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Widmung
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Mona Kasten bei LYX
Impressum
Lonely Heart
ROMAN
Rosie Hart ist überglücklich: Ihre absolute Lieblingsband Scarlet Luck hat zugesagt, für ein Interview in ihre Indie-Webradio-Show zu kommen. Allein der Gedanke daran, mit Logan, Thorn, Hunt und Beast in einem Raum zu sein, lässt sie vor Aufregung fast die Wände hochgehen. Nicht nur verfolgt Rosie die Entwicklung der Band seit sieben Jahren, ihre Musik hat sie auch durch die dunkelste Zeit ihres Lebens begleitet. Vor allem über Adam Sinclair möchte sie mehr erfahren, den Schlagzeuger, den alle nur Beast nennen und über den kaum etwas bekannt ist, außer dass er seit Jahren keine Berührungen mehr duldet – von niemandem. Rosie ist entschlossen, das Interview zum besten Interview zu machen, das die Rosie Hart Show je gesehen hat. Doch als die Band endlich in ihrem kleinen Studio steht, passiert ihr ein unfassbarer Fauxpas. Schlimm genug, dass das Interview auf der Stelle abgebrochen wird, der Vorfall geht auch noch viral und Wellen aus Hass trommeln auf Rosie und ihre Show ein. Als sie sogar von einigen Fans auf offener Straße angegangen wird, erfährt auch die Band davon. Um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass sie die Sache hinter sich lassen wollen, laden sie Rosie kurzerhand auf eines ihrer Konzerte ein. Plötzlich steht Rosie wieder vor Beast. Beast, in dessen Augen sie einen tiefen seelischen Schmerz erkennt. Beast, der ihr Herz so schnell klopfen lässt. Beast, den sie niemals wieder berühren darf …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für C.
Treading Water – The Vamps
Would You – The Vamps
Kill My Time – 5 Seconds of Summer
Beside You – 5 Seconds of Summer
Thin White Lies – 5 Seconds of Summer
My Time – BTS
Beautiful & Brutal – Plested
Lost – Blake Rose
Signal – Joris
Undercover – Kehlani
For A Second – Michael Schulte
WOW – Zara Larsson
slower – Tate McRae
You – Regard, Troye Sivan, Tate McRae
Let’s Not Fall In Love feat. Jacquees – Kodie Shane
Ich lehnte mich ein Stück vor, um meinen Mund dichter an das Mikro zu bringen. »Welche Geschichte erzählt First Dreams?«, fragte ich und richtete meinen Blick auf das Mädchen, das mir gegenüber auf der Couch saß.
Ihr braunes Haar war in einem engen Knoten an ihrem Hinterkopf befestigt; eine Frisur, die in starkem Kontrast zu ihrem Outfit aus einem Metallic-Blazer und Boyfriend-Jeans mit breiten Rissen an den Oberschenkeln stand, durch die ihre gebräunte Haut blitzte. Ashley Cruz war von Kopf bis Fuß ein Star. Das erkannte man nicht nur an ihrem perfekten Look, sondern auch an ihrer Haltung und der Art, wie sie meine Fragen beantwortete.
»First Dreams erzählt von mir. Dem Mädchen, das ich gewesen, und der Frau, zu der ich in den letzten Jahren herangewachsen bin. Ich befinde mich im Moment an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich das Gefühl habe, mich nicht nur für eine Geschichte entscheiden zu müssen«, gab sie zurück und lehnte sich auf der braunen Ledercouch zurück. Sie zog ihre Beine hoch und machte es sich bequem.
Innerlich jubelte ich. Auch wenn sie mir gerade die Antwort präsentiert hatte, die sie in ungefähr jedem Interview ihrer Promo-Tour für ihr neues Album gegeben hatte. Dass sie in meiner Gegenwart so entspannt aussah, wertete ich als vollen Erfolg. Genau das wollte ich, wenn Leute zu mir in die Show kamen: ihnen das Gefühl geben, gehört zu werden. Und am allerwichtigsten war mir, dass sie sich wohlfühlten.
»Deine alten Alben haben immer eine konstante Geschichte erzählt, und ich habe sie von der ersten Sekunde an gemocht«, sagte ich und warf einen kurzen Blick auf die Notizen, die vor mir auf dem Tisch lagen. Eigentlich brauchte ich sie nicht, aber kurz mit den Fingern darüberzufahren und mir die markierten Zeilen anzusehen, gab mir ein Gefühl von Sicherheit. »Aber als ich First Dreams zum ersten Mal gehört habe … Ashley, ich bin ausgeflippt.«
Ihre Augen leuchteten auf.
»Man spürt das, was du gerade gesagt hast, vom ersten bis zum letzten Song. Bei We Were Crazy bin ich aufgesprungen und musste einfach tanzen, während mir bei I Think It Was You Tränen über die Wangen geströmt sind. Ich habe bei keinem deiner Alben so sehr das Gefühl gehabt, dich richtig zu kennen, wie bei diesem.«
Ashley drückte sich eine Hand auf die Brust und verzog geschmeichelt das Gesicht. »Das ist lieb, Rosie. Bei diesem Album habe ich mir die Freiheit genommen, alles von mir zu zeigen.«
»Was auch eine Herausforderung ist. Weil man sich damit verletzlich macht.«
Ich hoffte sehr, dass sie darauf antwortete. Es war schwierig, wenn man keine richtige Frage stellte, manche Interviewpartner reagierten in solchen Situationen gar nicht, und kurz keimte Sorge in mir auf. Die zum Glück unbegründet war, denn Ashley nickte.
»Und das kann ganz schön wehtun. Aber ich habe in den letzten Jahren auch gelernt, dass das nicht immer schlecht ist.«
Jetzt brauchte ich meine Notizen nicht mehr, nicht mal mehr für ein Gefühl von Sicherheit. An das, was sie gesagt hatte, konnte ich direkt anknüpfen. Meine Produktionsassistentin Kayla reckte einen Daumen nach oben, das konnte ich aus dem Augenwinkel erkennen, aber ich versuchte, mich davon nicht ablenken zu lassen.
»Inwiefern?«, hakte ich nach.
Ashley hob eine Schulter. »Meine Fans wissen so, dass sie nicht allein sind. Niemand ist wirklich allein, und das mit Musik auszudrücken, tut einfach gut.«
»Beim Hören deines neuen Albums merkt man, durch wie viele persönliche Konflikte du beeinflusst wurdest. Ich kann mir vorstellen, dass das während des Entstehungsprozesses nicht nur eine Befreiung war«, sagte ich vorsichtig.
In ihren braunen Augen flackerte etwas Dunkles auf. Etwas, das man in jedem der gefühlvollen Songs ihres dritten Albums hören konnte. Etwas, das mich tief berührt hatte, als ich mir die Lieder zu Hause angehört hatte. Das mit den Tränen war nicht einfach dahergesagt gewesen.
