Verlag C.H.Beck
Kaum ein anderer nicht-christlicher Denker des Mittelalters ist so sehr Teil der abendländischen Geistesgeschichte geworden wie der persische Muslim Avicenna (um 980–1037). Durch seine Vermittlung gelangten die Werke des Aristoteles wieder nach Westeuropa. Sein enzyklopädisches Hauptwerk „Buch der Genesung der Seele“ hatte prägenden Einfluß auf Albert den Großen und Thomas von Aquin. Gotthard Strohmaier schildert das abenteuerliche Leben Avicennas, gibt eine Einführung in sein Werk auf dem neuesten Stand der Forschung und skizziert Avicennas Bedeutung für das abendländische Denken.
Prof. Dr. phil. Gotthard Strohmaier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Corpus Medicorum Graecorum“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Professor am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin.
Die Reihe „Denker“ wird herausgegeben von Otfried Höffe, Professor für Philosophie an der Universität Tübingen.
Stimmen über Avicenna
Vorwort
I. Lebensabenteuer eines Philosophen
1. „Die Bücher der Alten“
2. „Die Notwendigkeit fortzuziehen“
3. Der Hof in Isfahan
II. Ein programmatischer Briefwechsel
III. Gott und die Sphären
1. Die griechischen Voraussetzungen
2. Die Theologie des Aristoteles
3. Der oder das „notwendig Seiende“
4. Die „Kaskade von Intellekten, Seelen und Körpern“
5. Der „schlammige Quell“ der Materie
IV. „Erkenne deine Seele“
1. Am Krankenbett des Emirs
2. „Der fliegende Mensch“ und andere Beweise
3. Eine fatale Konsequenz der Unsterblichkeit
4. Die Garantien des „aktiven Intellekts“
5. Die inneren Sinne
6. Das Wesen der Prophetie
V. Allegorie und Dichtung
1. Der innere Sinn des Korans
2. Mohammeds Himmelfahrt
3. Salamān und Absāl – ein Roman der Leidenschaft
4. Hayy ibn Yaqẓān – eine Allegorie eigener Erfindung
5. Die Erzählung von den Vögeln und verschiedene Gedichte
VI. Der Aufbruch nach dem „Osten“
VII. Die geordnete Fülle des Wissens
1. Einteilung und System
2. Die Stellung der Logik
3. Mathematik und Astronomie
4. Mechanik
5. Die Welt der Farben und Töne
6. Geologie, Mineralogie und die Unmöglichkeit der Alchemie
7. Pflanzen und Tiere
8. Geographie und Geodäsie
9. Politik und Ökonomie
VIII. „Die Medizin gehört nicht zu den schweren Wissenschaften“
1. … aber sie ist eine Wissenschaft
2. Der Kampf mit dem Dracunculus
3. Der Kanon in der Medizin
4. Andere medizinische Schriften
5. Bedenkliche Rückschritte
6. Psychosomatische Ansätze
IX. Die postume Karriere unter den Muslimen
1. Die Zeugnisse der Volksliteratur
2. Die Verbreitung des Kanons in der Medizin
3. Die geteilte Reaktion der Philosophen
4. Eine Inspiration für die Mystiker
5. Das Votum der Orthodoxie
X. Die Aufnahme bei den Juden
XI. An den Universitäten des Westens
1. Eine zurückgebliebene Region mit Standortvorteilen
2. Die lateinischen Übersetzungen
3. Algazel, der Doppelgänger Avicennas
4. In den Disputationen der Hochscholastik
5. In Dantes Commedia, der poetischen Welt eines Außenseiters
6. Die letzten Anhänger an der medizinischen Fakultät
XII. Ein polemisch gefärbtes Nachwort
Anhang
1. Karte der Wanderungen Avicennas
2. Zeittafel
3. Literaturhinweise
4. Personenregister
5. Sachregister
6. Zur Aussprache des Arabischen
József Antall zum Gedenken,
dem medizinhistorischen Kollegen
und ersten Ministerpräsidenten des freien Ungarn
„… keinen großen Lehrer kennt noch außer mir die Wissenschaft.“
(Avicenna in einem Gedicht über sich selbst)
„Wer diesen beiden großen Männern (Aristoteles und Avicenna) Fehler vorwirft, der hat sich selbst von der Gemeinschaft der Weisen ausgeschlossen und unter die Wahnsinnigen eingeordnet.“
(Nizāmī ʿArūdī, persischer Schriftsteller, 1156)
„Wahr gesprochen hat Gott, der Allmächtige, und gelogen hat Avicenna.“
(Al-Ḥasan ibn Muḥammad ibn Nağä, Damaszener Philosoph, so 1262 angeblich auf dem Sterbebett bereuend)
„Dort steht Ibn Sīnā verspottet und verlacht, weil es nach seiner Meinung möglich war, daß vor langer Zeit ein Mensch nicht von einem Menschen geboren wurde, und weil er gesagt hat, daß die Entstehung der Berge auf natürliche, ja am liebsten auf blindwirkende Weise geschehen sei, und weil er dem Glauben an die Anfangslosigkeit der Welt anhing.“
(Höllenvision des hebräischen Dichters Immanuel ha-Romi, um 1300)
„Aber dieser große Unheilstifter wider Willen ist gleichzeitig doch eine ungemein interessante Persönlichkeit.“ (August Müller, deutscher Orientalist, 1887)
„… als geschickter und skrupelloser Staatsmann, als universal gebildeter Gelehrter und praktisch tätiger Arzt, daneben allen sinnlichen Genüssen hemmungslos frönend, hat er die erstaunliche Zahl seiner philosophischen und medizinischen Enzyklopädien, Kompendien, Lehrgedichte, mystischen Traktate geschaffen. Sein philosophisches System ist von einer bewundernswerten logischen Präzision und Differenziertheit. Aber mit lebendiger Wissenschaft, mit echter Bildung hat es nichts mehr zu tun.“ (Hans Heinrich Schaeder, deutscher Orientalist, 1928)
