Theodosia Browning hat dem hektischen Leben der Werbebranche den Rücken gekehrt, um sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen: in ihrer Heimatstadt Charleston, South Carolina, eröffnet sie einen Teeladen. Ihr Geschäft geht gut und Theodsia, genannt Theo, ist glücklich mit ihrem nun viel ruhiger verlaufenden Leben. Doch prompt ist es vorbei mit der Gemächlichkeit!
Denn bei einer von Theos legendären Teegesellschaften stirbt einer der Gäste. Bei dem Toten handelt es sich um den bekannten und umstrittenen Bauunternehmer Hughes Barron. Und offenbar starb er an einer Tasse vergifteten Tees, der aus Theodosias Teeladen stammt.
Als die Kunden wegen der Schlagzeilen wegbleiben, macht Theo sich selbst auf Mördersuche und stößt schnell auf eine Reihe verdächtiger Personen...
Tod beim Tee
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Sabine Maier-Längsfeld
Über Laura Childs
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Kapitel 50
Ein Rezept aus dem Indigo Tea Shop
Danksagung
Impressum
Eine Teegarnitur aus Knochenporzellan auf einem Knie balancierend lehnte Theodosia Browning sich von dem Durcheinander auf ihrem antiken Holztisch zurück und trank einen wohlverdienten Schluck Lung Ching. Sie genoss die smaragdgrüne Farbe des Tees und seine köstliche Süße und strich geistesabwesend eine Locke ihrer naturkrausen, kastanienbraunen Haarpracht zurück, die ihr Gesicht einrahmte und sie aussehen ließ wie die Mischung aus einem Gemälde von Raphael und einer freundlichen Meduse.
Immer mit der Ruhe, sagte sie sich.
An diesem herrlichen Oktobernachmittag – die Temperatur in Charleston lag bei etwa 24 Grad, und die Hintertür stand weit offen, um das laue Lüftchen einzufangen, das vom nahe gelegenen Cooper River herüberwehte – schien der Indigo Tea Shop das Epizentrum diverser kleiner Krisen zu sein, deren Auswirkungen treffsicher in Theodosias Schoß landeten.
Ihr Frachtführer, der den Umgang mit rotem Klebeband normalerweise ebenso meisterlich verstand wie empfindliche Sendungen aus fernen Kontinenten durch den Zoll zu bugsieren, hatte soeben mit katastrophalen Nachrichten aufgewartet. Drei Kisten Silver Tips von der Makaibari-Teeplantage in Indien waren ohne viel Federlesens auf einem Dock in New Jersey abgeladen und dem strömenden Regen überlassen worden.
Dann war da die Sache mit der Website.
Theodosia lenkte den Blick auf die bunten Konzepttafeln, die auf dem Fußboden verstreut lagen. Obwohl sie in Sachen Marketing und Design auf den Fachverstand der Todd & Lambeau Design Group zählen konnte, eine der führenden Web-Design-Agenturen in Charleston, erwies sich die Einführung eines virtuellen Teeladens als Großunternehmung. Die Platzierung von Tüten, Schachteln und Dosen mit exotischen Teesorten und Teezubehör erforderte mehr als reinen Cyber-Sachverstand; es war eine langwierige Aufgabe, insbesondere was Zeit und Geld anbelangte.
Und als wäre das nicht alles schon genug, war Drayton Conneley, ihr Assistent und ihre rechte Hand, in letzter Minute zu einer Teeprobe gerufen worden. In diesem Augenblick war Drayton vorne im Laden und beglückte ein halbes Dutzend Damen mit seinem Charme. Was bedeutete, dass die letzten Vorbereitungen für die Lamplighter-Tour heute Abend noch immer nicht abgeschlossen waren.
Gewöhnlich schwelgte Theodosia in der Oase der Ruhe, die ihr kleiner Teeladen darstellte. Eingebettet zwischen Robillard Booksellers und dem Kartenantiquariat in der Altstadt von Charleston, South Carolina, war der Indigo Tea Shop ein Teil des romantischen Pastellgobelins aus Südstaaten- und Föderationsarchitektur, viktorianischen Stadthäusern, Innenhöfen und altmodischen Geschäften.