»Die letzten Jahre waren hart. Ich habe eine Therapie gemacht und bin auch immer noch dabei, Dinge aufzuarbeiten, die mein Erwachsenwerden im Rampenlicht mit sich gebracht haben. Ich kann nichts daran ändern, dass alle über jedes kleinste Detail meines Lebens Bescheid wissen. Aber so kann ich wenigstens meinen Teil der Geschichte erzählen. Aus meiner Sicht. Ohne Kompromisse.«
Das war es, was ich aus ihr rausholen wollte. Echte Antworten. Echte Emotionen. Genau die Gefühle, die jedes ihrer Lieder transportierte.
»Also war das Schreiben quasi auch eine Art von Therapie?«, fragte ich.
Ashley lächelte. »Genau. Meine Therapeutin hat mir unter anderem dazu geraten, viel zu schreiben. Früher war es immer so, dass ich mich erst an die Songtexte gesetzt habe, wenn ich das Gefühl hatte, etwas vollkommen verarbeitet zu haben. Diesmal war das anders. Ich habe den Schmerz notiert, die Angst, die Freude … einfach alles.«
»Ich finde es toll, wie offen du über deine Therapie sprichst. Ich glaube, das ist genau das, was deine Fans erleben müssen – einen offenen und ehrlichen Umgang mit psychischen Problemen.«
»Denke ich auch. Viele Leute da draußen trauen sich nicht, darüber zu sprechen, oder denken, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. So ging es mir am Anfang auch. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal eine Panikattacke hatte und mich wochenlang zu Hause verkrochen habe, ohne mich irgendwem anzuvertrauen, obwohl ich jeden Tag das Gefühl hatte, einen Herzinfarkt zu erleiden.«
»Das tut mir wirklich leid zu hören. Und ich kann es ein bisschen nachvollziehen. Bei mir war es zwischendurch teilweise so schlimm, dass ich nicht mal mehr einkaufen gehen konnte.« Bei der Erinnerung an die schlimme Phase in meinem Leben verspannten sich meine Schultern, aber ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. Ashley ging derart offen mit mir um, ich wollte ihr dasselbe Vertrauensgefühl geben, das sie mir entgegenbrachte.
Sie schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. »Kenne ich. Ein Hoch auf Lieferservices.«
»Ein Hoch auf Lieferservices«, antwortete ich grinsend und schielte auf meine Notizen, bloß eine Sekunde lang. Dann räusperte ich mich. »Ich flippe ja schon aus, wenn ich einen blöden Kommentar auf Instagram bekomme. Ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn das ganze Netz voll ist mit Schlagzeilen über mich.«
Ashley seufzte kaum hörbar. Ich hatte dieses Thema zuvor mit ihrem Pressereferenten abgeklärt und mir das Go geben lassen, nur deshalb sprach ich sie darauf an. Nach ihrem jüngsten Beziehungsaus vor ungefähr eineinhalb Jahren, nachdem ihr Freund, ein bekannter Rapper, sie in aller Öffentlichkeit betrogen hatte, hatte sie sich sehr zurückgezogen. Ihr neues Album war ein Schlag gegen alle Paparazzi, die versucht hatten, Bilder von ihr zu bekommen, auf denen sie weinte, gegen alle Journalisten, die versucht hatten, ihren Namen durch den Dreck zu ziehen, obwohl sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.
»Inzwischen schaue ich mir das alles gar nicht mehr an. Das Unwissen tut mir gut. Das Handy einfach mal beiseitezulegen und die Welt so für einen Moment auf lautlos zu stellen. Auf diese Weise konnte ich in der letzten Zeit heilen.«
Ashleys Pressereferent gab mir das vereinbarte Zeichen, indem er beide Hände wie für ein Timeout hob. Das war das Signal für die letzte Frage. Ich brauchte eine gute, die das Interview auf einer positiven Note enden lassen würde.
»Ich finde, man spürt mit jedem neuen Song, wie du das mit dem Heilen hinbekommst. Dein neues Album erzählt eine wunderschöne Geschichte über Hoffnung. Wie kann man aus einem schlimmen Tiefpunkt mit so viel Stärke hervorgehen?«
Ashley dachte nach, und ihr Blick verklärte sich einen Moment lang. Sie strich sich übers Haar, obwohl sich keine Strähne aus ihrem Dutt gelöst hatte, dann fuhr sie mit den Fingern über die großen Kreolen in ihren Ohren. »Das ist ein langer Prozess. Mir hat es geholfen, mich zu akzeptieren. Alles an mir, auch die schwierigen Facetten, die Probleme, die Panik, die Angst, nicht gut genug zu sein. Das alles macht mich zu der Person, die ich bin, und im Moment ziehe ich viel Stärke daraus, einfach ich zu sein und mich von niemandem abhängig zu machen. Nicht von der Außenwelt und schon gar nicht von der Meinung anderer. Es gibt nur mich, und das ist mehr als genug.«
Ich spürte, wie sich in meiner Kehle etwas zusammenzog. Ihre Worte berührten mich, und ich musste mich räuspern, um weiterzusprechen. »Das hast du wunderschön gesagt. Ich glaube, davon kann sich jeder von uns vielleicht eine kleine Scheibe abschneiden.« Ich wechselte den Blick von Ashley rüber zur Kamera für die Leute, die per Livestream zugeschaltet waren, nahm die CD von meinem Tisch und hielt sie hoch. »Ashley Cruz’ neues Album First Dreams ist jetzt erhältlich. Vielleicht holt ihr es euch und zieht genauso viel Stärke daraus wie ich.« Ich ließ das Album sinken und strahlte Ashley an. »Vielen Dank, dass du heute mein Gast gewesen bist, Ashley. Ich fand es wundervoll, mit dir zu sprechen, und ich würde mich freuen, wenn wir das in Zukunft wiederholen könnten.«
Sie erwiderte mein Lächeln, und ich spürte, wie sich der Kloß in meinem Hals langsam wieder löste. »Danke, dass ich dein Gast sein durfte. Ich komme gerne wieder.«
Kayla gab mir das Zeichen, und im nächsten Moment erlosch das rote Licht der Kamera und das leise, statische Rauschen in meinen Kopfhörern stoppte jäh. Ich zog sie mir vom Kopf und legte sie auf dem Tisch ab. Dann fuhr ich mir einmal durch die Haare, schüttelte die violett gefärbten Spitzen und stand schnell auf. Doch bevor ich zu Ashley gehen konnte, schwirrten bereits eine Stylistin, ihr Pressereferent und eine Assistentin um sie herum, und ich beschloss, ihnen kurz Zeit zu geben, bevor ich mich verabschiedete.
