Stille Wasser
von
Mirjam Niedereichholz
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Korrektorat: Anja Karl
Lektorat: Media-Agentur Gaby Hoffmann | https://www.profi-lektorat.com
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♥ Für Marcus und Lenny ♥
„Some of us think holding on makes us strong,
but sometimes it is letting go.”
Hermann Hesse
Mittwoch, 4. September
San Francisco
Der Nebel lichtet sich langsam, als der Jogger am Marine Drive zielstrebig Richtung Golden Gate Bridge läuft. Er sieht, wie sich sein Atem in der kalten Luft verflüchtigt und kann sich kaum vorstellen, dass in kurzer Zeit die Sonne den morgendlichen Dunst durchbricht und dies wieder ein warmer, sonniger Tag werden soll. Seine Bewegungen sind gleichmäßig, fast fließend. Er fühlt sich eins mit der Natur an diesem frischen Herbstmorgen. Noch sind nur vereinzelt Pendler auf den sechs Spuren der Hängebrücke unterwegs, die sich bereits im Morgengrauen auf den Weg in die geschäftige Großstadt machen.
Endlich ist er an seinem Ziel direkt unter der Golden Gate Bridge angekommen und beobachtet, wie die Nebelschwaden durch das noch verschlafen wirkende San Francisco und um die gespenstische Insel Alcatraz ziehen.
Nach einem zufriedenen Blick auf seine Pulsuhr fängt er an, sich zu dehnen, und blickt empor zu dem imposanten Wahrzeichen seiner Heimatstadt. Obwohl dies seine tägliche Laufstrecke ist und er die Brücke ständig betrachten kann, fasziniert sie ihn nach wie vor. Er schaut in die Höhe und überlegt, warum es so viele Menschen hierher zieht, um Selbstmord zu begehen. Diesen traurigen Rekord hält die „Brücke des Todes“, wie sie aus diesem Grund genannt wird, nach wie vor.
Wollen diese Menschen einfach an einer schönen Stelle sterben? Dabei ist noch nicht einmal sicher, dass sie wirklich tot sind, wenn sie auf dem Meer aufschlagen. Das Wasser ist zwar hart wie Beton, wenn man aus fünfundsiebzig Metern Höhe aufklatscht, jedoch kann man je nach Aufschlagwinkel auch überleben. Wie viele den Sturz wirklich überstehen, ist nicht klar, da die Bucht mit weißen Haien gespickt ist, die nur darauf lauern, dass etwa alle zwei Wochen ein frustrierter Leckerbissen hinunterspringt. Hinzu kommt, dass das Wasser eine solche Eiseskälte hat, dass man nach dem Sprung ohnehin einen tödlichen Schock erleidet. Entweder man erfriert, ertrinkt, wird aufgefressen oder alles drei – in beliebiger Reihenfolge. Warum nimmt man dann nicht lieber Schlaftabletten gemütlich zu Hause in seinem Bett?
Gedankenversunken geht er Richtung Klippe und grübelt, warum er gerade jetzt auf so negative Gedanken kommt, wo doch in seinem Leben momentan alles fantastisch läuft. Er ist seit drei Jahren glücklich liiert, weiß seit vierundzwanzig Stunden, dass er Vater wird, und wurde gerade befördert. Was könnte besser sein?
Da hört er hinter sich ein Geräusch. Was war das? Hier ist sonst um diese Uhrzeit nie eine Menschenseele. Es verirren sich allerdings öfters Waschbären oder Stinktiere hierher. Er dreht sich um und sieht eine Gestalt aus dem Nebel auf sich zukommen. Als diese näher tritt, merkt er, dass ihm das Gesicht bekannt vorkommt. Er überlegt gerade, ob er ein Wort des Grußes sagen soll, als er den länglichen Gegenstand in der Hand seines Gegenübers wahrnimmt. Ein Baseballschläger? Im nächsten Moment fühlt er schon einen dumpfen Schmerz an seiner rechten Schläfe und spürt, wie eine warme Flüssigkeit über sein Ohr rinnt. Er denkt noch „es gibt nicht nur Selbstmorde an der Golden Gate“, als ihm schwarz vor Augen wird und er abtaucht ins Dunkel.
Ins unendliche Dunkel des Pazifiks.
