Birgit Obrowsky
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Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR
April 2021
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2021 Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Texte: © Copyright by Birgit Obrowsky
Lektorat: Nadja Bobik
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Coverdesign: Verena Ebner
Layout: Verena Ebner
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Unser ganzes Leben ist ein Film, nur halten wir keine Filmkamera in der Hand. Aber am Ende sind wir alle zu jeder Zeit entweder Zuschauer bestimmter Ereignisse, Darsteller oder auch Drehbuchautor, wenn wir uns dazu entschließen. Alles liegt in unserer Hand. Der Moment der bewussten oder unbewussten Entscheidung verursacht im Außen eine Handlung, die wir setzen.
Einzig als Kind werden wir durch unser Umfeld oft in eine Rolle gezwängt, weil uns die nötige Selbstbestimmtheit noch fehlt, die Augenblicke und das Geschehen vollkommen frei wahrzunehmen. Im Zuge des Erwachsenwerdens, das uns mehr und mehr in die Eigenverantwortung führen soll, gelangen wir oft nicht ganz dahin, weil wir in alten Mustern und erlernten Rollen anderer festhängen, ohne es zu wissen.
Dieses Buch erzählt die Geschichte von Magdalena L.
Du kannst Magdalena L. sein, sie kann ein Teil von mir sein, sie kann alles sein – je nachdem, was du als Leser in ihren Erzählungen erkennen möchtest. Im Grunde sind wir alle aus demselben Ursprung entstanden und dadurch auch miteinander verbunden.
Wonach viele Menschen in der heutigen Zeit suchen, sind Puzzleteile, die eine Möglichkeit bieten, uns selbst zu finden, um mit dem Herzen erkennen zu können, wer wir wirklich sind, frei von Definitionen, Rollenbildern, Werten und Normen anderer. Erst die Freiheit der Erkenntnis mit dem Herzen bringt uns wahren Frieden und Unabhängigkeit, die nicht mehr an das Außen in Form von gestellten Bedingungen geknüpft sind, sondern rein im Innersten stattfinden. Äußere Umstände dienen lediglich dazu, uns zu erkennen, in den tiefsten Tiefen, damit alte Wunden und alter Schmerz heilen kann.
Wir alle haben viel erlebt. Vieles, das von klein an einfach verdrängt wurde. Wir tragen viele Wunden, die vielleicht niemals die unseren waren. Diese wollen gesehen werden, mit dem Herzen, damit sie heilen können und damit nur übrig bleibt, was wir wahrhaftig sind.
Ich bin der Meinung, dass jede Seele in diesem Leben einen Plan hat. Dieser Plan lautet: Mach dich frei von alledem, was nicht deiner höchsten Wahrheit entspricht, damit du endlich der einzigartige Mensch sein darfst, der du immer schon warst und auch heute noch bist.
Möge dieses Buch Liebe und Freude für dich selbst und folglich auch für deine Mitmenschen bringen, Tränen, die dich reinigen, wenn du dich in dem einen oder anderen Kapitel vielleicht wiedererkennst. Es ist eine liebevolle Erinnerung an die Stimme, die dich durch das Leben leiten darf, in purer Freude, Dankbarkeit und Liebe. Ich wünsche dir, dass dein Herz sich öffnen darf, für dich und die Welt, in der du lebst. Möge es Frieden finden und diese Seiten mit einem Lächeln beenden, das dir sagt: Du bist ganz wundervoll, genau so, wie du bist und es immer schon warst!
Alles Liebe und ein offenes Herz beim Lesen wünscht
Birgit Obrowsky
Dieses Buch ist eine Geschichte. Die Geschichte von Magdalena L. Sie erzählt davon, wie sie ihren Kopf zum Schweigen brachte und ihr Herz zu öffnen lernte. Magdalena fand sozusagen Zugang zu der Essenz, die uns allen innewohnt.
Das hier ist kein klassischer Ratgeber für den Kopf. Es ist, was es ist: eine Erzählung von Herz zu Herz. Offen, frei, unverblümt, nackt, entblößt – von Seele zu Seele.