Kayla kam zu mir herübergelaufen. Auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken ausgebreitet, und ihre braunen Augen funkelten aufgeregt. Ihre Mahagoni-Haare standen in alle Richtungen. Bestimmt war sie sich vor Nervosität immer wieder hindurchgefahren. Schnell hob ich die Hände und richtete ihre Haare, bis die Strähnen wieder fast auf ihren Schultern lagen und der Pony gerade war.
»Das war einfach großartig, Rosie. Groß-ar-tig!«, flüsterte sie so eindringlich, dass ich mir sicher war, die anderen würden uns hören. Allerdings waren sie gerade intensiv damit beschäftigt, Ashleys Nase zu pudern, Haarspray aufzusprühen und in Höchstgeschwindigkeit auf sie einzureden.
»Es ist besser gelaufen, als ich erwartet hatte. Ich freue mich total«, gab ich zurück.
»Die Leute online sind ausgeflippt. Der Livestream kam richtig gut an.«
»Wirklich?« Ich konnte selbst hören, wie meine Stimme in die Höhe ging.
Sie nickte energisch. »Halt dich fest: fünfzigtausend Zuschauer, und das live. Ich bin gespannt, wie viele sich den Mitschnitt anhören werden.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Wir hatten erst vor Kurzem angefangen, unsere Webradio-Show auch per Livestream auf den gängigen Plattformen zu übertragen. Einmal hatten wir zehntausend Zuschauer gehabt, aber nie mehr. Fünfzigtausend – das war der Wahnsinn!
»Hast du die Cupcakes?«, fragte ich.
Kayla nickte und eilte nach hinten ins Studio. Sie beugte sich unter ihren Schreibtisch und holte die taubenblaue Schachtel hervor, die mit einer großen Schleife versehen war. Direkt darauf folgte ihr Selfie-Stick, in dem bereits mein Handy steckte.
Ich schaute zu Ashley, die inzwischen wieder hergerichtet war (auch wenn ich nicht nachvollziehen konnte, wie jemand, der schon perfekt aussah, so intensiv nachgestylt werden musste), bevor Kayla und ich einen Blick wechselten, die Schultern strafften und zu Ashley und ihrem Team liefen.
Als sie uns auf sie zukommen sah, erhob sich Ashley lächelnd.
»Hier, die sind für dich«, sagte ich und reichte ihr die Schachtel mit den Cupcakes. »Als kleines Dankeschön.«
Erstaunt nahm sie das Päckchen entgegen. »Oh mein Gott, sind die von Pauls Bakery?«
Ich nickte. »Meine Produktionsassistentin hat sie besorgt. Sie ist ein großer Fan. Sowohl von dir als auch von den Cupcakes.«
»Hi«, warf Kayla ein und hob mechanisch die Hand. Sie liebte Ashleys Musik. Vor dem Interview hatte ich ihr versprechen müssen, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht blamierte. Auch wenn ich nicht glaubte, dass Kayla dazu überhaupt in der Lage war.
Als Ashley über beide Ohren zu strahlen begann, war es, als würde in unserem winzigen Studio die Sonne aufgehen. »Ich liebe die Teile. Vielen Dank. Und auch danke für das Interview, das war sehr erfrischend nach den vielen Presseterminen, die ich schon hinter mir habe.«
»Ash, die Uhr tickt«, erklang die barsche Stimme des Pressereferenten, der neben ihr stand und einen gestressten Blick auf sein Handy warf. »Wenn ihr noch etwas wollt, erledigt es jetzt. Unser Fahrer wartet schon.«
Ashley verdrehte kaum merklich die Augen und wandte sich wieder an uns. »Wollen wir noch ein Foto machen?«
Aus jedem anderen Mund hätte die Frage vermutlich überheblich geklungen, doch bei ihr war das Gegenteil der Fall. Ich konnte Kayla neben mir förmlich vibrieren spüren.
»Voll gerne«, sagte ich und nickte in Richtung der Wand mit dem Logo der Rosie Hart Show.
Ashley stellte sich in die Mitte, und Kayla reichte mir mit zitternden Fingern den Selfie-Stick. Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken, als Ashley einen Arm um sie legte, aber jede Wette, dass sie innerlich gerade durchdrehte. Ich positionierte mich auf der anderen Seite und hielt den Stick hoch.
»Einmal lächeln, bitte!«, rief ich, und wir drei lächelten in die Kamera, wobei Kayla und ich grinsten wie Bekloppte und Ashley ein geübtes Schmunzeln zum Besten gab. Ich drückte gleich mehrmals auf den Auslöser.
»Tick-tack!«, rief der Pressereferent.
»Danke für das schöne Gespräch. Und die Cupcakes«, sagte Ashley schnell, und ihre Augen funkelten, als sie Kayla anlächelte, die inzwischen kaum noch zu atmen schien. Als ich realisierte, dass sie vermutlich wirklich kein Wort mehr rauskriegen würde, räusperte ich mich.
»Sehr gerne«, warf ich ein. »Ganz viel Erfolg beim Rest der Promo-Tour. Wir lieben das Album wirklich.«
Bevor Ashley etwas antworten konnte, wurde sie von ihrem Team schon in Richtung Ausgang geschoben.
Knarrend fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss, und ich spürte, wie augenblicklich sämtliche Anspannung von mir abfiel. So war es meistens, wenn ich Stars interviewte. Vorher war ich unglaublich aufgeregt – doch sobald die Kopfhörer auf meinen Ohren saßen und das Mikrofon angeschaltet war, befand ich mich in meinem Element. Dann gab es nur noch mich und die Person vor mir, mit der ich ein tiefgründiges Gespräch führen wollte. Aber in der Sekunde, in der Kayla und ich wieder allein waren, war es, als hätte ich all meine Energie für die hinter mir liegende Aufgabe verbraucht. Dann fühlte ich mich ausgelaugt und leer und schaffte es meistens gerade noch so, mich nach Hause zu schleppen.
Ich rieb mir über das Gesicht und drehte mich zu Kayla um, die immer noch auf die Tür starrte.
»Siehst du? Du hast dich nicht blamiert«, sagte ich aufmunternd.
Kayla zuckte zusammen, als würde sie aus einem Traum aufwachen. »Ich … Ich habe kein einziges Wort rausgebracht.«
»Du hast ›Hi‹ gesagt.«
Sie stöhnte auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich hatte mir aber eine ganze Rede zurechtgelegt! Argh. Ich hab’s verkackt.«
Ich schlang ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie an mich. »Hast du überhaupt nicht. Es war groß-ar-tig, das hast du gesagt. Und sie meinte, sie würde sogar wiederkommen! Beim nächsten Mal sagst du ihr all die Dinge, die du eben nicht rausgebracht hast.« Ich befreite mein Handy aus dem Stick und öffnete die Fotos, die ich gemacht hatte. »Guck dir die schönen Bilder an. Wir können mich rausschneiden, und dann Rahmen wir dir eins und stellen es auf deinen Schreibtisch.«
Langsam schien sich Kayla aus ihrer Schockstarre zu lösen. Sie stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite und nahm mir das Handy aus der Hand. Ein tiefes Seufzen drang aus ihrer Kehle. »Guck, wie schön wir aussehen.«
»So schön«, stimmte ich zu und lief zu dem Sofa, auf dem bis eben noch Ashley gesessen hatte. Kraftlos sank ich darauf und strich mir die Haare aus der Stirn.
