Copyright: © Karin Firlus / November 2020
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Karin Firlus
DIE MUSCHEL VON SANT JOSEP
PROLOG
Speyer, im Mai
Sie hatten bereits zwei Viertel Riesling intus, als Silvia Marlene leicht in die Rippen stieß. „Schau mal da vorne: Madame Soraya – Lassen Sie sich Ihre Zukunft aus der Hand lesen!“
Marlene sah zu dem dunkelblauen Zelt weiter vorne, das sich in seiner Schlichtheit von den grellbunten, marktschreierischen Buden der Kirmes abhob. „Glaubst du etwa an so etwas?“
Ihre Studienkollegin zuckte mit den Schultern. „Irgendwie würde es mich schon reizen.“
Sie gingen ein Stück weiter. Am Süßwarenstand gegenüber dem blauen Zelt kauften sie sich spontan Mohrenköpfe. Marlene biss genüsslich in die weiche Eischneemasse mit Schokolade und Kokosraspeln. Sie stöhnte wohlig.
Als sie sich umdrehte, stand vor dem blauen Zelt eine zierliche Frau mittleren Alters: schwarze, kurze Haare, schwarze Leinenhose mit lässiger weißer Bluse. Von ihren Ohren baumelten große, goldene Kreolen. Sie sah Marlene direkt in die Augen, dann nickte sie. „Bitte kommen Sie!“ Mit einer einladenden Handbewegung schob sie den Vorhang aus blauen und silbernen Glitzerteilchen zur Seite.
Marlene starrte sie verblüfft an. „Meinen Sie mich?“
Die Frau nickte. „Treten Sie ein.“
Marlene tat einen Schritt auf sie zu, dann sah sie verunsichert zu Silvia.
Sie zuckte mit den Schultern. „Na los, vielleicht wird’s ja ganz lustig.“
Marlene stopfte den Rest ihres Mohrenkopfes in den Mund. Wie hypnotisiert bewegte sie sich auf den Zelteingang zu und schritt hindurch. Sylvia folgte ihr dicht auf den Fersen. Die Frau beachtete sie nicht, sie sah unverwandt Marlene an.
Drinnen war es überraschend angenehm; etwas kühler als draußen, ein leichtes Aroma von Räucherstäbchen wehte ihr um die Nase. War das Rosenduft? Von irgendwoher tönten sanfte Mandolinenklänge durch den abgedunkelten Raum. In der Mitte stand ein einfacher Holztisch mit Stühlen, eine hohe, türkisfarbene Kerze verströmte schwaches Licht.
Die Frau bot ihren Besucherinnen die beiden Stühle vor dem Tisch an, sie setzte sich auf den Schemel dahinter und musterte wieder Marlene. „Geben Sie mir Ihre linke Hand, bitte.“
Sie streckte sie aus und leckte automatisch die aufgeweichte Schokolade von ihrer rechten Handinnenfläche, in der sie den Mohrenkopf gehalten hatte. Verschämt wischte sie dann die Hand an ihrer Jeans ab.
„Sie hatten eine behütete Kindheit und bisher hat das Leben Ihnen noch keine Prüfungen auferlegt.“
‚Stimmt‘, dachte Marlene, aber einer jungen Frau so etwas zu erzählen und damit recht zu behalten, barg eine Trefferquote von etwa neunzig Prozent.
„In letzter Zeit hatten Sie viel Arbeit und manchen Ärger … eine Belastungsprobe steht kurz bevor und der bisherige Lebensabschnitt geht zu Ende.“
Die beiden Frauen sahen sich verwundert an; Marlene würde in drei Tagen ihr zweites Staatsexamen ablegen.
Die Frau schob die Kerze etwas näher heran und kniff die Augen zusammen. „Es steht eine komplette Veränderung in Ihrem Leben an.“
Klar, nach einer Prüfung begann man meist zu arbeiten, dadurch änderte sich das Leben. Noch während sie überlegte, dass es Schwachsinn war, der Frau weiter zuzuhören, ließ sich deren sonore Stimme wieder vernehmen.
„Sie erleben zwei große Enttäuschungen, die sich aber letztendlich als Glücksfall für Sie erweisen werden.“
Marlene sah feixend zu Silvia, die mit ernstem Gesicht dasaß und die Frau musterte.
„Ich sehe drei Männer, einen verschwommen.“ Sie stutzte und ihr Blick umwölkte sich. „Da sind Tod und Trauer. Sie werden stark sein müssen.
…Aber ich sehe auch Liebe, eine große Liebe. Werfen Sie sie nicht achtlos weg … und haben Sie Vertrauen!“ Damit sah sie ernst auf und gab Marlenes Hand frei.
Sie hatte den Worten mit angehaltenem Atem gelauscht, jetzt stieß sie die Luft aus. „Das alles wollen Sie in meiner Hand gesehen haben? Das ist ja lächerlich!“ Mit hochrotem Kopf sprang sie auf. „Was bin ich Ihnen schuldig?“
Die Frau bedachte sie mit einem unergründlichen Blick. „Es steht Ihnen frei, etwas zu geben oder nicht.“
Marlene zog ihren Geldbeutel aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, griff hinein und warf einen Zwanziger auf den Tisch. „Das dürfte ja wohl reichen!“ Mit zusammengekniffenen Lippen drehte sie sich um und eilte aus dem Zelt. Das Gebimmel des Glasperlenvorhangs klang hohl in ihren Ohren. Sie lief ein paar Schritte, dann blieb sie stehen.
Silvia kam hinter ihr hergerannt. „Warum bist du denn so plötzlich abgehauen? Sie hätte mir doch auch noch aus der Hand lesen können!“
Marlenes braune Augen blitzten sie wütend an. „Bitte, wenn du Lust auf solch einen Mist hast, dann geh doch rein und lass dir was vorfaseln!“ Sie war völlig außer Atem, ihr Herz raste und sie schwitzte. Sie schluckte krampfhaft. Tod, Trauer, die große Liebe – was dachte sich diese Frau nur dabei, so etwas von sich zu geben?
Das Donnergrollen, das immer näherkam, trieb sie vorwärts. Mit großen Schritten strebte sie der Treppe zu, die vom Messplatz, wo die Kirmes stattfand, nach oben zur Straße führte. Weiter vorne ragte der Speyerer Dom hinter mächtigen Bäumen majestätisch in den nachtblauen Himmel, an dem sich bedrohlich wirkende Wolken türmten.
„Jetzt renn doch nicht so, verdammt!“ Silvia keuchte hinter ihr her. „Was ist denn plötzlich los mit dir? Du hast das doch nicht etwa geglaubt, oder?“
Abrupt blieb Marlene stehen. „Diesen Müll? Ich bin doch nicht bekloppt! Aber ich finde es unverantwortlich, wildfremden Leuten etwas von Tod und Trauer zu erzählen. Es gibt nämlich bestimmt irgendwelche Sensibelchen, die an diesen Unsinn glauben.“ Sie stapfte die Treppe hoch.
