Leslie Margolis
Einmal Sommer
und zurück
Aus dem Amerikanischen
von Christiane Wagler
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Erstmals als cbt Taschenbuch Juni 2020
© 2015 Leslie Margolis
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »If I Were You«
bei Farrar Straus Giroux Books for Young Readers, New York
© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Christiane Wagler
Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg
unter Verwendung eines Fotos von © Gettyimages (Preappy)
MP · Herstellung: AS
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-17890-1
V002
www.cbj-verlag.de
Hokuspokus, Strandbus
Der Sommer war eine Katastrophe. Und damit meine ich Mega-Katastrophe! Und das ist alles Melodys Schuld. Was echt lustig ist, weil sie angeblich meine beste Freundin ist und es der Sommer unseres Lebens hätte werden sollen.
Wir sind beide im Juni dreizehn geworden und damit endlich alt genug, um allein mit dem Bus zur Crescent Moon Bay zu fahren. Crescent Moon Bay, falls jemand das nicht weiß, ist der spektakulärste Strand in Malibu.
Melody und ich hatten einen Haufen Pläne, und in keinem davon ging es darum, dass sie mir meinen zukünftigen Freund ausspannt oder ich mit meinen beiden vierjährigen Stiefbrüdern allein an den Strand latschen muss. Aber tja, genau so ist es gekommen. Heute ist der letzte Tag der Sommerferien und Kevin hält Melody im Arm. Und ich? Ich halte Händchen mit Ryan und Reese, wir drei sind verklebt und riechen fett nach Erdnussbutter und Blaubeermarmelade.
Der Strandbus fährt einmal in der Stunde, und daher ist es einfach nur Pech, dass wir zufällig im gleichen landen. Noch schlimmer ist, dass Melody und Kevin zuerst eingestiegen sind und sich in die dritte Reihe gesetzt haben, sodass den beiden Zwergen und mir nichts anderes übrig bleibt, als an ihnen vorbeizulaufen.
Wenigstens sind sie total ineinander versunken. So bemerken sie mich vielleicht nicht, obwohl ich kaum zu übersehen bin. Ich bin ein Albatros, nur nicht ganz so grazil, und ich habe nicht nur meine Stiefbrüder, sondern auch die unförmigste Umhängetasche des Universums im Schlepptau. Ich trage Snacks, Handtücher, Sonnenschutz und viel zu viel Spielzeug: Fußbälle, einen Baseball, Eimer und Schaufeln, große Plastiklaster und eine riesige Plüsch-Schildkröte mit Sonnenbrille, ohne die die Jungen, wie sie behaupten, keine Sekunde auskommen können.
Wir sind gerade erst eingestiegen, und Ryan fragt schon, ob wir bald da sind.
»Der Bus hat sich noch nicht mal in Bewegung gesetzt«, flüstere ich.
»Wann fährt er denn los?«, erkundigt sich Reese.
»Sobald alle einen Platz gefunden haben.« Gleich müssen wir an Melody und Kevin vorbei. Ich bin mir sicher, dass sie uns hören können, und wünschte, Reese würde leise sprechen.
»Ich habe einen Stein im Schuh«, verkündet Ryan.
»Schildkröte verliert ihre Sonnenbrille«, sagt Reese noch lauter.
Als ob sie es darauf angelegt hätten, mich zu demütigen.
»Können wir bitte weitergehen?« Ich scheuche sie vorwärts und bin kurz vorm Losheulen, weil das alles einfach nicht fair ist. Ursprünglich hatte Melody ja versprochen, mit Ryan und Reese an den Strand zu fahren. Das war natürlich, bevor ich heimlich beobachtet habe, wie sie und Kevin sich letzten Samstagabend in Melodys Whirlpool geküsst haben.
