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»Die gefangene Prinzessin«
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Königreich der Träume
Sequenz 2
von I. Reen Bow
Die Suche nach der Wahrheit könnte dich deine Freiheit kosten.
Mit hektischen und schweißtreibenden Bewegungen rückt Dave die Möbel an die Kabinentür der Rettungseinheit. Die Nahrungsdosen in den Regalen des Vorratsschrankes schiebt er mit schnellen Armbewegungen zu Boden; er ignoriert dabei den Schmerz, den sein Fuß ihm meldet, weil ihm ein paar Speisen auf die nackten Zehen fallen. Gleich nachdem der Schrank die Tür blockiert, beeilt sich Dave, die Konserven wieder in die Regale zu befördern, um die Barriere zu erschweren. Anschließend folgen Bett, Tisch, Stühle und sogar der Erste-Hilfe-Kasten – mehr Möbelstücke stehen ihm nicht zur Verfügung. Einzig mit dem Laptop, dem Funkgerät, einem Küchenmesser und der Taschenlampe eilt er an die Wand, an der gerade noch das Bett stand und setzt sich mit den Sachen auf die Kissen, die er zuvor auf den Boden geschmissen hat.
Seine Atmung ist schnell, durch die intensive Umräumaktion ist er ins Schwitzen geraten. Mit der Armbeuge wischt er den Schweiß hastig vom Gesicht, während er mit der zitternden Hand das Funkgerät umklammert, mit dem er die Grenzwache seit Stunden schon nicht erreichen kann. Es fällt ihm nicht leicht, das Gerät beiseitezulegen, er krallt sich so stark daran fest, dass seine Fingerknöchel blass werden. Sollte die Verbindung zur Sonnengarde wiederhergestellt werden, will er es nicht verpassen. Er muss nur durchhalten, hier sitzen und überleben – wie schwer kann das wohl sein?
Dave fokussiert sich auf die Barrikade und die Tür dahinter, von der er eine winzige Ecke sieht. Durch seinen Kopf rasen keinerlei Gedanken, lediglich die Angst beherrscht ihn und bringt sein Herz zum Pochen.
All die Schutzmaßnahmen haben nichts gebracht, seit einer Weile rammen die Monster gegen die Tür, kratzen daran und geben unheimliche Laute von sich, die Daves Blut gefrieren lassen. Trotzdem muss er weiterhin an den Codes für ein weiteres Schutzskript schreiben, was das Zittern der Finger nicht gerade erleichtert. Die Hand, die das Funkgerät hält, stabilisiert die Balance des Laptops auf seinen Oberschenkeln; das gelingt ihm mit viel Konzentration, die er für seine Denkleistung beim Programmieren benötigt. Das Skript ist fast beendet, nur die Fertigstellung verlangt ihm alles ab. Die wichtigen Zusammenhänge muss er mit langem Nachdenken erschließen. Mehrmals korrigiert oder löscht er Befehlseingaben, weil er sich aufgrund eines Geräusches vor der Kabine vertippt. Er müsste sich für ein paar Stunden schlafenlegen, um konzentrierter zu sein, doch das Adrenalin hält ihn wach.
Dieses beklemmende Erlebnis lässt ihn an seine Kindheit zurückdenken, an Abende, die sein Bruder Steven dafür genutzt hat, Dave in einen unheimlichen Keller zu sperren und ihm mit keuchendem Atem und schaurigem Flüstern Angst einzujagen. Dieses Mal eilen seine Eltern ihm nicht zur Hilfe, setzen ihm keine Therapeuten vor, nehmen ihn nicht tröstend in den Arm. Er ist auf sich gestellt und muss darauf vertrauen, dass die Traumsequenz mit der Zeit milder wird. Nur wann wird das sein?
Die Erscheinungen der Träumerin sieht er nicht, aber deren Laute werden weiterhin beängstigender. Die düsteren Fantasien aus Daves Kindheit kommen hoch, jeder Alptraum, den er jemals hatte, manifestiert sich in seinen Gedanken und macht das Unaussprechliche vor der Tür real. Das Gefühl, er würde, noch ehe die Sequenz in seine Kabine eindringt, verrückt werden, lässt ihn nicht los. Er weiß, dass er sich nicht an Angst krallen darf, er braucht einen echten Halt. Jessicas Blick, den sie ihm zugeworfen hat, als sie die Kabine verließ, ist das Einzige, das ihm sofort in den Sinn kommt. Diesen Ausdruck hat er schon einmal gesehen, in einem anderen Leben oder einer anderen Zeit. War er jetzt etwa derjenige, dem die Erinnerungen abhandengekommen sind?
