Was heute möglich ist
Aus dem Niederländischen von
Bärbel Jänicke und
Marlene Müller-Haas
Verlag C.H.Beck
Nie zuvor sind die Menschen so alt geworden wie heute. Es handelt sich um den radikalsten Wandel in unserer Gesellschaft seit der Industrialisierung. Und ein Ende ist nicht in Sicht: Jede Woche fügen wir ein Wochenende zu unserer Lebenszeit hinzu, ohne dass die kranke Zeit im Alter zunimmt. 75 ist das neue 65. Aber haben wir auf das lange Leben schon die richtigen Antworten? Was bedeutet es für unsere Biographien, für die Organisation unserer Gesellschaft? Kann man mit 75 noch ein neues Leben anfangen?
«Alt werden, ohne alt zu sein» ist ein Navigationssystem für das Extra an Lebenszeit, das vor uns liegt. Wer Westendorp liest, wird sich jünger fühlen.
«Ein so unterhaltsames wie aufrüttelndes Buch über unsere erstaunlichen Zukunftsperspektiven.» – De Volkskrant
Rudi Westendorp ist Arzt, Professor für Medizin an der Universität Leiden und Gründungsdirektor der «Leidener Akademie für Vitalität und Altern», die Forschung und Lehre zur Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen initiiert. Sein zuerst in den Niederlanden erschienenes Buch erlebte dort zehn Auflagen binnen acht Monaten.
SILVER ECONOMY – DAS LEBEN IN REVOLTE
1
ALLES ALTERT, AUCH DIE BIBEL
Es wird doch immer nur schlimmer, oder?
Nur auf die Nachkommen programmiert
Rites de passage – die Lebenstreppen des Menschen
2
EWIGES LEBEN ODER
WIE MAN DAS ALTERN AUFSCHIEBEN KANN
Die Hydra und der wunderbare Mechanismus der Reparatur
Ein Herz auf Raten?
3
UNSER EVOLUTIONÄRES PROGRAMM –
DER WEGWERFKÖRPER
Altern muss nicht sein
Die Sache mit den Ressourcen
Sex gibt es nicht ohne Kosten
Aristokratische Fruchtfliegen
4
STERBETAFELN – WER GELD HAT, LEBT LÄNGER
Wenn das Sterberisiko zu- oder abnimmt
Genetisch oder selbstverschuldet?
5
ÜBERLEBEN UNTER WIDRIGEN BEDINGUNGEN
Ein außergewöhnlicher Fund im Tschad
Der noch «ursprüngliche» Bimoba-Stamm
Schwangerschaft versus Infektionskrankheiten
Wozu Großmütter gut sind
6
JEDE WOCHE VERLÄNGERT SICH UNSER LEBEN
UM EIN WOCHENENDE
Cholera und Pest – woran wir einst starben
Die neuen Todesursachen
Die Medizintechnik und der weniger bedrohliche Herzinfarkt
Man kann sich das Leben auch vermasseln
7
BABYBOOMER UND VIELE ALTE
Unruhe unter den Totengräbern
Von der Pyramide zum Wolkenkratzer
Grüner und grauer Druck
8
ALTERN IST EINE KRANKHEIT
Krebs und die Concorde-Katastrophe
Immer mit Nebenwirkungen – ein normales Altern gibt es nicht
Demenz – eine Epidemie
Ein Gebrechen nach dem anderen
9
WARUM WIR UNWEIGERLICH ALTERN,
ABER NICHT UNBEDINGT ALT SEIN MÜSSEN
Schon ganz jung ganz alt
Alt durch freie Radikale?
Langlebige Fadenwürmer und das Wachstumshormon
Sollen wir weniger essen?
10
LANG SOLLST DU LEBEN
Länger krank durch Ärzte
Mehr Jahre ohne Einschränkungen
Der ausgefranste Saum des Lebens
11
DIE QUALITÄT UNSERES DASEINS AUS
EINER ANDEREN PERSPEKTIVE
Was ist eigentlich gesund?
Die Leidener 85-plus-Studie
Eine Note fürs Leben
12
VITALITÄT!
AUCH IN UNSERER GESELLSCHAFT
Die neue Lebenstreppe
Optimismus und Lebenslust
Grau ist nicht Schwarz-Weiß
13
DER NEUE LEBENSLAUF
Fünfundsiebzig ist das neue Fünfundsechzig
Wer ist wofür verantwortlich?
Ein kleines Gedicht für einen Jubilar
EIN REZEPT FÜR DIE ZUKUNFT
DANK
ANMERKUNGEN
REGISTER
Unser menschliches Leben hat im vergangenen Jahrhundert eine Entwicklung erfahren, die man nur als radikal bezeichnen kann. Vergleichbar mit einer Explosion. Nie zuvor haben so viele Menschen in der westlichen Welt ein so hohes Alter erreicht. Es ist eine tief greifende gesellschaftliche Veränderung, die im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution steht. Innerhalb von hundert Jahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung von vierzig auf achtzig Jahre, und die Chance, fünfundsechzig Jahre alt zu werden, verdreifachte sich. Auch Pensionäre und Rentner profitierten und profitieren von dieser Wandlung: Sie haben nicht mehr zehn, sondern zwanzig weitere Lebensjahre vor sich. Und dann gibt es noch Madame Calment, eine Französin, die 122 Jahre alt wurde, das war 1997. Die Neugeborenen von heute können auf ein noch längeres Leben hoffen; einer von ihnen wird mit Sicherheit seinen 135. Geburtstag erleben. All diese zusätzlichen Jahre sind uns nicht geschenkt worden, weil sich unser Körper – durch genetische Manipulation oder auf andere Weise – verändert hätte. Nein, unser Körper ist ziemlich gleich geblieben. Unsere stark ansteigende Lebensdauer ist die Konsequenz enormer Umgestaltungen, die wir in unserem Lebensraum bewirkt haben. Anders als früher hat heute jeder Mensch in der westlichen Welt etwas zu essen, aus den Wasserleitungen fließt sauberes Trinkwasser, und sehr viele Infektionskrankheiten sind inzwischen ausgerottet. Auch das Risiko, durch Kriege oder andere Gewalteinwirkungen zu Tode zu kommen, hat sich auf ein Minimum reduziert. Immer weniger Menschen sterben im Kindesalter, fast alle erreichen heute ein hohes Alter. Zudem leben wir länger, weil wir Alterserkrankungen oder Verschleißerscheinungen immer wirkungsvoller behandeln können.
