden der dort zahlreichen Getreidespeicher zu leiden hatte, waren schon modernere Bauten dazwischen gestreut. Hier, wo sich der Handel bereits stark bemerkbar machte, konnte der Knabe Kant, besonders in der Sommerzeit, zahlreiche schwarzbärtige Juden mit ihren langen schwarzseidenen Kaftanen, hohen Stöcken und breitkrempigen Hüten sehen, in lebhaftem Handelsgespräch über die Waren begriffen, die sie zum Teil selbst aus dem Inneren Polens den Fluß abwärts geleitet hatten. Außerdem waren wegen des starken Fuhrverkehrs aus dem "Reich" Gasthäuser niederen Rangs ("Krüge") sehr häufig. Die Vorstadt war zu Kants Zeit noch von vielen feuchten Wiesen mit ihren Gräben teils umgeben, teils durchschnitten. In einem Viertel derselben, der sogenannten "Insel Venedig", deren Hauptstraße die Klapperwiese hieß, wohnten schon einzelne Grossisten wie Toussaint, Andersch u. a. Ihren Abschluß fand die Stadt hier pregelabwärts in der einst vom Großen Kurfürst gegen die widerspenstigen Städter angelegten und mit einem Arsenal versehenen, auch als Gefängnis benutzten "Veste Friedrichsburg".
Die Grüne Brücke, die aus der "Vorstadt" zur eigentlichen Stadt führte, und die der kleine Kant zu Anfang seines langen Schulwegs täglich überschreiten mußte, bot eine fesselnde Doppelaussicht, nach Westen und nach Osten. Dort die in See stechenden großen Seeschiffe des Auslandes mit Matrosen der verschiedensten Nationen Europas. Hier pregelaufwärts die aus Polen und Rußland kommenden langen und flachen Riesenkähne (Wittinen), hochbeladen mit Getreide, Hanf, Flachs und Matten, die sie zum Teil aus weit entlegenen Gebieten hergeschafft hatten, um sie in der großen Handelsstadt gegen Kolonialwaren, Wein oder Fertigfabrikate einzutauschen: zuweilen bis zu 60 oder 70 an der Zahl, so dass sie den Fluß fast unsichtbar machten, bis sie nach 6 oder 7 Jahren ausgedient hatten und als Bau- oder Brennholz verkauft wurden. Auf ihnen, außer dem meist jüdischen Unternehmer, die sogenannten Dschimken, in Schafpelze gekleidete gutmütige Naturmenschen aus dem Inneren Polens, welche die Fahrzeuge vor Anbrach des Herbstes wieder heimgeleiteten.
Hatte Immanuel auf der Grünen Brücke den "alten" Pregel, d. i. den südlichen Pregelarm, überschritten, so befand er sich auf der Insel des Kneiphofs. Dieser Stadtteil trug ein wesentlich anderes Gepräge als die Vorstadt. Denn hier hatten die altberühmten wohlhabenden Handelsfirmen ihren Sitz. Konnte sich Alt-Königsberg auch nicht mit den reicheren Hansastädten Danzig, Lübeck oder Bremen messen, so erinnerte doch die als die schönste Straße der Stadt geltende Kneiphöfsche Langgasse wenigstens einigermaßen an ihr heute noch berühmtes Danziger Vorbild. Leider sind in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur das hübsche Langgassen-Tor mit seinem Turm, sondern, bis auf wenige unbedeutende Reste, auch die freilich die ohnehin nicht breite Straße noch mehr verengenden "Beischläge" (Vortreppen mit Eisengeländer und allerlei Verzierungen) der neuzeitlichen Entwicklung zum Opfer gefallen: in dem nüchternen Königsberg denkt man anscheinend ungeschichtlicher als in der Stadt an der Weichselmündung. Außerdem beherbergte der Kneiphof noch die schon 1324 begründete "Thum" (Dom)-Kirche, einen altertümlichen Backsteinbau, nebst den dicht dabei gelegenen Gebäuden des Kneiphöfschen Gymnasiums und der Universität (heute Stadtbibliothek): eine der wenigen Stellen Königsbergs, wo man heute noch still von vergangenen Zeiten träumen kann. Ferner das noch jetzt den Hauptsitz der städtischen Verwaltung bildende Rathaus, endlich das unmittelbar am Pregelufer auf Pfählen erbaute Börsengebäude: so dass hier Kirche, Wissenschaft und Handel in trauter Nachbarschaft zusammenstießen.