Magdalena ist kein Promi. Auch kein „Z-Promi“. Sie ist einfach nur ein Mensch, wie du es auch bist. Genau genommen ist sie eine Frau, die ihr Leben irgendwann komplett auf den Kopf gestellt hat, um sich selbst kennenzulernen, eine Frau, die immer schon mehr gesehen und gespürt hat. Aufgrund ihrer Erfahrungen gewährt sie dir Einsicht in die verschiedensten Lebensbereiche und berührt damit vielleicht ein Stück weit dein Herz. So bringt sie möglicherweise unbewusste, verborgene Flecken zum Vorschein, damit du diese endlich erlösend und liebevoll als altes Kapitel abschließen kannst und eine lange Suche ein friedvolles Ende nehmen darf.
Du und ich, wir alle, werden immer wieder von unseren Gedanken gesteuert und vergessen dabei zu spüren, wer wir im Herzen wirklich sind, frei von Definitionen, denen wir uns immer wieder unterwerfen. Oft fragen wir uns dann, warum sich gewisse Dinge immer wiederholen, warum wir immer wieder an ähnliche Menschen geraten oder das Gefühl haben, nicht von der Stelle zu kommen. Warum so manche Emotionen immer wiederkehren und unser Innerstes keinen Frieden findet. Warum wir ständig nach Glück streben und nicht erkennen, dass es schon vor unserer Nase wartet.
Wir sind geprägt von Gedanken, die bloß Geschichten waren, welche man uns als kleine Kinder erzählt hat. Geschichten, die Generationen vor uns bereits gelehrt und an uns weitergegeben wurden, in der liebenden Annahme, sie seien die Wahrheit, die über allem steht. Und irgendwann, auf dem Weg des Erwachsenwerdens, waren es nicht mehr die anderen, die uns Geschichten erzählten, sondern wir selbst. Weil wir es so gelernt haben. So interpretieren wir die Welt oft nur mit dem Kopf, statt mit offenem Herzen. Mehr im Außen zu sein als im Innen.
Irgendwann meldete sich in Magdalena eine Stimme, ihre Herzensstimme. Jene Stimme, die sie unwissend von klein auf gegen die Stimmen der anderen Menschen in ihrem Umfeld getauscht hatte. Sie veränderte ihr Leben Schritt für Schritt und lernte zu fühlen, dass Liebe weit größer ist als Angst, Mut stärker ist als Konformität, und vor allem, dass jegliche Antwort, die sie im Außen suchte, nur in ihr zu finden war und ist. Das war ein Phänomen, das ihr Kopf schon lange Zeit wusste, aber nicht verstand, wie er es umsetzen konnte, weil er nur in den altbekannten Bahnen kreiste, statt sich auf Neues einzulassen. Erst ihr Herzenszugang ermöglichte ihr, fühlen zu lernen, und lehrte sie, sich selbst wahrhaftig zu spüren und für sich einzustehen, um damit auch liebevoller im Außen sein zu können – nicht im Kopf, sondern eben im Herzen.
Nun möchte ich dich durch ihre Geschichte mit auf die Reise nehmen.
Vielleicht entdeckst du durch sie auch noch den einen oder anderen
dir bisher verborgenen Zugang zu deinem eigenen Herzen.
Zu Beginn als Einstieg eine kleine Geschichte, die dich auf dieses Buch einstimmt, welches gerne mehr und mehr von deinem Herzen gelesen werden möchte.
Irgendwann, an einem lauen Sommerabend, hörte Magdalena ihr Herz das erste Mal flüstern: „Leg deinen Mantel ab. Den Mantel, den du schon so lange trägst, der alt und runzelig ist, und durchnässt von Schnee und Regen und wieder Schnee und Regen. So viele Jahre hast du ihn getragen, würdevoll, in der Annahme, er gehöre zu dir.
Leg den Mantel ab, in dem all die Sorgen stecken, die du nicht haben musst. All die Sorgen um dich selbst, all die Härte, all das ‚Ich erlaube es mir nicht, weil so viele andere es auch nicht durften oder es nicht geschafft haben.‘Unter diesem Mantel schlägt dein Herz, mal schneller und mal langsamer, mal so schnell, dass du glaubst, du bekommst keine Luft mehr. In Momenten, wo es vor Freude springen möchte und du den Mantel noch enger zuknöpfst, damit niemand die Tränen sehen kann, die du darunter weinst, weil du Angst davor hast, es zu hören. In Momenten, wo du wieder das eine oder andere Zeichen vom Außen bekommst, das dich dazu veranlasst, den Kragen besonders hoch zu stellen, damit niemand unter das Kleidungsstück blicken kann.