Aber das Absurde daran ist, dass ich mir, obwohl ich derart wütend und gekränkt bin, tief im Inneren doch wünsche, sie wäre bei uns. Das Leben ist einfacher mit Melody. Sie hat so eine süße, liebenswürdige Art. Und Ryan und Reese lassen sich von ihr sogar etwas sagen. Mom behauptet, das liege daran, dass sie nicht ihre Stiefschwester und seltener da sei. Aber ich weiß es besser. Meine Stiefbrüder hören auf Melody, weil sie Jungs sind, denn alle Jungen mögen Melody lieber, selbst Vierjährige.
Wir beide verkörpern das universale Gesetz der Gegensätze. Melody zieht Jungen magisch an. Ich schrecke sie ab.
Wir sind schon fast an den Turteltäubchen vorbei und demzufolge praktisch aus dem Schneider, als Ryan Melody entdeckt und aus Leibeskräften ihren Namen brüllt: »Melo!«
Melo ist unser Spitzname für Melody. Er steht für »mellow«, also sanft, denn das ist sie, und für »Marshmallow«, denn die mag sie für ihr Leben gern. Wenn wir welche bei ihr zu Hause über dem Feuer rösten, nimmt sie sich immer mindestens drei extra.
Kevin und Melody schauen überrascht zu uns hinüber.
Ryan lässt meine Hand los und klettert auf ihren Sitz, obwohl dort kaum noch Platz ist. Melody rückt näher an Kevin heran, sodass sich jetzt auch noch ihre Beine berühren.
»Hey, Jungs«, sagt Melody, und ihre Miene hellt sich auf, als sie meine Stiefbrüder sieht. Sie zerzaust Ryans Haar, schenkt Reese ein Lächeln und hebt nicht einmal den Blick, um mich zur Kenntnis zu nehmen.
Auch Kevin ignoriert mich und das tut weh. »Hey, ihr kleinen Racker«, sagt er sanft, während er sich über Melody beugt und seine Hand ausstreckt. »Wer gibt mir fünf?«
Ryan und Reese streiten sich darum, wer Kevin zuerst abklatschen darf.
Derweil kämpfe ich mit den Tränen und bin froh, dass meine Augen hinter einer gigantischen Sonnenbrille mit herzförmigem Gestell und roten Glitzersteinen verborgen sind. Yes, meine Sonnenbrille ist abgrundhässlich und seit Jahrzehnten aus der Mode, aber ich trage sie ja zum Spaß. Zumindest ist das meine Absicht. Doch im Moment habe ich das Gefühl, dass sie einfach nur dämlich aussieht. Wenigstens versteckt sie meine feuchten Augen. Ich richte mich auf, schiebe die Plüsch-Schildkröte tiefer in die Tasche hinein und versuche, etwas von meiner Würde zu bewahren.
»Können wir bei dir sitzen, Melody?«, bittet Reese in seinem süßesten Bettelstimmchen. Aber ganz offensichtlich ist dafür nicht genug Platz, und als er sich zu ihnen gesellen will, schiebt Ryan ihn wieder vom Sitz runter, weil er Melody für sich allein haben will.
Meine ehemalige beste Freundin lächelt und säuselt: »Wenn es hier bloß nicht so eng wäre. Nächstes Mal sitze ich bei dir. Okay?«
»Versprochen?«, fragt Reese.
»Versprochen«, erwidert Melody feierlich und hält ihre rechte Hand hoch wie die pflichtbewusste Pfadfinderin, die sie einst gewesen ist.
»Kommt, wir gehen weiter«, sage ich, fasse Ryan am Ellbogen und ziehe ihn vom Sitz.
Er blickt zu mir auf und fragt: »Weinst du?«
»Sei still!«, zische ich und schubse beide den Gang hinunter. Meine Monstertasche dotzt links und rechts gegen die Passagiere, ich höre sie grummeln und »Aua!« rufen, doch in meiner Hast blicke ich mich nicht einmal um oder entschuldige mich.
»Ich will neben Melo sitzen«, jammert Ryan.