Im Innern dieses kleinen Juwels, eines ehemaligen Kutschhauses, zischten und blubberten kupferne Teekessel, und auf hölzernen Gestellen kühlte frisch bereitetes Gebäck aus, während sich die Stammgäste um einen der heiß begehrten Sitzplätze an den knarzenden Nussholztischen balgten. Durch bleigefasste Fenster und flatternden Baumwollstoff, der die kräftige Sonne South Carolinas mildern sollte, fiel gefiltertes Licht auf hölzerne Dielen, freiliegende Balken und Ziegelwände. Vom Boden bis zur Decke erstreckte sich ein Labyrinth aus winzigen Fächern, gefüllt mit Töpfen, die bis zum Rand gefüllt waren mit schwarzen, grünen und weißen Tees, mit Black Powders in Nussbraun und Ocker und ganzen Blättern, die blassgrün schimmerten. Und was für ein unwiderstehliches Spektrum an Aromen sich hier bot! Würziger Gunpowder, grüner Tee aus Südchina, leicht fermentierter ceylonesischer Garden-Tee, mit köstlichen Früchten aromatisierter Nilgiri-Tee von den Blauen Bergen Indiens.
Das Klingeln des Telefons riss Theodosia aus ihren Betrachtungen.
»Delaine auf der Zwei«, rief Haley Sie kam aus der Küche geschossen und blieb neben Theodosia stehen.
Haley Parker war Theodosias junge Verkäuferin und darüber hinaus eine außerordentlich talentierte Bäckerin. Sie arbeitete tagsüber im Teeladen und besuchte einige Male die Woche Abendkurse am College. Im Augenblick war Kommunikationswissenschaft Haleys Hauptfach, doch sie hatte in den vergangenen drei Jahren zwischen Soziologie, Philosophie und Frauenforschung gependelt.
Theodosia warf ihr einen hoffnungsvollen Blick zu. »Könntest du mit ihr sprechen?«
»Delaine hat ganz speziell nach dir gefragt«, sagte Haley, und ihre braunen Augen blitzten belustigt.
»Himmel, hilf!«, murmelte Theodosia und griff nach dem Hörer.
»Merkur ist rückläufig«, fügte Haley theatralisch flüsternd hinzu. »Die nächsten Tage werden reichlich unruhig werden.«
Theodosia holte tief Luft. »Delaine! Wie schön, dass du anrufst.«
Delaine Dish war die Besitzerin von Cotton Duck, einer Damenboutique mit lässig eleganter Kleidung aus Baumwolle, Seide und Leinen. Außerdem war Delaine die Klatschtante der Nachbarschaft.
»Sag nicht, dass dir dieser Mann nicht aufgefallen ist, Hughes Barron meine ich«, ertönte Delaines schrille Stimme.
»Doch, ist er nicht, Delaine.« Theodosia erhob sich und streckte in Erwartung einer längeren Belagerung ihren steifen Rücken.
»Nun, er hat ein Angebot für den Peregrine-Bau gemacht.«
Der Peregrine-Bau stand drei Häuser vom Indigo Tea Shop entfernt auf der Church Street. Es handelte sich um einen reich verzierten Kalksteinbau, der zur Jahrhundertwende als Opernhaus gedient hatte und jetzt in den ersten beiden Etagen einige Geschäfte und Büros beherbergte.
»Meine Liebe«, fuhr Delaine fort, »du bist eine kluge Geschäftsfrau. Du kennst dich aus mit komplizierten Sachverhalten wie Flächennutzungsplänen und gewerblicher Nutzung.«
»Worauf willst du hinaus, Delaine?«, fragte Theodosia, unbeeindruckt von Delaines Schmeichelei.
»Auf den Denkmalschutz. Gott weiß, welche Bausünden ein Immobilienhändler von Barrons Ruf an einem Gebäude wie diesem zu begehen im Stande ist.« Delaine sprach das Wort »Immobilienhändler« mit einem solchen Abscheu aus, als spreche sie über Kuhmist.
»Ich sag dir was, Delaine …« Theodosia unterdrückte ein Kichern. »Ich werde mit Drayton sprechen. Er ist…«
»… ein hohes Tier im Denkmalschutzverein!«, fiel Delaine ihr ins Wort. »Natürlich, der gute alte Drayton! Ich wüsste niemanden mit einem besseren Draht zu dieser ganzen Geschichte!«
»Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.«
»Theo, du bist ein Schatz!«
»Bye, Delaine.« Theodosia legte auf und trug das Teegeschirr in die Küche. Der Raum wurde beherrscht von einem überdimensional großen Backofen, dem der köstliche Duft frisch gebackener Plätzchen entströmte.
»Wenn du Delaine einstellen würdest, könntest du dir den Auftritt im Internet sparen«, sagte Haley Sie öffnete die Ofentüre, warf einen kurzen Blick hinein und machte wieder zu.