Ging man vom Kneiphof, auf der Krämerbrücke den nördlichen Pregelarm oder "neuen" Pregel überschreitend, in gerader Richtung auf das Schloß zu, so gelangte man bergansteigend — dichterische Gemüter haben Königsberg wohl mit der Siebenhügelstadt am Tiber verglichen — in die Altstadt, den Hauptwohnsitz der wohlhabenden Kleinbürgerschaft: der Tuchkaufleute, Kürschner, Schmiede und Schuhmacher. Sie dehnte sich mit ihren zahlreichen "Freiheiten" weit aus und besaß in älterer Zeit nicht weniger als acht Tore. In der Altstadt im engeren Sinn lag das Altstädtische Rathaus, zu Kants Zeit als Gerichtsgebäude verwandt, das Altstädtische Gymnasium, der Artushof oder Junker- und der Gemeindegarten, hier die Buchhandlungen und Buchdruckereien. Neben glänzenden Läden befanden sich in den engen Gassen vielfach auch düstere, dunkel angestrichene Häuser mit schwärzlich angerauchtem Gemäuer, die meisten mit Vorplätzen und -treppen versehen.
Im Zentrum und zugleich am höchsten, beherrschenden punkte der Stadt erhob sich das auch gegenwärtig fast noch unveränderte Schloß, in verschiedenen Jahrhunderten und Baustilen errichtet, mit seinen gewaltigen grauen Mauern, seinen zahlreichen, den weiten Innenhof umschließenden Gebäuden, seinem hochragenden schlanken Hauptturm, nebst den dicken Eck- und Warttürmen, in seinem Inneren den riesigen Moskowitersaal — noch immer einen der größten Säle Deutschlands —, eine besondere Kirche, eine Bibliothek u. a. bergend. In der Nähe des Schlosses begann der weit ausgedehnte Schloßteich, dessen Ufer damals noch überall bis an das Wasser herabreichende Gärten bildeten. Hier herrschte an schönen Sommerabenden, zumal wenn Konzerte oder eine italienische Nacht veranstaltet wurde, in der sonst so nüchternen Stadt bisweilen ein fast venetianisch anmutendes reges Treiben; das ärmere Volk sah dann von der seit 1753 das Wasser überquerenden Holzbrücke bewundernd dem prächtigen Schauspiel, im Winter dem Eislauf, zu. Vom Schloßplatz ostwärts schaute man auf die elegante Französische Straße mit ihren Buch- und Putzhandlungen, Konditoreien und Weinstuben, während nach Süden der Blick auf die rauchgeschwärzten tiefer liegenden Teile der Altstadt fiel.
An diese reihte sich gen Osten pregelaufwärts die dritte der einstigen Städte, der sogenannte Löbenicht, der Sitz der reichen Bierbrauer mit ihren nicht weniger als 87 Brauhäusern. Die alte Kirche brannte 1764 ab; die neue, deren zierlichen Turm der alte Kant von seinem Studierzimmer aus so gern sah, wurde bald darauf eingeweiht. Das frühere Rathaus war schon zu des Philosophen Lebzeiten ein Privathaus geworden, in dem auch er mehrere Jahre lang gewohnt hat.