»Du hast das unfassbar toll gemacht, Rosie. Echt. Ich glaube, so viele positive Kommentare hatten wir noch nie.« Kayla schaltete die Studioleuchten aus und ging dann zu ihrem Schreibtisch, den Blick wieder auf das Foto von Ashley, ihr und mir geheftet.
Ich schloss kurz die Augen. »Kannst du das glauben? Wir haben gerade echt eine Show mit Ashley Cruz gemacht.«
Sie lächelte. »Wer hätte gedacht, dass die Show, die in deinem Kinderzimmer begonnen hat, tatsächlich mal so viel Reichweite bekommen würde?«
Kayla war erst seit drei Jahren mit an Bord. Seit ich nach Los Angeles gezogen war und es endlich über mich gebracht hatte, mir eine Produktionsassistentin zu suchen, weil ich die Arbeit schlichtweg nicht mehr alleine stemmen konnte.
Im Gegensatz zu ihr hatte ich schon immer an diese Show geglaubt. Das hatte ich gemusst, als es niemand anderes getan hatte. Ich hatte es getan, als mein Dad mir gesagt hatte, für wie bescheuert er die Idee hielt. Ich hatte es getan, als meine Mitschüler in der Highschool mich ausgelacht hatten, weil ich meine Zeit mit nichts anderem verbrachte, als in meinem Kinderzimmer mit einem billigen Mikrofon online über Musik zu sprechen. Ich hatte es getan, als ich als Fünfzehnjährige stundenlang vor den Hinterausgängen von Clubs gestanden hatte, für die ich zu jung gewesen war, nur um mit den Indie-Bands, die dort auftraten, vielleicht ein oder zwei Sätze zu wechseln. Die Rosie Hart Show war mein Leben. Sie hatte mich durch die Zeit nach dem Tod meiner Mom vor sechs Jahren gebracht. Sie war schon immer das gewesen, woran ich mich in Zeiten geklammert hatte, in denen es nichts als Schmerz für mich gegeben hatte. Und sie war es auch immer noch, jetzt, wo ich einundzwanzig war.
»Rosie«, keuchte Kayla plötzlich.
Ich öffnete die Augen wieder und richtete mich kerzengerade auf, um zu ihr rüberzublicken.
Meine Freundin starrte mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund auf den Computerbildschirm. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Dann breitete sich ein teuflisches Grinsen auf ihren Lippen aus.
»Was ist?«, fragte ich alarmiert. Wenn Kayla so grinste, sah sie gefährlich aus.
Sie löste den Blick vom Computerbildschirm und sah mich an. »Du musst jetzt ganz stark sein. Okay? Versprich mir, dass du nicht ausflippen wirst.«
»Was ist?«, wiederholte ich, eindringlicher diesmal.
Kayla faltete die Hände und streckte sie über ihrem Kopf aus, bis die Gelenke darin knackten. Dabei sah sie beinahe aus wie der Bösewicht aus irgendeinem schlechten Film. Dann verschränkte sie die Hände hinter dem Kopf. »Rate, wer soeben für unsere Show zugesagt hat.«
Ihr Unterton war vielsagend, und obwohl sie es gut zu verbergen versuchte, konnte ich das leichte Beben aus ihrer Stimme raushören. Ich dachte fieberhaft nach, von wem wir auf eine Zusage warteten, aber eigentlich bestand keine offene Anfrage mehr. Es sei denn …
»Nein«, flüsterte ich.
Kayla klatschte in die Hände. »Rosie, sie haben endlich zugesagt. Scarlet Luck wird in unsere Show kommen!«
Ich starrte sie an.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre Worte zu mir durchdrangen. Und dann, als ich es endlich begriff, stieß ich ein lautes Kreischen aus.
Ich verstand es einfach nicht. Wieso besuchte man ein Konzert, wenn man die eineinhalb Stunden nur damit verbrachte, kreischende Schreie auszustoßen? So konnte ich nicht mal mich selbst hören. Und die Schreie … sie fuhren mir bis ins Mark und sorgten dafür, dass sich in meiner Brust alles verkrampfte.
Es war unser erstes Konzert seit über einem Jahr, und anscheinend war ich es nicht mehr gewöhnt, denn die Panik überkam mich völlig unvorbereitet. Ich drückte mein In-Ear fester in meine Ohrmuschel und schloss kurz die Augen, während ich versuchte, mich auf die Harmonie zu konzentrieren, die Thorns und Logans Stimmen bildeten. Ich blendete den Rest aus und stellte mir vor, dass wir wieder in der Garage meiner Eltern waren, mit nichts um uns herum als dem alten Werkzeug meines Dads, den Ersatzteilen seines Autos und dem ramponierten Flickenteppich unter meinen Drums. Da waren nur noch wir vier: Buck, Thorn, Hunt und ich.
Ich riss die Hände hoch. Meine Arme bewegten sich von selbst über die Drums. Das hier – das war meine Berufung. Musik zu machen, mit meinen besten Freunden an meiner Seite. Egal, wie laut das Kreischen war, ganz gleich, mit welcher Macht mich die Panik in ihren Klauen hielt. Sie waren bei mir. Mehr brauchte ich nicht. Mehr würde ich niemals brauchen. Ich musste nur noch mein rasendes Herz davon überzeugen, das beinahe schmerzhaft gegen meine Rippen schlug.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand Hunt dicht bei der erhöhten Plattform, auf der ich mich mit den Drums befand. Er nickte mir zu, während seine Finger über den Bass flogen. Es war, als hätte er gespürt, was in mir vorging. Er blieb bei mir, bis sich der Knoten in meiner Brust löste.
Die Akkorde von Echoes gingen in die kraftvolleren von Golden Circle über. Es war das erste Mal, dass wir einen Song von unserem neuen Album spielten. Als die Leute die neuen Akkorde hörten und Thorns Stimme durch das Stadion jagte, stieß die Menge ohrenbetäubenden Lärm aus.
Diesmal war ich darauf vorbereitet.
