Über das Buch:
Marie-Sophie Maasburg legt mit diesem Buch eine eindrückliche Biografie ihrer Großeltern vor. In Gesprächen berichten Fürstin Marie-Louise und Fürst Albrecht zu Castell-Castell davon, wie sie aus einer Lebenskrise heraus zu einem lebendigen Glauben an Jesus fanden; wie Gott sie durch die Schule des Glaubens führte; wie sie mit den Höhen und Tiefen ihres Lebens umgehen lernten; welche geistlichen Strömungen ihr Leben und Wirken beeinflusst haben. Der Leser wird Zeuge, wie sich das Fürstenpaar von Gott geführt sieht, sich in der ökumenischen Bewegung und in der Versöhnungsarbeit zwischen Deutschland und Israel zu engagieren, und wie die Liebe zum Heiligen Land über die Jahre wächst.

Über die Autorin:
Marie-Sophie Maasburg hat in Wien und Salzburg Geschichte studiert und sich ab 2008 voll dem Schreiben gewidmet. Unter ihrem Mädchennamen Lobkowicz hat sie sechs Bücher veröffentlicht, unter anderem ihr erstes Werk „Ich werde da sein, wenn du stirbst“, das zum Bestseller wurde. Sie ist verheiratet und Mutter von zwei Söhnen.

Kapitel 5 – Jesus-Bruderschaft

Porta patet – magis cor
Die Tür steht offen – mehr noch das Herz

Wahlspruch der Zisterzienser

(Gnadenthal und Volkenroda stehen auf dem Boden ehemaliger Zisterzienserklöster)

Die Jesus-Bruderschaft ist eine kommunitäre Lebensgemeinschaft von ledigen Brüdern, ledigen Schwestern und Familien. Die Jesus-Bruderschaft entstand 1961 – kurz nach dem Bau der Berliner Mauer – als Lebensgemeinschaft zölibatär lebender Männer. 1964 bildete sich die Schwesternschaft, 1968 die Familiengemeinschaft und 1972 eine Gemeinschaft alleinstehender Frauen. 1969 siedelte sich die Jesus-Bruderschaft im hessischen Dorf und ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Gnadenthal im Taunus an. Sie hat die Berufung, Christen an verschiedenen Orten zu sammeln, um gemeinsam das Leben aus dem Evangelium zu gestalten. Dabei knüpft sie an die Tradition von Orden und geistlichen Gemeinschaften, wie z. B. den Zisterziensern, den Jesuiten und der Herrnhuter Brüdergemeine (Zinzendorf) an und ist von Impulsen aus dem Lebenswerk Dietrich Bonhoeffers, Romano Guardinis und Martin Bubers inspiriert. Ihre Berufung ist das Gebet und das Leben für das Einssein des Volkes Gottes. Die Mitglieder der Jesus-Bruderschaft kommen aus unterschiedlichen Kirchen und Konfessionen, denen sie zugehörig bleiben. Als eingetragener, gemeinnütziger Verein ist sie Mitglied im Diakonischen Werk in Hessen und Nassau sowie in Thüringen und Sachsen. Sie ist ebenfalls Träger der freien Jugendhilfe in Hessen, Sachsen und Thüringen.9

Mutter Bangel, wie Erika Bangel von allen respekt- und liebevoll genannt wird, ist eine reizende alte Dame mit einer sehr herzlichen Ausstrahlung. Ich habe sie in ihrer Wohnung in Bad Camberg besucht und sie erzählte mir, wie es mit Gnadenthal begonnen hat. Sie und ihr Mann gehören zu den Gründern der Kommunität. Sie wird auch Mutter Bangel genannt, weil sie die Leiterin der dort lebenden Schwesternschaft war. Über die Entstehung und Entwicklung von Gnadenthal hat mir Erika Bangel Folgendes erzählt:

Angefangen hat alles mit Pfarrer Bittlinger, unserem Gemeindepfarrer, der uns mit den beiden ersten Jesus-Brüdern bekannt gemacht hat. Sie lebten in Ostfriesland – ein Pfarrer und ein Polizist. Diese beiden Männer hatten angefangen mit dem gemeinsamen Leben als ledige Brüder und suchten Anschluss. Mein Mann und ich hatten innerlich schon immer mal gedacht, wir müssten ganzheitlich für Jesus leben. Das wusste Arnold Bittlinger und stellte uns daraufhin die Brüder vor. Diese kamen und blieben in unserem Haus. Die Impulse und Ideen waren gut – sprachen uns an. Wir lebten damals in einem großen Haus in Ludwigshafen mit 14 Zimmern. Eigentlich viel zu groß für unsere kleine Familie – meinen Mann, unsere drei Töchter und mich. Wir hatten es aber schon mit dem Eindruck gekauft, dass wir den Platz brauchen würden.

Die Brüder blieben letztendlich einfach bei uns. Das waren die ersten Anfänge der Gemeinschaft. Erst waren sie nicht mehr als Gäste in unserer Familie, übernahmen aber stillschweigend immer mehr die geistliche Führung. Unser Tag wurde in Gebetszeiten eingeteilt, an denen wir immer teilnahmen. Das war etwas ganz Neues. Für unsere Familie hat sich dadurch alles verändert.

Auch hatten wir ab sofort eine gemeinsame Kasse. Die beiden hatten kein Geld, also hat mein Mann sie mitversorgt. Wir haben dann erste Tagungen veranstaltet – ganz kleine in unserem Haus. Ich kochte und sie lehrten. Schließlich kamen mehr, auch junge Mädchen, die dann blieben und sich der Bruderschaft anschlossen. Das Haus platzte bald aus allen Nähten. Es war eine Zeit der Erweckung in der Pfalz – sagenhaft.“

Mutter Bangel, mit der ich am Esstisch sitze und die mich zwischendurch immer wieder ermutigt, mich doch zu bedienen, hat eine angenehme, ruhige Erzählstimme, aus der deutlich ihre Begeisterung klingt, als sie sich an die Anfänge der Bruderschaft erinnert. Immer wieder huscht Heiterkeit über ihr Gesicht. Trotz ihres hohen Alters wirkt sie sehr jung, als sie fortfährt:

Die Brüder kamen dann schließlich zu mir und baten mich, die geistliche Mutterschaft für die Mädchen, die der Gemeinschaft beitraten, zu übernehmen. Ich ging drei Wochen in die Stille, um Gott zu fragen, ob ich diese Aufgabe übernehmen sollte. Ich hatte schließlich Kinder und war keine zölibatäre Frau. Wie sollte ich diese Schwestern führen? Als die Brüder schließlich wissen wollten, was Gott denn in der Stille geantwortet hätte, konnte ich nur antworten ‚Er hat nicht Nein gesagt‘.“

Bei diesen Worten schmunzelt Mutter Bangel vergnügt in sich hinein. Sie fügt später noch hinzu, dass Gott in jeder Anfangsphase die Gnade schenkt zu handeln, ohne zu überlegen. Wenn man älter wird, muss man länger überlegen, wägt ab, zögert. Um dann etwas doch zu bejahen, erfordert es Größe. Auch die schenkt Gott, meint sie. Ich spüre, dass die Betrachtungen ihr Freude bereiten:

Mit dem Einverständnis meiner Familie stimmte ich zu. Das hatten die beiden Brüder bereits erwartet und schon ging es los. Wir legten uns eine Tracht zu. Das lehnten meine Kinder anfänglich sehr ab. Sie fanden es empörend, dass ich meine schönen bunten Kleider nicht mehr tragen würde. Die Schürzen der neuen Tracht wurden in Mannschaften des Marburger Kreises genäht. Die Brüder trugen graue Westen und wir glichen uns mit unserer Tracht an sie an. Das sah gut aus! Das Ganze ist richtig gewachsen. Sogar meine Töchter traten dann in die Schwesternschaft ein. Es wurde eine richtige Familienkommunität. Ledige, Paare, Kinder, Priester und Laien. Die Vielfältigkeit führte natürlich auch zu Spannungen und Problemen, aber das ist in Familien ja nicht anders. Die Entscheidung zu zölibatärem Leben muss immer wieder bewusst getroffen werden. Das war für viele – gerade für die jungen Frauen – nicht leicht, wenn sie die Familien und die Kinder sahen. Später lösten meine Töchter sich aus der Gemeinschaft, was zu einem sehr verspäteten und schmerzhaften Abnabelungsprozess führte.“