Je enger du den Mantel ziehst, desto mehr schnürst du es ein, dein Herz. Nur der Kopf ist frei. Unbedeckt. Der Kopf, der dir immer wieder weismachen möchte, dass du noch nicht so weit bist, nicht gut genug bist, um dieses oder jenes zu tun.
Die vielen Knöpfe sind längst lose, halb herabhängend, nur noch an einem seidenen Faden. Ich spüre deine Angst. Was, wenn einer von ihnen abfällt? Was, wenn er den Mantel nicht mehr halten kann? Was, wenn du dich zeigen musst? Was, wenn du plötzlich nackt dastehst, entblößt in all deiner Schönheit, die so viel mehr aussagt als dein enges Kleidungsstück, das längst spürt, dass es Zeit ist abzufallen?
Erlaube dir, zu fühlen. Erlaube dir, ganz tief drinnen zu spüren, was dein Herz dir sagen möchte. All das, was du in deinem Leben bisher vom Außen gelernt hast, ist Geschichte. All das hat dich zu einem Menschen gemacht, der sich erkennt. Der Verstand war dir jahrelang ein guter Begleiter, der dich über der Tiefe gehalten hat, damit du nicht abtauchst, in deine Gefühlswelt, in all das ‚Ich habe Angst, ich zu sein, habe Angst, dass es mir genauso ergeht wie meiner Mutter, meinem Vater, dass ich an meinen Träumen scheitere, weil ich sie nie leben konnte.‘
Und nun bist du so weit gekommen. Nicht, weil du größenwahnsinnig bist, sondern weil dein Herz so wild und hefig pocht, dass du nicht anders konntest, als deinen Kopf auszutricksen. Stell dir vor, das ist einfach passiert, ohne seine Kontrolle. Ohne sein Stopp. Ohne Zweifel, einfach mittendurch durch die Steine, die eigentlich keine waren, denn sonst wärst du nicht so leicht hindurchgekommen, ohne darüber nachzudenken, wie du denn durchkommen könntest.
Nun stehst du da, mit deinem dicken, nassen, abgewetzten Mantel mit den losen Knöpfen, und versuchst, mit deinen schönen Händen zusammenzuziehen, was geht, damit er hält, was längst nicht mehr zu halten ist.
Jedes Mal, wenn du Menschen beobachtest, die ihre Träume verwirklichen, was spürst du da? Bevor der nächste Knopf sich schließt? Was spürst du, wenn du verliebte Menschen siehst, die sich Nähe entgegenbringen anstatt Härte? Bevor ein weiterer Knopf geschlossen wird?
Was spürst du, wenn Menschen um dich herum leiden? Vielleicht ein wenig von dem Leid, das du dir selbst zufügst? Vielleicht aber auch das starke Gefühl von Veränderung, von ‚so nicht, bitte‘, von ‚steh auf und lebe!‘?
Wenn du ein Maßband nimmst, davon etwa ein Drittel einfach abschneidest und dir ansiehst, was übrigbleibt – dann weißt du, wie viel du bereits gelebt hast und wie viel dir noch bleibt. Egal, was passiert ist, welche Geschichten du durchleben musstest und welche Bürden dir als kleines Mädchen oder kleiner Junge auferlegt wurden: Es ist Zeit. Deine Zeit. Zeit, zu erwachen, Zeit, diesen Mantel aufzureißen, zu weinen, zu schreien und alles loszulassen, was dein Herz all die Jahre einsammeln musste, wovon vieles einfach nicht zu dir gehört.
Du darfst erhobenen Hauptes und ohne Angst all die Gefühle, die du längst nicht mehr (er)tragen kannst, zurückgeben – an das Universum, an die Menschen, die sie dir aus gut gemeinter Sorge oder falscher Liebe übergeben haben. Du darfst sie abgeben, dich von einer Last befreien, die dich bisher schützend zu halten versucht hat.