„… jedoch ist sein Einfluß derartig, daß niemand ermessen kann, wie das westliche Denken im Mittelalter beschaffen gewesen wäre, wenn es ihn nicht gekannt hätte.“
(A.-M. Goichon, französische Orientalistin, bedeutende Avicennaforscherin, 1940)
„Wenn Eure Exzellenz die Forschungen zu solchen Themen anleiten wollte, sollte Sie veranlassen, daß die Studierenden anstelle der Bücher der westlichen Philosophen die Schriften von al-Fārābī und Avicenna zu Rate ziehen.“
(Der Ayatollah Khomeini in einem Brief an Michail Gorbatschow)
„Avicennas Metaphysik bleibt eine beständige Quelle der Einsicht in die Logik von Notwendigkeit und Kontingenz und in die immerwährenden philosophischen Probleme von Freiheit und Unsterblichkeit, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit.“ (Lenn E. Goodman, Professor für Philosophie an der Universität Hawaii, 1991)
Abū ʿAlī al-Ḥusain ibn ʿAbdallāh ibn al-Ḥasan ibn ʿAlī ibn Sīnā, geboren 980 oder einige Jahre eher in der Nähe des mittelasiatischen Buchara, ist wie kein anderer außereuropäischer und nichtchristlicher Denker zu einem Teil der abendländischen Geistesgeschichte geworden, wovon auch seine lateinische Namensform Avicenna Zeugnis gibt. Bis zum Jahre 1987 sind ihm in aller Welt insgesamt dreißig Briefmarkeneditionen gewidmet worden, welcher Philosoph konnte je so viel auf sich vereinen? Anlaß waren zwei mit großem Aufwand begangene Tausendjahrfeiern seines Geburtstages, die eine 1952 nach dem muslimischen Mondkalender, die andere 1980 nach der christlichen Zeitrechnung. Neben viel oberflächlichen Lobsprüchen und hagiographischer Einfalt haben die beiden Jubiläen auch ernsthafte Forschung angeregt, die eine grundsätzliche Bedeutung für viele Probleme besitzt, die heute aktuell sind, so etwa die Frage, warum die islamische Welt nach einer Zeit geistiger und materieller Blüte in eine Periode der Stagnation hineingeraten ist, und es hat Stimmen gegeben, die gerade Avicenna eine Mitschuld zuweisen wollten. Derselbe Avicenna soll aber nach anderer Meinung in der europäischen Scholastik den hier beginnenden Aufschwung rationalen Denkens befördert haben. Warum tat er das nicht in seiner Heimat?
Der Verfall der islamischen Welt ging im vorigen Jahrhundert so weit, daß sie zum hilflosen Objekt der Kolonialpolitik europäischer Mächte wurde. Avicennas Vaterstadt Buchara geriet ab 1868 nach einer militärischen Niederlage in den Herrschaftsbereich des russischen Zarismus und danach der Sowjetunion. So konnte es nicht ausbleiben, daß man hier Avicenna als einen Vordenker des marxistischen Materialismus entdeckte und sein Bild in die eigene Ahnengalerie hängte, wobei es ohne kräftige Retuschen nicht abging. Im deutschen Sprachraum fand die weiteste Verbreitung eine kleine und schwungvoll geschriebene Monographie aus der Feder des marxistischen Philosophen Ernst Bloch. Sie erschien zuerst 1952 aus Anlaß des ersten Jubiläums, als er vor seiner Flucht in die westliche Freiheit in Leipzig lehrte. Unter dem Titel „Avicenna und die aristotelische Linke“ enthält sie Sätze wie diesen: „… die Aufhebung der göttlichen Potenz selber in der aktiven Potentialität der Materie: das vorzüglich ist der Weg der Aristotelischen Linken, mit Avicenna als nachantikem Merk- und Wendepunkt.“
Aber wenn man als Kriterien die Fragen nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele oder der Selbstmächtigkeit der Materie heranzieht, wird deutlich werden, daß Avicenna eher einer „aristotelischen Rechten“ zugehört. Trocken bemerkt dazu Elisabeth Buschmann, eine Münchner Doktorandin: „Hätte Ernst Bloch nicht eine Jubiläumsschrift verfassen wollen, so wäre ihm sicher aufgefallen, daß die Philosophie Ibn Sinas ihm als Negativfolie mehr zu bieten hat als bei der Suche nach geistigen Ahnen.“ Peinlich wirkt das Büchlein an den Stellen, wo Bloch den verdienten deutschen Arabisten Max Horten, von dessen Übersetzungen er abhängig war, als „reaktionär“ verunglimpft, weil dieser die Bemühungen Avicennas herausarbeitete, als Philosoph eine Übereinstimmung mit der Religion des Islam herzustellen. Wenn Bloch dagegen argumentiert, daß dies von der sunnitischen Orthodoxie, die ihn verketzerte, nicht honoriert wurde, so mag es erlaubt sein, an Blochs eigenes Schicksal zu erinnnern. In dem Scherbengericht, das seine parteitreuen Kollegen 1957 veranstalteten, klagte ihn der vulgärmarxistische Philosophiehistoriker Hermann Ley unter anderem auch deswegen an, weil er „den Materialisten Avicenna“ in logischen und erkenntnistheoretischen Fragen mit dem heiligen Thomas gleichgesetzt habe. Aber auch jetzt noch beim Aufkehren des Scherbenhaufens wird die „Traditionslinie revolutionärer Materiebestimmung … zu den eigenständigen Leistungen der Blochschen Philosophiegeschichtsschreibung“ gerechnet.