Unsere emotionale und soziale Anpassung an diese Revolution hinkt allerdings noch stark hinterher. Wir sind vollständig in alten Mustern festgefahren. Wer erzieht seine Kinder schon in der realen Erwartung, dass sie hundert werden? Wer nimmt mit einem Schulterzucken hin, wenn der Sohn oder die Tochter eine Klasse wiederholt? Eltern von heute versuchen, ihre Kinder innerhalb von zwanzig Jahren für das Leben zu drillen; stattdessen sollten sie ihnen lieber vermitteln, dass sie permanent weiterlernen müssen, um nicht die Kontrolle über die sich verändernden Lebensbedingungen zu verlieren. Und was werden Sie tun, wenn Ihre Kinder einmal erwachsen sind? Die Zeit, in der man nur lebte und arbeitete, um seine Kinder großzuziehen und danach – im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne – in den Ruhestand zu gehen, gehört definitiv der Vergangenheit an. Heutzutage haben Eltern, nachdem ihre Kinder ausgeflogen sind, mit dem Problem zu kämpfen, wie sie dieses lange Leben sinnvoll gestalten sollen. Das ist auch mir, einem Vierundfünfzigjährigen, nicht fremd. Eine längere Lebensdauer ist zum Teil erblich bedingt, und mit einer Großmutter mütterlicherseits, die neunundneunzig wurde, werde ich vielleicht neunzig oder sogar hundert Jahre alt. Was für ein Horror! Was soll ich die kommenden vierzig Jahre bloß tun, mit zwei erwachsenen Töchtern, die ausgezeichnet allein zurechtkommen? Natürlich bin ich froh, dass ich nicht in jungen Jahren gestorben bin, und ich freue mich auch auf ein sorgenfreies Alter. Gleichzeitig sehe ich am Ende des Lebens Gewitterwolken aufziehen, und ich frage mich, ob mich dieses Unwetter wohl verschonen wird. Ein langes Leben ist ein beeindruckender Erfolg, aber zugleich auch eine beängstigende Perspektive. Werde ich ungelenk, taub, mit schlechtem Sehvermögen und inkontinent auf mein Ende zugehen? Oder sind das die üblichen Ängste eines Mannes zwischen fünfzig und sechzig, der meint, dass es von nun an in allem nur noch bergab geht?
Nicht jeder freut sich auf ein langes Leben. Es macht Menschen nervös. Manche sprechen von einer Katastrophe, die über uns hereingebrochen ist. Es zirkulieren Schätzungen, dass von allen Fünfundsechzigjährigen, die je auf Erden gelebt haben, die Hälfte heute zu finden ist. Warum hat niemand die Notbremse gezogen? Die Sicherheiten von ehedem sind Aussichten gewichen, die sich noch nicht klar auf unserer Netzhaut abzeichnen. Es ist alles auch sehr schnell gegangen. Viele von uns denken beim Älterwerden an das Leben ihrer Eltern oder Großeltern wie an ein Schifffahrtszeichen, nach dem sie auf der stürmischen See des Lebens navigieren können. Doch zwischen der Zeit unserer Großeltern und unserer eigenen als Großeltern liegen vier Generationen und etwa hundert Jahre. Deshalb ist es irrig zu meinen, wir könnten aus den Lebensgeschichten unserer Eltern und Großeltern ableiten, wie wir selbst altern werden. Diese Bilder sind für das Leben, das uns bevorsteht, nicht maßgeblich. Wir können von ihrem Wissen und ihrer Erfahrung zehren, aber leben müssen wir mit dem Blick nach vorn.
Wenn man mit offenen Ohren zuhört, erfährt man von alten Leuten, dass Leben harte Arbeit ist. Altwerden geht mit Verlust einher, manchmal unverhofft und früh, aber immer öfter auch langsam und später. Irgendwie müssen wir uns darauf einstellen und unsere Vorkehrungen treffen. Artur Rubinstein (1887–1982), einem der größten Pianisten der Welt, gelang es bis ins hohe Alter, sein Publikum zu verzaubern. Er kompensierte den Verlust an Fingerfertigkeit, indem er sein Repertoire einschränkte, mehr übte und zu Beginn eines Stückes langsamer spielte, sodass er das Tempo, falls erforderlich, leichter steigern konnte. Glücklicherweise gelingt es älteren Menschen im Allgemeinen gut, sich ihren Funktionsverlusten anzupassen. Sie sind in der Regel mit ihrer Gesundheit zufrieden. Zwei Drittel von ihnen beschreiben den eigenen Gesundheitszustand als gut bis sehr gut. Trotz dieser positiven Einschätzung ist vielen Menschen der Gedanke ein Gräuel, immer älter zu werden: «Wozu soll das gut sein?» Doch es hat keinen Sinn, die Tatsachen zu leugnen. Merkwürdigerweise wird die Frage, ob wir länger gesund bleiben wollen, trotzdem einmütig positiv beantwortet. Dann ruft jeder: «Aber selbstverständlich!» Und gerade dies – länger gesund zu bleiben – gelingt uns immer besser, was eben dazu führt, dass wir auch immer älter werden. Unsere Gesellschaft ist im Hinblick auf den Alterungsprozess nicht weniger wankelmütig. Studenten müssen sich in immer kürzerer Zeit immer speziellere Fertigkeiten aneignen, damit sie für den heutigen Arbeitsmarkt nicht zu alt und zu unangepasst sind. Doch mit der ganzen Rastlosigkeit wird ihre Produktivität langfristig eher ab- als zunehmen. Wenn man erst einmal die fünfzig überschritten hat, sollte man heutzutage besser nicht mehr seinen Arbeitsplatz wechseln. Und sollte man in diesem Alter seine Stelle verlieren, wird es verdammt schwierig, einen neuen Job zu finden. Es gibt so gut wie keine Angebote. Unter Arbeitgebern geht die Mär um, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten von «Senioren» seien eingeschränkt und würden schnell abnehmen. Es sei daher nicht mehr sinnvoll, in deren Körper und graue Zellen zu investieren. Obwohl mancher Unternehmer in der silver economy ungeahnte Chancen sieht – noch nie hat es so viele ältere Menschen gegeben, die durch Arbeit oder Konsum zu unserer Wirtschaft beitragen –, wird gleichzeitig die Überalterung als die Ursache der sozioökonomischen Probleme angesehen, mit denen wir heute zu kämpfen haben. Im Zeitraum von hundert Jahren hat sich die bestehende biologische und gesellschaftliche Ordnung überlebt, diese Ordnung ist reif für eine Revision. Wir müssen unser Leben neu einrichten und es mit den Bedingungen, unter denen wir heute leben, in Einklang bringen. Zögernd beginnt man in den westlichen Ländern damit, das Rentenalter um einige Jahre anzuheben. Vielleicht ist es sogar besser, eine Festlegung des Rentenalters gänzlich abzuschaffen. Es zwingt uns in ein Korsett, in das wir immer schlechter hineinpassen. Weil wir heute länger gesund bleiben als je zuvor, haben wir die Chance, und auch die Verantwortung, unser Leben zu gestalten.