Zu halten, fragst du? Ja, zu halten. In einem engen Korsett, dessen Fäden aus Geschichten gesponnen wurden, die du erleben musstest, und die meist nicht deine Geschichten waren.
Schrei all deine Angst und deine Wut zum Himmel, lass Tränen fließen, schlage gegen ein Kissen, stampfe auf den Boden. Du hast alles Recht dieser Welt, deine Stimme zu erheben und sie von all den fremden Stimmen zu entlasten, die sich über die Jahre hinweg hinzugemischt haben, ohne zu fragen.
Leg deine Hand auf dein Herz, halt es fest, spüre es. Spüre deine Lebendigkeit, dein Feuer, deine Gefühle, deine Geschichte. Es ist Zeit dafür.
Und auch, wenn du keine Ahnung hast, wo du anfangen sollst, mit deiner Geschichte, mach den ersten Schritt. Und noch einen. Siehst du? Das waren schon zwei Schritte deiner Geschichte, und viele weitere werden folgen. Du darfst dich achten, lieben und ehren. Du darfst alles tun, was dein Herz begehrt. Du darfst deine Stimme erheben, deine Gefühle äußern. Du darfst du sein, ohne Mantel, ohne Fäden, ohne Knöpfe. Frei.
Und sei dir sicher: Dein Herz wird zu dir flüstern. Das hat es immer schon getan. Immer. Das Einzige, was du endlich tun darfst, ist, ihm aufmerksam zu lauschen. Zu lauschen, was es zu sagen hat. Es gibt im Leben kein Richtig oder Falsch. Denn egal, was du machst – es geht immer weiter. Dein Herz ist entdeckungsfreudig. Lass dich auf seine Ideen ein. Lehne sie nicht ab, nur, weil du sie noch nicht kennst. Vertraue darauf, dass es weit besser weiß, was gut für dich ist, als die vielen Fäden dieses Mantels.
Und gönne deinem Kopf eine Auszeit. Er hat nur umgesetzt, was die Fäden in deinem Mantel abgespeichert hatten: Informationen anderer, Informationen, die Jahre her sind und längst veraltet.
Schreibe deine Geschichte, schreibe sie ganz neu und ganz anders, als du es je für möglich gehalten hast. Trau dich! Zieh den Mantel aus und lauf los in deine Freiheit, nackt, entblößt, ohne Maske, ohne Schminke.
Lauf los!“
Nun erzähle ich die Geschichte von Magdalena. Sie möchte für dich spürbar machen, dass der größte Heiler in dir selbst steckt und vieles nur eine Frage des Blickwinkels ist. Das Einzige, was beitragen darfst, ist die Verbindung zu dir und deiner Wahrheit, deinem Herzen, zu finden. Jeder von uns hat seinen ganz eigenen besonderen Zugang, der wie ein Schatz darauf wartet, entdeckt zu werden, unerreichbar durch den Kopf und seine Gedanken. Man findet ihn eines Tages, wenn man aufhört zu suchen und am wenigsten damit rechnet. Dann, wenn der Kopf still wird, die Gedanken ruhiger werden und das Herz immer mehr sprechen darf.
Magdalenas Verbindung war schon sehr früh das Schreiben. Durch Worte auf Papier konnte sie Kontakt zu ihrem Unterbewusstsein aufnehmen und verarbeiten, was für den Verstand nicht greifbar war. Erkannt hat sie das allerdings erst im Erwachsenenalter. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr nicht ansatzweise klar, welche Möglichkeiten sich ihr damit eröffneten.
Es ist also nie zu spät, dich selbst kennenzulernen und deinen eigenen Zugang zu entdecken. Nie zu spät, dich an das mutige Kind in dir zu erinnern, nie zu spät, den ersten Schritt zu wagen. Den ersten Schritt in dein Leben.
Lerne dich kennen und vergib dir selbst
Viele gute Geschichten beginnen mit den Worten „Es war einmal …“
Also: Es war einmal eine Frau namens Magdalena.