Montag, 12. August
Heidelberg
Montagfrüh war für Dan Hanley die schönste Zeit. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die genau diese Stunden verabscheuten, freute er sich darauf. Pfeifend schloss er an diesem Morgen die Sicherheitstüren zu seinem eigenen Unternehmen auf, das in den letzten zehn Jahren geradezu bombastisch gewachsen war und eine sensationelle Erfolgsgeschichte hinter sich hatte.
Gerade kürzlich waren sie in dieses neue Firmengebäude umgezogen, das er sich nun noch einmal in aller Ruhe ansehen wollte. Wie jeden Montagmorgen wollte er die ersten Stunden mit seiner Lieblingsmitarbeiterin verbringen und den Ablauf der Woche mit ihr besprechen. Diese Stunden waren wie früher, als wäre die Zeit stehen geblieben. Anna war von der ersten Stunde an dabei gewesen und mittlerweile betrachtete er sie fast wie eine Tochter, auf sie war unbedingt Verlass.
Das Gebäude war gut gesichert, niemand außer ihm und Anna besaß alle Schlüssel und Sicherheitscodes. Niemals hätte er sich so etwas vor einigen Jahren vorstellen können. Angefangen hatten sie zu dritt als kleines Softwareunternehmen im Arbeitszimmer seines Hauses. Die Firma war zu Anfang so etwas wie ein Hobby für ihn gewesen, genug Geld hatte er als Rechtsanwalt bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr bereits verdient.
Nun stand er in der geräumigen Empfangshalle und schaute sich um. Das Innere prägten dunkle Marmorfliesen, Edelstahl und Leder, alles ausgesprochen edel und elegant gehalten.
Wenn nicht jetzt, dann nie, hatte er sich bei der Auswahl der Inneneinrichtung gedacht. Alle Gemälde hatte er bei einem Urlaub mit seiner Frau in Zürich persönlich ausgesucht und vom Künstler selbst mit der richtigen Beleuchtung anbringen lassen. Teilweise waren in den Büroräumen auch die Wandfarben passend zu den Bildern ausgewählt worden. Für den völlig unbekannten Künstler in einer kleinen Seitenstraße in der Züricher Innenstadt war es wohl das Geschäft seines Lebens gewesen. Wahrscheinlich befand er sich mittlerweile auf irgendeiner Südseeinsel und ließ es sich gut gehen.
Dan drückte auf einen Knopf, der die ganze Deckenbeleuchtung im Komplex steuerte, und schritt langsam den Korridor entlang, um einen zufriedenen Blick in jedes Zimmer zu werfen.
Insgesamt waren in dem vierstöckigen Gebäude fast hundertfünfzig Mitarbeiter untergebracht. Ähnlich viele befanden sich in jeder größeren Stadt Deutschlands, und auch im Ausland und Übersee gab es Vertretungen mit einer Handvoll Mitarbeiter. Mit seiner Idee und seinem Produkt hatte er vor zehn Jahren einfach Glück gehabt und war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, damals auf der Cebit in Hannover.
Heute war ein besonderer Tag. Dan war sich zwar immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob es die richtige Entscheidung war, aber in wenigen Stunden würde sein dreißig Jahre jüngerer Geschäftspartner hier sein neues Büro beziehen. Dieser sollte innerhalb der nächsten Monate die geschäftsführenden Aufgaben übernehmen.
Im Grunde hatte Dan ein gutes Gefühl bei der Sache, wollte sich wohl nur noch nicht eingestehen, dass er etwas kürzer treten musste.
Das ständige Drängen seiner Frau, nicht so viel Zeit im Büro zu verbringen, und die endgültige Absage seines Sohns, in die Firma einzusteigen, hatten seinen Entschluss vor zwei Wochen letztendlich besiegelt. Lange genug hatte er einen Balanceakt zwischen dem ausgeglichenen Familienmenschen und dem ehrgeizigen Firmengründer vollführt. Er musste zugeben, dass er sich ein wenig darauf freute, in Zukunft mehr Freizeit genießen zu können.
Außerdem wollte er sich ja nicht gänzlich aus dem Geschäftsleben zurückziehen. In beratender Funktion würde er seiner Firma bis zum Sterbebett erhalten bleiben, das stand für ihn fest.