Dieses Buch ist ein TomTom, das uns dabei helfen kann, in dem vor uns liegenden Leben besser zu navigieren. Ich werde aufzeigen, wie und warum sich Menschen im Lauf von Millionen von Jahren ihrer Umgebung angepasst haben. Ich werde auch darstellen, dass es uns stetig besser gegangen ist – so viel besser, dass der Altersaufbau unserer Bevölkerung mittlerweile nicht mehr einer Pyramide gleicht, sondern einem Wolkenkratzer. Damit erhebt sich natürlich die Frage, was wir nun mit diesem langen Leben anfangen sollen. Gelingt es uns selbst, ihm eine Wendung zu geben? Alle sagen, dass es «normal» sei, alt zu werden, dass das «üblich» sei. Aber ist das auch so? Was können wir von Menschen lernen, die extrem lange ein gesundes Leben führen? Hilft es, weniger zu essen oder Hormone, Vitamine und Mineralien zu schlucken? Was können wir von älteren Menschen lernen, die trotz Krankheit und Gebrechen vital im Leben stehen? Wie bewahren sie ihr Wohlbefinden? Natürlich beschäftige ich mich auch ausführlich mit den gesellschaftlichen und politischen Implikationen dieser Explosion von Leben.
All dies betrachte ich durch eine medizinisch-biologisch-evolutionäre Brille. Wie das Buch zeigen wird, ist das die einzige Perspektive, die erklären kann, warum wir altern. Innerhalb dieses evolutionären Rahmens, in dessen Zentrum Sex und Fortpflanzung stehen, wird deutlich, dass die Entwicklung von Neugeborenen und das Vergreisen von Erwachsenen zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Liebe zu Kindern ist in unseren Genen ebenso angelegt wie der «Verfall» unseres Körpers in hohem Alter.
Obwohl der Alterungsprozess im Detail ziemlich kompliziert und vielgestaltig ist, versuche ich, ihn verständlich zu erklären. Aus diesem Grund leite ich jedes Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung ein. Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich auf einen Anmerkungsapparat verzichtet. Wer jedoch mehr wissen möchte, kann am Ende des Buches Kapitel für Kapitel eine ausführliche annotierte Literaturliste einsehen.
Ich komme nicht umhin, allgemeine Begriffe wie «Kinder», «Jugendliche», «Erwachsene» und «ältere Menschen» zu verwenden. «Ältere Menschen» sind Erwachsene, bei denen der Alterungsprozess bereits eingesetzt hat, was durchschnittlich nach fünfzig Jahren der Fall ist. Den Begriff «hohes Alter» verwende ich für Menschen über fünfundsiebzig. Unter «höchstes Alter» fasse ich die über Fünfundachtzigjährigen zusammen. Das ist das Alter, in dem derzeit die meisten Menschen sterben.
Und schließlich: Heutige ältere Menschen sagen, dass ihr Leben bis ins höchste Alter absolut lebenswert sei. Von ihnen können wir lernen, wie man das macht, alt zu werden, ohne es zu sein. Es ist mir ein Vergnügen, sie in den letzten Kapiteln zu Wort kommen zu lassen.
Alles, was existiert, altert.
Das gilt für Bücher, Biergläser und
Waschmaschinen – und auch für Menschen.
Altern ist ein Prozess, der aus einer
Anhäufung minimaler Beschädigungen besteht,
die uns allein deshalb treffen, weil wir existieren.
Aus biologisch-evolutionärer Sicht spricht nichts dafür,
alt zu werden. Was zählt, ist der Beginn des Lebens,
die Fähigkeit, Kinder zu zeugen, zu bekommen und
großzuziehen. Ist dieser Prozess abgeschlossen, ist
die Mission des Menschen im biologischen Sinn erfüllt.
Im Alterungsprozess sind Lebensalter,
Gesundheit und gesellschaftliche Stellung
unauflösbar miteinander verknüpft.
Dank der medizinisch-technischen Entwicklungen
bedingen sich biologisches und kalendarisches
Alter jedoch immer weniger.
Vor einiger Zeit wurde ich eingeladen, über das Altern zu sprechen, und zwar vor einem kleinen Diskussionsforum, das einmal jährlich zusammenkommt, um ein ernstes Thema zu erörtern. Diese Gesellschaft besteht seit langem, die Mitglieder waren also schon in gesetztem Alter. Das Thema beschäftigte die Teilnehmer und sie erhofften sich von mir, mehr Klarheit darüber zu gewinnen.
Es war ein freier Vortrag. Doch ob frei oder nicht, es ist nicht leicht, Laien das Wesen des Alterungsprozesses zu erklären. Auch ich sehe mich erst seit ein paar Jahren in der Lage, dazu klare Gedanken zu entwickeln. Ich wollte meinen Zuhörern experimentell beweisen, dass Altern ein allgemein auftretendes Phänomen ist, nicht nur bei Menschen, sondern auch bei unbelebter Materie. Ich hoffte, damit eine interessante Diskussion anstoßen zu können. In meinem Bücherschrank stand noch eine ledergebundene Bibel von 1856. Ein Bücherwurm hatte darin seine Bohrlöcher hinterlassen. Ich nahm das Buch aus dem Schrank und schlug es auf. Beim Umblättern der Seiten brachen einige Bögen auseinander. Obwohl ich sehr vorsichtig war, zerfielen die Seiten unter meinen Fingern zu Staub. Das Buch war alt, sehr alt geworden.
Diese Konfrontation mit der zerbröselnden Bibel hinterließ großen Eindruck bei den Mitgliedern der Gesellschaft. Bis in ihre Knochen hinein fühlten sie, dass ihr Körper genau denselben Prozess durchlaufen hatte wie das brüchig gewordene Buch. Es war wie eine Offenbarung, zu erkennen, dass alles altert. Ich vergaß jedoch nicht zu erwähnen, dass ein Teil der Bibel nicht veraltet, nämlich ihr Inhalt. Der wird immer wieder gelesen, gesprochen, gesungen und immer wieder aufs Neue gedruckt. Die Texte bleiben taufrisch.
Der Vergleich alter Bücher mit alten Menschen mag simpel erscheinen, ist es aber nicht. Die Idee kam mir nach der Lektüre der Werke des britischen Nobelpreisträgers Peter Medawar. Es war 1998 in England, als ich mich zum ersten Mal fragte, warum wir eigentlich altern.
Die Generation von Ärzten, zu der ich gehöre, drückte in den Siebziger- und Achtzigerjahren die Schulbank. Unsere Ausbildung war von der Differenzierung zwischen Kindern und Erwachsenen geprägt, mehr Variationen in Sachen Alter kannten wir damals noch nicht. Das Altern an sich wurde nur nebenbei behandelt. Erst viel später, in England, habe ich mir die Wissensgrundlagen des Alterungsprozesses angeeignet. Bemerkenswerterweise musste ich dafür den Bereich der Medizin verlassen und mich auf das Feld der Biologie begeben. Zur Aufgabe von Biologen gehört es, die Vielfalt und den Lebenslauf – die Entwicklung, die Fortpflanzung und den Abbau – der Arten unter höchst unterschiedlichen Bedingungen zu erklären. Daher wird in der Biologie schon sehr lange über Alterungsprozesse nachgedacht; hier findet sich eine große Schar von Altersforschern, beginnend mit Charles Darwin. Es ist erstaunlich, wie wenig von diesem reichen biologischen Wissen und den dort entwickelten Gedanken in die Medizin Eingang findet, umso mehr, als es heutzutage in der Mehrzahl alte Menschen sind, die ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
In England, weit weg vom Krankenbett der Patienten, fand ich als Mitglied einer biologischen Forschergruppe, die mit Würmern und Fliegen experimentierte, die Zeit, über den Prozess des Alterns nachzudenken. Warum lassen alle Lebensfunktionen nach? Einer der klassischen Forscher, den ich dort in seinen Schriften kennenlernte, war Peter Medawar, der für eine völlig andere Thematik – Transplantationen und Immunsystem – den Nobelpreis erhalten hatte. 1951 hielt er zur Eröffnung seines Labors eine Rede mit dem Titel «An Unsolved Problem of Biology» («Ein ungelöstes Problem der Biologie»), ein Versuch zu verstehen, warum wir altern. Bis auf den heutigen Tag ist es ein wahrer Genuss, diesen Vortrag zu lesen. In Leiden verwenden wir sein Werk als Einführung in unseren Kurs «Das Altern» für Medizinstudenten.