Ein Name. Für die Seele ein absolut unwichtiges Detail. Sie kennt weder Raum und Zeit noch sinnlose Benennungen. Sie ist einfach. Da Magdalena aber nicht von klein an wusste, dass sie eine Seele hat, gewannen beide Faktoren rasch an Bedeutung für ihr Leben.
Ob Magdalena ein Geschenk war, weiß sie nicht. Ein Geschenk ist man nur dann, wenn Mutter und Vater freudestrahlend vor ihrem gerade geschlüpften, schreienden Baby stehen und innerlich Luftsprünge machen. Ihre Mutter tat das bestimmt. Ihr Vater wohl eher nicht. Er war ein Mann, den sie nie richtig kennengelernt hat. Das Einzige, was sie von ihm bis zu ihrem Teenageralter erlebte, war sein Alkohol. Sein Alkohol und er, gepaart mit Wutausbrüchen, Terror, Gestank und schlechter Laune. Wenn er einmal nüchtern war, dann hielt das nicht lange an. Eigentlich hätte Magdalena ein Junge werden sollen. Irgendwann vernahm sie diese Aussage in einem Gespräch anderer Personen aus der Familie.
Heute versteht sie, dass die Tatsache, ein Mädchen geworden zu sein, wohl mit ausschlaggebend für die Distanz und Wut ihres Vaters war.
Nun gut. Da war es also, das etwas pummelige kleine Mädchen, das schon nach ein paar Monaten Beinchen wie ein Michelin-Männchen hatte und beim Anblick von alten Kinderfotos erkennbar macht, dass esspäter Probleme haben könnte, die Beinchen übereinanderzuschlagen. Liebevolle Bezeichnungen ihrer Großmutter unter den Bildern im eingeklebten Album, wie „Der Wonneproppen“, untermalten das noch für Menschen, die es nicht von sich aus erkannten.
Das kleine Mädchen war meist zu laut, zu ungestüm, zu unaufmerksam, zu wild, zu ungezogen. Zu wenig Vorzeigekind, und am Ende zu viel von dem, was andere sich selbst zu wenig erlaubten zu sein. Es war schlichtweg lebendig. Es war Kind.
Tief in sich drin spürte Magdalena damals schon: Diese Familie hatte so viel mit sich selbst zu tun, dass sie einfach zu viel war. Und irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht das einzige Kind war, das intuitiv dieses Gefühl empfand. So lernte sie unbewusst rasch: „In dieser Welt, wo dich keiner versteht, wo jeder so viel mit sich selbst zu tun hat, ohne es zu wissen, kannst du nur gut überleben, wenn du dich deinem Außen anpasst. Wenn du blitzschnell spürst, was deine Mutter oder dein Vater braucht, oder sich von dir wünscht, um ihnen das Leben so angenehm wie möglich zu machen, dann bist du sicher.“
Wenn sie weiter das Kind geblieben wäre, das nach seinen eigenen Sinnen, Wünschen und Gefühlen agiert hatte, wäre sie untergegangen. Und der Rest gleich mit. Denn diese Stärke besitzt ein kleines Kind nicht. Was es aber besitzt, ist ein hoher Grad an Sensibilität. Es spürt. Alles. Wirklich alles.
Es spürt, wenn die Mutter traurig und verzweifelt ist. Es spürt, wenn der Vater Dinge tut, die andere Väter nicht tun, spürt seine Ohnmacht und seine Härte. Nur kann es diese Gefühle noch nicht richtig zuordnen und bezieht alles auf sich. Denn der einzige Wunsch eines kleinen Kindes ist, bedingungslos geliebt zu werden, und das Schlimmste, was einem kleinen Wesen widerfahren kann, ist es, das tiefe Gefühl zu entwickeln, die Schuld daran zu tragen, dass es seinen Eltern nicht gut geht.
Die Erklärung dafür ist ganz einfach: Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir noch rein, unbeschadet, unvoreingenommen, ungebrannt. Es gibt keine gespeicherten Autobahnen im Gehirn, mit einer Beschilderung aus Erfahrungen oder Erinnerungen, die uns zu Verstehen gibt: „Da geht es lang!“ Es gibt keinen geprägten Verstand, der schneller urteilt und glaubt, Bescheid zu wissen. Es gibt nur ein reines Herz und eine Seele, und den offenen Kopf, der bereit ist, zu lernen und sich konditionieren zu lassen, um etwas zu werden, was er noch nicht ist. Dafür ist unser Umfeld zuständig.