Das Junge ist aus ihrem Gesicht gewichen und man merkt ihr an, dass ihr diese Erinnerung nach wie vor wehtut. Die Jahre in der Bruderschaft haben sehr viel Gutes und auch sehr viel Schmerzhaftes gebracht. Mutter Bangel ist sich jedoch sicher, dass dies alles zusammengehört. Dass man häufig nur im tiefsten Schmerz die Gnade Gottes vollständig zu spüren bekommt. Vielleicht, so meint sie, ist es Gottes Absicht, dass er uns durch Krisen und Tiefen schneller zu sich ziehen kann, als wenn es uns gut geht. Da kann ich ihr nur zustimmen. „Gnadenthal wurde dann gekauft, weil Ludwigshafen zu klein wurde?“, lenke ich das Thema auf Gnadenthal.

Ja, die 14 Stuben waren bald voll. Da haben wir dann ein Grundstück gesucht und Gnadenthal gefunden, 1969 war das. Mein Mann und Bruder Gerhard suchten nach einem geeigneten Haus. Wir hatten aber nur sehr wenig Geld. In Gnadenthal stand damals ein Bauernhof zum Verkauf an und wurde uns weit unter dem eigentlichen Wert angeboten, woraufhin die Verantwortlichen gleich zuschlugen. Das Geld hatten wir allerdings auch dafür nicht. Aber es war ein wunderschönes Grundstück mit Häusern drauf. Die ersten Raten bezahlten wir vom Verkauf unseres Hauses in Ludwigshafen. Das muss man sich mal überlegen: Meine Kinder hatten kein Erbe mehr – wir haben alles da reingesteckt. Dort in Gnadenthal lebten wir dann auf Taschengeldbasis und keiner verfügte über eigenes Geld.“

Sie schaut nachdenklich aus dem Fenster, als ich die nächste Frage stelle: „Haben Sie sich davon auch eingeschränkt gefühlt? Oder war das Freiheit?“ Erst schweigt sie, als müsse sie die Antwort tief in sich suchen. Dann meint sie mit fester Stimme:

Ich weiß es nicht. Es war eine bewusste und freie Entsagung. Ich habe manches schon vermisst – vor allem wegen meiner Kinder. Als meine Töchter austraten, hatte ich kein Geld, um sie zu unterstützen. Das tat weh und ist mir sehr schwergefallen. Ausgeschiedene Geschwister wurden mit einer kleinen Auszahlung abgefunden. Ich habe meine Kinder nicht bevorzugt, da ich ja Schwester und Mutter für alle war. Da war ich loyal bis zur Selbstverleugnung. Ich bin da auch durch tiefe Täler gegangen. Aber ich wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Gottes Ruf für uns. Das hat sich auch bestätigt: Meine Kinder stehen nach wie vor im Glauben und sind gesegnet, auch wenn es nicht leicht ist. Gott hat es mit mir sehr gut gemeint, aber es gab auch bittere Jahre. Das wissen deine Großeltern sehr gut, ich hatte immer wieder Kontakt zu ihnen. Zum Beispiel, als ich dann nach 25 Jahren zurückgetreten bin und die Leitung an andere Schwestern übergeben habe. Da mussten wir, mein Mann und ich, Gnadenthal verlassen. Das war sehr schlimm für uns. Das war wie ein tödlicher Schlag. Wir hatten ja damals die ersten Raten für den Hof in Gnadenthal vom Geld unseres Hauses bezahlt. Das war unsere Heimat. Gnadenthal war unser Leben. Damit meine ich weniger den Ort als die Gemeinschaft. Das war dann wieder eine bewusste Demutsentscheidung, diese Bestimmung anzunehmen. Wir haben die Aufgabe bewusst wahrgenommen und genauso bewusst mussten wir sie auch wieder abgeben. Wir hätten uns ja auch streiten oder austreten können. Das kam jedoch nicht infrage. Aber plötzlich waren wir allein – ohne die Gemeinschaft. Das war wie Exil. Es gab damals auch einen Bruch, der bis heute spürbar ist. Und dann waren wir zwei allein – mein Mann und ich – wir hatten keine Struktur mehr. Wir mussten uns völlig neu zurechtfinden. Kurz vor seinem Tod hat mein Mann mir noch einmal für die vielen Jahre gedankt und er hat gesagt: ‚Mutter – es war alles richtig.‘ Das hat mir sehr geholfen in der Trauer. Dass er es persönlich auch so empfunden hat: Es war trotz der schweren Zeiten der richtige Weg!