Medawar gelingt es, das Interesse des Lesers zu wecken, indem er in ganz einfachen Worten vor Augen führt, dass sich der Alterungsprozess überall beobachten lässt. Sein Vergleich von Gläsern und Menschen eröffnete mir einen völlig neuen Blickwinkel. Wenn ein Barmann ein Glas Bier zapfen möchte, auf dem Weg zum Zapfhahn jedoch versehentlich an den Tresen stößt, kann das Glas unter Umständen zerbrechen. Mitunter handelt es sich dabei um ein neues Glas, das wegen einer Unregelmäßigkeit, die sich beim Pressen oder Blasen ergeben hat, noch unter Spannung stand. Ein Fabrikationsfehler. Aber der größte Teil der Gläser, die auf diese Weise zerbrechen, ist einfach alt und geht schon beim geringsten Anstoßen kaputt. Ein «junges» Glas antwortet klingend, wenn damit gegen den Tresen getippt wird: Der Stoß wird vom Material aufgefangen. Welch ein Unterschied zu einem alten Glas, das mit einem dumpfen Knall reagiert und entzweigeht. Wir sprechen von «Materialermüdung», einer Anhäufung minimaler Strukturschäden. Das alte Glas sieht noch gut aus, wird aber schon bei geringer Belastung zerspringen, so wie ein alter Gummiring beim Dehnen zerreißt.
Wie Bücher und Biergläser gehen auch Waschmaschinen nach einer gewissen Zeit kaputt, nicht aufgrund eines Fabrikationsfehlers, sondern weil in all den Jahren so viel Verschleiß und so viele Schäden an dem Apparat aufgetreten sind, dass er schon bei normaler, nicht übermäßiger Belastung nicht mehr funktioniert. Ein solches Gerät ist dann alt und wird nicht selten ersetzt.
Weil Hersteller von Waschmaschinen die Alterungsgeschwindigkeit ihres Produkts gut kennen, können sie die Lebensdauer des Geräts genau einschätzen. Das ausgewählte Material und die eingesetzte Technik bestimmen zum größten Teil, wie lange eine Maschine halten wird. Deshalb ist es kein Zufall, dass eine Waschmaschine «plötzlich den Geist aufgibt» und ersetzt werden muss. Dafür ist sie schließlich gebaut worden! Im Internet kann man in Tabellen nachlesen, für wie viele Waschgänge die verschiedenen Modelle entworfen wurden.
Die Erkenntnis, dass alle unbelebte Materie altert, ist ein wesentlicher Schritt zum Verständnis des menschlichen Alterungsprozesses. Wir altern nicht, weil wir leben, sondern allein dadurch, dass wir «da sind». Es ist ein universelles Prinzip. Bücher, Gläser, Gummiringe und Waschmaschinen altern, auch wenn man sie nicht benutzt. Im Lauf der Zeit wird das Material spröde, sodass es bei geringster Belastung birst. Wenn ein Schaden in dem Gewebe entsteht, aus dem Lebewesen aufgebaut sind, verhält sich das nicht anders. Die Menschen werden krank, entwickeln Gebrechen und sterben schließlich. So kann man Altern ganz allgemein definieren: Etwas oder jemand wird im Lauf der Jahre stets zerbrechlicher und verletzlicher und geht bei minimaler Belastung kaputt beziehungsweise stirbt. Damit verbindet sich mit dem Altern sofort der negative Gefühlswert, den das Wort bei vielen weckt: «Hab ich’s nicht gesagt? Es wird immer nur schlechter.»
Haben wir erst einmal die fünfzig erreicht, dann ist die Realität unübersehbar: Unser Körper verlangt größere Aufmerksamkeit. Bis dahin war er nach jeder gewaltigen Anstrengung problemlos wieder in Schwung gekommen, doch von nun an macht sich ein Arbeitstag im Garten deutlich bemerkbar. Am nächsten Morgen senden Arme, Rücken und Beine unmissverständliche Signale. Unser Körper braucht Zeit und Ruhe, um den erlittenen Schaden an Muskeln und Gelenken zu reparieren, ob mit oder ohne die Unterstützung von massierenden Händen oder Tabletten. Beim ersten Mal nehmen wir diese Beschwerden noch mit einer gewissen Gelassenheit hin. Wir argumentieren, dass jeder, der Sport treibt oder im Garten tätig ist, ab und zu eine Blessur abbekommt: «Im Nachhinein betrachtet war es auch eine idiotische Idee, in nur einem Tag den ganzen Garten umgraben zu wollen.» Hat sich dieses Muster aber mehrmals wiederholt, überlegen wir uns, ob wir nicht unsere körperliche Kondition verbessern müssten. So schwer kann das doch nicht sein! Guten Mutes gehen wir ins Fitnessstudio. Dort erweist sich das Problem als unerwartet hartnäckig: «Anfangs geriet ich beim Training noch schnell außer Atem. Das hat sich binnen weniger Wochen gebessert. Nur der Muskelkater danach hält verdammt lange an! Alle Wehwehchen ziehen sich viel länger hin, als ich es von früher in Erinnerung habe. Ich brauche mehr Zeit, um wieder fit zu werden, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Es geht mir bei Weitem nicht schlecht, aber dieses Knie, das bleibt meine Schwachstelle. Es bleibt steif und schmerzt, und das will trotz der Übungen einfach nicht besser werden.» Nach fünfzig Lebensjahren ist der Körper offenbar empfindlich geworden, eine hartnäckige Verletzung hat sich eingestellt und der Gang zum Physiotherapeuten wird unvermeidlich. «Ich hatte vorher noch nie Probleme mit dem Knie», erzählen wir dem Therapeuten ungehalten. Das so beherzt aufgenommene Trainingsprogramm muss bis auf Weiteres reduziert werden.
