Claire Douglas
Vergessen
Nur du kennst das Geheimnis
Aus dem Englischen
von Ivana Marinovic
Die Englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Do Not Disturb
bei Michael Joseph, London.
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Umschlagmotiv: Mauritius Images / Alamy RF / RooM the Agency;
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Miguel Sobreira; Getty Images / Peter Lourenco;
Redaktion: Christine Neumann
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad-Aibling
ISBN 978-3-641-25032-4
V004
www.penguin-verlag.de
»Oh! Welch wirres Netz wir weben, wenn nach List und Trug wir streben.«
Sir Walter Scott
Ich werde von einem gellenden Schrei geweckt. Den Mädchen ist etwas zugestoßen! Mit rasendem Herzen fahre ich hoch. Nichts regt sich. Stille. Habe ich das nur geträumt? Mein Blick huscht zu Adrians Seite des Betts. Sie ist leer, das Laken zerknittert und klamm, die Decke zurückgeworfen, als ob er es überstürzt verlassen hätte. Wo ist er? Mein Wecker zeigt 5.37 Uhr, und durch einen Vorhangspalt kann ich den Himmel sehen, der allmählich ein mattes Grau annimmt, während die Bergspitzen im frühmorgendlichen Dunst verschwinden.
Ich taste nach meinem Bademantel, der über dem Fußende des Betts liegt. Während ich auf den Flur eile, schlüpfe ich hinein. Die Tür zum gegenüberliegenden Zimmer der Mädchen ist geschlossen. Ich will gerade darauf zugehen, als der Schrei erneut ertönt.
Dieses Mal gibt es keinen Zweifel. Der Schrei kommt von meiner Mutter.
Ich haste den ersten Treppenlauf hinab, wobei ich versuche, die aufsteigende Panik in mir zu unterdrücken. Meine Mutter ist keine Frau, die grundlos schreit. Ich denke unwillkürlich an die Gäste, die behaglich in ihren Zimmern liegen. Mir ist klar, dass Mum sie ebenfalls geweckt haben muss, und mich beschleicht sofort die Sorge, dass sie sich gestört fühlen, während mir gleichzeitig bewusst wird, wie lächerlich meine Bedenken sind.
Als ich das obere Ende der zweiten Treppe erreiche, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ich blinzle in der Hoffnung, dass meine Augen mir einen Streich spielen, doch das Bild bleibt unverändert. Der Flur ist in Dunkelheit getaucht, aber es sieht aus, als würde Mum über einer Leiche kauern – die leblosen Gliedmaßen auf den restaurierten viktorianischen Fliesen von sich gestreckt. Ich kann den hellen Schimmer einer bleichen Wade, eines schmalen Handgelenks ausmachen. Ich höre Mum stöhnen.
Das sieht nicht aus wie ein Kind. Die Beine sind zu lang. Keines der Mädchen. Gott sei Dank.
»Mum?«
Beim Klang meiner Stimme schnellt ihr Kopf empor, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen und noch etwas anderem … Furcht. Sie hebt die Hände wie zum Gebet. Sie sind mit Blut bedeckt.
ERSTER TEIL
Davor
Die Mädchen hinten im Auto sind ungewöhnlich ruhig. Im Rückspiegel kann ich sehen, wie sie durch die Windschutzscheibe schauen, während sich draußen die Landschaft allmählich vor ihnen entfaltet – die zugebauten Vorstädte mit ihren graffitibeschmierten Hochhäusern und dem Wirrwarr aus Straßen in sanfte Hügel übergehen und sich in Täler und Berge verwandeln. Amelia blickt finster drein, als hege sie Mordgelüste mir und ihrem Vater gegenüber, dafür, dass wir es gewagt haben, sie von ihren Freunden zu trennen. Evie dagegen wirkt heiter, geradezu aufgeräumt, aufmerksam registriert sie die englisch-walisischen Straßenschilder. Meine Sechsjährige hatte schon immer eine lebhafte Fantasie. Sie wird das Ganze hier als Abenteuer betrachten, versuchen, das Magische darin aufzuspüren. Sie glaubt an Feen, den Weihnachtsmann und den Osterhasen. Sie sieht Tiergestalten in den Wolken, vierblättrige Kleeblätter dort, wo keine sind, ein Gesicht im Mond.