Ich gab dem Feuer in meinem Inneren nach und führte den Takt an, ließ meine Arme über die Drums schnellen. Mein Herzschlag beschleunigte sich weiter, diesmal jedoch, weil ich alles rausließ, was in meinen Adern brodelte. Das Kreischen rückte in den Hintergrund, und es gab nur noch mich und den Song. Mich und die Jungs. Ich schüttelte mir das schweißnasse Haar aus der Stirn und warf den Kopf nach hinten, als der Refrain begann. Ich schlug so heftig auf die Drums ein, dass einer meiner Sticks entzweibrach. Routiniert schmiss ich ihn über die Schulter und griff nach hinten, wo mir ein Roadie im fliegenden Wechsel den nächsten in die Hand drückte. Sofort war ich wieder bei der Sache.
Und ich blieb dabei, bis das verdammte Konzert vorbei war.
Das Summen war zurückgekehrt. Es jagte durch meine Adern und ließ sich nicht stoppen.
Ich saß in dem Club, den unser Team gemietet hatte, und legte den Kopf in den Nacken, um mein siebtes Glas Whisky zu leeren. Es war unendlich stickig und ich schwitzte wie die Hölle, aber ich würde den Teufel tun und das Jackett ausziehen. In den letzten Jahren hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Leute einen ernster nahmen, wenn man einen Anzug trug, deshalb entschied ich mich selten für ein anderes Outfit. Dazu kam die Erfahrung, dass es förmlich dazu einlud, vom Starren zum Betatschen überzugehen, wenn ich das Jackett auszog, also ließ ich es bleiben, obwohl ich spürte, wie mir der Schweiß den Nacken hinablief. Allerdings störte mich das wenig. Denn langsam setzte die herbeigesehnte Betäubung ein.
Inzwischen machte mir die Enge in meiner Brust nicht mehr so viel aus. Genau genommen machte mir überhaupt nichts mehr viel aus. Weder die Musik, die so laut war, dass ich kaum meine eigenen Gedanken hören konnte, noch die vielen Menschen, die sich um unsere Lounge herum drängten. Ich starrte hauptsächlich auf den Tisch, um bloß mit niemandem Blickkontakt aufnehmen zu müssen.
Jemand setzte sich neben mich, und meine Schultern verkrampften sich.
»Chill, ich bin’s nur«, erklang Thorns laute Stimme an meinem linken Ohr.
Ich sah unseren Frontmann von der Seite an und hob eine Braue, als er mir ein Bier reichte. Seine scheißperfekte Engelsvisage machte alles nur noch schlimmer. Vor allem, weil der Ausdruck in seinen dunklen Augen viel zu wissend war. Ich erkannte die unterschwellige Sorge darin.
»Was willst du?«
Er zuckte mit den Schultern, fuhr sich durch die verschwitzten Haare und trank einen Schluck Bier. »Habe dich hier sitzen gesehen und mich gefragt, ob ich was für dich tun kann.«
»Du kannst mich verdammt noch mal in Ruhe lassen.«
»Grummel, grummel«, sagte er in einem übertrieben tiefen Tonfall, der wohl eine Imitation meiner Stimme sein sollte.
Arschloch.
Ich holte mein Handy raus und starrte auf das Display mit Hunderten Benachrichtigungen. Sofort wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Ich hatte kein Bedürfnis, irgendwem zu antworten. Ich hasste es, dass die Benachrichtigungen nie aufhörten. Egal, wie viel Zeit ich damit verbrachte zu antworten, schienen die kleinen roten Zahlen in jeder App nur weiter in die Höhe zu schießen und mich damit zu verhöhnen.
»Wir waren gut heute«, brüllte Thorn und lehnte sich so weit zu mir, dass sein Atem über meine Wange strich.
Die Hülle um mein Handy knackte, so fest umklammerte ich sie. Ich brachte bloß ein steifes Nicken zustande. Dann nahm ich einen Schluck Bier. Meine Hand zitterte. Es war mir zu voll hier. Der Alkohol schaffte es zwar, mein Unbehagen größtenteils einzudämmen, aber wenn Thorn mir derart auf die Pelle rückte, kehrte es mit voller Kraft zurück.
Ein Quietschen erklang direkt vor uns.
Ich sah kurz hoch und entdeckte zwei Mädchen vor uns in der Lounge stehen. Das fehlte mir gerade noch. Keine Ahnung, wie sie es an unserem Leibwächter vorbeigeschafft hatten. Ich umklammerte den Hals der Bierflasche so fest, dass jegliches Blut aus meiner Hand wich.
Ein Kichern drang an mein Ohr. Die eine der beiden hielt sich eine Hand vor den Mund, die daneben schwankte auf der Stelle. Sie schienen betrunken zu sein und deuteten auf uns.
»Ladys, was kann ich für euch tun?«, fragte Thorn und grinste. Keine Ahnung, wie er es bewerkstelligte, vierundzwanzig Stunden am Tag freundlich zu sein. In all den Jahren, in denen ich ihn jetzt schon kannte, hatte ich selten erlebt, dass er wütend wurde. Wahrscheinlich konnte ich die Anlässe an einer Hand abzählen. Oder eher an drei Fingern.
»Ihr könnt mit uns tanzen gehen«, sagte das linke Mädchen und lächelte uns vielsagend an.
Meine Zunge fühlte sich plötzlich doppelt so groß und viel zu trocken an. Das Herz trommelte in meiner Brust, so heftig, dass ich fürchtete, es würde jeden Moment platzen. Meine Fingerspitzen wurden taub.
»Wir hatten einen harten Abend. Vielleicht ein andermal«, gab Thorn, ganz der Gentleman, zurück.
»Mir würden auch ein paar Dinge einfallen, bei denen du dich nicht so anstrengen müsstest. Wie wäre es, wenn ich dich ein bisschen verwöhne?« Das Mädchen machte einen Schritt auf Thorn zu und legte den Kopf schräg, dabei spielte sie mit einer Haarsträhne und sah unter dichten Wimpern zu ihm runter.
Ein Muskel an meiner Wange zuckte.
Thorn rückte auf der Bank vor, so weit, dass seine Knie die Beine des Mädchens umschlossen, dann legte er die Hände um die Rückseiten ihrer Oberschenkel. »Mm. Wellness klingt schon eher nach meinem Geschmack.«
Säure brannte in meiner Kehle, während ein Pochen hinter meinen Schläfen einsetzte. Ich hatte geglaubt, das Summen hier verdrängen und vielleicht ein bisschen runterkommen zu können, aber verdammt, ich hätte einfach mit Logan im Hotel bleiben sollen. Denn das hier war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Absolut nicht.
»Und bei dir so, Beast?«, erklang die Stimme des zweiten Mädchens plötzlich direkt vor mir. Bevor ich wusste, was geschah, setzte sie sich neben mich, so nah, dass sich ihr Oberschenkel gegen meinen presste.
Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Rippen, und ich spürte, wie sich alles in mir krampfhaft zusammenzog. Das war zu nah. Zu viel. Aber mir war klar, dass ich nicht aufspringen durfte. Es würde nur für Aufsehen sorgen, und das konnten wir nicht gebrauchen. Also drehte ich mich zu der Fremden um und bedachte sie mit einem harten Blick.