»Das geht nicht!«, erwidere ich und fühle mich wie die gemeinste Schwester in der ganzen weiten Welt.
Wir drei quetschen uns auf einen Sitz zwölf Reihen weiter hinten. Er ist außer Hörweite von Kevin und Melody, aber nah genug, um Kevins perfekten Hinterkopf bewundern zu können.
Kevin trägt eine verblichene rote Baseballmütze. Aber selbst die scheint von seiner Aura zu strahlen, wie überhaupt alles an ihm – seine Haut, sein wuscheliges Haar, seine langen, schlanken Glieder. Ich schmelze dahin. Und befehle mir sofort, damit aufzuhören, doch dadurch werde ich erst richtig schwach. Oh Mann!
Wenigstens lassen er und Melody jetzt die Finger voneinander. Sie liest ein Buch, und Kevin blickt einfach geradeaus und befasst sich vermutlich mit etwas so Coolem wie zu meditieren oder sich vorzustellen, wie er auf einem Surfbrett aussieht, oder ein romantisches Date mit Melo zu planen oder stumm ein abgefahrenes Gedicht zu rezitieren. Vielleicht auch alles gleichzeitig.
Ich weiß nicht, was sie für ein Problem hat. An Melodys Stelle würde ich kein ödes Buch lesen. Ich würde dem perfektesten Vertreter der Gattung Junge direkt neben mir meine ganze Aufmerksamkeit schenken.
Als ich sie gähnen sehe, ticke ich fast aus. Das ist so ungerecht, dass ich laut schreien möchte! Melody und ich waren uns einig, dass Kevin mir gehört. Das haben wir schon vor Monaten besprochen, weil sie Kevin nicht so gern hat wie ich. Kann sie gar nicht! Selbst wenn, ich hab ihn zuerst gesehen. Und außerdem – wie viel Glück hat ein Mädchen verdient? Melody hat doch schon alles: perfekte Eltern, die nicht geschieden sind und tatsächlich miteinander auskommen, ein Riesenhaus mit eigenem Whirlpool und einen Swimmingpool mit Rutsche.
Ach ja, ihr Aussehen nicht zu vergessen. Melody ist um-wer-fend. Sie hat lockiges, blondes, samtweiches Haar, natürlich kein bisschen widerspenstig. Ihre Augen sind so blau wie die Karibik, nicht dass ich je dort gewesen wäre, um das einschätzen zu können. Mein Wissen stammt von der Jumbopackung Buntstifte von Ryan und Reese.
Melody hingegen kennt die Karibik, weil sie jedes Jahr dorthin mit ihrer Großmutter in den Urlaub fährt. Sie war schon überall: auf den Turks- und Caicosinseln, auf St. John, St. Thomas, Saint-Barthélemy und Barbados.
Moment. Gehört Barbados überhaupt zur Karibik? Wohl eher nicht, aber ich weiß es nicht genau. Natürlich spielt es keine Rolle, ob ich es weiß oder nicht. Da komme ich sowieso niemals hin.
Ich komme bloß nach Seattle, weil mein Dad nach der Scheidung meiner Eltern vor vier Jahren dorthin gezogen ist.
Seattle! Die Berge sind grün und imposant, was aber nutzlos ist, weil es immerzu kalt, düster und verregnet ist und man eh nicht rauskann. Zu allem Überfluss ist mein Dad mit einer Tierpräparatorin verheiratet. Ganz recht, meine Stiefmutter verdient ihre Kohle damit, tote Tiere auszustopfen. Wenn das nicht abartig ist! Klar nimmt sie ihre Arbeit auch mit heim. Das Haus ist vollgestopft mit allen möglichen toten Viechern, von winzigen weißen Mäusen bis zu mächtigen Elchen und allem dazwischen.
Habe ich erwähnt, dass ich Vegetarierin bin?