An die innere Stadt schlossen sich auch nach den übrigen Seiten verschiedene, seit dem 16. Jahrhundert aus Dörfern, Vorwerken, Gärten usw. nach und nach entstandene Vorstädte an, hier "Freiheiten genannt. Im Gegensatz zu der dicht bebauten alten Stadt, waren dort erst die Hauptstraßenzüge mit Häusern, Scheunen, Speichern besetzt. Auch sie trugen einen verschiedenartigen Charakter. Der dem Stadtinneren nahe "Roßgarten" z. B. wies in seinem Beginn stattliche Häuser, Kaufläden und Geschäfte auf, während er nach außen hin in Krankenhäuser, später auch Kasernen endete. Der "Sackheim" mit seinen Kleinkramläden und Schänken diente besonders den in die Stadt kommenden Landleuten. Im Gegensatz dazu beherbergte die "Neue Sorge" die ansehnlichen Stadtwohnungen der Aristokratie. "Tragheim" wieder trug auf seiner an den Schloßteich grenzenden Seite vornehme Landhäuser, auf der gegenüberliegenden dagegen bescheidene Wohnungen kleiner Leute. Die Hauptstraße des "Steindamms" bildete den beliebtesten Spazierweg zu den Landgütern oder "Hufen" (dem heutigen Villenviertel Königsbergs) und von da auf den Wall, der sich in zwei Meilen Umfang mit zahlreichen Vorsprüngen und Buchten rings um die Stadt zog und zum Teil noch heute wechselnde Aussichten auf deren Umgebung: Wald, Fluren, Friedhöfe, den Oberteich, den Pregel und in der Ferne das frische Haff bietet.
Eine Welt für sich endlich bildete die zur Altstadt gehörige Freiheit Lastadie mit ihren den Pregel entlang sich ziehenden mächtigen, wenn auch architektonisch unschönen Speichern, Packhäusern, Wagen, Kranen, Schiffswerften und Zoll- oder Lizentgebäuden. Von den aus dem Haff einfahrenden Seeschiffen wurden am Holländer, von den aus dem Landesinnern kommenden Flußschiffen am Littauer "Baum", d. i. Schlagbaum, die Zollgebühren erhoben.
So verschiedenartig die einzelnen Stadtteile in ihrem Gepräge waren, so verschieden, beinahe noch mittelalterlich voneinander abgeschlossen, waren auch die einzelnen Klassen der Bevölkerung. Wer aus dem heutigen in das Königsberg des 18. Jahrhunderts versetzt würde, dem würde vor allen Dingen in die Augen fallen der Mangel einer eigentlichen Arbeiterschaft. Wohl gab es zu Kants Zeit schon eine mäßige Anzahl meist von Ausländern begründeter, zum Teil von "Schutzjuden" geleiteter Fabriken (der Leder-, Gaze-, Papier-, Tabak-, Seifen- und Tuchbereitung dienend), in denen um 1800 einige Tausend Menschen beschäftigt gewesen sein sollen; aber sie wurden doch sämtlich mehr oder weniger handwerksmäßig betrieben. Zu Arbeitern im heutigen Sinne konnte man fast nur die Lastträger an den Schiffen und in den Speichern am Pregel sowie die Brauknechte rechnen. So zählt denn Baczkos genaue Statistik vom Jahre 1787 neben 7826 Ehemännern, 609 Witwern und 1688 unverheirateten Männern, d. h. Selbständigen, bloß 1488 Gesellen, 1788 Lehrlinge und gar nur — 824 "Knechte und Diener" auf, von denen die letzteren gewiß zum größten Teil auf das Konto der persönlichen Bedienung fallen. Die Bürgerschaft zerfiel in Groß- und Kleinbürger. Zu den Großbürgern gehörten in erster Linie die Kaufleute des Kneiphof und der Altstadt, sodann die Brauherren des Löbenicht. Sie allein durften Großhandel mit Fremden treiben, ihre Hochzeiten auf dem Junkerhofe halten, sie stellten die Kirchen- und Stiftsvorsteher. Zu den Kleinbürgern zählten die Handwerker (darunter auch Kants Vater), die in jedem Stadtteil einen "Gemein-Ältesten" besaßen. Jede Zunft oder "Kunst" wählte ihren "Ältermann" auf Lebenszeit oder bestimmte Jahre; jede hatte ihre besondere Sterbe-, Kranken- und Armenkasse, ja sogar ihr eigenes Leichengerät. Noch im Jahre 1798 empfingen die Zünfte vor den Toren der Stadt das einziehende junge Königspaar mit ihren Fahnen und Musikkorps.