Heute hat sich unter Spezialisten das Urteil herausgebildet, daß Avicenna als Metaphysiker des menschlichen Selbstbewußtseins durchaus noch der Aufmerksamkeit wert ist. Daneben habe er als geschickter und systematischer Kompilator griechische Medizin und griechische Wissenschaft späteren dürftigeren Zeiten im Islam in faßlicher Form übereignet, wovon auch das christliche Abendland profitierte, als es von den griechischen Quellen weitgehend abgeschnitten war. Damit wird Avicenna zu einem kulturgeschichtlichen Phänomen ersten Ranges, an dem zum einen die Weltbedeutung der Griechen demonstriert werden kann und zum anderen der Umstand, daß wir mit den Griechen, die sich selber nie als Europäer verstanden haben, nur durch eine Reihe von Rezeptionen verbunden sind, unter denen die des hohen Mittelalters auch auf die arabische zurückgriff, deren vornehmster und wirkungsmächtigster Vertreter für uns neben Averroes, dem spanischen Araber, der Perser Avicenna gewesen ist.
Wohl kaum einem Philosophen war ein solch aufregendes und gefährdetes Leben beschieden wie ihm. Den Bericht von den Kinder- und Jugendjahren hat er selber seinem Schüler al-Ğūzğānī ins Schreibrohr diktiert. Er soll im folgenden vollständig und mit den notwendigen Erläuterungen zitiert werden.
Nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern auch die seltenen Hochbegabungen scheinen gleichmäßig über den Erdball verteilt zu sein. Freilich müssen zu ihrer Entfaltung günstige äußere Bedingungen hinzukommen. Sie waren es vor einem Jahrtausend im Hause eines hochgestellten Beamten im mittelasiatischen Buchara unter der glücklichen Regierung der Samaniden. Noch heute bieten Reste der Altstadt mit ihren staubigen Gassen zwischen fensterlosen Lehmmauern, mit ihren überkuppelten Markthallen, ihren Medresen und Moscheen und ihrer Zitadelle einen ähnlichen Anblick wie damals, als das Wunderkind Avicenna hier aufwuchs. Jedoch ist nur ein Gebäude, das zu seiner Zeit schon stand, erhalten geblieben, ein Mausoleum, das als Familiengruft der Dynastie der Samaniden diente, erbaut um das Jahr 900. Der quadratische Grundriß und die vier gleichen Wände mit ihren spitzbogigen Toröffnungen erinnern an vorislamische Kultbauten, darunter besonders die Häuser über den heiligen Feuern der altpersischen zoroastrischen Religion. Nicht zufällig haben sich in der Architektur überall in der islamischen Welt am stärksten die regionalen vorislamischen Traditionen erhalten. Andere Kulturgüter waren dank eines intensiven Handels und Austauschs entlang der Wege, den auch die Mekkapilger zogen, einer stärkeren Vereinheitlichung ausgesetzt.
Dazu gehören etwa die figürliche Miniaturmalerei oder die Musik samt ihren Instrumenten, was alles von der strengen Orthodoxie eher mißbilligt wurde, und dazu gehört auch die Pflege der Philosophie und der weltlichen Wissenschaften. Regionale Unterschiede lassen sich zwar hin und wieder ausmachen, das ändert aber nichts an dem einen Grundzug, daß überall eine sehr direkte Fortsetzung griechischer Traditionen stattgefunden hat, deren ursprüngliche Heimstatt das christliche Syrien und Mesopotamien war. In diesem einen Punkt ist Ernst Bloch unbedingt recht zu geben, wenn er gegenüber einem verbreiteten Vorurteil hervorhebt, daß die Philosophie „keineswegs eine exotische Treibhauspflanze auf islamischem Boden“ war.