„Wohin willst du denn? Doch nicht etwa schon nach Hause? Es ist erst halb zwölf!“
„Das ist mir egal, mir ist die Lust am Spaß vergangen!“ Im Laufschritt überquerte sie die Straße und blieb neben der Bushaltestelle stehen. Ein Blick zur Uhr sagte ihr, dass der letzte Shuttlebus gleich kommen müsste.
„Spaßbremse!“, murmelte Silvia.
Obwohl sie sich dagegen wehrte, war Marlene während der letzten Minuten im Geiste die Menschen durchgehechelt, die ihr etwas bedeuteten: ihre Eltern, ihre Schwester, ihr Freund Tom. Sie wollte nicht, dass einem von ihnen etwas zustieß. Seltsam, die Frau hatte Silvia überhaupt nicht beachtet. Wieso dachte sie überhaupt über das Ganze nach?
Silvia schüttelte den Kopf. „Aber irgendwie war es schon eigenartig, was die Frau sagte. Sie kann zum Beispiel nichts von deiner Prüfung am Montag wissen, aber sie klang so, als sei sie von dem überzeugt, was sie sagte.“
„Das ist alles einstudiertes Gehabe!“, widersprach Marlene, während sich ein ungutes Gefühl in ihrem Magen ausbreitete und eine innere Stimme flüsterte: „Und wenn es doch stimmt?“
Der erste Blitz zuckte über den Messplatz, als der Bus vor ihnen hielt. Unwillkürlich musste sie auf der Heimfahrt an eine Bekannte ihrer Mutter denken, die der Esoterik sehr zugetan war, an Reinkarnation glaubte und sogar schon ein Rückführungserlebnis hatte. Angeblich war sie im Mittelalter als Hexe auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden. Allerdings ließ sich dies an keinerlei Dokumenten nachweisen.
NEUBEGINN
Kapitel 1
Neustadt, Ende Mai
Es war geschafft! Die Referendarzeit mit all ihrem Stress, der Unsicherheit als Anfängerin und der verfluchten Planung jeder einzelnen Unterrichtsminute sowie alle Prüfungen lagen hinter ihr. Heute Morgen war die letzte mündliche gewesen: Sie hatte endlich ihr zweites Staatsexamen in der Tasche!
Wie mechanisch ging sie zum Schreibtisch, stellte ihre Aktentasche daneben und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Ich, Marlene Hofmann, bin jetzt eine echte Studienassessorin fürs Gymnasium! Gedankenverloren strich sie über die Platte des Schreibtisches.
Sie liebte dieses alte Teil. Ihr Großvater hatte früher davor gesessen und mit konzentriertem Gesicht und entrücktem Blick seine Linien und Striche mittels Lineal mit Bleistift dünn auf Leinwand aufgetragen; Berechnungen für irgendein historisches Gebäude oder eine Kirche, die er danach auf seiner Staffelei mit Aquarellfarben täuschend echt zum Leben erweckte. Die Platte war zerkratzt, hatte unter der ledernen Schreibtischunterlage einen großen dunkelblauen Tintenfleck, Relikt aus einem unbedachten Moment.
Seitdem sie angefangen hatte zu studieren, hatte sie ihn benutzt, denn ihr Großvater malte nur noch selten. Der Schreibtisch war inzwischen ihr verlängerter Arm, Kriegsschauplatz durchnächtigter Paukerei auf Prüfungen; das vertraute, dunkelbraune Holz, das geduldig und vertrauensvoll alles trug, was man ihm aufbürdete: Wörterbücher mit französischen Vokabeln; seitenweise spanische Texte; Essays, Referate und Abläufe von Schulstunden, minutiös geplant; Wälzer, in denen die wichtigsten Daten der europäischen Geschichte für immer festgeschrieben waren.
Seufzend stand sie auf, zog auf dem Weg ins Schlafzimmer den neuen schwarzen Blazer aus – und stutzte. Leises Stöhnen. Sie hörte konzentriert hin: lang gezogenes Stöhnen, lauter jetzt. Dann überraschtes Aufkeuchen.
Eine Ahnung erfasste sie. Das konnte nicht sein.
Sie schlich weiter in Richtung Schlafzimmer und spähte vorsichtig hinein. Das Bett war leer. Im Wohnzimmer war auch niemand. Auf dem Weg zur Küche wieder dieses wohlige Stöhnen. Es wurde lauter.
Auf dem alten fleckigen Tisch, auf der Wachstuchdecke, hockte sie, die Hände nach hinten aufgestützt, den Kopf im Nacken, die Beine gespreizt. Er stand vor ihr, die heruntergelassenen Jeans um die Waden schlotternd, umfasste er ihre Hüften und stieß in sie hinein.
Wenigstens hatten sie zuvor den Tisch abgeräumt; fein säuberlich standen Teller und Tassen neben dem Spülbecken. Sie bemerkten sie nicht.
Marlene stand in der Tür und beobachtete dieses Geschiebe, hörte das wohlige Stöhnen, jetzt auch sein abgehacktes Grunzen. Hatte er bei ihr auch so geklungen? Innerlich ganz ruhig und seltsam distanziert sah sie zu, so als habe das Ganze nichts mit ihr zu tun, so als sei dies nicht ihre Studienkollegin Silvia, mit der sie drei Tage zuvor noch fröhlich auf der Kirmes in Speyer gewesen war. Und Tom, ihr Freund, mit dem sie seit über zwei Jahren Wohnung, Tisch und Bett, Sorgen, Freude, Essen, Leidenschaft und Träume teilte; dem sie alles anvertraute, dem sie getraut hatte; jeder, nur nicht er; den sie bereits als potenziellen Vater ihrer Kinder gesehen hatte.
Nach einer gewissen Zeit – wie lange sie dort gestanden hatte, wusste sie nicht – löste sich ihre Starre. Sie drehte sich um, die Flasche mit dem lauwarmen Champagner noch in der Hand, und schlug im Hinausgehen kräftig die Küchentür hinter sich zu. Wie in Trance ging sie ins Arbeitszimmer, schloss hinter sich ab und sank auf ihren Schreibtischstuhl.
Und was jetzt? Fühlte es sich so an, wenn eine Liebesbeziehung, die man für völlig unproblematisch und selbstverständlich gehalten hatte, von einer Sekunde auf die andere nicht mehr existierte? Wenn die Zukunft, zuvor in schillernden Farben glänzend, plötzlich trist vor einem lag?
Die starre Leere in ihr wandelte sich ganz allmählich in eine dunkle Schwere, die sie in den Boden hineinzog, die die Enttäuschung, den Schmerz und den Frust tausender Frauen zu enthalten schien, die auch solch eine Situation erlebt hatten. Das nannte man <in flagranti erwischen>. Flagrante delicto, der lateinische Ausdruck in irgendeinem Kodex aus dem sechsten Jahrhundert, bedeutete, jemanden auf frischer Tat zu ertappen.