Vergebung war für Mutter Bangel in ihren späten Jahren ein großes Thema. Tiefe Verletzungen waren mit der Trennung von Gnadenthal einhergegangen. Sie musste lernen, dass man Gott Zeit für die Heilung geben muss. Und es hat Zeit gebraucht, aber Gott hat Heilung geschenkt. Ich kann es nicht anders beschreiben, aber aus ihren Augen leuchtet Barmherzigkeit und auch Verständnis für das, was sie nicht versteht. Es kommt von Herzen, als sie unser Interview mit den Worten abschließt: „Ich bin eine glückliche alte Frau …Gott hat es wirklich gut mit mir gemeint. Es ist ein geschenkter Friede, der mit dem Verstand nicht zu packen ist.“

Erika Bangel verstarb am 22.04.2012 in Bad Camberg im Alter von 92 Jahren. In einem Nachruf, der im Namen ihrer Familie und der Jesus-Bruderschaft verfasst wurde, heißt es:

„Nach einem vom Kreuz gezeichneten Lebensweg ist sie nun ganz im Osterlicht geborgen.“

* * *

Bereits in Ludwigshafen und im Marburger Kreis sind meine Großeltern Ehepaar Bangel begegnet. Von Beginn an haben sie die Entwicklung der Gemeinschaft freundschaftlich mitverfolgt. Im Gespräch mit Mutter Bangel wurde es schon erwähnt und meine Großeltern bestätigen es noch einmal: Es sind und bleiben die zwischenmenschlichen Beziehungen, die das Leben ausmachen. Strukturen können beschrieben, Werke analysiert werden, aber nur die Beziehung zum Nächsten lässt tatsächlich Gemeinschaft entstehen. Gnadenthal ist ein Ort, an dem Räume geschaffen wurden, um Beziehungen aufzubauen. Meine Großeltern und Mutter Bangel waren in tiefer Freundschaft miteinander verbunden. So hat mich mein Großvater auch sehr dazu ermutigt, mit Mutter Bangel zu sprechen. Seine persönliche Beziehung zu Gnadenthal beschreibt er wie folgt: „Ich habe aus Gnadenthal nichts Wesentliches für meinen persönlichen Glauben mitgenommen. Mich dort zu engagieren hat mir aber in anderer Weise sehr viel gebracht: Die sehr persönlichen und tief gehenden Gespräche und schließlich die Freundschaften mit Günter Oertel, Andreas Felger, Bernd Hanke, den Brüdern Helmut und Franziskus, Karl-Heinz Michel und Jens Wolf. Was mich im Blick auf Gnadenthal beschäftigt hat, sind Aufgaben: Begleitung, Mitarbeit in Gremien und Erfahrungsaustausch. Ich bin sehr oft um Rat oder meine Meinung gefragt worden. Meine erste Aufgabe war es, in der Präsenz-Treuhand mitzuarbeiten, in der alle Darlehen für Gnadenthal verwaltet wurden.“