Amelia, fünf Jahre älter, ist da schon skeptischer. Ihre Sensibilität äußert sich auf andere Weise. Sobald man einen Raum betreten hat, spürt sie, in welcher Stimmung man sich befindet, und sie wird sich dementsprechend verhalten. Zumindest war es früher so. Jetzt, da die Hormonschübe eingesetzt haben, ist das seltener der Fall. Sie ist nicht mehr so erpicht darauf, es allen recht zu machen. Adrian und ich haben zwar versucht zu verbergen, wie sehr uns die letzten achtzehn Monate zugesetzt haben, doch sie hat einen schärferen Blick als Evie. Der Stress, unter dem wir standen, wird ihr nicht entgangen sein. Trotzdem kann sie nicht wirklich verstehen, warum wir beschlossen haben, London den Rücken zu kehren. Und in den vergangenen Wochen gab es durchaus Momente, in denen es mir genauso ging.
Wir hatten nicht vor, nach Wales zurückzuziehen. Jedenfalls nicht jetzt. Ein Gästehaus in den Brecon Beacons zu kaufen, war ein lang gehegtes, fernes Ziel von mir gewesen. Ein Tagtraum, dem ich nachhängen konnte, während ich mich in meinem perspektivlosen Job im Marketingbereich abrackerte oder im Mutterschaftsurlaub befand, umgeben von Windelbergen und Feuchttüchern. Mit den Brecons verband ich nur die besten Erinnerungen: an Picknicks im Vorgebirge und Familienausflüge, bei denen sich mein Bruder Nathan und ich im Auto kabbelten, während mein Vater uns gutmütig zurechtwies. An selbst gemachte Eiersandwiches und Schwarztee mit Milch aus dem Flachmann. An Frisbees. An diese herrlichen Hügel und Berge, die sich endlos dahinzuziehen schienen. Als Kind erinnerten sie mich immer an die Zeichnungen in den Wimmelbüchern – sie waren so perfekt. Es schienen Welten zwischen dieser Landschaft und Cardiff zu liegen, wo wir damals lebten.
Nach Wales zu ziehen und ein Gästehaus zu eröffnen, war ein Plan für die ferne Zukunft gewesen. Wenn beide Mädchen an der Uni und wir Ende vierzig oder Anfang fünfzig wären und genug hätten von unserem beengten Reihenhäuschen und dem hektischen Großstadtleben. Doch dann, plötzlich, wurde die Vorstellung von frischer Luft und Frieden verlockender, ja, dringlicher. Ein gemächlicherer Lebensrhythmus, ein ruhiges Fleckchen für Adrian zum Schreiben – was er schon immer hatte tun wollen – und ein sicheres Zuhause für die Mädchen, weitab der Zerstreuungen und Versuchungen Londons.
In der Ferne sehe ich unter der Wolkendecke den glitzernden Sonnenschein, der uns willkommen heißt. Ich greife nach Adrians Hand und drücke sie. Er erwidert die Geste, und ich werfe kurz einen Blick in seine Richtung. Er sieht glücklich und entspannt aus. Er hat sich einen Bart stehen lassen, auch sein Haar ist jetzt länger und streift den Kragen seines blauen Poloshirts. Von seiner geschäftigen Großstadtpersönlichkeit ist nichts mehr übrig. In dem Moment, als er seinen Job an den Nagel hängte, entledigte er sich auch seiner schicken Anzüge und seines glatt rasierten Äußeren. Aber das sind bei Weitem nicht alle Veränderungen. Der alte Adrian würde jetzt versuchen, Amelia Begeisterung zu entlocken. Er würde am Radio herumfummeln, bei Absolute 90s mitsingen oder mit Evie »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielen und die Augen verdrehen, wenn sie so tat, als würde sie ein Einhorn oder eine Elfe sehen. Stattdessen blickt er starr auf die Straße vor uns, und das Radio bleibt aus. Er ist auf seine ganz eigene Weise ruhig und zufrieden. Nur eben … anders.
Doch wenigstens ist er da.
Ich möchte, dass er mir versichert, dass wir mit dem Umzug die richtige Entscheidung getroffen haben. Dass Amelia mich nicht bis in alle Ewigkeit hassen wird. Dass alles sich zum Besten fügen wird.
Ein flaues Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit. In all meinen Fantasien darüber, ein eigenes Geschäft an meinem Lieblingsort aufzubauen, hätte ich mir nie im Leben vorstellen können, dass ich es gemeinsam mit meiner Mutter würde tun müssen.
»Kirsty?« Adrians Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Wann soll eigentlich Carol eintreffen?« Es ist, als habe er in meinen Kopf hineingeschaut. Früher – vor der Sache – haben wir oft darüber gescherzt. Darüber, dass wir immer zu wissen schienen, was den anderen gerade beschäftigte.