Wie reagierten andere Frauen in dieser Situation? Schrien sie: „Du Dreckschwein! Raus hier, sofort, alle beide!“? Packten sie seinen Koffer und stellten ihn vor die Tür, mit ausgestrecktem Arm und steinernem Gesicht? „Verschwinde, ich will dich nie wieder sehen!“
Oder brachen sie in verzweifeltes Schluchzen aus. „Warum nur, Tom? Warum?“ Die Klinke der Tür, die von außen heruntergedrückt wurde, und das anschließende polternde Klopfen rissen sie aus diesen Überlegungen. Zumindest Tom entsprach dem Klischee: „Marlene, ich weiß, dass du da drin bist! Bitte lass‘ uns reden, das ist alles ein Missverständnis!“
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Sie lag zu Hause auf dem schmalen Bett in ihrem Jugendzimmer, die Vorhänge zugezogen, damit die fröhliche Maisonne, die lebenslustig den kommenden Sommer verkündete, nicht ihren Schmerz stören würde.
Oh ja, inzwischen tat es weh! Die Erkenntnis, dass sie von Tom und Silvia betrogen worden, dass der Mensch, dem sie seit langem am nächsten gestanden hatte, plötzlich nicht mehr an ihrer Seite war.
Die Leichtigkeit, die Gewissheit, dass der andere die Erweiterung, die Ergänzung ihrer Welt, Hoffnungen und Träume war, sie war der verzweifelten, spröden Erkenntnis gewichen, dass ihr Vertrauen missbraucht worden war, dass ein Teil ihrer Selbst einfach von einem Moment auf den anderen gewaltsam aus ihr herausgerissen wurde.
Sie waren nicht mehr Tom und Marlene. Er, der Jurastudent im zwölften Semester, der in etwa einem Jahr sein Examen machen würde, der Rechtsanwalt werden und Menschen in Not helfen wollte; und Marlene, Studentin fürs Lehramt an Gymnasien, seit einigen Stunden frisch gebackene Lehrkraft für Französisch, Spanisch und Geschichte, die just an diesem Tag ihre Lehrproben und anschließend die mündliche Prüfung mit 1,5 bestanden hatte. Die in ein paar Wochen, wenn das neue Schuljahr beginnen würde, an irgendeinem Gymnasium mit Leidenschaft und Engagement Schülern diversen Alters ihre Kenntnisse und die Freude am Lernen vermitteln wollte, bis sie ein paar Jahre später – inzwischen in einer größeren Wohnung und verheiratet mit Tom – in Mutterschutz gehen und danach nur noch in Teilzeit unterrichten würde, weil sie sich um die gemeinsamen Kinder kümmerte.
Nein, jetzt war sie nur noch Marlene Hofmann, geborene Hofmann, die im August als siebenundzwanzigjährige unerfahrene Lehrerin, nach acht Semestern Studium in Mannheim, einem Auslandssemester in Tours an der Loire und einem in Madrid, vor Klassen von dreißig pubertierenden Schülern stehen würde, mit dem vergeblichen Versuch, ihnen etwas in die Köpfe zu hauen, was sie absolut nicht interessierte, danach frustriert nach Hause ging und sich an ihren Schreibtisch setzte, um den Unterricht vorzubereiten und Tests, HÜs und Klassenarbeiten zu korrigieren.
Eine, die keinen abgekriegt hatte und in ihren Ferien Studienreisen unternehmen würde, weil sie so wenigstens Anschluss an andere hätte. An andere Alleinstehende, die so wie sie vorgeben würden, mit ihrem Singledasein ganz zufrieden zu sein, aber innerlich immer mehr vereinsamten und sich danach verzehrten, einen Menschen an ihrer Seite zu haben, der sie lieben würde und dem sie ihre Liebe schenken konnten.
Sie stierte an die Decke. Der braune runde Fleck, der über der Lampe die weiße Zimmerdecke verunstaltete, war immer noch da. Eine Fliege krabbelte gemächlich die Decke entlang, wich winzigen Unebenheiten aus, die von hier unten mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren, auf der Suche nach – ja, wonach suchten Fliegen?
Wenn sie darauf gewartet hätte, bis Sabine und Andreas ihre mündlichen Prüfungen absolviert hatten und sie wären noch zusammen einen Kaffee trinken gegangen und hätten ihre Erfahrungen ausgetauscht, wäre sie etwa zwei Stunden später heimgekommen. Sie hätte die Aktentasche abgestellt, ihren Blazer ausgezogen und aufs Bett gelegt. Dann wäre sie in die Küche gegangen, um den Champagner kalt zu stellen, den sie abends zusammen mit Tom geleert hätte, bevor sie im Schlafzimmer mit fröhlichem Sex ihr bestandenes Examen gefeiert hätten. Die Küche wäre leer gewesen, Silvia schon gegangen, Tom hätte geduscht gehabt, vielleicht das Geschirr gespült, den Küchentisch abgewischt – das hätte er doch sicherlich getan, nachdem sie -?
Sie setzte sich abrupt auf. War Silvia schon öfter in der Wohnung gewesen, wenn Marlene nicht dort war, und hatte mit Tom Sex gehabt? Sollte sie ihn danach fragen? Silvia damit konfrontieren? Nein, entschied sie sofort. Sie würde kein einziges Wort mehr mit den beiden wechseln.
Sie drehte sich zur Seite. Wäre es wirklich besser gewesen, wenn sie später heimgekommen wäre und die beiden nicht erwischt hätte? Nein, sagte sie sich, sie hätte ihm weiter vertraut, nicht ahnend, dass er sie betrog. Vielleicht gab es Frauen, die so etwas duldeten, aber Marlene gehörte nicht dazu. Eine Partnerschaft war immer ein Kompromiss, und sobald die erste Verliebtheit vorbei war, kam der Alltag. Aber das bedeutete nicht, dass sie es hinnehmen musste, wenn ihr Partner sie betrog.
Als er an die Arbeitszimmertür gehämmert hatte, hatte sie geschwiegen. Nach mehreren Versuchen, sie dazu zu bewegen, mit ihm zu reden, hatte er aufgegeben. „Ich muss jetzt dringend los, in das Seminar über Wirtschaftsrecht, das ist wichtig. Aber danach komme ich zurück, dann reden wir und ich erkläre dir alles!“
Sie hatte Schritte gehört, das Klackern des Schlüsselbundes, als er ihn vom Bord nahm, dann war die Tür ins Schloss gefallen. Er hatte sie nicht einmal gefragt, wie die Prüfung gelaufen war. Das war vielleicht das Schlimmste von allem.
Und das letzte Bild von ihm, den nackten Hintern ihr zugewandt, während er in eine andere Frau hineinstieß und grunzte.
Sie hatte noch einen Moment gewartet, dann hatte sie ihren Laptop und den Terminplaner vom Schreibtisch genommen, im Schlafzimmer einige Kleidungsstücke gepackt und ihre Kosmetikartikel lose in den Koffer geworfen, die Flasche lauwarmen Champagner obenauf. Dann war sie losgefahren, ohne Blick zurück, nach Speyer, in ihr Elternhaus, in ihr früheres Zimmer, das sie sechs Jahre zuvor verlassen hatte, für immer, wie sie damals dachte.