Bestimmt hat sich die Seele von Magdalena genau diese Familie ausgesucht und genau dieses Leben, um zu lernen. Denn dafür sind wir da – um zu lernen, uns aus angelernten Konstrukten und Fahrbahnen im Gehirn zu befreien, und um unseren wahren Kern und damit unser eigenes Glück zu finden, das vollkommen frei von Definitionen, Ansichten und Erwartungen anderer ist. Sie versuchte lange Zeit, ihr Gespür in diese Familie zu bringen. Das Gespür, das sie alle selbst irgendwann als Kind verloren hatten, um ihrer damaligen Familie zu entsprechen. Das zu tun, was deren Meinung nach richtig war.
Dazwischen war sie der Zwangsrebell, der sich nicht anders zu helfen wusste, als sein Ungerechtigkeitsempfinden durch Wut und Tränen zu äußern. Die Möglichkeit, die Situation zu verändern, hatte sie nicht. Sie war dem Außen ausgeliefert, sie war Kind, genauso, wie sich ihre Mutter und ihr Vater in deren Ehe ausgeliefert fühlten und von Ohnmacht befallen waren, weil sie ihre inneren Kinder nie erlöst hatten. Der eine war vielleicht Retter, der andere Opfer, und am Ende waren beide auch Täter. Und Magdalena mittendrin, in ihrem selbstgebauten Käfig.
Natürlich verstand sie mit ihrem kleinen Kopf und noch nicht „funktionierenden“ Verstand nicht, was das alles sollte. Warum sie ständig anders sein sollte als sie nun mal zu sein fühlte. Sie war noch zu klein, um Emotionen erklären zu können, da gab es nur laute Schreie, die sie herausbrachte. Sie konnte nicht erklären, warum oftmals eine Gefahr lauerte, wo sie nicht ansatzweise eine gesehen hatte. Warum leise zu sein besser war als laut zu sein und die Stimme zu nutzen. Warum es so wichtig war, was alle anderen im Außen denken.
Erst als sie begonnen hatte, diese Welt zu hinterfragen, die richtigen Fragen stellen lernte, in Geschichten eintauchte, konnte sie langsam verstehen. Und sie konnte nicht nur verstehen, sondern vor allem die Welt der anderen fühlen. Nur ihre eigene nicht, weil sie zu sehr darauf konzentriert war, im Außen alles unter Kontrolle zu halten, damit vielleicht der eine oder andere Streit nicht stattfand.
Sie hatte also schon sehr früh gespürt, was da im Außen passierte, war aber nicht fähig, es zuzuordnen. Ein Kind besitzt die Fähigkeit nicht, reflektiert auf die Dinge zu schauen. Im Gegenteil: Es nimmt im Alter von null bis sieben Jahren alles auf, was ihm über den Weg rennt, ist wie ein Computer, der alles auf seiner Festplatte abspeichert, ohne filtern zu können, was stimmig ist und was nicht. Diese Festplatte ist übrigens unser Unterbewusstsein, der Ort, wo alles festsitzt, was sich in diesem Alter im Außen zeigt. Wir Menschen schöpfen in weiterer Folge nach diesen sieben Jahren zu 95 % die Antworten für all unsere Entscheidungen und unser Tun aus eben diesem Speicherplatz. Das bedeutet, dass das wahre Bewusstsein, also der Teil, der wirklich nur unserem eigenen wahren Selbst entspricht, nur 5 % ausmacht. Und das unser ganzes Leben lang.
Es sei denn, wir beginnen, uns dann und wann zu hinterfragen und gehen auf die Suche nach „dem wahren Selbst“. Tun wir das nicht, können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass vieles, was uns widerfährt und wo unsere Stimme gefragt ist, am Ende die Stimme unserer Mutter, unseres Vaters oder unserer Ahnen ist. Eine jener Stimmen, die sich in unserem zarten Kindesalter in den Programmspeicher verirrt haben und dort ihr Unwesen treiben.