»Ähm, nächsten Monat, glaube ich.« Ich schalte einen Gang runter, als wir in den Nationalpark einbiegen, und der SUV rumpelt über das im Boden eingelassene Viehgitter. Ich bemerke, wie Evie sich gleich aufrechter hinsetzt, und ich weiß, dass sie hofft, Grüppchen von Ponys am Straßenrand zu sehen, so wie bei unserem letzten Besuch.
»Nächsten Monat?«, wiederholt er ungläubig.
»Sie meinte irgend so was, dass sie abwarten wolle, bis das Haus wohnlicher ist.«
»Also bis die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind.« Er lacht, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen.
»Sie hat mit meinem Vater zig Häuser renoviert, bevor er starb.«
»Ja. Vor über zwanzig Jahren.«
»Ihr handwerkliches Können ist um einiges besser als meines.« Es wurmt mich, dass er sie einfach so schlechtmacht. Ich darf über sie sagen, was ich will – er nicht. Trotz all ihrer Fehler gehört meine Mutter zu den fähigsten, praktischsten Menschen, die ich kenne.
»Super. Worauf wartet sie dann?« Er lacht wieder. »Sag ihr, dass sie herkommen soll, und zwar fix! Wir werden alle Hilfe brauchen, die wir kriegen können.«
Hat sie nicht schon genug getan?, möchte ich fragen, aber ich verkneife es mir. Ich gebe mir Mühe, keinen Groll zu hegen, weil wir gezwungen waren, unsere Ersparnisse anzugreifen, nachdem Adrian seinen Job aufgegeben hatte. Es war nicht seine Schuld. Außerdem war es ein netter Zug von Mum, sich uns anzuschließen. Nur mit ihrem Geld konnten wir das Haus kaufen und den Kredit für die Sanierungsarbeiten stemmen. Eine Geschäftsbeziehung mit ihr einzugehen, wäre zwar nicht meine erste Wahl gewesen, aber nun, da wir es getan haben, müssen wir auch dafür sorgen, dass es läuft.
Das Alte Pfarrhaus haben wir zum ersten Mal vor sechs Monaten gesehen.
Wir hatten einen Familienurlaub in Brecon verbracht und waren durch diese Berge gefahren, die ich schon als Kind so bewundert hatte. Adrian saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, immer noch traumatisiert von all dem, was passiert war, als wäre er ein Kriegsveteran oder Überlebender einer Katastrophe. Wir waren im Umgang miteinander äußerst behutsam, wie Liebende, die viele Jahre voneinander getrennt gewesen waren und sich erst wieder kennenlernen mussten. Der Nebel war dicht wie Trockeneis, er schmiegte sich sanft an die Hügel und legte sich um die Berge in der Ferne. Das Land, durch das sich die Straße im Zickzackkurs zog, breitete sich in einer Fülle unterschiedlicher Grüntöne vor uns aus. Weit und breit gab es keine Menschenseele.
Und dann, als wir den Rand eines kleinen Dorfes namens Hywelphilly erreichten, sahen wir es: ein frei stehendes, viktorianisches Haus mit symmetrischer Fassade, beinahe gotisch anmutend mit seinen spitzen Giebeln und den üppig verzierten Bogenfenstern. Ein Stück von der Straße zurückversetzt, gleich neben einer schönen alten Kirche gelegen und eingerahmt von den Bergen in der Ferne, hatte es ein Zu verkaufen-Schild in der Einfahrt stehen. Die Ziegel fielen bereits vom Dach, die Farbe blätterte ab, und einige der Fenster waren mit Brettern vernagelt, doch selbst da schon konnte ich seine Schönheit erkennen. Mit ein bisschen liebevoller Zuwendung, so dachte ich, ließe sich etwas Herrliches daraus machen.
Um besser sehen zu können, parkte ich auf dem Bürgersteig, wobei ich das rostige Eisentor versperrte. Durch die Risse im Asphalt spross Unkraut, und eines der Fenster wurde beinahe vollständig von einer gewaltigen Eiche verdeckt. Adrian musste in eine ähnliche Richtung gedacht haben, denn als er sich zu mir umdrehte, strahlten seine Augen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wirkte er begeistert.
Wir vereinbarten einen Besichtigungstermin für den nächsten Tag, und als wir dem Immobilienmakler zu viert durch das bröckelnde Gemäuer des vernachlässigten Hauses folgten, knisterte die Luft zwischen uns vor Spannung.
»Es ist ein bisschen gruselig«, befand Evie, als wir auf dem verschlissenen Teppich im Flur stehen blieben. Sie starrte zur Decke empor, als erwarte sie jeden Moment, dass ein Geist vom Dachboden herabsteigen könnte.