Charles Darwin und Peter Medawar haben es erkannt: Aus evolutionär-biologischer Sicht gibt es keinerlei Grund, alt zu werden. Im Zentrum steht die Entwicklung vom Neugeborenen zum sexuell aktiven Individuum. Menschen müssen sich fortpflanzen und für ihre Kinder sorgen, damit auch diese ihre Sexualität entwickeln und Nachkommen bekommen können. Die DNA, die Blaupause unseres Körpers, bedingt einen «ewig» währenden Zyklus. Die Anlage zu dieser zyklischen Wiederholung bezeichnete Charles Darwin als fitness. Darunter verstand er nicht körperliche Kraft oder Widerstandskraft gegen Krankheiten, für ihn kennzeichnete Fitness vielmehr das Vermögen und den Drang, Kinder zu zeugen und Kinder zu gebären – je mehr, desto besser. Nicht nur unser Körperbau, auch die Entwicklung unseres Charakters ist Teil dieses «Fitnessprogramms». Und natürlich steht für uns der eigene Nachwuchs an erster Stelle; wir fühlen eine starke Verantwortung für unsere Kinder, weil sie noch lange von uns abhängig sind, bevor sie eigene Familien gründen.
Laufen, Sprechen, Überleben und Liebenlernen – eigentlich alles biologische Funktionen – stehen im Dienste des Fitnessprogramms. Wir sind das Produkt natürlicher Auslese, der treibenden Kraft der Evolution. Gut an ihre Umgebung angepasste Individuen einer bestimmten Art haben größere Chancen, zu überleben und für ihre Nachkommen sorgen zu können, als weniger gut angepasste. Weil diese besser angepassten Individuen die dazu benötigten Eigenschaften an ihre Nachkommen weitergeben, gewinnen die angepassten Individuen in der Population immer mehr die Oberhand. Oder wie Darwin es formulierte: Survival of the Fittest – die am besten Angepassten werden überleben.
Bei Menschen dauert das Fitnessprogramm etwa fünfzig Jahre. Die dafür benötigte Information ist in der DNA festgelegt. Zunächst ereignet sich das biologische Wunder, dass ein wehrloses Geschöpf sich in fünfzehn bis zwanzig Jahren zu einer einzigartigen Persönlichkeit entwickelt. Diese Entwicklung ist genau programmiert, wir können das Verhalten von Pubertierenden aus einer evolutionär-biologischen Perspektive erklären. Die natürliche Auslese macht einen Jugendlichen zu dem, was er ist: ehrgeizig, risikofreudig und voller Sehnsucht nach Zuneigung und Sex. Ohne diese Eigenschaften gibt es keine Fitness und wäre es um unsere Art schnell geschehen.
Auf diese Entwicklungsphase folgt die Periode des Erwachsenseins. Das Fitnessprogramm macht uns stark, damit wir lange genug überleben können, um unsere Kinder großzuziehen. Aus diesem Grund unterliegen auch die Tatkraft sowie die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen, der natürlichen Auswahl. Fitness erfordert einen optimistischen Blick auf das Leben, wobei das eigene Können nicht überschätzt werden darf. Im Erwachsenenalter ist es zusätzlich noch wichtig, dass die Entwicklung von Körper und Geist gut aufeinander abgestimmt ist. Die Fruchtbarkeit, insbesondere der Zyklus der Frau, ist kompliziert und störanfällig; beim geringsten physischen oder emotionalen Stress verschiebt sich dieser Rhythmus, was wiederum Unfruchtbarkeit nach sich zieht. Menschen müssen Lust auf Sex haben, sonst entsteht kein neues Leben.
Und dann, nach einer Zeitspanne von zwei Generationen, lässt alles im Leben ein wenig nach. Es ist in etwa so, als hätten buddhistische Mönche wochenlang, mit minutiöser Aufmerksamkeit und begleitet von Ritualen, aus winzigen Sandkörnchen ein Mandala geschaffen, um es anschließend im Handumdrehen wegzuwischen: Die Zeremonie ist vorbei, das Mandala hat seine Funktion erfüllt. Viele Eltern können darüber lachen, dass ihr Körper aus dem Leim geht, aber viele jüngere Menschen werden häufig allein schon bei dem Gedanken daran panisch. Einige sehen ihrem dreißigsten Geburtstag mit Angst und Schrecken entgegen: «Sehe ich dann noch gut aus?» Einige Männer werden schon vor ihrem dreißigsten Lebensjahr kahl oder bekommen womöglich bereits graue Haare. Kahl wird man, wenn die Haarwurzeln absterben. Grauwerden ist ein vergleichbarer Prozess: Die Wurzel ist zwar noch vorhanden, aber die Melanin produzierenden Zellen sind verloren gegangen und damit die Fähigkeit, dem Haar Farbe zu verleihen – als wäre die Farbpatrone eines Druckers leer geworden. Aber wie schlimm es einen persönlich auch treffen mag, bereits mit dreißig kahl oder mit vierzig grau geworden zu sein, das Fitnessprogramm an sich bleibt davon unberührt. Man verliebt sich, bevor man zwanzig ist, und auf diese Weise können Kinder da sein, bevor man die dreißig erreicht. Kahlheit und graue Haare treten erst auf, wenn ein Mensch erwachsen ist und für seine Nachkommen sorgen muss; körperlich attraktiv muss man dafür nicht mehr sein.
Altern bedeutet allerdings mehr als kahl und grau werden. So spiegeln die Laufzeiten, die ein Mensch beim Marathon erreicht, recht genau die Entwicklung und den Abbau seines Körpers wider. Man muss erwachsen und endlos viele Kilometer gerannt sein, bis man zum ersten Mal einen Marathon zu Ende laufen kann. Wenn man danach weitertrainiert, wird sich die benötigte Zeit rasch verringern. Die kürzeste Zeit, die ein Mensch bis zum Zieleinlauf benötigt, wird im Alter von etwa dreißig Jahren erreicht. Die Chance, danach noch Olympiasieger zu werden, ist vernachlässigbar gering, wie intensiv das Trainingsprogramm auch sein mag. Der Stresstest über zweiundvierzig Kilometer demonstriert gnadenlos, wie die Fähigkeit zu körperlichen Spitzenleistungen – viel früher, als es manch einer erwartet – nachlässt. Das Los von Eisschnellläufern und Radrennfahrern ist nicht anders. Wie viele über Dreißigjährige stehen noch auf dem Treppchen? Doch im Alltagsleben eines normalen Erwachsenen, das aus der Sorge um Heim und Nachkommen besteht, muss man mit dreißig keine körperlichen Spitzenleistungen mehr vollbringen können. Dann dauert es bei durchschnittlicher Leistungsfähigkeit noch einmal zwanzig Jahre, bevor man es nach einem Tag Gartenarbeit am nächsten Morgen nicht mehr aus dem Bett schafft.
In hohem Alter ist die Gehgeschwindigkeit ein guter Gradmesser für das Ausmaß der bleibenden Schäden, die sich in unserem Körper angehäuft haben, und für die noch verbliebenen Restfunktionen. Manche Senioren können sich bis ins hohe Alter flott bewegen. Sie überleben im Durchschnitt länger als ihre steifen, ungelenken Altersgenossen, die nur mühsam vorankommen. Von allen Richtgrößen, die Ärzten zur Verfügung stehen, um die Anfälligkeit und das Sterberisiko ihrer Patienten einzuschätzen, scheint die Gehgeschwindigkeit eine der aussagekräftigsten zu sein. Sie verrät nicht nur etwas über die Leistungsfähigkeit von Muskeln und Gelenken, sondern auch über die der Nerven, des Herzens und der Lunge. Sich in hohem Alter recht flott bewegen zu können, deutet darauf hin, dass der Alterungsprozess des Körpers noch nicht mit aller Härte zugeschlagen hat.