Mein Großvater fährt fort: „Für mich war Gnadenthal die lebendigste junge geistliche Bewegung, die auch jeweils das Nötige und Richtige der Zeit erkannt und umgesetzt hat. Die erste Idee, die dort praktiziert wurde, war: Ein Angebot für junge Leute, die Beruf-Findungsprobleme hatten. Sie konnten dort arbeiten und Erfahrungen sammeln, am geistlichen Leben in der Bruderschaft teilnehmen und in der Landwirtschaft, im Verlag, beim Bauen und vielem anderen helfen. Es gab ein reiches Feld an Betätigungsmöglichkeiten. Dann kamen schließlich die Familienforen. Junge Eltern mit ihren Kindern wurden eingeladen. Unsere Kinder und Enkel haben teilweise auch daran teilgenommen. Es gab Raum, unter geistlicher Begleitung, im wechselseitigen Gespräch und Austausch Erziehungsprobleme, Eheprobleme etc. zu besprechen.“

Wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann, haben meine Familie und ich selbst von einem der Familienforen profitiert. Ich erinnere mich noch, dass wir mit der ganzen Familie dort gewesen sind. Jede Altersstufe setzte sich auf ihre Weise mit dem Glauben auseinander. Es war schön, mit welcher Selbstverständlichkeit sich dort alle Generationen im Gebet vereint haben. Ich weiß noch genau, wie wir mit einer Kindergruppe den Fall der Mauer Jerichos mithilfe eines plattgeregneten Weizenfeldes nachahmten. So etwas prägt und bleibt im Gedächtnis.

Und schließlich kam die Sommerakademie. Die Förderung von guten internationalen jungen Menschen – Spitzenleuten. Diese zusammenzuholen, um sie geistlich und theologisch anspruchsvoll zu begleiten und zu informieren, war das Konzept. Tolle Idee!“ Meine Großmutter fügt hinzu: „Es herrschte immer eine freundschaftliche Nähe und wir wussten uns auf dem gleichen Weg. Punktuell wurden wir um Rat gefragt, aber nicht nur auf geschäftlicher, sondern auch auf freundschaftlicher Basis.

* * *

Gnadenthal war nicht die einzige Wirkungsstätte der Jesus-Bruderschaft. In Israel gab es bereits seit 1973 Stationen dieser Kommunität in Jerusalem, Bethlehem und Latrun. Die Gemeinschaft in Latrun ist bis heute aktiv. Zudem entstanden neue deutsche Lebens- und Arbeitsschwerpunkte der Kommunität in Hennersdorf und Volkenroda.10

1991 wurde das Werk- und Studienzentrum Hennersdorf11 bei Chemnitz in Sachsen gegründet, um Arbeitsplätze und einen Ort der Begegnung in der Mitte Deutschlands zu schaffen. Mein Großvater hat diesen Prozess sehr nahe begleitet. Mit Hennersdorf verbindet er auch ein besonderes Versöhnungserlebnis: „Die Übernahme und den Wiederaufbau der alten Spinnerei in Hennersdorf habe ich von Anfang an unterstützt. Um Kontakte zur Bevölkerung zu finden, wurde gelegentlich zu sogenannten ‚Hennersdorf-Sonntagen‘ eingeladen. An einem dieser Sonntage sollte ich über das Thema Versöhnung sprechen. Bei der Vorbereitung spürte ich, dass mich das sehr persönlich betrifft. Es wurde mir klar, dass in mir eine Antihaltung gegen alles, was sich hinter dem Eisernen Vorhang abgespielt hatte, lebendig war. Innerlich warf ich alles in einen Topf mit dem kommunistischen Regime – vor allem auch die Menschen. So habe ich in meinem Vortrag gesagt, dass ich diese negative Haltung bedaure und alle hier Versammelten ganz persönlich um Vergebung bitte. Ein Jahr später, auf einem dieser Sonntage, sprachen mich zwei Männer an. Sie hatten ein Jahr zuvor diese Bitte um Vergebung gehört und erzählten, dass es in ihnen eine Veränderung bewirkt habe. Sie trugen dem Adel gegenüber eine starke Abwehrhaltung mit sich herum und hatten nun das Bedürfnis, mich wiederum um Vergebung dafür zu bitten. Das hat mich damals sehr beeindruckt, weil es die Wechselwirkung so deutlich machte – wenn einer anfängt, dann kann der andere es aufnehmen und es geschieht wirklich Versöhnung.