»Jey, bitte hilf mir«, flüstert er. Es ist eher ein Hauchen, denn seine Lungen haben für nichts mehr Platz außer für seine Todesangst.
Dave führt das Funkgerät so nah an seine Lippen, wie Jessica es getan hat, drückt den Übertragungsknopf und nennt ihren Namen; als Antwort folgt ein Knistern und sonst nichts. Auch mit dem Laptop bekommt er keinen Kontakt zur Grenzwache. Er fühlt sich allein und im Stich gelassen.
Plötzlich ertönt ein Klang vor der Kabine, eine Art Stimme, die sich tief in Daves Knochenmark bohrt, und ihm bricht kalter Schweiß aus. Wie umfangreich muss die Fantasie der Träumerin sein, um von einem Wesen zu träumen, das so einen Laut von sich gibt?
Daraufhin wird das Hämmern gegen die Tür heftiger, mehrere Suppendosen fallen aus den Regalen, eine rollt vor Daves Füße. Die Barriere ähnelt im Gegensatz zu dem programmierten Schutz einem Streichholz, das weiß er. Die einzige Waffe, die er besitzt, ist das Küchenmesser, das er jetzt mit der Klinge nach vorn hält. Er klemmt den Laptop zwischen seine Schenkel, steckt das Funkgerät in den Bund seiner Hose und packt das Messer mit beiden Händen. So sitzt er eine Weile da, rechnet damit, dass die Möbel jede Sekunde wie Spielzeug zur Seite geschoben werden und er kämpfen muss.
Auf einmal fließt unterhalb der Tür eine zähe Substanz in den Raum, was eigentlich nicht möglich ist, denn der Mechanismus riegelt hermetisch ab. Aber es handelt sich um einen Alptraum, in dem Dave hier festsitzt und tatenlos zusehen muss, wie diese schwarze, glänzende Pfütze sich wie flüssiges Kerzenwachs über den Boden verteilt und die blendendweiße Kabine verunreinigt.
Die Angst packt ihn noch stärker, er braucht auf der Stelle eine Erhöhung, denn er will nicht herausfinden, ob diese Substanz giftig ist. Alles was er dazu nutzen kann, ist der Laptop, das Funkgerät oder die Suppendose. Die ersten beiden Dinge benötigt er noch für den Fall, dass er überlebt, also stellt er die Dose richtig hin und balanciert mit einem Bein darauf, während er sich mit dem Rücken an der Wand abstützt. Wie lange wird er in dieser Position verharren können? Am Ende muss er den Laptop oder das Funkgerät vielleicht doch opfern.
Dazu kommt er nicht, denn schon bald bildet sich aus der Flüssigkeit heraus eine Figur, die glatt und langsam aus der Pfütze emporsteigt und näherkommt. Währenddessen bekommt dieses Wesen mehr Form, schlierige Stränge bilden eine Art Krone. Das Erste, das Dave in den Sinn kommt, ist die Dame aus dem Schachspiel: elegant, wunderschön und gefährlich.
Er holt mit dem Messer aus und trifft diese Gestalt. Die Klinge gleitet widerstandslos hindurch, zieht lange Fäden aus dem glitschigen Körper heraus, zerstört ihn aber nicht. Mehrmals schneidet er in das Monster hinein ohne einen rettenden Erfolg.
Zwischenzeitlich breitet sich die Pfütze im gesamten Raum aus. Plötzlich schießt eine schwarze Hand aus der Masse und umklammert Daves Fußgelenk. Nie dagewesene Schmerzen wandern von den Muskeln in die Knochen und stören sein Gleichgewicht, was ihn schließlich von der kleinen Erhebung zu Fall bringt.
Vornüber stürzt er in die Sequenzpfütze und verliert dabei das Funkgerät und den Laptop. Die Schmerzen, die ihn nun peinigen, locken entsetzliche Schreie aus seiner Kehle; die Substanz ist wie Säure, die alle Nervenzellen malträtiert.
Es muss ihm gelingen, auf die Beine zu kommen und sich auf das Notebook zu stellen. Die Konzentration auf etwas anderes zu bringen als den Schmerz, ist kaum möglich. Mit viel Kraft und bebenden Gelenken rappelt er sich auf und sobald er halbaufgerichtet dasteht, stürzt sich die schwarze Schachfigur auf ihn und begräbt Dave gänzlich unter sich.