Ihre Mutter hatte sie überrascht angesehen, als sie mit Gepäck vor der Tür stand. „Marlene, Kind, was ist denn los? Ich dachte, du feierst deine bestandene Prüfung.“
„Mit Tom und mir ist es aus! Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben!“ Damit war sie die vertraute Treppe hochgerannt und hatte sich in ihrem Zimmer verkrochen.
Jetzt war es später Abend. Es klopfte zögerlich. „Marlene, Schatz?“ Ihr Vater.
Sie rutschte vom Bett, tapste barfuß zur Tür und öffnete sie. Seine besorgten Augen sahen sie traurig an. Sie warf sich an seine Brust und schlang die Arme um ihn, während die Tränen, die sich seit dem Nachmittag in ihr aufgestaut hatten, aus ihr herausschossen, als hätten sich Schleusen geöffnet.
Als sie sich etwas beruhigt hatte, sah sie zu ihm auf. „Paps, ich will nicht mehr in diese Wohnung zurück. Aber mein Schreibtisch, die Unterlagen, das neue Bett und die Winterklamotten -“.
„Sch, sch, wir kriegen das auf die Reihe. Ich kümmere mich darum!“
~~~
Am nächsten Morgen wachte sie erst gegen elf auf, weil sie die halbe Nacht durchgeheult hatte. Der Schmerz saß tief, die Enttäuschung über Toms Verrat tat weh. Was Silvia dazu bewogen hatte, sich ausgerechnet an ihren Freund heranzumachen, war Marlene ein Rätsel. Sie hatte ihr vertraut, sie hatten miteinander für die Klausuren und Prüfungen gebüffelt; sie hatten Feten zusammen gefeiert. Da war auch Tom oft dabei. Hatten die beiden je miteinander geflirtet? Nicht dass sie wüsste.
Sie hatte sich irgendwann aus dem Bett gequält und geduscht. Jetzt stand sie nackt vor dem Spiegel im Schlafzimmer ihrer Eltern und betrachtete sich kritisch.
Lange, dunkelbraune Haare, die glatt bis zum Ansatz der Brüste herunterhingen. Rundes Gesicht, leicht römische Nase, zu schmal für ihren Geschmack; volle Lippen, die Mundwinkel heruntergezogen. Große, rehbraune Augen, die langen Wimpern dunkel. Zumindest das war ein Vorteil, so sparte sie das Geld für die Wimperntusche.
Ihr Blick wanderte weiter. Die Brüste standen mehr oder weniger; naja, bei Größe 90C war der Sog nach unten nicht so stark. Der Bauch wölbte sich deutlich, sie hätte ihn sich flach gewünscht. Sie drehte sich zur Seite. Er war definitiv zu drall und um ihre Hüften hatten sich einige Polster angesetzt, die nicht dorthin gehörten. Die Oberschenkel waren kräftig, und natürlich hatte sie Cellulitis.
Ich bin zu dick, dachte sie. Kein Wunder, dass Tom sich eine Schlanke gesucht hat. Silvia war ein schmales Handtuch im Vergleich zu ihr. Wieder sah sie sie auf dem Küchentisch, die dünnen rasierten Beine angewinkelt. Stopp! Sie hatte sich vorgenommen, dieses Bild aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Es tat nur weh.
Sie stellte sich im Bad auf die alte Waage. Erschrocken wiederholte sie den Vorgang. Doch das Display zeigte wieder 65,1 an. Und das nüchtern! Bei 1,64 m und in ihrem Alter hätte sie bestimmt höchstens 55 Kilo wiegen sollen. Sie hatte deutliches Übergewicht. Das Referendariat war verdammt anstrengend gewesen, da waren Schokolade und Kekse ihre ständigen Begleiter, die berühmt-berüchtigte Nervennahrung eben.
Frustriert schlüpfte sie in ihre Bluejeans und streifte ein blau-weiß-kariertes Hemd darüber, das lose über den Hüften hing. Dann band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und machte sich auf die Suche nach Frühstück. Ihre Mutter hatte den Kaffee in einer Thermoskanne warmgehalten, ein Zettel lehnte daran: Im Backofen stehen frische Waffeln!
Als Marlene die Tür herunterklappte, stieg ihr ein köstlicher Duft nach Vanille und Zimt in die Nase. Eingedenk ihres Gewichts holte sie sich nur eine heraus. Als sie ein Messer in das Glas mit der Schokocreme eintauchen wollte, zog sie es wieder zurück. Zu viel Zucker und Fett, entschied sie.
Mit der Tasse in der Rechten und der angebissenen Waffel in der Linken ging sie zum Küchenfenster und sah in den Garten hinaus. Ein leichter Nieselregen benetzte die Büsche und Bäume.
Und wie sollte sie jetzt ihre Zeit totschlagen? Sie hatte das Gefühl, in einem absoluten Vakuum gelandet zu sein. Und irgendwie konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Nichts war mehr so wie zuvor. Naja, nicht ganz. Am folgenden Tag würde sie wieder in die Schule gehen müssen.
Verdammt! Sie hatte alle Unterlagen in ihrer Wohnung und für den Unterricht in dieser Woche kaum etwas vorbereitet. Die Spanisch-AG ist kein Problem, dachte sie, da gehe ich in der Lektion weiter vor. Auch die Lerneinheit für die Siebte in Französisch habe ich im Griff. Aber die Doppelstunde in Geschichte für den Elfer Grundkurs am Donnerstag muss ich komplett vorbereiten. Das bedeutet, ich muss meine Unterlagen holen.
Bei dem Gedanken, in die gemeinsame Wohnung mit Tom zurückgehen zu müssen, brach ihr der Schweiß aus. Ich kann das nur durchstehen, wenn ich ihn nicht noch einmal sehe. Wenn er mich mit seinen Hundeaugen anschmachtet und mich um Verzeihung bittet, werde ich schwach. Falls er mich dann noch anfasst, bin ich komplett verloren.
Sie wischte die Tränen weg und trank ihren Kaffee aus. Zum hundertsten Mal seit dem vorigen Nachmittag fragte sie sich, warum er sie betrogen hatte. Und ausgerechnet mit Silvia! Die beiden hatten doch nichts gemeinsam. Was hat sie, was ich nicht habe? Was fehlt ihm bei mir? War ich ihm zu langweilig? Zu brav? Zu dick?
Es war sinnlos. Was auch immer der Grund für seine Untreue gewesen war, sie konnte ihm das nicht verzeihen. Vor allem vertrauen konnte sie ihm nicht mehr.
Sie sah auf ihre Uhr: kurz nach zwölf. Dienstags um diese Zeit war Tom in der Vorlesung. Sie konnte also jetzt sofort in die Wohnung fahren, ihre Unterlagen holen und gleich wieder verschwinden, er kam für gewöhnlich erst am späten Nachmittag nach Hause. Kurz entschlossen setzte sie sich ins Auto und fuhr nach Neustadt.