»Was soll mit mir sein?«, fragte ich schroff, aber obwohl das bei vermutlich jeder anderen Person abschreckend gewirkt hätte, verstand sie es sogar als eine Art Einladung.
Sie hob die Hand und legte sie auf meinen Oberschenkel.
Ich konnte nicht mehr atmen. Das Blut strömte heiß durch meine Adern. Schwarze Flecken traten vor meine Augen, und das Summen in meinen Ohren wurde so laut, dass ich nichts mehr hörte. Nur ein Rauschen, ein unnatürliches Surren, das meine Gliedmaßen durchzuckte.
»Nicht.« Meine Stimme war eine Mischung aus Knurren und Keuchen.
Ich wusste nicht, ob sie mich nicht hörte oder schlichtweg ignorierte. Aber statt aufzuhören, rückte sie mir nur noch mehr auf die Pelle. Plötzlich war ihr Atem an meinem Ohr, als sie sich zu mir neigte und ihre Hand sanft an meinem Oberschenkel hinaufwandern ließ.
»Du siehst so einsam aus, Beast«, flüsterte sie eindringlich.
Ich wusste nicht, was als Nächstes geschah. Die Flecken vor meinen Augen breiteten sich immer weiter aus, und dann war es, als würde ein roter Blitz in meinem Kopf explodieren. Im einen Moment saß ich noch neben Thorn und diesem fremden Mädchen, das mich einfach betatschte, und im nächsten erklang ein lautes Klirren.
Die Wände um mich herum drehten sich, als sich meine Sicht langsam normalisierte und sich die Welt Stück für Stück wieder zusammensetzte. Das Mädchen, das mir so nah gekommen war, lag halb auf der Bank und starrte zu mir hoch, ich stand mit geballten Fäusten direkt davor und meine Hand schmerzte. Ich hob sie hoch und nahm verschwommen wahr, dass sie blutete. Ich hielt Scherben in der Hand. Scherben der Bierflasche, die unter meinem Griff zerbrochen war.
Thorn murmelte etwas. Ich hörte den Fluch nicht, der seine Lippen verließ, als er sich über den Hinterkopf rieb und dann zu mir sah, aber ich erkannte den stummen Vorwurf in seinem Blick. Der mein kochendes Blut leider nicht beruhigte. Eher im Gegenteil. Bevor ich etwas sagen oder tun konnte, neigte Thorn sich zu dem Mädchen und sagte irgendetwas. Dabei hatte er sein schönstes Lächeln aufgesetzt. Bestimmt versicherte er dem Mädchen gerade, dass ich bloß einen langen Tag gehabt hatte. Dass ich nur ein bisschen Ruhe haben wollte. Oder erzählte ihr sonst irgendwelche Lügen, die für Schadensbegrenzung sorgen sollten.
Im nächsten Moment stand Caleb, unser Leibwächter, vor mir und wollte nach meiner Hand greifen, doch ich wich zurück. Das schien ihn an die Regel zu erinnern, und er hielt inne.
Keine Berührungen.
»Das muss sich ein Arzt ansehen«, erklang seine dunkle Stimme, aber sie erreichte mich nicht.
Ich sah nur das Blut. Das Mädchen, das ich von mir gestoßen hatte, das mich mit geweiteten Augen ansah und sich jetzt gegen Thorn lehnte. Noch immer spürte ich ihre Berührung an meinem Oberschenkel. Ihre Finger, die langsam mein Bein hinaufwanderten …
Jegliche Luft wurde aus meinen Lungen gedrückt. Es fühlte sich an, als würde ich sterben. Mit jeder Sekunde starb ich ein kleines Stückchen mehr, während alle bloß dastanden und zusahen.
Ich musste hier raus.
Ohne ein weiteres Wort zu irgendwem zu sagen, wandte ich mich abrupt ab und durchquerte den Club in Richtung des Hinterausgangs, durch den wir hineingekommen waren. Ich schlug die Tür so hart auf, dass sie an die außen liegende Backsteinmauer krachte, dann taumelte ich nach draußen.
Der Himmel über mir drehte sich, der Boden schien sich aufzulösen. Mit der Schulter sackte ich gegen die Wand und presste eine Hand darauf. Mein Atem kam in abgehackten Stößen, und obwohl ich an der frischen Luft war, schaffte ich es nicht, mich zu beruhigen. Ich konnte nur an die Hände denken, die auf meinem Körper gelegen hatten. An den fremden Atem an meinem Ohr.
In meinem Magen zog sich alles zusammen.
Im nächsten Moment beugte ich mich vor und kotzte in die Gasse. Der ganze Alkohol, den ich in mich reingekippt hatte, landete mit einem Platschen auf den Boden. Immer und immer wieder verkrampfte sich mein Körper, bis nichts mehr übrig war.
Absolut nichts.
Scarlet Lucks erstes Album dröhnte in meinen Kopfhörern, während ich im Bett lag und an die Decke starrte.
Ich konnte es nicht glauben.
Ich konnte es einfach nicht glauben.
Scarlet Luck, meine absolute Lieblingsband, hatte tatsächlich zugesagt, als Gast in meine Show zu kommen. Die Band, die ich verfolgte, seit sie ihr allererstes YouTube-Video hochgeladen hatte. Die Band, deren Musik mir mehr als alles andere bedeutete, weil sie mir immer das Gefühl gab, verstanden zu werden. Die Band, deren Songs ich allesamt in- und auswendig kannte und wegen der ich ein rotes vierblättriges Kleeblatt auf der Innenseite meines Arms oberhalb der linken Armbeuge tätowiert hatte.
Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, an dem ich auf YouTube auf die vier Jungs gestoßen war. Mom hatte einen besonders schlimmen Tag gehabt. Die Chemo hatte sich auf ihren Magen ausgewirkt, und sie hatte sich übergeben, kaum dass sie durch die Tür gekommen war.
Während Dad sie ins Wohnzimmer trug und auf die Couch legte, wischte ich das Erbrochene auf. Danach machte ich den ganzen Flur sauber und putzte anschließend auch die Küche, um Dad zumindest irgendwas abzunehmen, und sei es auch noch so wenig.
Dann rief mich Mom zu sich. Ihr warmer, aber gleichzeitig trüber Blick brannte sich in meine Augen, und manchmal hörte ich immer noch ihre Stimme in meinen Ohren.
»Es ist alles gut, Liebling. Das ist ganz normal. Mach dir keine Sorgen.«
Obwohl sie das immer und immer wieder sagte, machte ich mir Gedanken. Unzählige Gedanken.
Anschließend schlurfte ich die Treppe hoch, um in mein Zimmer zu gehen, hielt jedoch inne, als ich Dads Stimme hörte.