Schachmatt.
Genau in diesem Moment wache ich auf und finde mich in meinem Quarantäneraum der medizinischen Grenzwache-Notstation wieder. Es dauert eine Weile, bis ich weiß, wo ich bin; meine Atmung ist schnell, mein Herz übertönt die Stille und ich bin von Dunkelheit umgeben. Kein Keuchen vor meiner Tür, keine Möbelbarrikade, keine Schmerzen und vor allem kein Dave.
Ein Alptraum.
»Nicht echt«, sage ich und fahre mit der Hand über mein Gesicht.
Die Ungewissheit treibt mich aus den Kissen, ich eile zum Tisch, um dann doch schnell wieder zum Bett zurückzukehren, um die Nachtischlampe anzumachen – Sprachsteuerung ist noch immer nicht so meins. Das Tablet, das mir Kate Connor am Tag meines Quarantänebeginns zur Verfügung gestellt hat, liegt direkt neben dem Kissen. Der Einschaltknopf reagiert nicht auf mein mehrfaches Betätigen, das Gerät bleibt schwarz.
»Komm schon, geh an!«
Der Akku ist wahrscheinlich leer, kein Wunder, wenn ich ständig mit Dave videotelefoniere. Ich drücke das Tablet an mich, als wäre es mein größter Schatz und suche den Raum nach einem Ladekabel ab. Dabei schalte ich jede Lampe ein, auch die Deckenbeleuchtung.
Hier sieht es nicht aus wie in einem Krankenraum, eher wie in einem Hotelzimmer. Werden hier etwa überwiegend Touristen von ihren Traumkontaminierungen behandelt oder ist das ein Zugeständnis der Sean-Corporation an ihre loyalen, fleißigen Angestellten, die gelegentlich ihr Leben aufs Spiel setzen? Das Zimmer ist viel zu groß für mich, es hat neben dem Bett auch eine Sofaecke mit einem Zeitschriftentisch und ein paar zusätzlichen Sesseln, falls ich mal Besuch empfangen möchte. Bis auf Rick und meinem zuständigen Pfleger Lukes kommt aber niemand her, obwohl die gesamte Sequenzwacht unter Quarantäne steht. Im Moment ist es Dave, den ich sehen will. Was wenn das kein Alptraum war, sondern Gedankenübertragung? Natürlich, ich bin total verschlafen und mein Gehirn hat noch nicht in den Wachmodus gewechselt, aber selbst wenn ich bereits mit Kaffee vollgepumpt und vollkommen klar im Kopf wäre, für mich klingt gerade alles logisch und unmöglich zur gleichen Zeit.
Wo ist das verdammte Kabel? Auf der Suche danach hebe ich Sofakissen hoch, schaue unter das Bett und öffne Schreibtischschubladen; bin völlig kopflos, so wie auch Dave im Traum war. Die Bilder, in denen ich ihn sich vor Schmerz winden sehe, lassen mich noch wahnsinniger, beinahe panisch nach dem Ladekabel suchen. So wird das nichts. Ich bleibe mitten im Raum stehen und schließe die Augen. Was hat Kate zum Akku gesagt?
»Der Tisch funktioniert auch als Induktionslader. Lass das Tablet ruhig über Nacht dort liegen.«
In zwei Schritten bin ich beim Schreibtisch und lege das Tablet dort ab, wobei ich mit meinen Fingern ungeduldig auf der Tischplatte trommele, bis die Lade-LED rot aufleuchtet. Ein paar weitere Sekunden warte ich ab und mache das Gerät an. Das Einschaltintro erscheint und ich gehe während der Wartezeit ein wenig im Raum umher, behalte dabei den Bildschirm stets im Auge.
Ich hasse diese Alpträume. Auf der Notstation bin ich so gut wie nie allein, doch in der Nacht, wenn die anderen schlafen, bin ich meinen Gedanken ausgeliefert. Und ich bin im Auswertungsmodus, verarbeite all das am Tag Erlebte und Besprochene. Es wird viel gesprochen, ich fühle mich wie ein Kind, das Geschichten erzählt bekommt. Und wirklich jedes Gespräch ist wie eine Märchenstunde – ich weiß nicht, ob auch nur ein Bruchteil des Gesagten wahr ist. Vor allem ist es ermüdend, da ich das Gefühl habe, mir diese Informationen merken zu müssen – eine anstrengende Vorlesungsreihe über Jessica Blair und das Königreich der Träume.