Als sie vor dem Dreifamilienhaus ankam, in dem ihre Mietswohnung lag, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Sie nahm ihre Handtasche und das Handy; drei unbeantwortete Anrufe, zwei von Tom und einer von Silvia. Sie löschte sie ungelesen und ging ins Haus. Im Briefkasten steckte noch die Tageszeitung und die Post vom Vortag. Sie würde sofort einen Nachsendeantrag stellen und in der Schule Bescheid geben müssen, dass ihre Adresse sich geändert hatte.
Sie stieg in den zweiten Stock hinauf und atmete tief durch, dann schloss sie die Wohnungstür auf. Der vertraute, leicht süßliche Geruch von Toms Pfeifentabak umfing sie wie ein alter Freund. Bevor sie sich davon in eine trügerische Sicherheit einlullen ließ, ging sie zielstrebig ins Arbeitszimmer und begann, ihre Unterlagen zusammenzusuchen.
Es war doch mehr, als sie gedacht hatte. Sie holte vom Keller drei Umzugskartons hoch, die einigermaßen stabil wirkten. Als sie dabei war, den letzten zu füllen, klingelte das Telefon.
Sie erstarrte. Nach dreimaligem Tuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie kannte die fröhliche Ansage auswendig, sie hatten sie gemeinsam aufgesprochen. „Hallo, hier sind Tom und Marlene! Wahrscheinlich sind wir gerade beschäftigt“ – Gekicher – „aber wir rufen zurück, versprochen!“
Mit geschlossenen Augen stand Marlene mitten im Zimmer, während ihr die Tränen herunterströmten. Dann hörte sie Silvias Stimme: „Marlene, wenn du da bist, bitte geh ran! Wir müssen reden! Es tut mir sooo leid! Aber ich bin sicher, wir können das aus der Welt schaffen. Bitte melde dich bei mir.“
Ernüchtert wischte Marlene sich die neuerlichen Tränen vom Gesicht. <Aus der Welt schaffen!> Wohin denn, bitteschön? Dachte Silvia wirklich, nach einem Gespräch unter Frauen könnte sie vergessen, was vorgefallen war?
Sie warf die restlichen Bücher in den Karton, dann ging sie ins Wohnzimmer und suchte die CDs durch. Wenigstens ihre eigenen von Moustaki, Brassens, Beethoven und Mozart wollte sie mitnehmen. Dann schleppte sie die Kisten eine nach der anderen nach unten.
Sie war gerade dabei, die letzte auf ihrem Rücksitz zu verstauen, als sie die vertraute Stimme hörte: „Marlene, Gott sei Dank! Wieso bist du nicht ans Handy gegangen?“ Tom stand direkt hinter ihr.
Ohne ihn zu beachten, knallte sie die Tür zu und öffnete die Fahrertür.
„Marlene, warte!“ Er packte sie am Arm. „Hör mir doch zu! Du kannst jetzt nicht einfach so wegfahren.“
„Fass‘ mich nicht an!“ Sie funkelte ihn wütend an, blieb aber stehen.
Er ließ sie los. „Wir hatten das nicht geplant, das musst du mir glauben! Es ist einfach so passiert!“
„Na, das macht ja den großen Unterschied!“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.
„Silvia kam gestern hierher, weil sie dich fragen wollte, wie die Prüfungen gelaufen waren und um mit dir zu reden. Es ging ihr nicht gut. Wir erzählten und sie sagte mir, dass sie die letzte Klausur total verhauen hat und noch ein weiteres Semester anhängen muss. Sie war völlig verzweifelt und fing an zu heulen. Ich habe sie nur kurz in den Arm genommen, um sie zu trösten. Sie hat sich an mich geklammert und dann ist es irgendwie passiert. Aber es hatte keine Bedeutung, verstehst du.“
Marlene schüttelte den Kopf. „Nein, das verstehe ich nicht! Ihre Verzweiflung kann nicht so groß gewesen sein, dass du gleich mit ihr schlafen musstest. Auf dem Küchentisch noch dazu!“
„Marlene, bitte, es war das erste Mal, ich habe dich zuvor noch nie betrogen!“
Sie sah ihn ungläubig an. „Und was heißt das im Klartext? Einmal ist keinmal, weil du es nicht geplant hattest? Wie oft wird das in Zukunft wieder einfach so passieren?“
„Gar nicht mehr!“ Er sah sie beschwörend an. „Ich habe mich wie ein Vollidiot benommen! Bitte entschuldige! Es kommt nicht wieder vor!“
„Tut mir leid, aber das kann ich nicht glauben. Ich habe kein Vertrauen mehr in dich, Tom!“ Damit drehte sie sich um, stieg ins Auto und fuhr los.
Als sie weiter vorne um die Ecke gebogen war, hielt sie am Straßenrand an. Sie war nicht angeschnallt, zitterte am ganzen Leib und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es war endgültig aus!
Kapitel 2
Speyer, Anfang September
Marlene legte die beiden Sektflaschen, den Saft und die restlichen Brezeln in zwei Jutetaschen, dann schulterte sie ihre Aktenmappe und verließ das Lehrerzimmer.
Ulrike rief hinter ihr her: „Warte, lass mich dir helfen!“ Sie nahm ihr einen Beutel ab und ging neben ihr her zu Marlenes Auto. „War richtig nett eben, du hast dich sehr schnell bei uns eingelebt!“
„Ich bin selbst erstaunt darüber. Aber die Kollegen, mit denen ich bisher zu tun hatte, sind sehr sympathisch und hilfsbereit. Das hatte ich so nicht erwartet.“
Sie hatte gerade ihren Einstand an der neuen Schule mit Sekt, O-Saft und Speyerer Brezeln gefeiert. Fast alle fünfzig Kollegen waren gekommen und nach zwei Wochen im neuen Schuljahr fühlte sie sich an diesem Gymnasium fast schon heimisch. Noch im Mai hatte sie bei der ADD in Trier, die für die Vergabe von Lehrerstellen zuständig war, einen Antrag gestellt, dass sie nach Möglichkeit in Speyer oder Umgebung unterrichten wollte. Da bei einem der Speyerer Gymnasien exakt ihre Fächerkombination gebraucht wurde, bekam sie die Stelle. Eine Woche vor Ferienende hatte sie die definitive Zusage bekommen.
Die Vorfreude auf die neue Arbeitsstelle am Wohnort währte allerdings nur kurz, denn sie musste sich so schnell wie möglich in der Schule vorstellen und vor allem ihren Stundenplan abholen. Der stand noch nicht endgültig fest, aber wenigstens bekam sie ihre Fächerverteilung, damit sie gleich die entsprechenden Bücher besorgen und ihren Unterricht vorbereiten konnte. Da sie wenig Übungsmaterial hatte, musste sie praktisch alles neu erarbeiten.