»Du darfst sie nicht belügen, Mel«, sagte er sanft. »Rosie hat ein Recht zu erfahren, wie es dir wirklich geht. Uns läuft langsam die Zeit davon.«
Moms Antwort war so leise und schwach, dass ich sie kaum verstand. Aber ich war ohnehin zu betäubt von Dads Worten. Mühsam schleppte ich mich in mein Zimmer und schaffte es gerade so bis zu meinem Sitzsack. Dort saß ich eine gefühlte Ewigkeit und starrte auf die Polaroidfotos, die auf meinem letzten Geburtstag entstanden waren. Mom hatte bereits eine Perücke getragen. Dennoch strahlte sie, als sie die Arme um Dad und mich schlang.
Ich riss den Blick von dem Bild los und nahm mir meinen alten Laptop. Ich hatte ihn von Dad geerbt, als er sich einen neuen zugelegt hatte. Er war unendlich langsam, aber es reichte gerade so, um auf YouTube nach Videos und neuer Musik zu schauen. Ich klickte ins Suchfeld und gab This von Ed Sheeran ein. Es war eines meiner Lieblingslieder, und immer, wenn ich es hörte, brachte es mir ungemeinen Frieden. Als ich auf »Enter« klickte, erschien das Video, das ich sonst immer ansah, direkt an erster Stelle. Trotzdem startete ich es nicht sofort. Direkt darunter wurde ein Thumbnail angezeigt, auf dem ein paar Jungs ein Cover des Songs hochgeladen hatten. Das Video war gerade mal wenige Stunden alt. Ich wusste auch nicht genau wieso, aber ich klickte es an.
Ein wackeliges Bild erschien, und derjenige, der das Video gestartet hatte, trat einen Schritt nach hinten, zwei Hände erhoben, als würde er sich Sorgen machen, dass die Kamera jeden Moment umfallen könnte. Dann ging er weiter zurück und setzte sich auf den Stuhl in der Viererreihe, der noch frei war. Er war schwarz, hatte kurze dunkelbraune Braids und ein bezauberndes Lächeln, das wirkte, als würde er es gezielt wie eine Waffe einsetzen.
»Hi, YouTube. Herzlich Willkommen auf unserem Kanal. Wir sind …«, fing er an, und ich konnte vage einen irischen Akzent wahrnehmen, da unterbrach ihn der Junge links mit einem Schnauben. Er hatte blondes Haar, warme grüne Augen und konnte ein Lachen nicht unterdrücken.
»Sorry, Jasper«, sagte er, und obwohl er versuchte, es zu unterdrücken, prustete er leise.
Ein wütendes Funkeln trat in die Augen des Jungen mit den Braids. »Was gibt’s da zu lachen?«
»Vielleicht lacht Logan über die Tatsache, dass du so geschwollen daherredest?«, schlug der dritte Typ in der Reihe vor.
Mein Blick fiel auf die Cajon, auf der er saß. Immer wieder fuhr er mit den Händen über die Holzfläche, als könnte er gar nicht anders. Seine Haare waren in einem verwaschenen Grünton gefärbt. Leider sah er nicht in die Kamera, sodass ich sein Gesicht nicht richtig erkennen konnte.
Der Junge namens Jasper stieß genervt die Luft aus. »Ihr kleinen Scheißer. Ihr habt gesagt, dass ich die Begrüßung machen soll.«
»Ich war dafür, dass wir nicht viel rumreden, sondern das machen, wofür wir hier sind: spielen«, sagte der Letzte in der Reihe. Er hatte sein dunkelbraunes Haar aus dem Gesicht gebunden und ein ziemlich verpickeltes Gesicht. Demonstrativ hielt er seine Gitarre in die Höhe.
»Schön. Dann eben keine Begrüßung, ihr Flegel«, sagte Jasper.
Wieder stieß der Blonde – Logan – neben ihm ein Lachen aus. Es klang fast ein bisschen hysterisch und verriet, wie nervös er war.
»Flegel. Ist das ein Wort, das dir deine Großmutter beigebracht hat, Jasper?«, fragte der grünhaarige Junge, der auf der Trommel saß. Als er schmunzelte, erkannte ich zwei Grübchen in seinen Wangen, und mir wurde ganz warm. Ich liebte Grübchen.
»Ihr könnt mich alle mal«, brummte Jasper.
Ohne ihn weiter zu beachten, zählte der Junge mit den Grübchen bis vier – und dann war es, als hätten sie einen Schalter umgelegt. Sie fingen an zu spielen und sangen ihre Version von meinem Lieblingslied. Es war, als hätten sie es bereits unzählige Male geprobt. Jasper hatte eine rauchige, angenehme Stimme, und der Junge mit den blonden Haaren sang mit einer sanften Zweitstimme, die im perfekten Einklang mit Jaspers erklang. Der Typ mit den dunklen Augen und den längeren Haaren strich gefühlvoll über die Saiten der Gitarre, während der mit den grünen Haaren auf die Cajon klopfte und seinen Körper im Takt bewegte, als wäre seine ganze Seele von Musik erfüllt.
Eine Gänsehaut trat auf meine Arme, und für fünf Minuten vergaß ich einfach alles. Die Gedanken an die Chemo und der Geruch des Erbrochenen rückten für einen Moment in den Hintergrund, und ich genoss jede einzelne Sekunde, bis der letzte Ton verklang.
Jasper stand auf und stoppte mit geröteten Wangen die Aufnahme.
Ehe ich wusste, was ich tat, klickte ich erneut auf »Play« und schaute das Video ein zweites Mal. Dann ein drittes Mal. Und noch einmal. Und wieder, bis ich annahm, dass alle zwanzig Klicks einzig und allein von mir stammten. Als ich das Video ein weiteres Mal startete und den Anfangsdialog schon fast mitsprechen konnte, klickte ich in das Kommentarfeld direkt darunter und fing an zu tippen.
Ich hatte heute einen richtig üblen Tag und bin auf dieses Video gestoßen. Danke, dass ihr meinen dunklen Tag ein bisschen heller gemacht habt. Ihr habt einen neuen Fan <3
Ich war unglaublich froh, dass ich die Erste war, die einen Kommentar unter dem Video hinterlassen hatte. Denn ich hatte da so ein Gefühl. Eines, das mir sagte, dass diese Jungs es ganz weit bringen würden.
Und genau so war es gekommen.
Bald darauf wurden die vier Jungs von Scarlet Luck entdeckt, von einem großen Plattenlabel unter Vertrag genommen und nahmen in den nächsten sieben Jahren drei Alben auf, die Millionen Fans erreichten. Ich wurde mit ihrer Musik in den Ohren erwachsen und fieberte auf jeden ihrer neuen Releases hin. Ich litt mit ihnen, als sie schwere Zeiten durchlebten und kurz vor der Trennung standen. Und als meine Show langsam größer wurde, fragte ich mehrmals bei ihrem Management nach einem Termin. Jedes Mal wurde ich abgewiesen – bis heute.