»Außerdem riecht es komisch«, fügte Amelia hinzu.
Doch ich war überzeugt, dass es genau das war, was wir brauchten. Ein Projekt. Ein Richtungswechsel für Adrian. Eine Ablenkung. Für uns alle.
Jetzt stehen wir in der Einfahrt und blicken zum Haus empor, während mir eine entsetzliche Erkenntnis dämmert: Es wird wesentlich mehr Arbeit benötigen, als ich in Erinnerung hatte. Nicht zum ersten Mal droht die Last dessen, was wir uns vorgenommen haben, mich zu erdrücken.
»Und wir sollen ernsthaft da drin wohnen?«, fragt Amelia naserümpfend, während sie die Löcher im Dach, die zugenagelten Fenster und den Efeu beäugt, der die Mauern hochwuchert wie ein struppiger Bart. Die Arbeiten auf dem Dach sind bereits im Gange, und ein Gerüst wurde errichtet, auch wenn weit und breit kein Handwerker zu sehen ist.
»Noch nicht«, beruhige ich sie. »Wir werden vorläufig in dem Apartment unterkommen, das wir am anderen Ende des Dorfes gemietet haben. Schon vergessen?«
»Na toll«, brummt sie und verschränkt die Arme vor der mageren Brust. »Den ganzen Sommer eingepfercht in so einer bescheuerten Wohnung.«
»Das wird lustig«, meldet sich Evie. »Wir dürfen uns ein Zimmer teilen.«
»Ja, ich krieg mich gar nicht mehr ein vor Freude«, erwidert Amelia spitz.
Ich beschließe, zumindest heute Nachsicht walten zu lassen und ihre patzigen Sprüche zu ignorieren. Stattdessen schwärme ich von dem großen Garten und erinnere Amelia daran, dass ich dem Kauf eines Trampolins zugestimmt habe – sie lagen mir das ganze letzte Jahr damit in den Ohren, aber auf unserem alten Grundstück hatten wir nicht genug Platz dafür. »Außerdem können wir uns die Kaninchen zulegen, die du dir immer gewünscht hast, Evie«, verspreche ich. Vor Freude springt sie auf und ab.
Adrian schlingt einem Arm um meine Schultern. Obwohl wir August haben, liegt eine kühle Frische in der Luft. Beglückt über die Umarmung, rücke ich näher an ihn heran. Vor der ganzen Misere war Adrian immer sehr zärtlich gewesen. Zu zärtlich sogar, dachte ich insgeheim – wenn auch etwas schuldbewusst. Ständig wollte er meine Hand halten, meinen Hinterkopf berühren oder beim Autofahren mein Knie drücken. Damals war es mir peinlich, wenn er in Anwesenheit unserer Töchter oder Freunde sein Gesicht an meine Halsbeuge schmiegte, während ich kochte. Ich stammte aus einer Familie, in der man Zuneigung nicht offen zeigte – das Äußerste, was ich von meiner Mutter bekam, war ein flüchtiger Kuss auf die Wange. Doch dann hörten die Berührungen auf, und ich begann, sie zu vermissen. Jetzt lege ich meinen Arm um seine Taille und ziehe ihn an mich heran, lehne den Kopf an seine Schulter.
»Ich werde mich nie an den Namen dieses Ortes gewöhnen.« Adrian lacht.
»Welchen? ›Olles Pfarrhaus‹?«, spottet Amelia.
»Sei nicht so. Du weißt ganz genau, was dein Vater meint«, rüffle ich.
»Dämliche walisische Wörter«, murrt Amelia und bohrt die Spitze ihres violetten Superga-Schuhs in den Kies.
»Es ist ganz einfach – Hywelphilly. Ausgesprochen: Hauell-filly«, erkläre ich, wobei ich die Ls rolle und das Gefühl der Sprache in meinem Mund genieße. Als wir uns kennenlernten, war Adrian geradezu verzückt von meinem Akzent. Er bat mich immer wieder, möglichst lange walisische Wörter auszusprechen, und guckte mich ganz ehrfürchtig an, während ich sie mühelos aufsagte. Er versuchte zwar, es nachzumachen, aber aus seinem Mund klangen sie wie kuriose Zungenbrecher.
»Kannst du wirklich Walisisch sprechen, Mummy?« Evie schaut mich aus ihren großen blauen Augen an.