Zudem hatte sie sich bis dato noch keine Wohnung gemietet, da sie zuvor nicht gewusst hatte, wo sie eine Stelle bekäme. Die kleine Wohnung in der Nähe der Gedächtniskirche, die drei Tage vorher angeboten worden war, war zum Glück noch nicht vermietet. Sie besichtigte sie einen Tag später und sie gefiel ihr auf Anhieb.
Im ersten Stockwerk gelegen, hatte sie eine kleine Wohnküche, zwei Zimmer, ein Bad und einen recht großen Balkon. Die Miete war angemessen und als der Vermieter hörte, dass sie Lehrerin war und somit die Chance bestand, dass sie in absehbarer Zeit verbeamtet werden würde, gab er ihr sofort den Zuschlag.
Die Einbauküche blieb dort, somit brauchte sie keine neuen Möbel. Am letzten Wochenende vor Schulbeginn transportierte sie mithilfe ihres Vaters und Onkels Kleiderschrank, Sessel und andere Kleinigkeiten aus dem Zimmer in ihrem Elternhaus in die neue Wohnung.
Auf ihre Möbel aus Neustadt musste sie eine Woche lang warten. Ihr Vater hatte bei Tom angerufen und nachgefragt, wann er Bett und Schreibtisch holen könne, und dabei erfahren, dass Tom mit einem Kumpel am Wochenende danach wegfahre. Für Marlene war es das kleinere Übel, eine weitere Woche bei ihren Eltern zu wohnen, anstatt bei ihrem Umzug Tom zu begegnen.
Sowohl er als auch Silvia hatten noch einige Male versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Tom war sogar in Speyer aufgetaucht, aber Marlene war nicht zu Hause gewesen. Ihre Mutter hatte ihn gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Sie wusste, dass ihre Tochter den ganzen Sommer über unter der Trennung gelitten hatte.
Nachdem Marlene den Schlüssel für die Neustadter Wohnung dort in den Briefkasten geworfen hatte, atmete sie auf. Gleichzeitig liefen wieder die Tränen: Das Kapitel Tom war vorbei, rein äußerlich zumindest.
Jetzt verstaute sie die Taschen auf dem Rücksitz und bedankte sich bei ihrer Kollegin. Sie mochte Ulrike gern; zwar war sie mit ihren 48 Jahren wesentlich älter als Marlene, aber die beiden waren auf Anhieb auf einer Wellenlänge gewesen. Sie unterrichtete auch Französisch und Geschichte, und sie tauschten sich auf fachlicher Ebene aus. Marlene hatte von ihr etliche Unterlagen für ihren Geschichtsunterricht ausgeliehen.
„Wenn du kurz Zeit hättest, könntest du mit zu mir fahren und deine Unterlagen wieder mitnehmen.“
Ulrike zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Hast du denn schon alles durchgesehen?“
„Und kopiert. Ich lege seit drei Wochen immer mal wieder eine Nachtschicht ein. Das ist zwar anstrengend, aber allmählich fasse ich Fuß.“ Sie grinste. „Eine Tasse Kaffee kann ich dir auch anbieten.“
Ulrike nickte lächelnd. „Nach dem Glas Sekt eben klingt Kaffee wie die Rettung. Dann fahr‘ mal voraus, ich folge dir unauffällig!“
Eine halbe Stunde später saßen sie bei Marlene auf dem Balkon, Kaffeebecher vor sich, eine Schale mit Gebäck auf dem kleinen, runden Glastisch. Marlene holte ein Päckchen Gauloises und steckte sich eine an.
„Nanu, du rauchst?“
„Ja, wieder, meist nur abends zwei, drei und im Urlaub, aber heute bin ich irgendwie in Feierlaune. Die ersten beiden Wochen habe ich überstanden, bis zu den Herbstferien habe ich fast meinen ganzen Unterricht vorbereitet und ab morgen überlege ich mir, was ich in den ersten Arbeiten abfrage. Meine Wohnung ist weitestgehend eingerichtet, bis auf die Kartons mit den Winterklamotten, und allmählich fühle ich mich sowohl hier als auch in der Schule wohl, das tut gut!“
„Hast du eigentlich zuvor nicht in Speyer gewohnt? Ich dachte, du seiest hier geboren.“
„Vor sechs Jahren bin ich von zu Hause ausgezogen, weil ich selbstständig werden wollte. In der WG in Neustadt lernte ich dann Tom kennen. Wir sind vor gut zwei Jahren zusammengezogen.“ Abrupt hielt sie inne, ihr Blick verdüsterte sich.
Ulrike sah sie abwartend an, aber Marlene starrte mit versteinertem Gesicht vor sich hin.
Ulrike nippte an ihrem Kaffee, dann verschränkte sie die Hände in ihrem Schoß und holte tief Luft. „Als ich mich vor zwei Jahren endlich scheiden ließ, lebte ich seit gut einem Jahr getrennt von meinem Mann. Horst hat gesoffen. Es wurde immer schlimmer. Irgendwann hielt ich es dann nicht mehr aus. Wir führten keine Ehe mehr, wir lebten nebeneinander her. Ich ging zum Unterricht, kam nach Hause, kochte und kümmerte mich um den kompletten Haushalt. Abends bereitete ich die Stunden vor, an den Wochenenden korrigierte ich. Horst hing herum, er war arbeitslos. Er schlief bis in den späten Vormittag, zum Frühstück trank er sein erstes Bier. Nach dem Mittagessen verschwand er und kam abends gegen sieben stockbesoffen zurück. Meist hing er dann noch eine Stunde lang vor der Glotze, bevor er ins Bett torkelte.“
Marlene lauschte verblüfft. Schließlich kannte sie Ulrike erst seit kurzem, deshalb war diese freimütige Schilderung ihres Privatlebens eine Überraschung. „Wie hast du den Absprung geschafft?“
„Irgendwann fiel mir auf, dass unser Konto am Monatsende grundsätzlich leer war. Ich fand das äußerst seltsam, denn ich verdiente nicht schlecht und verbrauchte wenig Geld. Ich saß doch nur daheim herum, arbeitete wie bescheuert und heulte mir wegen meiner schlechten Ehe die Seele aus dem Leib. Ich überprüfte daraufhin unsere Kontoauszüge und stellte fest, dass regelmäßig jeden Monat viermal 250 Euro in bar abgehoben wurden. Ich war das nicht, ich zahlte alles mit Karte. Also konnte es nur Horst gewesen sein. Die Lebensmittel kaufte auch ich ein, Horst trug ja nichts zu unserem Lebensunterhalt bei.“
Marlene zündete sich noch eine Gauloise an und beugte sich vor. „Willst du damit sagen, dass er jeden Monat tausend Euro versoffen hat?“
Ulrike nickte. „Muss er wohl. Ich habe ihn darauf angesprochen. Da wurde er wütend und warf mir an den Kopf, dass es ihm ja wohl gestattet sei, sich ab und zu etwas Taschengeld zu genehmigen. Das war der Tropfen, der das Fass bei mir dann zum Überlaufen brachte. Ich hab ihn vor die Tür gesetzt und gut ein Jahr später reichte ich dann die Scheidung ein.“ Sie sah Marlene an. „Und obwohl wir seit Jahren schon kein Paar mehr gewesen waren, hab‘ ich lange gebraucht, bis ich über ihn hinweg war.“
Marlene seufzte. „Hast du es je bereut, dich von ihm getrennt zu haben?“
„Nein!“ sagte Ulrike entschieden.