Die Ausbreitung des ganzen griechischen Wissens, über das die Syrer verfügten, wurde durch arabische Übersetzungen ermöglicht, die vor allem im neunten Jahrhundert in Bagdad angefertigt worden waren. Herausragend an Quantität und Qualität war die Leistung des christlichen Arabers Ḥunain ibn Ishāq (808–873), der sich besonders um die medizinische Literatur verdient machte, und seines Sohnes Ishāq ibn Ḥunain, der sich mehr die Philosophie und die exakten Wissenschaften vornahm. Ihre philologische Gewissenhaftigkeit, ihre Kenntnis des Griechischen und ihre Gewandtheit im arabischen Ausdruck stehen turmhoch über dem, was die lateinischen Übersetzer des europäischen Mittelalters mit ihren arabischen Vorlagen, darunter auch den Werken Avicennas, gemacht haben.
Die heutige deutsche Orientalistik bezeichnet das eigengeprägte und von den Nachbarn deutlich abgesetzte Kulturgebiet als „arabisch-islamisch“, manchmal auch verkürzt als „arabisch“ oder „islamisch“, je nachdem, wie es der Kontext nahelegt. Immer ist dabei im Auge zu behalten, daß nicht nur Muslime, sondern auch Christen, Juden und andere religiöse Gruppierungen und in ethnischer Hinsicht nicht nur Araber dazugehörten, sondern beispielsweise auch der Perser Avicenna. Zu seiner Zeit hatte die politische Zersplitterung des riesigen Territoriums schon große Fortschritte gemacht. Der Kalif in Bagdad, dem Namen nach immer noch geistliches und weltliches Oberhaupt in einer Person, hatte die Macht an die Hausmeier aus dem Geschlecht der Buyiden abgegeben, aus dem auch lokale Dynastien in Persien hervorgegangen waren; bei einigen von ihnen sollte Avicenna später ein Unterkommen finden. Die Expansion ging nicht weiter, weder im fernen Spanien noch an der kleinasiatischen Grenze zu Byzanz.
Buchara war ein Außenposten gegen die östlichen Turkstämme, die gerade dann gefährlich wurden, wenn sie den Islam annahmen und ihren Anteil an dem fruchtbaren Kulturland verlangten. Aber noch war die Stadt die blühende Residenz der Samaniden, die im Jahre 900 ein Gebiet übernommen hatten, das im Norden an Choresm, die Flußoase an der Mündung des Amudarja in den Aralsee, grenzte und im Süden bis ins östliche Persien und nördliche Afghanistan reichte. Dem Kalifen blieben sie nominell untertan und begnügten sich mit dem Titel eines Emirs, was soviel wie Gouverneur bedeutet. Weitreichende Handelsverbindungen und bedeutende Silbervorkommen begründeten den Wohlstand des Staatswesens. Auf dem Markt in Mainz las der jüdische Kaufmann Ibrāhīm ibn Yaʿqūb die Inschriften auf zwei arabischen Dirhams, sie waren Prägungen der Münze in Samarkand aus dem Jahre 942 unter dem Samaniden Naṣr ibn Aḥmad. Bis nach Island ist samanidisches Silbergeld gelangt, es hat auch den größten Anteil an den etwa 70 000 arabischen Münzen, die in schwedischen Hortfunden aufgetaucht sind.
Der Hof in Buchara war ein kulturelles Zentrum, bedeutende Geschichtsschreiber, Dichter und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen hatten hier gewirkt. Auch fand die neuerwachte Pflege der persischen Sprache eine Heimstatt. In dieses Milieu wurde Avicenna hineingeboren, und so beginnt er seinen autobiographischen Bericht:
„Mein Vater stammte aus Bal±, von dort übersiedelte er nach Buchara in den Tagen des Emirs Nūḥ ibn Manṣūr. Er war in der Regierung beschäftigt und übernahm unter dessen Regentschaft die Verwaltung in einem Dorf, das zu den Domänen von Buchara gehörte. Es heißt Harmaitan und ist eines der zentralen Dörfer in dieser Gegend. In seiner Nähe liegt ein Dorf mit Namen Afšana. Aus ihm heiratete mein Vater meine Mutter und ließ sich dort nieder und wohnte da. Hier wurde ich geboren, danach mein Bruder. Dann zogen wir nach Buchara. Ein Lehrer des Korans und ein Lehrer der schönen Literatur wurden für mich bestellt. Als ich das zehnte Lebensjahr vollendet hatte, beherrschte ich den Koran und viel von der schönen Literatur, so daß ich Verwunderung abnötigte.“
Bal, heute ein Dorf im nördlichen Afghanistan und damals eine der Hauptstädte der persischen Provinz Chorasan, war einst von Alexander dem Großen zur Hauptstadt seiner Provinz Baktrien bestimmt worden. Später wurde es zu einer Hochburg des nach Westen missionierenden Buddhismus, eines seiner Klöster bestand unter der Herrschaft der persischen Nationalreligion des Zoroastrismus bis zur Ankunft des Islam. 715 war die Stadt endgültig unterworfen. Daß sich, wie neuerdings behauptet, Spuren dieses alten buddhistischen Erbes im Denken Avicennas erhalten haben, ist nur als haltloser Einfall zu werten. Wie die prägenden Einflüsse des Elternhauses wirklich beschaffen waren, erzählt Avicenna selbst:
„Mein Vater gehörte zu denen, die dem Missionar der Ägypter gefolgt waren, und wurde zu den Ismailiten gerechnet. Er und ebenso mein Bruder hatten sie von der Seele und dem Intellekt vortragen hören, wie es ihrer Redeweise und Auffassung entspricht. Manchmal unterhielten sie sich darüber, während ich ihnen zuhörte und wohl verstand, was sie redeten, ohne es selber anzunehmen, obwohl sie anfingen, mich dafür zu werben. Sie führten auch die Philosophie, die Geometrie und das indische Rechnen im Munde, woraufhin er mich zu einem Gemüsehändler schickte, der im indischen Rechnen beschlagen war, und so lernte ich es von ihm.“
Die Ismailiten sind eine Abspaltung der Schia, der „Partei“ ʿAlis‚ des Vetters und Schwiegersohns Mohammeds. Nach schiitischer Doktrin waren er und seine beiden Söhne aus der Ehe mit der Prophetentochter Fatima um die legitime Erbfolge im Kalifat betrogen worden. Teils im Untergrund lebend, teils unter Hausarrest stehend, pflanzten sich die Imame, wie die legitimen Nachkommen genannt wurden, weiter fort, und dabei konnten Spaltungen nicht ausbleiben. Die heute im Iran regierende Richtung der sogenannten Zwölfer-Schia läßt die Reihe mit einem zwölften Imam enden, der 873 schon als Kind in die Verborgenheit entrückt wurde und dessen Wiederkunft im Artikel 5 der Verfassung von 1979 erwartet wird. Die Ismailiten haben mit der Zwölfer-Schia nur die Linie bis zum sechsten Imam gemeinsam, der 765 starb. Noch vor ihm starb sein Sohn Ismāʿīl, und dessen Sohn Muḥammad ibn Ismāʿīl soll dann auf geheimnisvolle Weise verschwunden sein, um dereinst wiederzukehren und der Welt die ersehnte Gerechtigkeit zu bringen.
Die Hoffnung untermauerten sie durch eine eigentümliche Geschichtsauffassung. Während der orthodoxe Islam die Zahl der Propheten vor Mohammed unbestimmt läßt, rechneten die Ismailiten mit insgesamt sieben, die für ihre Periode jeweils ein neues und verbessertes Religionsgesetz verkündeten, nämlich Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus, Mohammed und dem letzten, der noch kommen sollte. Hinter ihnen standen als eigentliche Autoritäten sogenannte „Schweigende“, welche die unveränderlichen göttlichen Geheimnisse hüteten, so verhielt sich Aaron zu Moses, Petrus zu Jesus und ʿAli zu Mohammed. Innerhalb jeder Periode gab es sieben Imame als Beauftragte des „Schweigenden“, und der letzte sei zugleich der Prophet der neuen Periode geworden. Nun aber war die durch Mohammed eingeleitete Ära mit dem siebenten Imam auch an ihr Ende gekommen. Die vorgefaßte Periodisierung der Weltgeschichte vermittelte, ähnlich wie der Marxismus im 19. und 20. Jahrhundert, dem Gläubigen das erregende Gefühl, an der Schwelle eines neuen Zeitalters zu stehen. Im abendländischen Mittelalter gab es übrigens eine ähnliche Ideologie in der Lehre des Abtes Joachim von Fiore (gest. 1202), der, von der christlichen Trinitätslehre ausgehend, auf die alttestamentliche Zeit des Vaters und die neutestamentliche des Sohnes eine bald anbrechende Herrschaft des Geistes ohne die Bindung an eine heilige Schrift folgen lassen wollte.
In Buchara nannte man die ismailitischen Agitatoren schlicht „die Ägypter“, denn in dem Land am Nil hatte das neue Zeitalter schon real existierende Gestalt angenommen. Dort hatten die Sektierer mit der Dynastie der Fatimiden ein Gegenkalifat aufgerichtet, das von 907 bis 1171 währte. Von da zogen ihre Sendboten in alle Winkel der islamischen Welt. Selbst am Hofe der Samaniden hatten sie für schwere Konflikte gesorgt. Der Emir Naṣr ibn Aḥmad, übrigens derselbe, dessen Münzen der Kaufmann Ibrāhīm ibn Yaʿqūb auf dem Markt in Mainz fand, war ihrer Lehre zugetan gewesen, aber sein Sohn und Nachfolger Nūḥ ibn Naṣr räumte mit ihnen nach einer blutigen Palastrevolution auf und träumte sogar davon, nach Ägypten zu ziehen und das Übel mit der Wurzel auszurotten. Heute sind die Ismailiten nur noch eine harmlose kleine Gemeinschaft mit etwa 20 Millionen Anhängern. Was machte sie damals so gefährlich? Avicenna betont nicht umsonst, daß er schon im unmündigen Alter Distanz wahrte.