Der Adel wohnte nur zum Teil und im Winter in der Stadt. Aber auch, soweit er dort ansässig war, war es kein Hofadel. Seine Angehörigen fühlten sich mehr als selbständige Vasallen, denn als Untertanen. Noch im vorigen Jahrhundert sind Namen wie von Schön, von Hoverbeck, von Saucken u. a. durch den politischen Unabhängigkeitssinn ihrer Träger bekannt geworden. Ein Teil war freilich in den militärischen oder höheren Beamtendienst getreten.
Damit kommen wir zu einem weiteren, an Zahl bedeutenden Bruchteil der Bevölkerung: dem Militär. Die Garnison umfaßte um 1787 nicht weniger als drei Infanterieregimenter, von denen jedes gegen 2200 Mahn unter Waffen, ungerechnet die etwa 250 Frauen und Kinder, zählte; dazu noch zwei Füsilierbataillone, die Hälfte eines Dragonerregiments und eine Artilleriekompanie. Die Soldaten hatten damals noch keine Kasernen, sondern in verschiedenen Stadtteilen, je nach den Regimentern, ihre Bürgerquartiere.
Dem Religionsbekenntnis nach war Königsberg seit den Tagen der Reformation (1525) eine durchaus protestantische und zwar in der Hauptsache lutherische Stadt. Luthers ältester Sohn († 1575) lag in der Altstädtischen, Melanchthons. Tochter, die Gattin des ersten Rektors der Universität Sabinus, in der Domkirche begraben; im Senatszimmer des alten Kollegienhauses hingen die Bilder beider Reformatoren. Ja in dem Senatoreneid, den auch Kant hat leisten müssen, fand sich noch eine härte Stelle gegen alle "Sakramentarier", zu denen nach strenger Auffassung auch die Reformierten gehörten. Immerhin wurden diese bisweilen zu Professuren zugelassen, während man den Katholiken gegenüber exklusiv blieb. Die Reformierten zählten eine größere "teutsch-pohlnische" und eine kleinere französische Gemeinde,1 zusammen etwa 1500 Seelen. Die Zahl der zugewanderten Katholiken war sehr klein; schon seit dem 16. Jahrhundert hielten sie keine Prozessionen mehr ab. Schließlich gab es noch manche "Stille im Lande", darunter Mennoniten, Herrnhuter und andere "Separatisten". Größer war die Zahl der erst seit Ende des 17. Jahrhunderts zugelassenen Juden. Sie betrug im Jahre 1787 814 Personen, darunter 57 "Schutzjuden", von denen jedoch nur ein Teil das Recht zum Ankauf von Grundstücken besaß: nur 16 Häuser und 4 Speicher waren in jüdischem Besitz. Handel mit Roherzeugnissen wie Erlernung eines Handwerks waren ihnen untersagt. Die meisten beschäftigten sich mit Juwelen- und Galanteriewarenhandel oder waren Unterhändler bzw. Dolmetscher der Polen und Russen; doch zählte zu ihnen auch eine Reihe ansehnlicher Handelshäuser, welche ausgebreitete Wechselgeschäfte betrieben und die größten Packkammern besaßen.
So konnte man in der, von Kant selbst einmal durch ihre "Weitläuftigkeit" charakterisierten, Pregelstadt ein mannigfach bewegtes Leben wahrnehmen und alle Stufen der Kultur beobachten: von jenen fast noch den Eindruck von "Wilden" machenden polnischen "Dschimken" (s. oben) und den Matrosen und Packknechten am Flusse bis zu den höchsten Kreisen der Geld- und Geburtsaristokratie mit ihren zum Teil, u. a. durch die russische Okkupationszeit (1758—62), doch schon etwas verderbten Sitten. Übrigens fiel dem Reisenden Meerman 1800 die große Anzahl wohlgebauter Männer und schöner Frauen auf, welche letztere sich auch mit Geschmack zu kleiden wußten, "ohne doch das Natürliche und Einfache zu vernachlässigen". In der vorrevolutionären Zeit machte sich, wie überall, die schroffe Trennung der Stände auch in Königsberg geltend und ließ es zu keiner Gemeinsamkeit der Interessen kommen. Sie kam auch in den geselligen Beziehungen zum Ausdruck; so feierten die Großbürger ihre Feste im Junker-, die Kleinbürger die ihrigen im Gemeindegarten, es gab besondere Adeligen-, Kaufmanns-, Offizianten- (d. h. Beamten-) und Studentenbälle. Immerhin waren die großen Kaufleute der Stadt, die meist ein beträchtliches Stück Welt gesehen hatten, im Durchschnitt nicht protzenhaft, sondern zeigten häufig vielseitige Interessen und suchten den Umgang mit Vertretern der Wissenschaft; ebenso, wie wir noch sehen werden, ein Teil des Adels und des Militärs. Hamann und vor allem Kant, geringer Leute Kinder, konnten ohne Zwang in den vornehmsten Kreisen verkehren. Es gab in der Stadt eine Reihe öffentlicher und privater Bibliotheken, wie denn überhaupt von den Königsbergern und Königsbergerinnen viel gelesen wurde, und seit 1743 eine heute noch bestehende gelehrte Vereinigung, die "Kgl. Deutsche Gesellschaft". Auch an Konzerten und Theateraufführungen, seit 1755 in einem ständigen Schauspielhause, fehlte es nicht.