»Aber natürlich.«
»Und werden wir auch Walisisch sprechen lernen?«, fragt sie weiter. »Ich möchte so reden wie du.«
Amelia macht ein Gesicht, als könne sie sich nichts Grauenhafteres vorstellen.
Ich löse mich von Adrian, um Evie zu knuddeln, und drücke einen Kuss auf ihr weiches blondes Haar. In ihrem schrägen Farbenmix gibt sie einen verrückten Anblick ab: eine rote Tunika mit gelben Punkten zu knallrosa Leggings und grünen Froschgummistiefeln. Über ihren Kopf hinweg bemerke ich, wie Amelia zurückweicht, bevor ich sie in eine Gruppenumarmung schließen kann.
»Dann mal los«, verkündet Adrian und kehrt zum Wagen zurück. »Wir sollten die Schlüssel für das Apartment holen.«
Wir folgen ihm, wobei mein Blick auf Amelia gerichtet bleibt, die den Kopf hängen lässt und die Arme um ihren Oberkörper geschlungen hat. Sie zittert leicht in ihrem dünnen Kapuzenpulli. Ich möchte sie packen und ganz fest an mich drücken, ihr versichern, dass alles gut werden wird und dass ich sie liebe. Doch sie steigt ins Auto, bevor ich sie einholen kann. Wenn sie sich erst an ihr Leben hier gewöhnt hat, wird sich auch ihre Laune bessern.
Schweigend fahren wir durch das Dorf, lassen die kunstvoll verzierten Brückenbogen auf uns wirken, die Hügel und Berge der Brecons in der Ferne, die grünen Parks und Schafweiden, die kopfsteingepflasterte Hauptstraße mit ihren Lädchen und dem einzigen Pub im Ort, dem Seven Stars, mit seinem Blick über den Fluss Usk.
Und obwohl ich noch nie hier gelebt habe, fühle ich mich, als wäre ich nach Hause gekommen.
Meine Mutter taucht an einem Samstag Ende September auf – keine vier Wochen vor der geplanten Eröffnung. Ich erblicke sie durch das Wohnzimmerfenster, als sie gerade aus einem Taxi steigt, elegant wie eh und je in schwarzer Stoffhose und hochhackigen Stiefeln. Sie kleidet sich immer noch so, als wäre sie auf dem Weg ins Büro, obwohl sie schon vor acht Jahren in Rente gegangen ist. Sie hat noch eine gute Figur – stramm und straff, wie mein Dad gesagt hätte –, dazu kastanienbraunes Haar und strahlend blaue Augen, die hin und wieder schelmisch zwinkern, regelmäßig missbilligend schauen und nur zu oft ihre unverhohlene Ablehnung kundtun. Unwillkürlich blicke ich an meiner schlabbrigen Strickjacke und meinem ausgeleierten T-Shirt hinab und klopfe den Staub von meiner ausgebleichten Jeans, der in Wolken vor mir aufsteigt und mir einen Hustenanfall beschert. Wie Mum einmal abschätzig feststellte, kleide ich mich gerne »zu rein bequemlichen Zwecken«.
Ich greife nach meinem Inhalator und nehme ein paar Züge, dann stecke ich ihn wieder in meine Tasche. Ich habe immer einen bei mir, da ich sonst Panik bekomme: Als Jugendliche hatte ein schwerer Asthmaanfall dafür gesorgt, dass ich mehrere Tage im Krankenhaus verbringen musste. Daher bin ich erleichtert, dass ich bei meinen Töchtern bisher noch keinerlei Symptome festgestellt habe.
Ich spüre Adrians tadelnden Blick auf mir, obwohl ich ihn nicht sehen kann. Er ist hinter mir damit beschäftigt, die Wohnzimmertür in einem seidenmatten Weiß zu lackieren. Er hat schon oft genug gesagt, dass ich zu abhängig sei von dem Asthmaspray, dass der übermäßige Gebrauch aufgrund der darin enthaltenen Steroide nicht gut für mich sei.
»Mum ist da«, verkünde ich lautstark, um ihn abzulenken. Ich entferne mich vom Fenster und widerstehe dem Drang, noch schnell mit einem Staubtuch durch das Zimmer zu wischen.
Angesichts Adrians erschrockener Miene möchte ich am liebsten laut lachen. Ich weiß, dass er sich ebenfalls Sorgen macht, dass sie von unseren Fortschritten enttäuscht sein wird. Wir sind nun schon seit über einem Monat in Hywelphilly, aber erst gestern in das Alte Pfarrhaus eingezogen. Dabei haben wir so viel gemacht – Wände eingerissen, um die Zimmer zu vergrößern, Bäder darin eingebaut, das Dach repariert, die geometrischen schwarz-weißen viktorianischen Fliesen restauriert; außerdem haben wir den Dachboden in drei Schlafzimmer und ein Bad für uns aufgeteilt, damit wir von den Gästen getrennt sind. Trotzdem ist noch so viel zu tun, bevor wir die Öffentlichkeit empfangen können: malern, schleifen, wachsen und Möbel besorgen. Allein bei dem Gedanken daran spüre ich meinen Stresspegel steigen.