Bereits vor zwei Jahren hatte er begonnen, eine reibungslose Übergabe seiner Funktion vorzubereiten. Damals hatte er ein erfolgreiches Team potenzieller Anwärter für seine Nachfolge in die Firma geholt, die meisten von der direkten Konkurrenz. Im Endeffekt hatte er sich schließlich aus verschiedenen Gründen für Stefan Himmel entschieden, der sich nicht nur durch überragende Arbeit auszeichnete, sondern bei dem er auch das Gefühl hatte, ihm voll und ganz vertrauen zu können.
Sein zukünftiger Nachfolger wusste allerdings noch nichts von seinem Glück. Erst einmal wollte Dan ihn vor Ort noch etwas unter die Lupe nehmen und vor allem musste er seine Vertraute Anna nun in seine Planung einweihen.
Heute ist es also soweit, dachte er und blickte versonnen aus dem Fenster. Dan hatte sich das schönste Büro ausgesucht, ein Eckzimmer im zweiten Stockwerk mit einer großen Glasfront und einer überwältigenden Aussicht über Heidelberg, das Neckartal und, wie an diesem klaren Morgen, bis in die Pfalz. Er blickte hinab auf das geschäftige Treiben in der Altstadt, auf der alten Brücke und der gegenüberliegenden Neckarseite. Stundenlang könnte er hier stehen. Er liebte diese Stadt.
Eben hörte Dan den Summer an der Tür. Das konnte nur Anna sein. Vor allem ihr musste er die Neuigkeiten berichten. Er hatte damit viel zu lange gewartet.
Die Fahrt zur Arbeit war für Anna stets ein Genuss. Sie konnte zum ersten Mal richtig durchatmen und die Strecke durch das Neckartal Richtung Heidelberg war einfach wunderschön. In saftigem Grün erstreckten sich die Berge, zwischen denen sich idyllisch der noch vom sommerlichen Nebel verdeckte Neckar schlängelte.
Der neue Sitz ihrer Firma war für sie um einiges schneller zu erreichen als der vorherige und noch dazu viel schöner gelegen, oberhalb des Heidelberger Schlosses, anstatt im Industriegebiet von Mannheim.
Anna fühlte sich wirklich, als wäre es „ihre“ Firma, denn sie war von Anfang an dabei gewesen, als Dan Hanley sie vor zehn Jahren mit an Bord genommen hatte. Damals waren sie nur zu dritt gewesen, mittlerweile aber arbeiteten mehr als fünfzehnhundert Mitarbeiter bei der TaxUs AG.
Von der Straße aus konnte man das neue herrschaftliche Firmengebäude kaum sehen. Die elektrische Garageneinfahrt öffnete sich geräuschlos und sie fuhr auf den leeren Parkplatz. Es sollte wieder ein heißer Sommertag werden, doch noch war es angenehm kühl. Sie parkte ihren alten Käfer neben Dans schickem neuen Mercedes SL und musste bei dem Anblick schmunzeln. Eigentlich hätte sie sich schon längst ein neues Auto leisten können, aber solange ihr das alte Gefährt nicht unter dem Hintern wegrostete, wäre ein neuer Wagen reiner Luxus für sie gewesen. Und Luxus war einfach nicht ihr Ding.
Punkt acht Uhr schloss sie die Eingangstür auf und betrat die einladende Empfangshalle. Dan hatte an nichts gespart, das sah man auf den ersten Blick. Er stand im Flur und lächelte sie an.
„Na, Schätzchen, kannst du es auch noch nicht glauben, dass wir es so weit gebracht haben?“
Eigentlich fand sie es immer etwas übertrieben, wenn er sie Schätzchen nannte, andererseits betitelte sie ja sonst niemand so, und es tat irgendwie gut.