Ich bin Vegetarierin, und von toten Tieren umgeben zu sein, von denen die meisten zum Vergnügen gejagt und dann zum Angeben ausgestopft wurden, ist echt das Letzte. Deshalb lasse ich mich selten dort blicken. Nur, wie gerichtlich beschlossen, alle zwei Jahre zu Weihnachten, Thanksgiving und in den Frühlingsferien.
Die meiste Zeit verbringe ich in Braymar in einem engen, lauten, vollgerümpelten Haus mit meiner Mom und ihrem neuen Mann Jeff sowie seinen Kindern Ryan und Reese. Die drei sind letztes Jahr bei uns eingezogen.
Jeff ist ein netter Kerl und auch die beiden Minis habe ich ins Herz geschlossen. Es ist die Geschichte von Jeff und meiner Mom, die mir an die Nieren geht. Als sie sich ineinander verliebten, war es für beide das erste Mal. Sie gingen die ganze sechste Klasse miteinander, bis Jeff mit seiner Familie nach England zog. Das heißt, die Liebe, die sie mit elf füreinander empfanden, war so rein und echt, dass sie all die Jahre, die Irrungen und Wirrungen des Lebens, die Distanz zwischen zwei Kontinenten sowie die Ehen und Kinder mit anderen Partnern überstanden hat, bis sie schließlich ein Happy End fand.
So erzählen es jedenfalls alle. Den Leuten gefällt ihre Geschichte. Und es ist ja auch schön, wunderbar und romantisch für die beiden, aber es setzt mich megamäßig unter Druck. Und warum wohl? Weil ich schon dreizehn bin und noch nie einen Freund hatte. Noch. Nie.
Ich war schon tausendmal verknallt, aber soweit ich weiß, hat niemand meine Gefühle je erwidert. Ich bin einfach absolut nicht der Typ Mädchen, in den sich jemand verguckt. Aber ich hatte mir geschworen, dass sich das in diesem Sommer ändert. Nach dem Ende der siebten Klasse im Juni hätte sich mein Schicksal wenden sollen. Der Sommer lag vor mir, und ich war endlich bereit, ein normales Teenagerdasein zu führen – mich nicht an vereinbarte Zeiten zu halten, mich heimlich aus dem Haus zu schleichen, auf wilde Partys zu gehen und süße Jungs kennenzulernen. Nur leider ist es nicht dazu gekommen und morgen fängt die Schule wieder an. Ich bin gescheitert. Auf der ganzen Linie. Und jetzt ist es zu spät.
Ich werde niemals eine so junge Liebe erfahren, einen Freund haben, von dem ich mich trennen und Jahre später zu ihm zurückkehren kann. Und auch das kommende Schuljahr werde ich wohl allein zubringen. Ich werde mir nicht einmal die Mühe machen, zur Disko zu gehen. Warum soll ich dort aufkreuzen, um dann den ganzen Abend allein herumzustehen? Keiner wird mich zum Tanzen auffordern, höchstens einer von den Erwachsenen aus Mitleid. Ich werde als trottelige Einzelgängerin bekannt werden und mein mieser Ruf wird mir auf die Highschool vorauseilen.
Ich werde nicht zum Homecoming-Ball gehen.
Ich werde nicht zum Abschlussball gehen.
Ich werde allein alt und grau werden und mit Bitterkeit an meine Jugend denken.
Ebenso gut könnte ich gleich die Segel streichen und meiner Mom mitteilen, dass ich zu Hause unterrichtet werden möchte. Nicht dass meine Mutter die Zeit dafür hätte. Sie ist zu beschäftigt damit, arbeiten zu gehen und den Zwillingen zu helfen, sich in unsere Patchwork-Familie einzuleben. Aber warum beschwere ich mich darüber? Es ist ja nicht so, dass ich im Moment mehr Zeit mit meiner Mom verbringen möchte.
Ich bin so verzweifelt, dass ich nicht weiß, wohin mit mir, doch wenigstens sind wir jetzt fast am Strand. Ich bin diese Strecke schon unzählige Male gefahren und kenne jede Biegung auf der kurvenreichen Straße durch die Schlucht.