Die Türklingel schrillt, und mir wird bewusst, dass Adrian und ich uns leicht panisch angestarrt haben. Auf seinen Klamotten, seinem Bart und seiner Wange prangen Farbkleckse. Ich kichere nervös. »Wappne dich schon mal innerlich, Ade.«
»Die böse Hexe des Westens«, greift Adrian scherzhaft den Spitznamen auf, den Nathan und ich, als wir klein waren, Mum gegeben haben, nachdem wir Der Zauberer von Oz gesehen hatten. Er steigt von der Leiter und folgt mir mit dem Pinsel in der Hand in den Flur.
»So haben wir sie doch nur genannt, wenn sie eine ihrer Phasen hatte«, erwidere ich, wobei ich mich sogleich wie eine Verräterin fühle. Schwungvoll reiße ich die Tür auf und sehe sie auf der Treppe stehen, einen Koffer zu ihren Füßen.
»Kirsty. Adrian.« Sie nickt uns nacheinander zu. »Diese Tür muss dringend geschliffen und lackiert werden. So wirkt sie ja nicht gerade einladend, oder? Ich glaube, wir müssen eine neue kaufen.«
Ich schlucke meinen Ärger hinunter. Die Tür ist wunderschön – viktorianisch, mit eingelassenen Buntglasscheiben in Form von rosa Rosen. Ich habe bereits entschieden, dass ich sie in dem satten, dunklen Hick’s-Blau von Little Greene streichen werde. Und es ist völlig ausgeschlossen, dass ich mich davon abbringen lasse. »Dir auch ein herzliches Hallo«, sage ich.
Sie bedenkt mich mit einem ihrer typischen Blicke und tritt wortlos über die Schwelle.
»Wir sind noch nicht dazu gekommen, sie zu streichen. Aber das werden wir bald«, schiebe ich hinterher. »Ich habe auch schon genau die richtige Farbe im Blick.«
»Dann hoffe ich mal, dass sie grün ist«, erwidert sie, sehr zu meinem Missfallen. »Das muss erledigt sein, bevor wir eröffnen. Der erste Eindruck, Kirsty, der erste Eindruck ist entscheidend.« Als ob ich das nicht wüsste! Sie rauscht an mir vorbei und überlässt es Adrian, ihren Koffer zu tragen. Wir wechseln einen Blick über ihren perfekt frisierten Bob hinweg.
»Schön, dich zu sehen, Carol.« Adrian beugt sich vor, um sie auf die Wange zu küssen.
Sie zuckt zusammen. »Also dieses Gestrüpp in deinem Gesicht …« Sie streckt eine Hand empor, um seinen Bart zu berühren. Er ist gut anderthalb Köpfe größer als sie. »Wann verschwindet das wieder?«
Er dreht sich sichtlich amüsiert zu mir und hebt eine Augenbraue. Ich unterdrücke ein Kichern.
Sie betritt den Flur und mustert eingehend die restaurierten Fliesen und die frisch gestrichenen Wände. »Was für eine Farbe ist das?« Sie deutet zur Wand. Auf den Schultern ihres schicken Wollmantels liegt bereits eine feine Staubschicht. Was hat sie sich nur dabei gedacht, den anzuziehen, wo sie doch weiß, dass die Renovierungsarbeiten am Haus voll im Gang sind?
»Französisches Grau. Von Farrow & Ball.«
»Es ist matt.«
»So war es gedacht.«
Sie nickt. Ich glaube, das heißt, dass sie es gut findet.
»Wer hat die Fliesen gemacht?«
»Wir mussten jemanden kommen lassen.«
»War es teuer?«
Ich räuspere mich. »Ähm … nicht allzu sehr«, lüge ich und muss dabei an das kleine Vermögen denken, das wir dem Typen zahlen mussten.