Heute weiß Magdalena, dass sie über einen hohen Grad an Sensibilität verfügt. Hochsensibel – der neumoderne Ausdruck des 20. Jahrhunderts. Auch wieder so eine Geschichte mit einer Bezeichnung, denn eigentlich war Magdalena einfach nur ein lebhaftes, sehr viel wahrnehmendes Kind. Ein Kind, das immer mehr spürte als andere, das Emotionen und Geräusche aufsaugte wie ein Staubsauger und sie nah heranließ an sein zartes Kinderherz, ohne etwas dagegen tun zu können. Ein Kind, das sich am Ende selbst vergaß, weil das Geschehen im Außen zu viel wurde und sein kleiner Körper das alles nicht mehr abspeichern konnte. Heute weiß sie, dass der Grund, warum sie damals nie genug oder zu laut und zu ungestüm war, der war, dass sie es gewagt hat, ihr inneres Kind am Leben halten zu wollen.
Irgendwann, als alles im Außen zu viel wurde, gab sie auf und fügte sich dem, was das Außen wollte, damit es in dem kleinen Köpfchen leiser werden konnte. Heute spürt sie für sich, dass ihre Stimmen großteils nur eine Wiedergabe dessen waren, was sie vom Außen aufgenommen hat. Und manchmal war das wirklich viel.
Magdalena sammelte viele Puzzleteile in ihrem Leben, die im Laufe ihrer Entwicklung ihr eigenes Bild ergaben. Meist dann, wenn sie nicht danach suchte – dann suchten sie einfach den Weg zu ihr.
Vor ihrer Erkenntnis, eine sehr sensible Frau zu sein, war ihr nicht ansatzweise klar, dass es für dieses Verhalten auch eine Bezeichnung gibt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert sie war, als sie erfuhr: „Das, was du bist, ist vollkommen okay! Es ist mehr als das. Es ist ein Geschenk.“ Ein Geschenk, endlich in Ordnung zu sein, so wie sie war.
Einerseits war das erleichternd, andererseits warf es die Frage auf: „Wie kann das ein Geschenk sein, wenn ich so viel spüre?“ Sie spürte Dinge, die andere selbst noch nicht spürten, und deshalb erklärten sie sie für verrückt. Gefühle, von denen sie oft nicht genau wusste, ob es ihre eigenen waren oder die der anderen. Immer wieder wurde sie an den Pranger gestellt, wenn sie aussprach, was andere sich (noch) nicht erlaubten, oder gar noch nicht von ihrem Unterbewusstsein in ihr Bewusstsein geholt hatten. Was also war hier das Geschenk, außer, dass sie immer wieder recht früh schon erkannte, was sich stimmig und nicht stimmig anfühlte? Jahrelang besaß sie dennoch nicht die Stärke, auch danach zu handeln, weil ihre Angst, zurückgewiesen zu werden, zu groß war.
Für andere war sie immer schon das „Sensibelchen“ gewesen, das sich gern in etwas hineinsteigert. Zu viele Menschen auf einem Fleck ertrug Magdalena nur schwer. Sie wollte von der Party weg, die gerade erst begonnen hatte, weil es zu laut, zu voll war, konnte aber damals noch keine Erklärung liefern, denn man hatte ihr beigebracht: „Benimm dich bitte!“
Sie spürte Dinge, die vom bloßen Auge nicht wahrgenommen werden konnten und die viele andere nicht verstanden. Jedes Wort, ob ausgesprochen oder nicht, jede Aktion und jede Energie landete mitten in ihrem Herzen. Sie dachte oft, sie wäre einfach anders, passe nicht in diese Welt und würde hier wohl nie ihren Platz finden.
Eine leise Stimme, die sie noch nicht deutlich hören konnte, flüsterte ihr damals schon zu: ihr Herz.
Diese eine von all den Stimmen, die wahrhaftig die ihre war, flüsterte schlussendlich leise: „Du bist einfach du, mit all dem, was dich ausmacht. Bezeichnungen, Schubladisierungen – das spielt alles keine Rolle, wenn du dich annimmst, wie du bist.