Als Melody und ich in der zweiten Klasse waren, fuhren unsere Mütter im Sommer fast jeden Tag mit uns zur Crescent Moon Bay. Damals war das Leben perfekt, einfach und lustig. Melody und ich waren beste Freundinnen und interessierten uns eher dafür, mit unseren Boards im Wasser rumzuplanschen, als für Jungs.
Wir spielten immer das Wünsch-dir-was-Spiel, wenn wir zum Crescent Moon Tunnel kamen, der auf halbem Weg zwischen der Stadt und dem Strand liegt. Der lange, dunkle und spektakuläre Tunnel ist aus einem riesigen Bergmassiv gehauen. Sobald man ihn hinter sich lässt, sieht man den Ozean.
Der Übergang von einer verschlafenen Vorstadt zu einem atemberaubenden Strand in Malibu in weniger als einer Minute erscheint mir schon ziemlich magisch, aber Melody hat immer Stein und Bein geschworen, dass unsere Wünsche sich erfüllen, wenn wir es nur richtig anstellen. »Du musst die Luft anhalten, die Augen fest schließen und dir ganz doll was wünschen«, hat sie mir erklärt.
Früher habe ich ihr geglaubt und es jedes Mal versucht.
In jenem ersten Sommer wünschte ich mir, dass meine Eltern sich nicht mehr anschreien würden. Doch stattdessen ließen sie sich scheiden. Im Sommer darauf wünschte ich mir ein Pony zu Weihnachten. Aber als der Dezember kam, bekam ich einen Strickkurs geschenkt. Jawohl, einen Strickkurs. Mom glaubte, es sei eine schöne Erfahrung, die uns einander nahebringen würde. So drückte sie sich tatsächlich aus: Wir lernen es zusammen, und es wird eine schöne Erfahrung, die uns einander nahebringt. Als ob sie einen Ratgeber über den Umgang mit Kindern in der Vorpubertät gelesen hätte – einen von vor hundert Jahren.
Um es kurz zu machen: Die einzige Annäherung bestand am Ende darin, dass wir den Strickkurs beide echt schrecklich fanden. Danach habe ich aufgehört, mir etwas zu wünschen.
Aber heute schließe ich die Augen. Es ist Labor Day, der letzte offizielle Ferientag. Morgen komme ich in die achte Klasse. Und vermutlich werde ich, um Melody nicht über den Weg zu laufen, ohnehin nie wieder den Bus zum Strand nehmen, also was habe ich schon zu verlieren?
Ich gehe mit keinem Jungen, habe keine beste Freundin, und an beidem wird sich in Zukunft wohl auch nichts mehr ändern.
Ich sitze eingezwängt zwischen meinen Stiefbrüdern.
Ryan popelt in der Nase, aber ich habe nicht die Energie, ihn deshalb zurechtzuweisen. Reese tritt gegen den Vordersitz, auf dem eine Frau Platz genommen hat, und ich merke, dass sie kurz davor ist, sich umzudrehen und uns anzuschreien, und dann werde ich auch diese Wogen glätten müssen. Aber im Moment bin ich frei.
Da ich immer noch meine Sonnenbrille trage, wird keiner merken, was ich tue. Außerdem weiß ich eh schon, was ich will. Das ist mir in null Komma nichts eingefallen, als ob der Gedanke schon lange in meinem Kopf geschlummert hätte. Mein Herzenswunsch ist traurig und dumm, aber leider trotzdem wahr.
Ich wünschte, ich hätte noch einmal Sommerferien, aber diesmal als Melody. Ich sage die Worte im Flüsterton, denn Wünsche erfüllen sich nur, wenn man sie ausspricht.
Ich höre, wie Ryan »Was?« fragt, und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Reese neugierig zu mir aufschaut.
Ich ignoriere die Jungs, atme tief ein und halte dann den Atem an.