»Und? Bekomme ich jetzt eine Besichtigungstour?«, fragt sie, wobei ich mich gleich wieder unwohl fühle, da dies das erste Mal überhaupt ist, dass sie das Haus betritt, dessen Miteigentümerin sie immerhin ist. Wir hatten ihr damals natürlich angeboten, mit uns zu kommen, aber sie hat sich nur die Infos der Immobilienagentur angesehen und gemeint, das würde ihr reichen. Was zugegebenermaßen ein kleiner Schock war – normalerweise möchte sie alles kontrollieren. Sie sieht so deplatziert aus, wie sie da in unserem Flur steht, als wäre sie unvermutet in einen Nachtklub spaziert. Und nicht zum ersten Mal stelle ich mir vor, wie es wohl gewesen wäre, das hier ohne sie zu tun.
Adrian nimmt seine Malerarbeiten wieder auf, während ich Mum den Flur entlang zu dem einzigen Gästezimmer im Erdgeschoss führe. Wir haben es das Apfelbaum-Zimmer genannt, da man von seinen Fenstern aus einen Blick auf die Apfelbäume im Garten hat. Es ist eines der ersten Schlafzimmer, die wir fertiggestellt haben, und es ist nach wie vor mein Favorit: blassgrüne Wände und französische Fenster, die auf die Terrasse hinausführen. Mum schaut sich um, sagt jedoch nichts. Danach zeige ich ihr das Esszimmer gegenüber. Es geht zum Kirchhof mit seinen jahrhundertealten Grabsteinen hinaus und muss noch gestrichen werden.
»Etwas düster«, bemerkt sie stirnrunzelnd und rückt den Riemen ihrer Handtasche über ihrer Schulter zurecht.
»Es ist ja auch ein dunkler Raum, aber schau.« Ich öffne die inneren Flügeltüren, die wir eingebaut haben, um das Esszimmer von der Küche abzutrennen. »Wenn man die aufzieht, ist es gleich viel heller. Siehst du?«
»Hm, wenn ihr Glasscheiben in die Tür eingelassen hättet, könntet ihr sie geschlossen halten.« Mum spaziert durch die Flügeltüren in die geräumige Küche mit den cremefarbenen Natursteinfliesen, den hellgrauen Schränken im schlichten, puritanischen Landhausstil und den aufklappbaren Terrassentüren, die in den Garten hinausführen.
»Hier darf nur die Familie rein«, erkläre ich, hinter ihr stehend.
»Also kann man die Türen abschließen?«
»Ja. Damit die Küche privat bleibt.«
»Sieht teuer aus«, bemerkt sie. »Diese Arbeitsflächen schauen mir nicht gerade nach Kunststoff aus.«
»Sie sind aus Stein. Das ist strapazierfähiger.«
Sie murmelt etwas vor sich hin, was ich nicht verstehe, und ich spüre einen Anflug von Genervtheit. Sie war ja nicht hier, um uns bei der Entscheidungsfindung zu helfen. Sie war zu der Zeit noch in Cardiff, um ihr Haus zu verkaufen.
Ich führe sie zu einem kleinen Raum, der vom Flur abgeht und direkt neben dem Esszimmer liegt. »Das wird das Spielzimmer für die Mädchen. Ein gutes Stück weg vom Wohnzimmer, damit sie einen Ort nur für sich haben, fernab der Gäste.«
Sie dreht sich zu mir um. »Wo sind die Mädchen überhaupt?«
Ich unterdrücke ein Seufzen. »In der Schule, Mum.« Ich schaue auf meine Uhr. Es ist schon vierzehn Uhr durch, nicht mehr lange und ich muss sie abholen. Einer der größten Vorteile unseres Umzugs hierher ist die kleine Dorfschule, die übersichtliche Klassen hat und bequem zu Fuß zu erreichen ist.
»Und? Gefällt es ihnen da?«, fragt sie, wobei ihr Gesicht erstrahlt wie immer, wenn wir über ihre Enkelinnen reden.
»Ja-haaaa …« Es kommt etwas gepresst heraus, denn die Wahrheit ist: Während Evie es zu genießen scheint, Freundschaften zu schließen und das exotische neue Mädchen aus London zu sein, hasst Amelia es. Sie gehen zwar erst seit dem Beginn des neuen Schuljahrs vor ein paar Wochen hin, doch Amelia jammert in einem fort über die Jungs, die Mädchen, die Lehrer, das Gebäude, den Mistgeruch, die Felder voller »depressiver Schafe« und die miese Einrichtung. Ich versuche, mir nicht jedes Wort zu Herzen zu nehmen, und beschwichtige mich immer wieder, dass es die Eingewöhnungszeit ist.