„Wahnsinn, Dan, alles ist so schick, dass ich mich kaum getraue, etwas anzufassen.“
Er legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. „Na, jetzt übertreibst du ja etwas, Motte.“ Motte war schon besser. „Wollen wir uns in ein Besprechungszimmer setzen oder in mein Büro?“
Anna liebte den Montagmorgen ebenfalls. „Lass mich noch schnell die Blumen versorgen und Kaffee machen, dann bin ich in zehn Minuten in deinem Büro.“ Sie spürte, dass er es kaum aushielt, ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Während sie die gelieferten Blumen in Vasen verteilte, fragte sie sich, was es wohl sein könnte. Wahrscheinlich hatte er wieder ein aufregendes Wochenende mit seiner Frau Helene Gott weiß wo verbracht. Er ließ sie immer an seinen Erlebnissen teilhaben, was Anna sehr genoss, denn in ihrem Leben passierte schon seit Jahren herzlich wenig. Viele Male hatte Dan sie bereits über Weihnachten und Neujahr mit auf eine Kreuzfahrt eingeladen, was wieder zeigte, dass er sie praktisch als Familienmitglied betrachtete. Jedes Jahr gingen er, seine Frau, Kinder und Enkelkinder auf eine spannende Kreuzfahrt. Anna war jedoch an ihr Leben hier gebunden und das wusste er. Daher nahm er es ihr auch nicht übel, wenn sie Jahr um Jahr dankend ablehnte. Er belohnte sie stattdessen mit einem satten Bonus, den sie sowieso besser gebrauchen konnte.
Freudig ging sie mit frischem Kaffee und Croissants in den zweiten Stock in Dans Büro, wo dieser gedankenverloren am Fenster stand und die Aussicht genoss. Als er sich zu ihr umdrehte, merkte Anna allerdings sofort, dass es sich wohl nicht nur um nettes Geplauder handeln würde. Seine Worte bestätigten dies, als er ernst sagte: „Setz dich, Motte.“
„Was ist los, Dan? Du bist so ernst?“, fragte Anna nervös.
„Liebe Anna, ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden und du selbst weißt, dass ich nicht mehr ewig alle Geschäfte leiten kann. Ich werde nächsten Monat einundsiebzig“. Er machte eine grausame lange Pause und goss beiden im Schneckentempo, wie es Anna vorkam, Kaffee ein.
Er seufzte. „Heute wird unser Kollege Stefan Himmel aus München hier als Partner sein Büro beziehen“, hierauf hielt er kurz inne, „was er allerdings noch nicht weiß, ist, dass ich ihn bereits auserwählt habe, möglichst bald die geschäftsführenden Aufgaben zu übernehmen und mich irgendwann zu ersetzen.“ Etwas nachdenklich fügte er noch hinzu: „Natürlich nur, wenn er sich wirklich als tauglich erweist“, und als fürchtete er, Anna werde gleich einen Einwand einbringen, redete er schnell weiter: „Du hast ihn zwar noch nicht persönlich kennengelernt, aber Stefan Himmel ist ein fantastischer Kerl. Du wirst ihn mögen. Und ich weiß, ich hätte dir dies schon früher sagen sollen, aber ich selbst habe die endgültige Entscheidung auch erst vor zwei Wochen getroffen.“
Anna war platt. Sie fühlte sich, als würde auf einmal ihre heile Welt zusammenbrechen.
„Aber … was ist denn mit Sebastian? Und was wird dann aus mir?“, brachte sie nur verzweifelt hervor, während ihr tausend Dinge auf einmal durch den Kopf schossen.
Dan lehnte sich vor, fasste ihr beruhigend an die Schulter und fuhr mit etwas gesenkter Stimme fort: „Eigentlich wusste ich ja schon immer, dass mein Sohn nicht für die Wirtschaftswelt gemacht ist. Er reist seit Jahren als Musiker um die Welt, ist dabei sehr glücklich und sogar relativ erfolgreich. Nun haben wir endgültig geklärt, dass Sebastian nicht in meine Fußstapfen treten wird und ich gönne ihm auch, dass er sein Leben so gestalten kann, wie er will.“
Anna spürte, wie langsam Panik in ihr hochkam. Sie mochte keine Veränderungen, es hatte davon einfach zu viele in ihrem Leben gegeben.
Dan wusste das. „Für dich wird sich hier erst einmal gar nichts verändern, alles bleibt so, wie es ist: Deine Aufgaben bleiben dieselben und wir arbeiten genauso eng zusammen wie eh und je. Nur hast du einen weiteren Ansprechpartner und das ist Stefan. Du kennst ihn doch vom Telefon. Ihr beiden werdet prima miteinander auskommen.“
Ja, sie kannte ihn vom Telefonieren und da machte er tatsächlich einen netten Eindruck. Aber fast jeder war ja „nett“ am Telefon. Auch ein Bild hatte sie irgendwann mal von ihm gesehen, konnte sich aber im Augenblick nicht recht daran erinnern. Zu den Firmenausflügen war sie nie mitgegangen, weil sie zu Hause gebraucht wurde. Kurz, sie kannte diesen Stefan Himmel wirklich nicht!