Im Koran, auf den sich die Ismailiten auch beriefen, war von ihren Sonderlehren nichts zu lesen, jedenfalls nicht für die Augen der naiven Gläubigen. Aber das offenbarte Wort hatte einen tieferen inneren Sinn, den die Sendboten als Beauftragte des verborgenen Imams enthüllen konnten. Zur Vorbereitung säten sie systematisch den Zweifel in die Aussagen, die dem Gebildeten ungereimt und anstößig erscheinen mochten. Nach dem arabischen Wort bātin („Inneres“) hießen die Ismailiten auch Batiniten. Wenn man aber einmal anfing, in den äußeren Wortlaut einen tieferen Sinn hineinzulesen, war es fast unvermeidlich, daß auch einmal ein von der griechischen Philosophie Ergriffener seine Weisheit in dem heiligen Text wiederfand. Die Ismailiten, die in seinem Elternhaus verkehrten, standen, wie sein Bericht vermuten läßt, im Banne eines gewissen an-Nasafī, der am Anfang des zehnten Jahrhunderts in der mittelasiatischen Region die neuplatonischen Spekulationen über den kosmischen Intellekt und die Weltseele mit den spezifisch ismailitischen Lehren in dem Sinne verbunden hatte, daß die Propheten dem Intellekt und die „Schweigenden“ der Weltseele zugeordnet seien. Er war 943 ein Opfer der Säuberung unter Nūḥ ibn Naṣr geworden, und er ist wahrscheinlich mit dem „Missionar der Ägypter“ gemeint, falls sich nicht ein jüngerer Zeitgenosse dahinter verbirgt. In der ägyptischen Zentrale verhielt man sich übrigens diesen Neuentwicklungen gegenüber reserviert. Es spricht aber für die geistige Lebendigkeit in den östlichen Provinzen, daß es gerade hier zu solchen Diskussionen und in breiteren Kreisen zu einer Aufgeschlossenheit gegenüber der griechischen Bildung kam.
Interessant ist hier die Erwähnung des indischen Rechnens. Es wurde später auch das unsere mit den sogenannten arabischen Ziffern und der Null und bedeutete einen großen Fortschritt gegenüber den umständlichen römischen Zahlen. In die islamischen Länder drang es, wie an Avicennas Mitteilung zu sehen ist, auch auf nichtliterarischem Wege über den Handelsverkehr ein. Die Gelehrten bevorzugten aber hier noch lange nach griechischem Vorbild das Rechnen mit Buchstaben, was, wie Experten versichern, nicht schlechter zu handhaben war als das indische.
„Dann kam nach Buchara Abū ʿAbdallah an-Nātilī und behauptete, ein Philosoph zu sein. Mein Vater ließ ihn in unserem Hause wohnen, und er nahm es auf sich, mich zu unterrichten. Vor seiner Ankunft hatte ich mich mit der Rechtswissenschaft beschäftigt und war deswegen bei Ismāʿīl, dem Asketen, ein- und ausgegangen. Ich gehörte zu den gewitztesten Fragestellern und hatte mich mit den bei diesen Leuten geläufigen Methoden des Argumentierens und der Art und Weise, mit denen man dem Gegner entgegentritt, vertraut gemacht.“
Das Recht, mit dem sich Avicenna zuerst beschäftigte, ist das islamische Religionsgesetz, die Scharia, mit dessen Kenntnis er offenbar seinem Vater in den Staatsdienst nachfolgen wollte. Ismāʿīl, genannt „der Asket“, war ein bekannter Jurist der in Mittelasien verbreiteten hanafitischen Schule, die in vielen Einzelheiten liberaler war als die drei anderen maßgeblichen Richtungen der Schafiiten, Malikiten oder Hanbaliten. Sie erlaubte zum Beispiel den Genuß des Weines. Da es nach dem Selbstverständnis des Islams eine Trennung von Staat und Kirche nicht gibt, waren die Juristen zugleich Theologen, sie urteilten über Beten und Fasten wie über die Steuern oder das Familien- und Kriminalrecht. Die Hanafiten hatten z.B. ein vorbildliches Bewässerungsrecht ausgearbeitet, was für die Landwirtschaft dieser Region von Bedeutung war.
Der wandernde Philosoph an-Nātilī ist kein Unbekannter, er hat sich auf verschiedenen Gebieten auch literarisch geäußert, von ihm stammt z.B. eine Bearbeitung der Heilpflanzenkunde des Dioskurides. Erwägungen zur natürlichen Lebensdauer des Menschen, die der noch zu erwähnende Kollege al-Birūnī in seiner Chronologie zitiert, machen einen methodisch so unausgereiften Eindruck, daß die folgende selbstgefällige Schilderung des Wunderkindes nicht unglaubwürdig klingt.