»Das ist gut«, sagt Mum, auch wenn ihr mein Tonfall durchaus aufgefallen sein wird. Ihr entgeht nichts. Sie zieht den dunkelblauen Wollmantel enger um sich. »Was ist mit der Heizung los? Hier drin ist es ja fürchterlich kalt.«
»In einigen Räumen müssen die Heizkörper noch installiert werden. Aber unsere Schlafzimmer haben schon welche. Und das Wohnzimmer ebenfalls.«
»Schön. Dann zeig mir mal den Rest. Und dann sollten wir uns eine Tasse Tee genehmigen. Ich bin am Verdursten.«
Ich zeige ihr das Wohnzimmer. Wir haben es mit den Ledersofas aus unserem alten Haus eingerichtet und eine alte walisische Holzkommode in einem Antiquitätenladen gefunden, um den Fernseher darauf abzustellen. Außerdem habe ich ein paar flauschige Kissen auf die Sofas verteilt, um etwas Behaglichkeit zu zaubern.
Mum schlendert zum offenen Kamin. »Das gefällt mir.«
»Ja, den wollten wir unbedingt behalten.« Bei der Hausbesichtigung hatte ich mich sofort in den schmiedeeisernen viktorianischen Kamin verliebt.
Ihr Blick fällt auf die gerahmten Fotografien auf dem Kaminsims. Unter ihnen befindet sich auch ein Bild von mir, auf dem ich auf einem braun gemusterten 70er-Jahre-Sofa sitze und die winzige Natasha auf meinem Schoß halte. Ich muss ungefähr drei gewesen sein. Normalerweise bewahre ich es in unserem Schlafzimmer auf, aber bis es vollends eingerichtet ist, habe ich es hier hingestellt. Ich bemerke eine flüchtige Gefühlsregung auf Mums Gesicht.
Ich gehe rüber und berühre beinahe entschuldigend den silbernen Rahmen. »Es wird nicht hierbleiben. In diesem Zimmer wird es keine persönlichen Gegenstände geben.«
Mum rückt ihre Brille auf der Nase zurecht und scheint sich zu sammeln. »Nein. Nein, das wäre nicht klug. Denk immer dran, das hier ist nicht dein Zuhause. Es ist ein Geschäft.«
»Ich weiß.«
Sie dreht sich zu mir, der Blick ihrer blauen Augen bohrend. »Ach ja?«
Ich schlucke. »Natürlich. Trotzdem müssen wir hier auch leben.«
Danach herrscht eine seltsame Spannung zwischen uns. Ich zeige ihr noch die anderen fünf Gästezimmer im ersten Stock und führe sie dann ins Dachgeschoss. Ihr Schlafzimmer ist ein kleiner Raum gleich neben unserem und gegenüber dem der Mädchen.
»Wann kommen deine Möbel?«, frage ich.
»Ich habe nicht viel. Nur mein Schlafzimmer. Alles andere habe ich eingelagert. Du willst doch auch nicht, dass mein Krempel hier im Weg rumsteht, oder?« Unsere Blicke treffen sich, und ich merke, wie sich alles in mir zusammenzieht.
»Das ist es doch gar nicht. Es ist nur … du weißt schon … wir müssen aufpassen. Brandschutzverordnungen und so weiter.«
Sie schnaubt. »Ich zieh dich doch nur auf, Kirsty. Meine Güte, warst du immer schon so ernst?« Sie tritt näher und mustert mich durch ihre dicke Brille. »Es hat dich wirklich verändert, nicht wahr? Die Sache mit Adrian.«
Die Sache mit Adrian. Als ob das, was ihm – was uns – widerfahren ist, so banal wäre, dass man es einfach beiseitewischen könnte.
Natürlich hat es mich verändert, möchte ich sagen. Genau so, wie der Verlust von Natasha dich verändert hat. Werden wir nicht alle von den Ereignissen unseres Lebens geprägt? Als ob unsere Seelen – wenn sie denn existieren – aus Knetmasse bestünden, um immer wieder neu geformt zu werden. Doch wie üblich halte ich auch jetzt meinen Mund, da ich ihr nicht zu nahetreten möchte. Sie war so nett zu uns, rufe ich mir in Erinnerung. All das hier wäre ohne sie nicht möglich. Dabei hat sie selbst so viel Kummer in ihrem Leben gehabt.
Es wird alles gut werden, sage ich mir, während wir nach unten in die Küche gehen, um den Tee aufzusetzen, nach dem sie verlangt hat. Es wird ein bisschen brauchen, bis wir uns daran gewöhnt haben, alle gemeinsam unter einem Dach zu leben und zu arbeiten, aber wir können es schaffen. Ich gebe mir Mühe, jeglichen Zweifel zu verdrängen.