„Wenn du meinst …“, gab Anna mutlos zurück und etwas zuversichtlicher sagte sie dann: „Wird schon werden.“
„Na, das meine ich aber auch. Ohne dich läuft in dem Laden doch sowieso nichts, Schätzchen!“ Sie musste wieder lächeln, er schaffte es jedes Mal, sie um den Finger zu wickeln und versöhnlich zu stimmen.
Lachend bemerkte er: „Deinen neuen Chef hast du dann wenigstens immer greifbar vor Ort. Nicht wie mich nur montags und den Rest der Woche meist per Telefon oder E-Mail. Erstmal ist Stefan zwar in einem Hotel untergebracht, aber bald wird er von München nach Heidelberg ziehen.“ Nachdenklich räusperte er sich. „Außerdem interessiert mich auch deine Meinung über ihn.“
Anna kommentierte das stumm mit einem Nicken, aber in dem Moment hatte sie bereits beschlossen, dass dieser Stefan Himmel es nicht leicht haben würde, sie von seinem Können zu überzeugen.
Kurz herrschte Stille und beide hingen ihren Gedanken nach, bevor sie wie immer den wöchentlichen Ablauf und die wichtigsten Punkte der Tagesordnung besprachen. Im Handumdrehen war es kurz vor neun Uhr und die ersten Kollegen trudelten ein.
Annas neuer Chef sollte erst nachmittags eintreffen.
Sie war es gewohnt, alle wichtigen Dinge im Büro alleine zu erledigen. Nicht nur deshalb ging ihr ihre neue Kollegin Nicola Bell, die ihr auch noch genau gegenüber saß, etwas auf die Nerven. Anfangs war sie enttäuscht gewesen, dass man ihr nicht mehr die ganze Arbeit anvertraute, und hatte sich zur Seite gedrängt gefühlt. Aber mittlerweile hatte sie erkannt, dass Nicola ihr die simplen, aber zeitraubenden Tätigkeiten abnehmen sollte, während sie selbst komplexere Aufgaben hatte. Anna beruhigte sich, indem sie sich sagte, dass Nicola nur zum Kaffeekochen und Termine bestätigen eingestellt worden war, was oft einer Absprache bedurfte, weswegen ein gemeinsames Büro daher durchaus Sinn machte. Trotzdem kam sie nicht umhin, ihre Kollegin besonders kritisch zu betrachten. Anna hatte definitiv mittlerweile eine leichte Abneigung gegen sie entwickelt.
Ein bisschen hatte sie auch das Gefühl, dass die neue Situation ihr freundschaftliches Verhältnis zu Dan trüben könnte. Das Büro war ihr ein und alles. Hier fühlte sie sich zu Hause und konnte ihr langweiliges Privatleben verdrängen.
Sie betrachtete ihr Gegenüber. Nicola war das genaue Gegenteil von ihr. Perfekt gestylt erschien sie jeden Morgen in sehr eng anliegender Kleidung zur Arbeit, betrachtete gerne ihre lang manikürten Fingernägel und sah aus, als wäre sie in den Schminktopf gefallen.
Aber natürlich musste sie ihre Qualitäten haben, denn sonst hätte Dan sie nicht eingestellt. Sie war vor gut einem Jahr mit insgesamt fünf Mitarbeitern aus dem Münchner Büro nach Heidelberg gekommen, hatte allerdings bisher nicht mit Anna in einem Büro gesessen. Seit zwei Wochen saßen sie sich nun genau gegenüber und es war noch keine Sympathie, geschweige denn Freundschaft entstanden.
Ihr gemeinsames Büro war großzügig gestaltet und befand sich direkt hinter der Empfangshalle, so hatten sie alles im Auge, aber doch genug Abstand, um vertrauliche Dinge zu bearbeiten. Die Türen aller Büroräume standen meistens offen, dies war ein ungeschriebenes Gesetz des Unternehmens. Auch waren alle PCs so ausgerichtet, dass man im Vorbeilaufen auf den Bildschirm blicken konnte. Auf diese Weise konnte man gleich sehen, ob ein Kollege gerade im Internet surfte oder mit etwas anderem beschäftigt war. Niemand hatte etwas zu verheimlichen, war das Motto. Eine kleine Kontrollfunktion, die aber ihre Wirkung hatte, wie Dan meinte. Auch duzten sich alle im Unternehmen, wie er es aus amerikanischen Firmen gewohnt war. Dan lebte zwar inzwischen eine halbe Ewigkeit in Deutschland, hatte sogar hier in Heidelberg Jura studiert und seine Frau kennengelernt, aber in vielen Dingen kamen seine amerikanischen Wurzeln doch noch durch.