Die Entwicklung und das Altern unseres Gehirns weisen dasselbe Muster auf wie unser restlicher Körper. Den meisten von uns fällt es schon nicht leicht, das Nachlassen ihrer körperlichen Leistungskraft zu akzeptieren, besonders unangenehm finden wir es aber, wenn uns unser Kopf bereits frühzeitig im Stich lässt. Jeder weiß, dass kein Vater, keine Mutter, keine Oma und auch kein Opa jemals bei Memory gewinnen kann, wenn Kinder und Enkelkinder mitspielen. Das gelingt selbst dann nicht, wenn die Älteren aus reinem Frust ihr Bestes geben; wenn die Anspannung steigt, werden die Leistungen noch schlechter. Die Fähigkeit von Kindern, Bilder zu erkennen, sie mit Zeit und Ort zu verknüpfen, diese Informationen im Gedächtnis zu speichern und auf Abruf zu reproduzieren, ist phänomenal. Im Kindesalter, wenn man jederzeit Vater und Mutter unter Tausenden herausfinden muss, ist dieses Talent unverzichtbar – ein Selektionskriterium. Mit zunehmendem Alter nimmt die Fähigkeit zu diesem Kunststückchen schnell ab; trotzdem kann man noch bis zu seinem 100. Geburtstag mit großem Vergnügen Memory spielen. In der Regel ist auch dann noch genug an Hirnfunktion vorhanden, es bleibt genügend Restkapazität.
Mathematikprofessoren werden meistens im Alter von etwa dreißig Jahren berufen. Albert Einstein schrieb seine bedeutendsten Werke, bevor er vierzig war. Offenbar ist dann der Gipfel des menschlichen algebraischen und theoretischen Könnens erreicht. Das ist zwar früh, aber bedeutend später als die Pubertät, der Zeitpunkt, zu dem man aus evolutionärer Sicht erwachsen ist. Merkfähigkeit, räumliches Denken, Gedächtnis und Reproduktionsvermögen sind im jugendlichen Alter optimal ausgebildet. Aber trotz der Minderung dieser einzelnen kognitiven Fähigkeiten werden Erwachsene beim Lösen komplexer Probleme mit der Zeit immer besser. Die einzelnen Funktionen ergänzen sich zunehmend besser, weil sie sich perfekter aufeinander einspielen. Dies gilt auch für das Lösen heikler emotionaler und sozialer Probleme. Dafür braucht man soziale und intellektuelle Fähigkeiten, die man sich zu einem Großteil durch Übung aneignen muss. Daher spielt auch das Umfeld, in dem man aufwächst, eine so große Rolle. Es ist vor allem ein biologisches Faktum, dass man mit zwanzig Vater oder Mutter und mit dreißig Mathematikprofessor werden kann, aber es sind Erfahrung und Kultur, die aus einem Menschen einen effektiven Entscheidungsträger, eine Grande Dame oder einen weisen Mann machen. Die Reife dafür erreicht man erst in den Vierzigern, denn dann erst stehen einem in beruflicher und persönlicher Hinsicht die größten Herausforderungen bevor.
Solange es den Menschen gibt, hat er die wichtigen Momente seines Lebens – Geburt, Erwachsensein, Hochzeit, Tod – durch Rituale markiert. Diese Rituale helfen dem Einzelnen wie der Gesellschaft, sich von der alten Rolle zu verabschieden und eine neue Rolle zu übernehmen. Taufe, Kommunion, der erste Schultag oder die Aufnahme in eine Studentenverbindung sind andere Beispiele für Übergangsrituale unserer westlichen Gesellschaft. Der französische Anthropologe Arnold van Gennep (1873–1957) bezeichnete diese Rituale als rites de passage. Er sah in ihnen einen Bestandteil des Sozialisationsprozesses, der Anpassung des Menschen an seine Umgebung.
Seit dem 16. Jahrhundert kennen wir die Lebenstreppe beziehungsweise die «Lebensalterstufen». Dabei handelt es sich um eine Darstellung von «des Menschen Auf- und Niedergang», eine strukturierte, chronologische Einteilung in Form eines Treppengiebels mit einer aufsteigenden Linie, einem Höhepunkt und einer absteigenden Linie mit dem Tod als Endpunkt. Auf den meisten Zeichnungen sieht man eine Lebenstreppe von null bis hundert Jahren in zehn Stufen: links beginnend bei einem Kleinkind, dem die Zukunft offensteht, und rechts endend bei einem buckligen Alten, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Jung und alt stehen als die beiden Extreme auf den untersten Stufen, sie versinnbildlichen, dass Anfang und Ende des Lebens feststehen. Genau in der Mitte, mit fünfzig Jahren, wird die höchste Stufe erreicht: Hier ist ein Mann in all seiner Pracht und Herrlichkeit zu sehen. An diesem Punkt weichen die überlieferten Stiche voneinander ab. Einige Männer werden als lorbeergeschmückte Soldaten gezeigt, andere als erfolgreiche Kaufleute oder Aristokraten. Im Vordergrund ist fast immer das Jüngste Gericht zu sehen. Die Vorstellung vom Lebenslauf war selbstverständlich in die herrschende christliche Moral eingebettet. Das trug zweifellos mit dazu bei, dass bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen Haushalten ein Exemplar der Lebenstreppe an der Wand hing.
Auf den meisten Stichen steht, wie bereits erwähnt, ein Mann an der Spitze, auf einigen Lebenstreppen werden jedoch auch Frauen dargestellt. Auf einer Fassung einer solchen weiblichen Lebenstreppe erreicht die Frau die höchste Stufe bereits mit zwanzig Jahren! Sollten wir daraus ableiten können, dass bei Frauen der Alterungsprozess bereits in jüngeren Jahren einsetzt? Dafür gibt es keine biologischen Argumente, eher ist das Gegenteil der Fall. Frauen leben im Schnitt unter nahezu allen Bedingungen länger als Männer. Um es in aller Kürze zu sagen: Der in diesen Darstellungen von Lebenstreppen unterstellte schnelle Niedergang der Damen zeigt vor allem deren Sozialstatus. Die Lebenstreppen spiegeln schonungslos, wie in den vergangenen Jahrhunderten über den gesellschaftlichen Lebenslauf von Mann und Frau gedacht wurde. Das war übrigens weitaus noch nicht das Schlimmste. Manchen Frauen wurden nach der Menopause magische Kräfte zugeschrieben. «Sie konnten Gras verdorren und Früchte am Baum verschrumpeln lassen.» Frauen aus guten Familien hatten diese Eigenschaften natürlich nicht.