Endlich beherbergte die Hauptstadt des Landes, das dem neuen Königreich den Namen gegeben, noch eine ganze Anzahl "hoher Landeskollegien": zum Exempel das "kgl. preußische Etatsministerium", bestehend aus einem Landhofmeister, Oberburggrafen, Kanzler und Marschall (alle — wohl noch von der Ordenszeit her — aus dem einheimischen Adel ernannt), die "kgl. ostpreußische Regierung" als oberste Gerichts-, die "Königsbergsche Krieges- und Domänenkammer" als oberste Polizei-, Handels-, Bau- und Finanzbehörde. Dazu noch viele andere weniger vornehme Behörden — L. von Baczkos Beschreibung des alten Königsberg zählt im ganzen 28 auf! —, von denen wir nur noch das Lizent- oder Zollamt, das Kommerz- und Admiralitätskollegium und das Konsistorium erwähnen.
So ist Immanuel Kant, im Gegensatz zu Lessing, Schiller und Herder, ähnlich dagegen Leibniz und Goethe, in einer der größten damaligen Städte, die einem beweglichen Geiste mannigfaltige Anregung bot, herangewachsen. Und wir begreifen wohl die Worte berechtigten Heimatstolzes, mit denen unser Philosoph, sonst sparsam mit allem Persönlichen, in einer Anmerkung zu der Vorrede seines letzten Werkes, der "Anthropologie", von seiner Vaterstadt spricht, Worte, mit denen auch wir diese Überschau beschließen wollen: "Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landeskollegien der Regierung desselben befinden, die eine Universität zur Kultur der Wissenschaften und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl mit angrenzenden als auch entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt — eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann."
Immanuel Kants Geburtshaus steht schon längst nicht mehr. Bereits zu des Philosophen Lebzeiten war es einer jener verheerenden Feuersbrünste, die in dem Speicherviertel am Pregel besonders reiche Nahrung fanden, zum Opfer gefallen. Es stand in einer Seitengasse der "Vorderen Vorstadt", durch die heute die elektrische Bahn zum Hauptbahnhof führt. Sie, die jetzt den nüchternen Namen "Bahnhofsstraße" trägt, hieß bis tief ins 19. Jahrhundert hinein Sattlergasse. Denn hier wohnten nach mittelalterlicher Sitte, wie in Danzig, Köln und anderen alten Städten, viele Handwerksgenossen in der nämlichen Straße; dass es gerade in der Vorstadt, durch die der Wagen- und Fuhrmannsverkehr aus dem "Reiche" ging, für Sattler, Riemen- und Wagenmacher besonders viel zu tun gab, liegt auf der Hand.