Anna war gerade damit beschäftigt, Unterlagen für einen wichtigen Termin beim Anwalt zusammenzusuchen, um die Patentrechte für die neue Software anzumelden, als sie merkte, dass Nicola sie anstarrte.
Sie schaute auf und Nicola direkt in die Augen, die sich dabei kein bisschen ertappt fühlte. Zu Annas Überraschung fragte diese nun auch noch in ihrer oft so herablassenden Art: „Warum benutzt du eigentlich nicht mal ein bisschen Make-up oder machst dich etwas zurecht?“
Anna fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Was ging das Nicola überhaupt an? Gerne hätte sie etwas Schlagfertiges geantwortet, in ihrer zurückhaltenden Art erwiderte sie indes nur: „Weil ich das nicht mag“.
„Nie? Auch nicht, wenn du abends weggehst?“
Jetzt müsste sie eigentlich patzig erwidern: „Ich gehe nie abends weg!“, stattdessen gab sie nur ein leises „Nein“ von sich und widmete sich wieder ihrer Arbeit, in der Hoffnung, dass Nicola keine weiteren blöden Fragen stellen würde. Das war eben das Problem mit dem Duzen, man war gleich so vertraut, die natürliche Barriere fehlte. Oder hätte ihre Kollegin auch gefragt: „Warum schminken Sie sich eigentlich nicht, Frau Berg?“ Niemals.
Nicola schien ihre Körpersprache nicht zu verstehen und plauderte munter weiter. „Heute kommt ja unser neuer Kollege. Bist du gespannt auf ihn?“
Anna meinte nur „Hm“, was weder ja noch nein heißen sollte und diesmal verstand es ihr Gegenüber und verstummte erst einmal.
Montags ging sie meistens mit Dan in der Mittagspause etwas essen, heute war dieser allerdings zu beschäftigt mit den Vorbereitungen für die Ankunft seines vermeintlichen Nachfolgers. Dies schien ihr heimlicher Verehrer Volker gespürt zu haben. Er stand in diesem Augenblick schüchtern in der Tür.
„Hast du Lust, heute Mittag zum Italiener zu gehen?“, fragte er Anna, den Blick starr auf seine Schuhe gerichtet. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
„Sorry, Volker, hab zu viel zu tun heute“, lehnte sie ab. „Vielleicht ein anderes Mal“, schob sie noch etwas versöhnlicher hinterher.
Lautlos und mit hängenden Schultern verschwand Volker wieder und gab dabei ein wirklich jämmerliches Bild ab.
Nicola lächelte süffisant. „Na, der hat`s wohl auf dich abgesehen.“
Anna zuckte mit den Schultern, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Leider hatte sie recht. Volker war einer der IT-Menschen in der Entwicklungsabteilung und hatte definitiv ein Auge auf Anna geworfen. Schlimmer konnte es eigentlich nicht sein, denn er war das Paradebeispiel eines unscheinbaren Nerds. Hinzu kam, dass Volker nicht gerade mit Schönheit, dafür aber mit reichlich Mundgeruch gesegnet war. Womit hatte sie das verdient, dass ausgerechnet er sich zu ihr hingezogen fühlte? Sah sie vielleicht auch so schrecklich aus? Nein, das konnte nicht sein. Früher hatte sie sogar oft Komplimente bekommen. Sie war groß und schlank, hatte schöne grüne Augen, volle Lippen und eine makellose, seidene Haut. Wenn sie sich etwas zurechtmachte, war sie durchaus eine hübsche Erscheinung. Ihre Frisur war allerdings weniger prickelnd, meistens trug sie ihre aschblonden Haare zu einem langweiligen Pferdeschwanz zusammengebunden. Vielleicht wäre mal wieder ein neuer Haarschnitt fällig.
Mittlerweile hatte Anna jedoch das Gefühl, dass sie den Rest ihres Lebens als Mauerblümchen verbringen würde und jede Anstrengung sowieso umsonst wäre.