„Dann begann ich, bei an-Nātilī das Buch der Eisagoge zu studieren, und als er mir die Definition der Gattung vortrug, daß sie das ist, was von vielen der Art nach verschiedenen Dingen als Antwort auf die Frage ‚Was ist es?‘ ausgesagt wird, versetzte ich ihn in Entzücken, indem ich diese Definition auf eine Weise begründete, wie er sie noch nie gehört hatte. Er verwunderte sich höchlichst über mich und welches Problem er auch immer vorlegte, so wußte ich es besser darzustellen als er. Er beschwor meinen Vater, daß ich mich mit nichts anderem beschäftigen solle als mit der Wissenschaft. So studierte ich bei ihm die äußeren Aspekte der Logik. Von ihren Feinheiten aber hatte er keine Ahnung. Da begann ich, die Bücher für mich zu lesen und die Kommentare nachzuschlagen, bis ich die Wissenschaft der Logik gemeistert hatte. Was das Buch des Euklid anlangt, so las ich bei ihm vom Anfang an fünf oder sechs Figuren, dann ging ich selbständig daran, das ganze übrige Buch zu analysieren. Danach ging ich zum Almagest über, und als ich mit seinen Präliminarien fertig und zu den geometrischen Figuren gekommen war, sagte an-Nātilī zu mir: ‚Befasse dich selbständig mit ihrem Studium und ihrer Analyse, dann lege sie mir vor, damit ich dir das Richtige vom Falschen unterscheiden kann.‘ Der Mann war auch in dem Buch nicht beschlagen, so mußte ich es analysieren. Viele Probleme begriff er erst dann, als ich sie ihm darlegte und verständlich machte. Dann verließ mich an-Nātilī in Richtung Gurgentsch.“
Die zitierte Eisagoge, die hier mit ihrem griechischen Namen in arabischer Umschrift erscheint, ist die von dem neuplatonischen Philosophen Porphyrios (234 – nach 301 n. Chr.) verfaßte knappe „Einleitung“ zu den logischen Schriften des Aristoteles. Auch das mathematische Standardwerk der Elemente des Euklid (um 300 v. Chr.) und die Große Zusammenstellung des Astronomen Ptolemaios (um 100 – um 165 n. Chr.), meist mit ihrem halb arabisierten Titel Almagest genannt, lagen in guten Übersetzungen vor, die im neunten Jahrhundert in Bagdad entstanden waren.
Das zuletzt genannt Gurgentsch war damals die Hauptstadt des nordwestlich von Buchara gelegenen kleinen Staates von Choresm am linken Ufer des Amudarja vor seiner Mündung in den Aralsee, der unter der Sowjetmacht zur Umweltkatastrophe verkommen ist. Der Ort heißt jetzt Kunja Urgentsch, er ist nicht zu verwechseln mit Urgentsch, dessen Flughafen bei Touristenreisen nach der Märchenstadt Chiwa benutzt wird und näher zu Buchara gelegen ist. Die in Choresm regierenden Fürsten, Choresmschahs genannt, taten sich wie die Samaniden als Mäzene von Literatur und Wissenschaft hervor. Davon zu profitieren erschien an-Nātilī offensichtlich lohnender als der anstrengende Unterricht des frühreifen Schülers, der in seinem Bericht folgendermaßen fortfährt:
„Ich aber widmete mich dem Studium der Bücher, der Grundtexte wie der Kommentare, aus den Gebieten der Naturwissenschaft und der Metaphysik, und die Tore der Wissenschaften taten sich vor mir auf. Dann bekam ich Verlangen nach der Wissenschaft der Medizin und las die dazu verfaßten Bücher. Die Medizin gehört nicht zu den schweren Wissenschaften. Deshalb tat ich mich in kürzester Zeit darin so hervor, daß tüchtige Ärzte anfingen, bei mir die Wissenschaft der Medizin zu studieren. Ich kümmerte mich um Kranke, und das gewährte mir unbeschreibliche Einsichten in die Behandlungsmethoden, wie man sie nur aus der Erfahrung gewinnt. Zugleich betrieb ich weiter die Rechtswissenschaft und beteiligte mich an Disputationen darüber, und darüber war ich sechzehn Jahre alt geworden.“
Avicenna erweckt hier den Anschein, als sei er auch in der Medizin ein Autodidakt gewesen. Aus anderer Quelle aber ist bekannt, daß er den Unterricht al-Qumrīs, des Leibarztes von al-Manṣūr ibn Nūḥ, besucht hat.
„Danach widmete ich mich für ein anderthalbes Jahr ganz der Wissenschaft und der Lektüre. Ich wiederholte das Studium der Logik und aller Teile der Philosophie. Zu dieser Zeit schlief ich nicht eine Nacht ganz durch und am Tage beschäftigte ich mich mit nichts anderem. Ich legte bei mir eine Sammlung von Mappen an, und bei jedem Argument, das ich untersuchte, stellte ich fest, welche logischen Prämissen darin enthalten waren, wie sie anzuordnen sind und welche Schlußfolgerungen sie möglicherweise ergeben. Und ich erwog die Voraussetzungen ihrer Prämissen, bis daß ich mir in dieser Frage Gewißheit verschafft hatte. Wenn ich in einer Frage in Verlegenheit war und nicht auf den Mittelbegriff beim Syllogismus kam, pflegte ich deswegen die Moschee aufzusuchen und zum Schöpfer des Alls zu beten und zu flehen, daß er mir das Verschlossene auftun und das Schwere leicht machen möge. In der Nacht kehrte ich in meine Behausung zurück, stellte die Lampe vor mich hin und widmete mich dem Lesen und Schreiben. Wenn mich der Schlaf übermannen wollte oder ich eine Schwäche verspürte, wandte ich mich einem Becher Wein zu, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann kehrte ich zu meiner Lektüre zurück. Und wenn immer mich ein Schlummer überwältigte, sah ich ebendiese Probleme im Traum. Viele Fragen sind mir im Schlaf klar geworden. Ich fuhr auf diese Weise fort, bis bei mir alle Wissenschaften fest eingeprägt waren und ich sie so begriffen hatte, wie es einem Menschen möglich ist. Alles, was ich in dieser Zeit gelernt habe, ist so, wie ich es jetzt weiß, bis heute ist nichts dazugekommen.“
Der Mittelbegriff, um den Avicenna ringen mußte, war die übergeordnete Art oder Gattung, die als gemeinsame Größe aus den beiden Prämissen eliminiert wird, um im Schluß zu einer neuen Aussage zu gelangen, also im klassischen Schulbeispiel: „Sokrates ist ein Mensch.“ „Alle Menschen sind sterblich.“ Daraus folgt unter Streichung des gemeinsamen Mittelbegriffes „Mensch“: „Sokrates ist sterblich.“ Denn wenn man nur diesen letzten Satz aufnimmt, wird der eliminierte Mittelbegriff, der seine Wahrheit verbürgt, nicht ohne weiteres deutlich. Interessant und nicht etwa nur Ausdruck kindlicher Naivität ist die Wertschätzung des Traumes als Mittel zur Wahrheitsfindung. In seinen späteren philosophischen Schriften lieferte er dafür Begründungen.