Und wenn ich dann endlich den ersehnten Schlaf begrüßen möchte, bleibt er lange aus. Ich liege im Bett und bin hellwach. Es ist Ironie, in der Stadt der Träume zu sein und an Schlaflosigkeit zu leiden. Gut, dieser Ort macht einem das Träumen nicht unbedingt schmackhaft, selbst wenn mir einige mehrfach beteuert haben, dass es in Dream City so gut wie nie Alpträume gibt. Der Schlaf meidet mich dennoch. Er setzt zur späten Stunde ein und endet Punkt fünf Uhr, wenn Rick Morales mich zu einer quälenden Sporteinheit abholt.
Ich schaue zur Wanduhr, kurz vor fünf, Rick wird jeden Augenblick vor meiner Tür stehen, ich muss mich also beeilen.
Sobald das Tablet endlich betriebsbereit ist, stürze ich zum Tisch und schalte die Kommunikations-App an, die Dave und ich seit ein paar Tagen intensiv nutzen – zumindest immer dann, wenn man mir Zeit dafür gewährt, denn hier haben einige Menschen Fragen an mich und ich muss Untersuchungen über mich ergehen lassen.
Die App hat ein Symbol in Form eines aufgeklappten, silbernen Taschenspiegels und heißt Kathys Funkenspiegel, warum auch immer. Während die Anwendung startet, geht der Klappspiegel auf und zwischen ihm erscheint ein Regenbogen, der mich bei der ersten Benutzung irritiert hat. Inzwischen freue ich mich auf diese kleine Animation, sie hebt die Vorfreude auf den Menschen, dem ich viel zu verdanken habe und der mir längst mehr als ein Freund ist. Die App-Oberfläche ist so gestaltet, dass die Bedienelemente in dem unteren Bereich des Spiegels sind und in dem oberen Kreis erscheint dann das Video. Während der Videotelefonie kann ich für Daves Bild Filter und Masken einstellen. Gestern habe ich virtuell einen Cowboyhut auf seinen Kopf gesetzt und dazu einen passenden Schnurrbart auf die Oberlippe gepinnt. Er hat mir daraufhin einen Screenshot von meiner Befilterung geschickt: Ich sah wie ein glitzerndes Einhorn aus. Die ganze Umgebung um mich herum funkelte silbern und auf der Stirn saß ein weißes Horn. Dieser Moment war so unbeschwert.
»Wieder ein Alptraum?«, begrüßt Dave mich, kurz nachdem die App startet. Er hat mit meiner frühmorgendlichen Meldung gerechnet, ich habe ihn schon gestern früh kontaktiert.
Der erleichterte Seufzer, den ich von mir gebe, lockert meine Glieder und ich sinke auf den Stuhl hinter mir, während ich meinen Kopf über das Tablet halte und meine Locken nach vorn fallend mein Gesicht einrahmen.
»Tolle Mähne«, sagt Dave.
»Entschuldige, ich musste dich auf die Induktionsplatte legen.«
Er unterdrückt ein Gähnen und fährt sich durch sein vom Kissen gestyltes Haar. »Ist nicht gleich Zeit für dein Training?«
»Ich würde ja sagen, dass es der Horror ist, aber das wäre maßlos übertrieben.«
»Jeder hat Probleme, selbst die teuersten Schuhe können drücken.«
»Wenn du müde bist, wirst du philosophisch«, sage ich. »Hast du wieder die halbe Nacht mit Rick an Programmen geschrieben?«
Er nickt und gähnt jetzt doch ausgiebig, was mich ansteckt und ich gleich mitmache, wobei ich meine Hand vor den Mund halte.
»Jup, ewig programmiert«, sagt er dann nicht ganz überzeugend.
Ich weiß, dass ihn andere Dinge wachhalten, das Kratzen und das Gestöhne vor seiner Tür ist kaum zu überhören. Ich möchte ihn auch nicht andauernd darauf hinweisen, in welcher Lage er sich befindet, deswegen verschweige ich ihm meine Alpträume, in denen er auf unterschiedlichste Arten stirbt. Auch er spricht nicht von seinen Ängsten und wenn die Geräusche der Traumsequenz durch die Lautsprecher dringen, versucht er, lauter zu reden oder räuspert sich, doch ich bin nicht blöd, ich höre die schaurigen Klänge, sie sind es, die mich so real träumen lassen.
»Ich habe heute eine kleine Überraschung für dich«, sagt er.
»Wirklich? Was ist es?«
»Eine Überraschung, Jey. Warte bis zum Frühstück, dann zeige ich sie dir.«