Marlene schaute düster vor sich hin, dann erzählte sie ihr von Tom und sich. „Verstehst du“, erklärte sie schließlich, „wir hatten schon Zukunftspläne geschmiedet, einschließlich Eigentumswohnung und Kindern. Und dann geht er hin und vögelt meine Studienkollegin.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und er dachte doch tatsächlich, ich würde ihm diesen Ausrutscher verzeihen!“
„Wie konntest du? Du hättest ihn doch ständig beobachtet und quasi darauf gewartet, dass so etwas irgendwann wieder passiert.“
Nach einer Weile, die Kaffeebecher waren längst leer und Marlene hatte zu viel geraucht – etwas, das ihr immer wieder mal passierte, wenn sie heftig diskutierte oder emotional aufgewühlt war – beschwichtigte Ulrike sie. „Das Gleiche wie dir jetzt ist einer früheren Kollegin letztes Jahr auch passiert. Lena war eine ganz Nette, ich habe mich gut mit ihr verstanden. Aber nachdem ihr Partner sie mit einer Kollegin von uns betrogen hat, ist sie nach Schottland gefahren, um Abstand zu gewinnen. Und wen trifft sie dort? Ihren Traummann!“
„Echt? Sowas passiert doch normalerweise nur im Film! Und wer ist die Kollegin, mit der er sie betrogen hat?“
„Anna, aber sie hat sich ab diesem Schuljahr an ein anderes Gymnasium versetzen lassen. Ist auch gut so. Es hat sich nämlich bei einigen in der Schule herumgesprochen, dass sie Lena betrogen hat. Daraufhin bekam sie ganz schön Gegenwind, kann ich dir sagen. Und dass das dann mit Erik schiefgelaufen ist, hat sie auch verdient.“
„Und wie geht es dieser Lena inzwischen? Ist sie noch mit ihrem Schotten zusammen?“
Ulrike grinste. „Ja, das ist eine Lovestory, die zu schön ist, um wahr zu sein. Ich habe Lena letzte Weihnachten nochmal gesehen, bevor sie hier in Deutschland ihre Zelte ganz abgebrochen hat. Sie wurde schwanger, im November hat sie geheiratet und seit diesem Jahr im Mai hat sie eine kleine Tochter. Sie und Gordon sind überglücklich!“
Marlene seufzte. „Ach herrje! Ich gönne ihr dieses Glück, aber sind wir mal ehrlich, so etwas passiert doch nur selten …“
„Ach was, du bist noch so jung, du wirst über deine Enttäuschung hinwegkommen! Und wer weiß, vielleicht wartet ja irgendwo schon dein Traummann auf dich, nur wisst ihr es beide noch nicht.“
Marlene zuckte mit den Schultern. „Tja, im Moment kann ich mir das noch überhaupt nicht vorstellen. Das Blöde ist, dass Tom für mich eigentlich der Mann war, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Ich wache manchmal morgens auf und wundere mich immer noch, dass er nicht neben mir liegt. Das tut dann richtig weh. Und im Moment bin ich noch so fertig, dass ich gar nicht willens bin, mich wieder auf einen Mann gefühlsmäßig einzulassen, dass er mich so demütigen und verletzen kann.“
Sie holte eine Flasche Wasser und goss ein. „Hast du deine Enttäuschung über deine Ehe denn inzwischen überwunden?“
„Ja, ich bin über Horst hinweg und erleichtert, dass ich endlich frei bin, das zu tun, was ich möchte. Es gibt nur eine Sache, die ich bedaure: dass ich keine Kinder habe.“
„Wollte dein Mann keine?“
„Doch, wir haben es jahrelang versucht, aber es hat nicht geklappt. Ich bin in dieser Beziehung recht altmodisch, wenn du so willst. Die moderne Medizin und ihre Möglichkeiten waren für mich ein Schritt, den ich nicht gehen wollte. Ich sagte mir, es ist Schicksal, wer weiß, wozu es gut ist.“ Sie trank ihr Glas leer. „Naja, seit ich von Horst getrennt bin, denke ich, es war jedenfalls einfacher, ihn zu verlassen, als wenn wir Kinder gehabt hätten. Sie leiden doch unter der Trennung ihrer Eltern am meisten, das sehen wir ja täglich in der Schule.“
~~~
Zwei Wochen später
Nach diesem vertraulichen Gespräch trafen die beiden sich öfter, gingen ins Kino, zusammen essen oder in eine Kneipe. Dann begann die arbeitsintensive Zeit des Korrigierens, in der Marlene als blutige Anfängerin stark bemüht war, ihre Schüler richtig zu beurteilen; nicht zu streng, aber die Noten schenken wollte sie ihnen keinesfalls. Sie saß sieben Tage die Woche an ihrem Schreibtisch und fragte sich abends, wenn sie müde ins Bett sank, wie Leute sich unterstehen konnten zu behaupten, als Lehrer habe man einen Halbtagsjob.
Als sie an einem Freitag mit der Aussicht auf ein weiteres Arbeitswochenende die Schule verließen, sagte Ulrike: „Noch zwei Wochen, dann sind Herbstferien; ich werde versuchen, vorher alles wegzukorrigieren.“
Marlene zog eine Grimasse. „Vielleicht schaffe ich das auch, aber in den Ferien muss ich dringend meinen Unterricht weiter vorbereiten.“
„Du fährst also nicht weg?“
„Ich hätte schon Lust dazu, aber woher die Zeit nehmen … Und du?“
Ulrike zuckte mit den Schultern. „Ich würde gern irgendwo in den Süden fahren und noch einmal Sonne pur tanken, bevor es hier ungemütlich wird.“
Als Marlene heimkam, schmierte sie sich Kräuterquark auf eine Scheibe Roggenbrot und aß im Stehen. Durch die Anspannung und die intensive Arbeit während der vergangenen Wochen hatte sie weniger gegessen und trotz gelegentlicher Schokoladeorgien drei Kilo abgenommen. Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein und schlenderte in ihr kombiniertes Wohn-Arbeitszimmer hinüber.
Der rote Knopf am Anrufbeantworter blinkte. Sie setzte sich auf ihren Sessel daneben und drückte den Wiedergabeknopf. Ihre Schwester hatte eine halbe Stunde zuvor angerufen und um Rückruf gebeten.