Die rites de passage in den Lebenstreppen führen vor Augen, wie stark Alter, Gesundheit, soziale Stellung und Lebensraum miteinander zusammenhängen. Gerade darum ist es von großer Bedeutung, die zahllosen Erscheinungsformen des Alterns voneinander zu unterscheiden. Es gibt ein kalendarisches, ein biologisches und ein gesellschaftliches Alter, und die Beziehungen zwischen den drei Kategorien hängen von der Zeit ab, in der Menschen leben. Zum Teil sind die unterschiedlichen Altersformen und das jeweilige Umfeld unauflöslich miteinander verbunden, doch viel häufiger liegen diesen Verbindungen bewusste oder unbewusste Entscheidungen zugrunde.
Das kalendarische Alter ist das eindeutigste Phänomen: Jedes Jahr feiern wir unseren Geburtstag. Manchmal sind es Jubeljahre, die einem innerhalb der Gesellschaft einen neuen Status verleihen. Das bezeichnen wir als soziales Alter. So wird man mit achtzehn in der Regel gesetzlich als volljährig anerkannt, man erhält das Stimmrecht und darf ohne Erlaubnis der Eltern seinen Partner heiraten. Dass achtzehn Jahre dafür ein gutes Alter ist, beruht auf einer gesellschaftlichen Festlegung. Vor nicht allzu langer Zeit waren es noch einundzwanzig Jahre gewesen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Lebens bietet das Erreichen des fünfundsechzigsten Lebensjahrs in vielen Ländern Arbeitgebern eine gesetzlich fixierte Gelegenheit, ihre Arbeitnehmer ohne Angabe von Gründen entlassen zu können. Dieses Recht der Arbeitgeber kam auf, als Reichskanzler Otto von Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts mit großer Geste den wenigen Beamten, die ihren fünfundsechzigsten Geburtstag erlebten, eine Pension zahlte. Damit war für viele, sowohl für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer, das fünfundsechzigste Jahr zur Norm erhoben worden, um sich nunmehr aus dem tätigen Leben zu verabschieden und ihre Pension beziehungsweise Rente zu genießen. Dabei treten jedoch große Unterschiede auf: Franzosen wird diese Errungenschaft bereits mit sechzig gegönnt, chinesischen Männern mit fünfundfünfzig und chinesischen Frauen mit fünfzig Lebensjahren.
Es leuchtet ein, dass eine Gesellschaft strikte Altersgrenzen braucht. Aber diese Festlegungen gehen von der Annahme aus, dass die Leistungsfähigkeit von Körper und Geist in einem festen Zusammenhang mit dem kalendarischen Alter steht. Die menschliche Entwicklung ist chronologisch streng festgelegt. Babys lernen zuerst laufen und anschließend sprechen; aber das Tempo, mit dem sie sich entwickeln, kann sehr verschieden sein. Von Ausnahmen abgesehen, ist der Körper mit achtzehn Jahren bereit für Sex und Fortpflanzung, aber der Verstand ist an diesem Geburtstag bei vielen noch keineswegs ausgereift. Die biologische Entwicklung des Gehirns ist weiterhin in vollem Gang und wird erst um das dreißigste Lebensjahr allmählich zum Stillstand gelangen. Die Rechte und Pflichten, die der gesetzliche Erwachsenenstatus, die Volljährigkeit, mit sich bringt, kommen für viele zu früh und für einige andere deutlich zu spät. In hohem Alter treten beim Nachlassen von Körper und Geist – dem Alterungsprozess – noch wesentlich größere Unterschiede zwischen einzelnen Menschen zutage. Einige von uns sehen bereits mit fünfzig Jahren aus wie Achtzigjährige; sie haben ihren Höhepunkt schon längst überschritten. Aber auch das Gegenteil kommt vor: Achtzigjährige, die aussehen wie Menschen im besten Alter. Diese variable Qualität von Körper und Geist bezeichnen wir als das biologische Alter, und deren Degeneration ist ein weiteres Altersphänomen. Es ist nicht logisch, alle Menschen zu einem festgelegten kalendarischen Alter in den Ruhestand zu schicken – dafür fehlt jede medizinisch-biologische Begründung. Für den einen kommt die Pensionierung oder Verrentung (viel) zu früh, für den anderen viel zu spät.
Der Rhythmus des Lebenslaufs – die Abfolge von Entwicklung und Altern – unterscheidet sich bei Säugetieren nicht, sehr wohl dagegen das Tempo, in dem das alles vor sich geht. Im Allgemeinen besteht ein Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit, mit der sich der Körper entwickelt, und der Geschwindigkeit, mit der er altert. Manchmal geht alles sehr schnell, etwa bei den Mäusen. Sie sind innerhalb von sechs Wochen geschlechtsreif und werden nicht viel älter als zwei Jahre. Aber all das kann auch äußerst langsam ablaufen, etwa bei Menschen und Elefanten. Letztere können ebenfalls sehr alt werden; die Tragezeit ist bei Elefanten weitaus länger als bei Menschen, und es dauert auch extrem lange, bis die Elefantenjungen erwachsen sind. Das Entwicklungstempo von Säugetieren wie Hunden und Katzen liegt zwischen dem der Mäuse und dem der Elefanten.
Auch innerhalb einer Art gibt es eine Verbindung zwischen dem Tempo der Entwicklung und dem des Alterns. So zeigen Laborexperimente mit Versuchstieren, dass schnelles Wachstum oder Aufholwachstum nach einer Phase des Mangels den Alterungsprozess beschleunigt. Bei Menschen wurde der Zusammenhang zwischen dem Einsetzen der Pubertät und der Menopause und dem Auftreten von Krankheiten in hohem Alter erforscht. Dabei wurde eine positive Relation zwischen einer spät einsetzenden Pubertät, der Körpergröße und der Knochendichte nachgewiesen. Ableiten lässt sich daraus, dass eine längere Entwicklungszeit zu einem besseren biologischen Ergebnis führt. Dem steht gegenüber, dass hoch gewachsene Menschen ein erhöhtes Risiko haben, an Krebs zu erkranken. Die gängige Interpretation lautet, übermäßiges Wachstum habe nachteilige Folgen.