Durch Impulse aus Gnadenthal haben sich in Hennersdorf inzwischen mehrere Betriebe angesiedelt. Rund 100 Arbeits- und Ausbildungsplätze sind entstanden. Es wird ein Veranstaltungsprogramm mit Gottesdiensten, Stillen Wochenenden, seelsorgerlichen und kreativen Angeboten, Seminaren u.a.m. angeboten.

Auch die alte Klosteranlage in Volkenroda wurde neu entdeckt und eine Gemeinschaft dort gegründet. Nach anfänglichem Zögern stand mein Großvater sehr motivierend hinter diesem Projekt. „Zuerst war ich skeptisch. Ich glaubte, dass die personellen Kräfte in Gnadenthal nicht ausreichend waren, um in Zukunft an drei wichtigen Orten tätig zu sein.“ Der Ort und die Atmosphäre, die er ausstrahlte, überzeugten ihn schließlich. „Als ich zum ersten Mal in Volkenroda war, änderte sich meine ablehnende Haltung sehr schnell und ich habe erkannt, welche Bedeutung die Wiederbelebung des stark zerstörten Klosters für den Ort, aber auch für das Land haben würde. Mein Interesse war geweckt und ich habe fortan versucht, das Projekt nach Möglichkeit zu unterstützen. So ist mir dieser Ort als Aufgabe und Zukunftshoffnung sehr ans Herz gewachsen.“

Er erzählt weiter über die Geschichte des Klosters: „Volkenroda war ein Zisterzienserkloster in Thüringen. Der Ort war bewusst von der kommunistischen Regierung ‚entsiedelt‘ worden. Zisterzienser gingen mit ihren Klöstern absichtlich in Randgebiete, wirtschaftlich unterentwickelte Gegenden. Sie säten immer zwei Dinge: Geistliches Leben und daraus entstehend wirtschaftliches Leben. Und diesen Geist in der Nach-Wende-Zeit zu beleben, das war eine gute Idee. Ulrike Köhler aus Volkenroda wandte sich 1992 mit der Bitte um Unterstützung an Gnadenthal.

In Volkenroda ist es den Gnadenthalern gelungen, die evangelische Landeskirche Thüringen, die katholische Diözese
Erfurt und die kommunale Ebene zu einer gemeinsamen Aufbauarbeit zusammenzubringen. So entstand ein geistliches Einkehrzentrum. Anschließend hatten sie die geniale Idee – allen voran Günter Oertel, der langjährige Leiter und Visionär der Gemeinschaft –, den Christus-Pavillon auf der Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover abbauen zu lassen und das Ganze in Volkenroda wieder aufzubauen. Alles durch Sponsoren finanziert. Hier ist eine gute ökumenische Zusammenarbeit gelungen.
“ Um Volkenroda finanziell selbstständig werden zu lassen, wurde Stiftungskapital gesammelt. Bei einer aufgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise in Gnadenthal wurde Volkenroda schließlich im Jahr 2004 von der Mutterkommunität abgekoppelt und selbstständig. Die Stiftung wurde Eigentümerin der gesamten Anlage. Als der damalige Vorsitzende des Stiftungsrates Günter Oertel zurücktrat, übernahm mein Großvater diese Aufgabe. Allerdings betonte er, dass er dies nur tun wolle, bis ein Nachfolger gefunden sei. Im Jahr 2007 erklärte sich Prof. Dr. Dieter Ameling dazu bereit.

In Gnadenthal, Hennersdorf und Volkenroda konnte mein Großvater viel von dem einbringen, was er im Marburger Kreis und in Craheim erfahren, gelernt und empfangen hatte. Immer hatten meine Großeltern jedoch ein offenes Auge und Ohr für andere, neue Entwicklungen. Als sie Maria Prean, die eine ganz frische, freie, lebendige Art des Glaubens zu vermitteln wusste, kennenlernten, war das vor allem für meine Großmutter ein Schritt tiefer in ihren Glauben und auch in eine neu gelebte Praxis hinein. Diesen Entwicklungen will ich das nächste Kapitel widmen.