Petra war einunddreißig und lebte auf Mallorca. Sie war gelernte Hotelfachfrau und hatte drei Jahre zuvor während ihres Urlaubs an der Cala Millor Pablo kennengelernt. Die beiden verliebten sich Hals über Kopf ineinander. Pablo war Koch und wollte sein eigenes Restaurant haben. Und da Petra vom Fach war, beschlossen die beiden sehr spontan, dieses Unterfangen gemeinsam anzugehen. Er hatte von seinen Eltern ein kleines Hotel mit Restaurant an der Südküste in La Ràpita geerbt; das renovierten sie und betrieben es seitdem.
Marlene war inzwischen zweimal dort gewesen und es gefiel ihr. Es war nur wenige Gehminuten von dem herrlichen Sandstrand entfernt, der schließlich in die Bucht von Es Trenc überging und längst nicht so frequentiert war, wie die meisten anderen Strände auf der Insel.
In typisch spanischem Stil erbaut, hatte das Hotel nur zehn Zimmer; alle mit Balkon und jedes war anders möbliert. Der kleine Garten an der Hinterseite quoll über von Gummibäumen, Palmen und Bougainvilleas, die sich über die weiße Mauer ergossen. Die Gäste, die dort ein Zimmer nahmen, hatten keine Pauschalreise gebucht, sondern wollten einen eher ruhigen Urlaub verleben. Und sie ließen sich von Pablos Kochkünsten verwöhnen.
Marlene beschloss, Petra sofort zurückzurufen. Sie hatten während der letzten Wochen kaum miteinander telefoniert.
„Casa Pablo, hola!“
„Hola, ich bin’s! Was gibt es denn so Dringendes, Schwesterherz?“
„Ah, Bonita!“ Petra nannte sie immer <meine Schöne>. „Hör mal, du hast doch im Oktober Ferien. Hast du die schon verplant?“
Marlene lächelte vor sich hin. Typisch Petra; sie vertat ihre Zeit nicht mit lapidarem Geplänkel, sondern kam gleich zur Sache. „Ich werde meinen Unterricht für die nächsten Wochen vorbereiten.“
„Doch nicht zwei Wochen lang! Ich dachte, du lässt dich mal wieder bei uns blicken. Im Sommer warst du auch nicht hier!“ Sie klang sichtlich enttäuscht.
„Ich würde schon gerne kommen, … gibt es denn einen besonderen Grund? Soll ich dir aushelfen?“
Marlene hatte, wenn sie dort war, für Zimmer und Verpflegung nichts gezahlt, dafür aber ab und zu an der Rezeption Petras Dienst übernommen.
„Naja, ich hatte gehofft, du könntest für ein, zwei Tage den Empfang übernehmen. Pablos Cousin kann die Küche machen.“
„Aha, und was habt Pablo und du so vor?“
„Wir wollen uns verloben!“
„Oh lala! Das freut mich für euch! Ihr macht also ernst, ja?“
„Es wird langsam Zeit. Nächstes Jahr wollen wir heiraten.“
„Petra, das freut mich für dich! Hast du’s Mama und Papa schon gesagt?“
„Nein, die rufe ich heute Abend an. Sie haben ja im Oktober sowieso keine Zeit zu kommen, aber mit dir hatte ich fest gerechnet!“
Marlene zögerte. Sie war seit über einem Jahr nicht mehr in Urlaub gewesen. Eine Zeit lang weg von ihrer Arbeit und den Gedanken an Tom reizte sie sehr. Außerdem wurde sie schließlich gebraucht. „Vielleicht kann ich doch für ein paar Tage kommen“, sagte sie vorsichtig.
„Ah, Bonita, du bist ein Schatz! Für wie lange halte ich dir dein Zimmer frei? Kommst du allein?“
„Für maximal eine Woche.“ Sie überlegte. „Sag mal, wäre es okay für dich, wenn ich eine Kollegin mitbringe? Sie könnte ein paar Tage spanische Sonne auch ganz gut vertragen.“
„Claro que sí!“
~~~
Gleich danach rief Marlene Ulrike an.
„Legst du schon eine Korrekturpause ein?“, fragte sie überrascht.
„Nein, ich habe noch gar nicht damit angefangen.“ Sie erzählte von ihrem Telefongespräch und fragte Ulrike, ob sie nicht Lust hätte, sie für eine Woche zu begleiten. Es war still in der Leitung. „Ulrike, bist du noch dran? Im Oktober ist es dort herrlich, man kann noch baden und es ist nicht mehr so tierisch heiß.“
„Das glaube ich dir und es klingt auch alles sehr verlockend …“
„Und wieso zögerst du dann noch?“
Ulrike atmete tief durch. „Um nach Mallorca zu kommen, muss man fliegen. Und ich habe mich seit Jahren in keinen Flieger mehr gewagt, weil ich Flugangst habe, weißt du.“ Sie klang bekümmert.
„Ach, das ist doch nur ein kurzer Flug, den überstehst du unbeschadet. Ich sitze neben dir und halte deine Hand.“
Ulrike lachte. „Na, ob das hilft, <Mama> … Lass mich eine Nacht darüber schlafen.“
Am nächsten Morgen trafen sie sich auf dem Markt. Marlene hatte sich ein Baguette und französischen Käse gekauft und wandte sich dem Gemüsestand zu, als Ulrike einen vollen Trolley durch die Umstehenden schob. „Ah, Marlene! Deckst du dich auch mit Trostnahrung fürs Wochenende ein?“ Sie beäugte neugierig ihren Korb.
„Naja, etwas muss der Mensch schließlich auch genießen können, oder? Außerdem setzt bei mir ein automatischer Fluchtreflex ein, wenn ich an die Französischarbeit denke, die sich auf meinem Schreibtisch türmt.“
Ulrike nahm sie am Arm. „Für eine Woche, sagtest du?“ Marlene nickte. „Gut, ich bin dabei. Du hast völlig recht, irgendwann sollte ich mich meinem Problem stellen, und zu zweit ist es vielleicht leichter. Also: auf nach Malle! Aber an den Ballermann kriegst du mich nicht!“
Marlene zog ein enttäuschtes Gesicht. „Sowas aber auch … und ich hatte mich schon aufs Sangria-Saufen aus Eimern und die Schaumpartys am Strand gefreut!“
SCHICKSAL
Kapitel 3
La Ràpita, Mallorca, dritte Woche im Oktober
Der Hinflug war ohne nennenswerte Komplikationen verlaufen. Sie starteten abends zwar eine halbe Stunde später als geplant, aber das war durchaus noch im Rahmen, dachte Marlene, als sie die vielen Passagiere sah, die im Warteraum genervt vor sich hinlümmelten, da ihr Flug nach Miami gestrichen worden war und sie bis zum folgenden Tag auf einen Ersatzflug würden warten müssen.
Ulrike hatte beim Start und beim Landeanflug die Hände in beide Lehnen gekrallt und meist mit geschlossenen Augen in ihrem Sitz geklebt. Auf Marlenes diverse Versuche, sie mit einem Gespräch abzulenken, hatte sie nur einsilbig reagiert.
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