Ich setzte mich in meinem Bett auf und schnappte mir meinen Laptop. Gerade heute war das Video zu ihrer neuen Single erschienen. Es hatte bereits zweihunderttausend Daumen hoch und mehr als eineinhalb Millionen Klicks. Eigentlich hatte ich es direkt bei Erscheinen anschauen wollen, aber dann hatten meine Hände so stark gezittert, dass ich mich erst mal mit etwas anderem hatte beschäftigen müssen. Jetzt hatte ich ihre alte Musik gehört und mich daran erinnert, wie es gewesen war, ihre Cover auf YouTube anzuschauen. Ich hatte gedacht, es würde mir helfen, wenn ich mich zurückversetzte in die Zeit, in der ich angefangen hatte, mich in die Jungs und ihre Musik zu verlieben. Doch es war bloß noch schlimmer geworden. Ein nervöses Flattern breitete sich in meinem Magen aus, und mir brach der kalte Schweiß aus. Ich erkannte die Anzeichen der Panik. Und ich musste schleunigst etwas dagegen unternehmen, weil ich sonst nämlich vollends die Kontrolle verlieren würde.
Ich nahm die Kopfhörer aus den Ohren und lief aus meinem Zimmer.
Kayla saß noch am Tresen unserer kleinen Wohnküche, den Laptop vor sich aufgeklappt. Als sie mich in der Tür stehen sah, warf sie mir einen sorgenvollen Blick zu und stand auf. Sie ging zum Kühlschrank und holte Orangensaft und anschließend zwei Gläser aus dem Hängeschrank daneben. Dann nickte sie mir zu und bedeutete mir, mich hinzusetzen.
Ich folgte der stummen Bitte und hievte mich auf den Hocker neben ihrem. Kayla schob mir das Glas mit Saft über den Tresen zu und setzte sich dann wieder auf ihren Platz. Sie ließ mir Zeit, bis ich schließlich den einzigen Gedanken aussprach, der mir durch den Kopf ging.
»Ich packe das nicht, Kayla.«
Meine Freundin lächelte und schüttelte den Kopf. Sie nahm einen Schluck Orangensaft und stellte ihr Glas wieder ab. »Wieso glaubst du das?«
»Weil … Weil es zu wichtig ist. Weißt du, wie ich meine?«
Sie dachte kurz nach und verzog dann leicht die Mundwinkel. »Leider nein. Aber vielleicht kannst du es mir ja erklären.«
Ich versuchte, meine wirren Gedanken zu sortieren, und trank selbst einen Schluck Saft. »Es ist anders als das Interview mit Ashley. Oder als alles andere, was wir bisher gemacht haben.« Ich hob hilflos die Schultern. »Ich habe immer versucht, eine Verbindung zu meinen Gästen aufzubauen. Meistens klappte das ganz gut. Aber diesmal? Kayla, ich liebe diese Jungs, seit ich vierzehn war. Bei ihnen bin ich mehr Fan als Show-Host. Wenn ich nur daran denke, mit ihnen in einem Raum zu sein, zieht sich in meiner Brust alles zusammen – und zwar nicht auf die gute Weise. Es fühlt sich an wie vor einer Prüfung, für die ich nicht gelernt habe.«
»Hey!« Sie griff nach meinem Arm und drückte ihn sanft. »Du bist Fan der ersten Stunde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand die Jungs besser kennt oder länger verfolgt hat als du. Das wird schon.«
Meine Kehle verengte sich. Bilder traten mir vor Augen. Wie ich mit dem Mikro vor meinem steinalten Laptop saß und online über die Musik von Scarlet Luck redete. Wie ich auf dem Bett hockte, komplett in Schwarz gekleidet, direkt nach Moms Beerdigung, während im Hintergrund Echoes von Scarlet Luck in Dauerschleife lief und Tränen über meine Wangen strömten.
»Kurz bevor Ashley zu uns in die Show gekommen ist, hast du mir dieselbe Rede gehalten«, merkte Kayla an.
»Du hast recht. Ich schätze, der Druck ist diesmal einfach besonders groß«, murmelte ich.
»Schau dir einfach die Kommentare unter dem Bild mit Ashley an.« Kayla schob mir ihren Laptop hin, auf dem das Foto von Ashley, ihr und mir zu sehen war.
Ich scrollte ein Stück runter und fing an zu lesen.
Omg. Ich hatte noch nie das Gefühl, dass jemand Ash je so verstanden und respektiert hat. DANKE, ROSIE.
Rosie ist so gut darin, tiefgründige Gespräche mit ihren Gästen zu führen. Verdammt, das Mädchen hat es drauf. #yougogirl
Kann Rosie Hart ab sofort jedes Interview mit Ashley machen? Bitte, bitte? PS: Ihr seht super aus, Mädels!!
Wärme flutete meinen Magen, als ich die lieben Worte unter dem Foto las. Jedes einzelne erinnerte mich daran, wieso ich das hier tat. Es lag mir am Herzen, die Menschen hinter der Musik zu zeigen. Ich war das Sprachrohr der Fans. Diejenige, die es schaffte, einen Dialog entstehen zu lassen, der die Fans erreichte und sie die Musik noch besser verstehen ließ. Und ich war verdammt noch mal gut darin. Das hier war meine Berufung. Der Grund, aus dem ich nicht aufs College gegangen war. Weil ich so sehr an dieses Projekt glaubte. Und jetzt die Kommentare zu lesen, half mir dabei, diesen Glauben wieder zu festigen.
»Du hast recht. Danke«, sagte ich und schlang meiner Freundin einen Arm um die Schultern, um sie an mich zu ziehen.
»Und ich dachte schon, die Tatsache, dass es Scarlet Luck ist, hätte dein Gehirn endgültig in Matsch verwandelt.«
Ich knuffte sie in die Seite, bis sie quiekte und meine Hand wegstieß. Dann tippte ich mir an die Stirn. »Kein Matsch.«
Ich kannte jedes Album dieser Band in- und auswendig. Ich wusste, was sie mochten und was nicht, ich war auf der Seite der Fans, die sich schon immer ganz bestimmte Fragen gestellt hatten, die noch nie in Interviews gestellt worden waren.
Ich würde das verdammt noch mal schaffen.
Ich würde ein Gespräch mit meiner Lieblingsband führen.
Ich würde dafür sorgen, dass sie sich wohlfühlten, ihnen das Gefühl geben, verstanden und gehört zu werden.
An diesem Gedanken hielt ich fest, als ich mir den Laptop schnappte, die Singleauskopplung des neuen Albums anmachte und mir mit Kayla das neue Video anschaute, das mein Herz vor Aufregung höherschlagen ließ.