Der Bus brettert weiter.
Selbst mit fest geschlossenen Augen merke ich, dass wir im Tunnel sind, denn es ist kühl und dunkel. Ich fühle, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichten. Ich bekomme eine Gänsehaut und mich durchfährt ein Schauer. Ich presse die Augen noch fester zusammen und wünsche mir mit jeder Faser meines Herzens, Melody zu sein.
Plötzlich verspüre ich ein eigenartiges, heftiges Prickeln, als wäre mein ganzer Körper von Nadeln überzogen. Dann geht durch mein Inneres ein Ruck. Zuerst glaube ich, dass es von meinem Herzen kommt. Aber das kann nicht sein. Herzen rucken nicht und meines liegt ohnehin in Scherben.
Vielleicht kommt mir ja gleich das Käse-Ei-Sandwich wieder hoch, das ich hinuntergeschlungen habe, bevor wir zum Bus gelaufen sind. Mir ist noch nie beim Fahren schlecht geworden, aber es würde zu mir und meinem Glück passen, mich vor Kevin im Strandbus übergeben zu müssen.
Klar, wir sitzen weit hinter Kevin, aber er würde es mit Sicherheit riechen. Dann würde er sich wahrscheinlich umdrehen, bevor ich mir das Gesicht abwischen kann, und – bäh! – seine angewiderte Miene kann ich mir gut vorstellen.
Doch dann lassen das Rucken und das prickelnde Gefühl nach. Alles beruhigt sich, mein Magen eingeschlossen.
Die Sonne scheint durch die Fenster und wärmt mir die Glieder. Wir sind aus dem Tunnel heraus und es geht mir gut.
Ich öffne die Augen und sehe etwas Blaues. Jetzt hüpft mein Herz. Das Leben nervt ziemlich, stimmt schon. Melody mag mich hintergangen und ich keine echte Chance bei Kevin haben – aber mir bleibt immer noch die Crescent Moon Bay. Ich kann schon die Wellen sich am Strand brechen hören und die salzige, frische Luft riechen.
Dann fällt mir etwas Merkwürdiges auf. Ich sitze nicht mehr hinten im Bus, sondern eher in der Mitte. Und außerdem? Ryan und Reese sind nicht mehr da. Wo sind sie? Habe ich meine Stiefbrüder verloren? Falls ja, bin ich erledigt.
Ich schaue mich um, aber kann sie nirgendwo entdecken. Doch ich bin nicht allein. Jemand sitzt neben mir und sie ist ungefähr so groß wie ich.
Ich blinzle und halte dann den Atem an, denn ich schaue in einen Spiegel. Abgesehen davon, dass das unmöglich ist. Es gibt keinen Spiegel an meinem Sitz.
Und doch blicke ich auf mein Ebenbild und es ist nicht zweidimensional. Ich sehe mich in Fleisch und Blut – weil ich nicht mehr in meinem Körper stecke!
»Was geht hier vor?«, frage ich mich. Also das »Mich«, das wie ich aussieht, wie Katie, mit den langen dunklen Haaren, grünen Augen und den blassen, sommersprossigen Beinen, die aus meinen abgeschnittenen Jeans herausragen. Die Shorts, die ich am ersten Tag der Sommerferien getragen und noch am gleichen Tag verbummelt habe. Meine Lieblingsshorts, die ich für immer verloren glaubte.
Und jetzt sind sie plötzlich wieder da? Cool!
Aber Moment mal. Wie kann ich sie jetzt tragen, wo ich sie doch heute Morgen gar nicht angezogen habe?
Und wie kann ich nicht ich selbst sein?
Es sei denn …
Nein, Wünsche werden nicht wahr. Besonders nicht meine.
Und doch ähnelt die ganze Situation erschreckend meinem ersten Ferientag.