Der Wein, den er sich nach den Regeln der hanafitischen Schule gestattete, hat später in seinem Leben eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, auch im Umgang mit seinen Schülern. Bezeichnend ist, wie er in seinem Lehrgedicht über die Heilkunde den ärztlichen Appell zur Mäßigung formuliert hat: „Hüte dich davor, immerzu betrunken zu sein. / Und wenn es sich so ergibt, dann einmal im Monat.“ Verwunderlich ist die weiter unten wiederholte Feststellung, daß sein Wissen seit dieser Zeit gleich geblieben sei. Wir wissen nicht, wann er die Autobiographie seinem Schüler diktiert hat. Wenn es gleich nach ihrer ersten Begegnung war, hatte er eine turbulente Periode hinter sich, in der er tatsächlich nichts Neues dazutun konnte. Bis dahin aber blieb ihm noch etwas Zeit.
„So ging es, bis ich die Wissenschaft der Logik, der Naturkunde und der Mathematik gemeistert hatte und bei der ‚göttlichen Wissenschaft‘ angelangt war. Ich las das Buch der Metaphysik, aber ich verstand den Inhalt nicht und mir blieb dunkel, was der Verfasser sagen wollte, bis daß ich die Lektüre vierzigmal wiederholt hatte und es auswendig wußte, wobei ich es trotzdem nicht verstand und nicht, was damit gemeint sein sollte. Ich verzweifelte an mir selbst und sprach: ‚Dies ist ein Buch, zu dessen Verständnis es keinen Zugang gibt.‘ Eines Tages zur Zeit des Nachmittagsgebets befand ich mich bei den Buchhändlern, als ein Makler herantrat und in seiner Hand einen Band hielt, den er zum Verkauf ausrief. Er reichte ihn mir, aber ich gab ihn angewidert zurück, weil ich meinte, daß ihn zu kennen keinen Nutzen brächte. Er aber sagte mir: ,Kaufe ihn doch, sein Besitzer braucht das Geld. Er ist billig, und ich verkaufe ihn dir für drei Dirhams.‘ So kaufte ich ihn, und siehe da, es war das Buch von Abū Naṣr al-Fārābī Über die Intentionen des Buches der Metaphysik. Ich kehrte nach Hause zurück und ging eilends an die Lektüre. Da ging mir mit einem Mal der Sinn dieses Buches auf, denn ich kannte es ja bereits auswendig. Ich freute mich darüber und gab am folgenden Tag ein reichliches Almosen für die Armen aus Dankbarkeit gegen Gott, der erhaben ist.“
Der arabische Ausdruck warrāq für den Buchhändler bedeutet eigentlich soviel wie „Papiermacher“ oder „Papierhändler“. Im Jahre 751 hatte ein chinesischer Kriegsgefangener nach einer Schlacht am Flusse Talas in Kirgisien das Geheimnis des billigen und glatten Beschreibstoffes verraten, bald nahm in Samarkand eine Papiermühle den Betrieb auf. Die Produktion verbreitete sich rasch weiter nach Westen. Im neunten Jahrhundert ließ sich Ḥunain ibn Isḥāq in Bagdad ein extra starkes Papier herstellen, weil ihm die Blätter seiner Übersetzungen in silbernen Dirhams aufgewogen wurden. Zusammen mit der arabischen Schrift, die eine viel schnellere Schreibgeschwindigkeit ermöglicht als die lateinische, war das Papier ein bedeutender Kulturfaktor. Das billige Buch diente, wie an Avicennas Beispiel zu sehen, neben dem traditionellen Lehrer-Schüler-Verhältnis als Kommunikationsmittel, und dies auch über zeitliche und räumliche Entfernungen hinweg. Der Handel mit Büchern aus zweiter Hand wie auch mit anderen Waren vollzog sich vielfach so, daß sie ein Makler nur kommissarisch übernahm und beim Verkauf eine Provision erhielt.
Die MetaphysikÜber die Intentionen des Buches der MetaphysikMetaphysikDas Buch der Buchstaben;