Im Gegensatz zum kalendarischen Alter, das keinen Schwankungen unterliegt, kann die biologische Entwicklung von Individuen derselben Art offensichtlich stark variieren, ein Phänomen, das die Biologen als «Plastizität» bezeichnen. Ein Hund ist ein Hund, ein Mensch ist ein Mensch, und dennoch gibt es große Unterschiede im individuellen Lebenslauf. Fadenwürmer können als Reaktion auf ungünstige Lebensbedingungen eine vorübergehende Metamorphose durchlaufen – das sogenannte Dauerlarvenstadium –, in dem sie auf «Sparmodus» eingestellt sind, sich nicht fortpflanzen und ungünstigen äußeren Einflüssen Widerstand bieten können. Auf diese Weise kann der Fadenwurm auch unter widrigen Bedingungen lange Zeit überleben. Wenn sich die Gegebenheiten dann zum Besseren wandeln, nehmen die Würmer wieder ihr normales Leben auf und pflanzen sich fort. Der zugrunde liegende biologische Mechanismus dieses Dauerlarvenstadiums hat das Interesse von Wissenschaftlern geweckt, nicht nur wegen seiner Rätselhaftigkeit, sondern auch wegen der potenziell großen medizinischen Bedeutung. Fadenwürmer haben mit ihrem Dauerlarvenstadium einen Lebenslauf, der mit einem langen Leben frei von Krankheit einhergeht, offenbar ohne dass dafür ein Preis zu zahlen wäre. Nicht alle Arten sind mit der Fähigkeit ausgestattet, den Verlauf ihres Lebens durch Zwischenschaltung eines «Pausenzustands» so flexibel, aber auch so weitgehend der Umgebung anzupassen. Bei Menschen ist diese Anlage eher gering ausgeprägt. Bären, die Winterschlaf halten, sind dazu schon besser in der Lage, und die erwähnten Fadenwürmer sind diesbezüglich anscheinend optimal ausgerüstet. «Plastizität» ist anscheinend im genetischen Code festgelegt und für einige Arten eine notwendige Eigenschaft, um sie vor dem Aussterben zu bewahren.
Die Epoche, in der man lebt, ist von großer Bedeutung für die verschiedenen Erscheinungsformen des Alterns. Vergleicht man die Situation von heute mit der vor hundert Jahren, wird deutlich, wie sehr unser Lebenslauf von der Umgebung abhängt. Betrug die durchschnittliche Lebenserwartung vor einigen Generationen noch circa vierzig Jahre, hat sie sich in den entwickelten Ländern heute in etwa verdoppelt. Wir bleiben auch länger gesund. War man in einer althergebrachten Umgebung nach achtzehn Jahren ausreichend auf das Leben vorbereitet, werden heute an einen Erwachsenen in psychischer und emotionaler Hinsicht viel höhere Anforderungen gestellt, er muss nach dem achtzehnten Lebensjahr noch viel dazulernen. Und diese Erwartung scheint eher zu- als abzunehmen. In der modernen Zeit müssen wir uns ein Leben lang weiterentwickeln. Die sozialen und technischen Entwicklungen folgen so schnell aufeinander, dass einmal erworbenes Wissen und einmal erworbene Fähigkeiten schnell veralten und Menschen gesellschaftlich rasch ins Hintertreffen geraten. Möglicherweise haben viele Männer aus diesem Grund heute bereits vor ihrem fünfzigsten Geburtstag den Gipfel ihrer Karriere erreicht. Umgekehrt werden Frauen mit dreißig gesellschaftlich nicht mehr ausrangiert. In all diesen Veränderungen lassen sich nur schwer Gesetzmäßigkeiten entdecken. Jede Zeit, jede Gesellschaft hat ihre Chancen, ihre Moral und ihre Gepflogenheiten. Aber was wir von uns selbst und in sozialer Hinsicht voneinander erwarten, lässt sich natürlich nicht völlig von unserem biologischen Alter abkoppeln, von dem Zeitpunkt, an dem wir erwachsen sind oder krank und abhängig werden.
Immerhin: Die moderne Zeit bietet uns mehr Möglichkeiten als je zuvor. So entstanden 1968 überall auf der Welt – in der Nachfolge der Pariser Studentenrevolte – zahlreiche Bürgerinitiativen. Deren Ziel war es, den traditionellen Lebenslauf von Männern und Frauen, wie er in der Lebenstreppe dargestellt wird, grundlegend zu verändern. Man wollte die Verknüpfung von kalendarischem, biologischem und gesellschaftlichem Alter auflösen, weil man sie nicht mehr zutreffend fand. Dank gravierender medizinisch-technischer Entwicklungen überschlugen sich diese gesellschaftlichen Entwicklungen. Sex und Fortpflanzung, bis dahin durch kalendarisches und biologisches Alter aneinandergeschmiedet, wurden nun der Entscheidung des Einzelnen überlassen. Die Antibabypille gab Frauen und Männern die Möglichkeit, die Fortpflanzung aufzuschieben oder sogar ganz darauf zu verzichten. Damit geriet auch das soziale Alter ins Trudeln. Die Hochzeit war nicht länger das Übergangsritual zur Elternschaft. Die Verantwortung für Kinder konnte aufgeschoben oder ohne eine eheliche Verbindung übernommen werden. Auch hier haben sich die medizinischen Entwicklungen und die gesellschaftlichen Entkopplungsprozesse wechselseitig verstärkt. In-vitro-Fertilisation schuf die Möglichkeit, mithilfe eines Spenders Kinder zur Welt zu bringen, wenn einer der Ehepartner unfruchtbar war. Nun konnte man selbst noch in einem Alter Kinder bekommen, in dem das früher unmöglich gewesen war. Kurz gesagt: Der Hang zu einem neuen, stärker individuell geprägten Lebenslauf wurde durch eine teilweise Trennung von Fruchtbarkeit, Alterungsprozess und kalendarischem Alter möglich.
Anpassung an die Umgebung – Sozialisation, wie es Arnold van Gennep bezeichnete – ist wesentlich für das Überleben und die Sorge für die Nachkommen. Natürliche Auslese spielt dabei eine entscheidende Rolle. Wir haben nicht die Plastizität von Fadenwürmern beziehungsweise deren Fähigkeit, die Gestalt zu wechseln und damit das Altern hinauszuzögern. Der Rhythmus des menschlichen Lebenslaufs ist größtenteils festgelegt. Aber wir sind durchaus mehr und mehr in der Lage, biologische Prozesse zu beeinflussen, die früher unabänderlich zu sein schienen. Es ist einfach faszinierend, dass wir seit fünfzig Jahren den strikten Zusammenhang von kalendarischem und biologischem Alter auflösen können, weil es uns gesellschaftlich angemessener erscheint.
Hydra ist nicht nur der Name eines
vielköpfigen Ungeheuers, sondern auch der
eines speziellen Süßwasserpolypen.
Diese Tiere bilden anscheinend die Ausnahme
von der Regel, dass alles altert,
und zwar wegen ihrer ungewöhnlichen
Fähigkeit, erlittene Schäden zu reparieren.
Menschen verfügen nur in beschränktem Maße
über die Möglichkeit zu Reparatur und Genesung.
Viele Schäden sind irreversibel – etwa ein verlorenes
Fingerglied. Aber es gibt Menschen mit
überdurchschnittlichen Selbstheilungskräften.
Sie werden älter als andere und sind seltener krank.
Menschen werden zwar nie unsterblich sein, dennoch
können wir den von Beschädigungen verursachten
Alterungsprozess offenbar aufschieben.
Der Sommer erweckt Wassergräben zum Leben. Die Dotterblumen blühen, Libellen schwirren über dem Wasser und die Uferböschungen bieten vielen Vögeln Brutplätze. Mit dem Kescher kann man alles Mögliche aus dem Wasser fischen: einen Stichling zum Beispiel, aber auch eine Hydra, einen Süßwasserpolypen.