»Katie, bist du das?«, fragt mich das Mädchen, das wie ich aussieht. Ihre Stimme klingt genauso wie meine. Die Stimme gehört mir und kommt aus einem Mund, der ebenfalls mir gehört, abgesehen davon, dass ich nicht mehr ich selbst bin. Ich bin nicht mehr Katie.
Ich fahre mit den Fingern durch meine langen, wilden, blonden Locken. Ich schaue hinunter auf die weiße Baumwoll-Strickjacke über dem rosafarbenen Strandkleid mit weißen Punkten, das unten mit Rüschen besetzt ist. So war Melody am ersten Ferientag gekleidet. Nur Melody kann so etwas tragen.
Und das ist der Moment, in dem mir das völlig Unmögliche klar wird: Mein Wunsch hat sich erfüllt!
Ich erlebe die Sommerferien noch einmal.
Wir sind wieder am ersten Tag.
Nur dass ich diesmal Melody bin.
Das Glück hat Sommersprossen
Ich bin Katie! Ich bin Katie! Ich bin Katie!
Als wir aus dem Bus aussteigen und zum Strand laufen, verspüre ich den Drang zu hüpfen. Ich fühle mich, als ob ich auf riesigen, flauschigen, rosa Wolken dahinschwebe. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so froh gewesen zu sein. In meinem ganzen Leben noch nicht. Und überwältigt, denn das hier geschieht gerade wirklich.
Seit Jahren beneide ich Katie um ihr Leben, fast ebenso lang schon will ich so sein wie sie, und nun bin ich es, inklusive der schmalen, sommersprossigen, blassen Arme und den superglatten Haaren und ihren großen grünen Augen, denen nichts entgeht. Dank der roten, glitzernden Sonnenbrille und den abgeschnittenen Jeans sehe ich wie ein freches Gör aus, aber das ist okay. Eigentlich mehr als nur okay, es ist perfekt. Ich habe mir immer gewünscht, noch einmal einen Sommer lang ein freches Gör sein zu dürfen. Was könnte schöner sein?
Als Katie und ich klein waren, malten wir den ganzen Nachmittag mit Kreide auf den Fußweg, buken Schlammtörtchen, gruben Löcher und hüpften mit dem Springseil. Damals fuhren unsere Mütter uns an den Strand, wo wir stundenlang den Wellen hinterherjagten, durch das knietiefe Wasser wateten und unsere schmalen Oberkörper mutig der Gefahr entgegenstellten. Sobald eine Welle uns auch nur zu berühren drohte, rannten wir laut kreischend zu unseren Müttern zurück und brachen dann kichernd auf unseren sonnenwarmen Handtüchern zusammen.
Wir bauten raffinierte Burganlagen aus Sand, die wir mit Gräben, Brücken aus Seetang und Wegen aus Kieselsteinen versahen. Wir rannten die Dünen hoch und runter und lümmelten herum, bis uns schließlich die Mägen knurrten. Dann stopften wir uns Brote mit Erdnussbutter und Marmelade in den Mund und kicherten, weil unsere Sandwiches, obwohl die Erdnussbutter zerlaufen war, trotzdem knirschten. Wir wischten uns den Mund mit dem Rücken unserer gebräunten, klebrigen Hände ab, während das warme Sonnenlicht Sommersprossen auf unsere Schultern tupfte. Die Möwen kreisten über unseren Köpfen und schielten nach unserem Essen.
Mehr als einmal machten sich diese lästigen Biester – oder fliegenden Ratten, wie Katie sie nannte – mit den besten Stücken unseres Mittagessens aus dem Staub, und wir vergossen echte Tränen und waren untröstlich, weil der Verlust von ein paar Kartoffelchips und Oreo-Keksen das Schlimmste war, was uns passieren konnte.
Damals waren Jungs uns egal. Langweilig. Punkt.