Ein solcher ehrsamer Sattler-, genauer Riemermeister, war auch Immanuels Vater, der aus Memel zugewanderte Johann Georg Kant. Auch dessen Vater, Hans Kant, hatte bereits, nachdem er sich als Handwerksgeselle in "frembden Landen" umgesehen und in Tilsit sein Meisterstück gemacht, in Memel dem Riemerhandwerk obgelegen, während der Urgroßvater 1667 urkundlich als "Krug"-Besitzer, also Wirt, in Werden bei Heydekrug im nördlichsten Ostpreußen nachgewiesen ist. Wie weit damit die von dem Philosophen selbst für wahr gehaltene2 schottische Abstammung vereinbar ist, steht dahin. Wenn Kants Großvater wirklich zu den "vielen" gehörte, die "aus Schottland ... in großen Haufen emigrierten, und davon ein guter Teil ... sich in Preußen, vornehmlich über Memel, verbreitet hat", so müßte er jedenfalls viel früher als "am Ende des vorigen" (17.) oder zu Anfang "dieses", d. h. des 18. Jahrhunderts, aus Schottland eingewandert sein, denn er hatte sich nach seiner Rückkehr von der Wanderschaft bereits um 1670 als Meister in Memel ansässig gemacht und, anscheinend nicht lange nachher, eine wohlhabende, einheimische Bürgerstochter geheiratet, die ihm als zweiten Sohn Ende Dezember 1682 Johann Georg, eben den Vater unseres Philosophen, gebar. Während der Großvater nun in Memel blieb und dort 1698 eine neue Ehe schloß, aus der ein Sohn Christian hervorging, wanderte Johann Georg, vielleicht ebendeshalb, nach Königsberg aus, wo er am 13. November 1715, also schon beinahe 33 Jahre alt, die 18 jährige Tochter eines Handwerksgenossen, Anna Regina Reuter, heiratete, deren Vater, Caspar Reuter (geb. 1670), aus Nürnberg stammte.
"Anno 1715, den 13. November, habe ich, Anna Regina Reuterin, mit meinem lieben Mann Johann George Kant, unsern hochzeitlichen Ehrentag gehalten; sind von Herrn Magister Lilienthal copulirt worden in der Kneiphöfschen Thum (d. i. Dom-) Kirche." So lautete die Eintragung der jungen Frau in ein von Immanuels Eltern, der Sitte der einfachen Leute gemäß, geführtes "Haus-", d. h. Gebet- oder Andachtsbuch. Von den neun Kindern, die sie im Verlauf einer 22 jährigen glücklichen Ehe ihrem Manne schenkte, haben nur fünf die Eltern überlebt. Das erste wurde totgeboren, zwei andere starben schon im ersten Lebensjahre, von einem vierten (einer Tochter) wissen wir nichts als den Geburtstag. Das vierte in der Reihe, der älteste der am Leben gebliebenen beiden Söhne, war unser Philosoph.
In der fünften Morgenstunde des 22. April 1724, eines Sonnabends, erblickte er das Licht der Welt. Nach alter Sitte bereits am folgenden Tage, wurde er — vermutlich in der alten Taufkapelle der Domkirche — auf den Namen E m a n u e l getauft, der nicht bloß für den 22. April in den alten preußischen Kalendern stand, sondern auch der frommen Sinnesart der Mutter entsprach. Sie schließt ihre Eintragung in das "Hausbuch" mit dem frommen Wunsche: "Gott erhalte ihn in seinem Gnaden Bunde bis an sein seliges Ende um J: C: Willen. Amen." Die bei diesem Kinde allein aufgeführten sechs Paten lassen auf den Verkehrskreis der Familie schließen. Es befinden sich darunter ein Gürtlermeister aus der Vorstadt, ein Gerichtsangestellter auf dem Sackheim, ein Händler in der Altstadt, eine verheiratete Frau Barbara Wolffin, eine Jungfer Dorothea Dürrin und ein (in dem Kirchenbuch der Domgemeinde nicht mitaufgeführter, demnach wohl bei der Taufe nicht persönlich anwesender) Kupferschmied und Bürger aus Memel, also der alten väterlichen Heimat. Im übrigen scheinen mit der großväterlichen Familie in Memel keine weiteren Beziehungen mehr bestanden zu haben. War doch auch der dortige Großvater, "Meister Kandt der Riemer", bereits acht Monate vor der Hochzeit von Immanuels Eltern gestorben und als wohlhabender Mann "mit allen Glocken, der ganzen Schul und ein Lied vor der Thür" begraben worden und nur noch die Stiefmutter am Leben, im Jahre 1735 aber bereits das Memeler Familienhaus nicht mehr vorhanden.
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