Volker war der Systemadministrator und einer von fünf Mitarbeitern in dieser Abteilung. Sein Name passte wie die Faust aufs Auge. Heimlich nannte Anna alle aus der EDV Volker, es war einfach der gleiche Schlag Mensch und irgendwie sahen sie sich alle ähnlich.
Volker 1 war ihr Verehrer. Die anderen hatte sie durchnummeriert und musste immer aufpassen, dass sie sie nicht wirklich etwa mit „Volker 3“ anredete.
Schon lange war sie nicht mehr verliebt gewesen. Im Grunde seit zehn Jahren nicht mehr, als sich ihr ganzes Leben umgekrempelt hatte. Vielleicht konnte sie sich nach all dem, was passiert war, gar nicht mehr verlieben, geschweige denn je wieder richtig lieben.
Sie war noch in ihren Gedanken versunken, als sie eine freundliche Männerstimme vernahm: „Einen wunderschönen Tag, die Damen!“
Anna blickte auf.
Das war er, ihr neuer Chef!
Sie starrte ihn nur an und merkte erst nach ein paar peinlichen Sekunden, dass sie weder etwas geantwortet noch auf die ausgestreckte Hand reagiert hatte. Schnell sprang sie auf, streckte ihm die Hand entgegen und stieß dabei gegen die große Blumenvase auf ihrem Schreibtisch. In Zeitlupe nahm sie wahr, wie ein beachtlicher Schwall Wasser direkt in Herrn Himmels Schritt landete.
Wie unter Schock ignorierte sie einfach das eben Passierte und stellte sich kurz angebunden mit „Anna Berg“ vor, wobei ihre Stimme furchtbar piepsig klang.
„Na, das ist ja vielleicht eine Begrüßung! Eine kleine Abkühlung bei der Hitze ist echt eine nette Idee! Ich bin Stefan.“
Wie gerne wäre sie im Boden versunken. Ihr Gegenüber trug auch noch einen hellgrauen Anzug und sah nun definitiv so aus, als hätte er sich in die Hose gemacht.
„Das tut mir so leid. Warten Sie … äh … warte, Stefan, ich hole ein Handtuch“, stammelte Anna, hob linkisch die Vase auf und sagte beim Hinausgehen noch: „Schön, Sie … äh … dich kennenzulernen.“
Sie rannte ins Bad und lehnte sich erst einmal an die Wand. Was war nur los mit ihr?
War sie so erschrocken, dass nun wirklich ihr zukünftiger Chef vor ihr stand? Sie wusste es nicht und konnte auch keine Zeit mehr zum Nachdenken auf der Toilette verschwenden.
Als sie wieder zurückkam, sagte Nicola lachend: „Anna, so stürmisch kenne ich dich ja gar nicht!“
Auch Stefan lachte und hatte mittlerweile auf dem Besucherstuhl in ihrem Zimmer Platz genommen. Er plauderte munter mit Nicola und man spürte, dass die beiden sich schon seit Längerem aus dem Münchner Büro kannten.
„Hier ist erst mal ein Handtuch. Es tut mir wirklich sehr leid. Wie kann ich das denn wieder gut machen?“
„Ist schon okay“, erwiderte Stefan freundlich und fing an, seine Hose mit dem Handtuch zu bearbeiten. Er schien zu überlegen, was er tun sollte. „Also entweder ich bleibe hier noch eine Weile sitzen, bis meine Hose wieder trocken ist, oder ich fahre schnell in mein Hotel und ziehe mich um.“ Er zog eine Grimasse. „Ich bin sowieso etwas zu früh dran und treffe mich erst in einer Stunde mit Dan. Mein Hotel ist in der Nähe, dann kann ich auch gleich meine Sachen ausladen. Ich bin in einer Stunde wieder hier. Ist wirklich kein Problem, Anna …“
Im nächsten Moment stand er auf und machte sich auf den Weg, den Aktenkoffer vor den verräterischen Fleck haltend.
So schnell, wie er aufgekreuzt war, war er auch wieder verschwunden.
Nicola ging zum Glück ebenfalls erst einmal in den Kaffeeraum, was Anna Zeit ließ, etwas nachzudenken. Was war da eben bloß passiert? Sie war ganz verwirrt und hatte ein sonderbar mulmiges Gefühl im Bauch. Ob das daran lag, dass sie noch nichts gegessen hatte seit dem Frühstück?
Sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als Dan ins Zimmer geeilt kam.
„Stefan ist schon hier, habe ich gehört?“, rief er etwas außer Atem.
„Der ist nochmal in sein Hotel …“, begann Anna, als Nicola, die gerade zur Tür hereinkam, den Satz vollendete: „Weil Anna ihm eine ganze Vase voll Wasser übergeschüttet hat!“
Anna sah sie an und war sprachlos, wie sie ihr so in den Rücken fallen konnte.
Dan musterte den Wasserfleck am Boden, überging das Ganze jedoch und bemerkte beim Hinausgehen nur: „Lasst mich wissen, wenn er wieder hier ist.“
Erneut hätte Anna gerne etwas Schlagfertiges zu ihrer Kollegin gesagt oder sie gefragt, was sie damit bezwecke und dass sie den Vorfall selber hätte erzählen können. Aber wie immer war sie still und arbeitete weiter.
Nicola lächelte in sich hinein und nur zu gerne hätte Anna ihre Gedanken lesen können.
Als Mittagessen begnügte sich Anna mit einer Tütensuppe und arbeitete wie gehabt weiter, was ihr allerdings nur schwer gelang, da ihre Gedanken unentwegt abschweiften und sie sich auf nichts richtig konzentrieren konnte. Zügig verstrich der Rest des Tages und sie sah Stefan nur noch einmal kurz, als er an ihrer Zimmertür vorbeilief, sie grüßte und sich direkt auf den Weg in Dans Büro machte.
Um kurz nach achtzehn Uhr fing Nicola an, ihre Sachen zusammenzupacken. Erstaunt blickte sie Anna an und fragte mit vorwurfsvoller Stimme: „Bleibst du etwa noch?“
Anna, die bereits vor zwei Stunden hätte nach Hause gehen können, guckte sie nicht an. „Ja, ich hab noch ein bisschen was zu tun.“
Nicola betrachtete sie kopfschüttelnd und sagte leicht abfällig: „Du bist ja vielleicht eine Streberin. Ich hoffe, ich muss dann nicht auch immer länger bleiben.“ Und wieder kam sie ohne einen Kommentar von Anna davon und ging.
Endlich war sie alleine.
Sie lehnte sich zurück, blickte aus dem Fenster und fragte sich, warum sie heute so gar nicht das Büro verlassen wollte. Sie ging nie gerne nach Hause, das stimmte. Vor allem montags, wenn Dan im Büro war, blieb sie gerne etwas länger, um noch ein paar Takte mit ihm zu reden. Aber heute? Heute war sie mit ihrer alten Kindergartenfreundin Babsie verabredet und schon gut eine Stunde zu spät dran. Dan würde sowieso die nächsten Stunden beschäftigt sein. Warum also wollte sie noch hierbleiben?
Die Kopfschmerzen von Babsie schienen bei der unerträglichen Hitze und dem ständigen Geräuschpegel minütlich schlimmer zu werden. Ihre unentwegte Müdigkeit war sie schon gewohnt zu ignorieren. Sie hätte ohne Probleme auf jeder Parkbank die nächsten vierundzwanzig Stunden durchschlafen können. Manchmal beneidete sie Obdachlose, die einfach überall ein kleines Schläfchen abhalten konnten.
Sie sah erst das Blut, dann bemerkte sie den Schmerz, als sie sich beim Zwiebelschneiden tief in den Finger schnitt. Schnell wickelte sie ein Papiertuch um die Wunde und rannte ins Wohnzimmer, wo gerade ihr Ältester die beiden Kleineren malträtierte. Leon konnte sich mit seinen zwei Jahren mittlerweile gut gegen seinen älteren Bruder wehren; der Kleinste war ihm hingegen hilflos ausgeliefert. Liam war gerade ein Jahr alt geworden und torkelte meist freudestrahlend seinem älteren Bruder Linus hinterher, der, sobald die Mutter nicht hinsah, immer eine kleine Gemeinheit parat hatte. Man sagt ja, dass kleinere Geschwister sich meistens besser durchsetzen können und forscher sind als die älteren. Bei ihren Kindern war Linus allerdings ein harter Brocken, Leon schien noch eine Nummer sturer zu sein und was bei Liam noch auf sie zukam, konnte sie nur befürchten.