Heute würde sich meine Mom lieber ein Auge ausstechen lassen, als mir irgendein Essen zu verabreichen, das nicht aus biologischem Anbau stammt. Jetzt sind Katie und ich zu alt, um Sandburgen zu bauen und in der Gischt zu planschen. Nun liegen wir in der Sonne, gehen spazieren und reden, aber die Sommer sind trotzdem noch zauberhaft und wunderschön. Jedes Jahr wünsche ich mir im Tunnel, der Sommer möge noch einmal beginnen, halte den Atem an, drücke die Daumen und Zehen und presse meine Augen so fest zusammen, dass blaue und rote Funken hinter meinen Lidern tanzen, aber es hat nie etwas gebracht.
Bis auf dieses Jahr.
Dieses Jahr war mein Wunsch etwas anders.
Dieses Jahr habe ich mir mit aller Macht gewünscht, den Sommer noch einmal als Katie zu verbringen. Und sie muss sich genau das Gleiche gewünscht haben, denn es hat funktioniert.
Wir haben den Platz getauscht!
»Wie toll ist das denn?«, frage ich Katie – die echte Katie, die derzeit meinen Körper bewohnt.
Wir sind aus dem Bus ausgestiegen, stehen auf dem Parkplatz, und ich bin so aufgeregt, dass ich auf- und abspringe. In Katies Körper fühle ich mich leichtfüßiger und auch freier. Ich kann herumhüpfen, ohne Angst zu haben, dass mich irgendwelche Typen anzüglich mustern.
Katie steht reglos und ist mucksmäuschenstill. Sie starrt erst sich und dann mich an.
Ich ziehe sie von den Menschen weg, die einer nach dem anderen den Bus verlassen.
»Katie?«, flüstere ich. »Das bist du da drinnen, richtig?«
»Ich bin Melody«, antwortet sie wie in Trance.
»Na klar«, sage ich und grinse über das ganze Gesicht. »Du siehst aus wie ich und klingst sogar so. Aber dein Gehirn hast du behalten. Ist das nicht verrückt? Ich habe dir doch gesagt, das mit dem Tunnel funktioniert, wenn wir uns etwas nur fest genug wünschen.«
Katie schüttelt den Kopf, stur wie immer. »Das ist unmöglich. Im wahren Leben tauschen Menschen nicht den Körper. Das ist nur ein Traum. Ich muss auf dem Weg zum Strand eingeschlafen sein. Ich hoffe nur, ich schnarche oder sabbere nicht. Was, wenn ich nun schnarche und sabbere?«
Ich muss lachen. Denn trotz all ihrer Macken ist Katie oft zum Schreien komisch. »Glaubst du wirklich, du würdest dir in einem Traum darüber Gedanken machen?«, frage ich sie.
Sie antwortet nicht. Sie nimmt nicht einmal Notiz von mir, sondern schreitet über den Parkplatz und führt Selbstgespräche wie eine Geistesgestörte.
»Wenn Ryan und Reese das mitkriegen, werden sie es mir bis in alle Ewigkeit vorhalten. Und wenn Kevin das nun sieht? Wie viele Peinlichkeiten kann ein Mädchen ertragen?« Sie gestikuliert wild mit den Händen.
»Hör auf, dir Sorgen zu machen«, beruhige ich sie. »Das sind tolle Neuigkeiten. Wir haben genau das bekommen, was wir uns gewünscht haben, und gemeinsam können wir es auch durchziehen.«
Sie ignoriert mich. »Warte mal. Ich habe einen sehr leichten Schlaf. Schon immer. Wenn ich mich vollgesabbert hätte, wäre ich mit Sicherheit aufgewacht. Das Gleiche gilt fürs Schnarchen – ich hätte mich laut und deutlich gehört.«
»Siehst du«, sage ich und fasse ihre Hand, damit sie mir endlich Beachtung schenkt. »Das ist kein Traum! Gehen wir!«
Ich
Doch obwohl ich das für mich so entschieden habe, habe ich es nie geschafft, ihr das auch zu sagen.
Vielleicht ist das ja ebenfalls ein Teil des Problems.