»Delaine ist schon eine besondere Marke«, stimmte Theodosia zu, »aber sie verleiht der Nachbarschaft unbestritten ein gewisses Flair von Leidenschaftlichkeit.« Theodosia hob die Plastikabdeckung von einem Tablett mit kleinen Preiselbeerküchlein. »Die sehen himmlisch aus.«
»Danke. Hoffentlich reicht das für heute Abend. Oh … einen Augenblick noch, dann kannst du unseren Gästen eine frische Fuhre Butterkekse mit hinausnehmen.«
»Wie läuft es?« Theodosia deutete mit dem Kopf zum Ladenraum.
»Drayton ist ganz der übliche Connaisseur.«
»Dein Wortschatz erweitert sich in rasender Geschwindigkeit, Haley.«
»Danke. Ich habe einen Kurs mit dem Titel ›Rhetorische Kompetenz‹ belegt.«
»Hervorragend«, sagte Theodosia. »Er bringt dich hoffentlich deinem Abschluss ein Schrittchen näher, oder?«
Haley streifte sich den Ofenhandschuh über und verlagerte das Gewicht ihres schmalen, geschmeidigen Körpers von einem Bein auf das andere. »Eigentlich denke ich gerade darüber nach, ein Jahr Pause einzulegen, damit ich mich zur Abwechslung mal auf etwas Praktisches konzentrieren kann.«
»Aha.« Theodosia spähte durch die dunkelgrünen Samtvorhänge, die den Durchgang vom Verkaufsbereich zur Küche und ihrem kleinen Büro verhängten.
Um einen der großen Tische waren sechs Teekosterinnen versammelt, die eifrig lauschten, als Drayton Conneley, professioneller Teemischer und einer von nur zehn Meisterteeverkostern in den Vereinigten Staaten, einen leidenschaftlichen Vortrag zum Besten gab. Elegant wie immer, in Tweedjackett, gestärktem weißem Hemd und Fliege, gab Drayton vier gehäufte Teelöffel Jasmin Pearl in eine vorgewärmte weiße Keramikkanne. Darauf schenkte er einen Schwall warmes Wasser, das nicht mehr als 66 Grad haben durfte. Während die Teeblätter in dem dampfenden Wasser zogen, entwickelte sich ein satter Ingwerton und kurz darauf ein süßer, an Mandeln erinnernder Duft.
»Woher weiß man, wie lange man den Tee ziehen lassen muss?«, fragte eine weißhaarige Frau und zog anerkennend die Nase kraus.
»Grüne und weiße Sorten lässt man am besten nur ein bis zwei Minuten ziehen!«, sagte Drayton. »Ein Darjeeling, eine, wie wir alle wissen, milde und fruchtige Sorte, sollte keinesfalls länger ziehen als drei Minuten. Und das ist eine feste Regel.« Drayton Conneley warf einen Blick über die Schildpatt gefassten Halbgläser seiner Brille, die beständig seine lange Adlernase hinunterrutschte und ihm ein etwas eulenhaftes Aussehen verlieh.
»Nur fünfzehn Sekunden zu lang, und ein Darjeeling wird bitter. Ein Formosan Oolong, besonders wenn die Blätter eng gerollt sind, ist dagegen eine ganz andere Sache. Scheuen Sie nicht davor zurück, diese Sorte sieben Minuten ziehen zu lassen«, erklärte Drayton in der sorgfältig modulierten Tonlage, die gute Freunde sein basso contante nannten.
Drayton war zweiundsechzig Jahre alt und hatte als einziger Sohn eines Missionarsehepaares, das ursprünglich von Sullivan’s Island, einen Sprung übers Wasser von Charleston entfernt, stammte, die ersten zwanzig Jahre seines Lebens in Kanton verbracht. In Südchina hatte Drayton seine Leidenschaft für Tee entwickelt. Er hatte oft wochenlang auf der Panyang-Teeplantage im Hochland von Hangzhou verbracht, während seine Eltern sich um chinesische Christen in weit entfernten Provinzen kümmerten. Nach seiner Rückkehr nach Charleston besuchte Drayton die Johnson & Wales Universität, die renommierteste kulinarische Lehranstalt der Gegend. Im Anschluss daran verbrachte er mehrere Jahre in London, wo er bei der Croft & Squire Teegesellschaft arbeitete, und wechselte dann nach Amsterdam, jenem weltgrößten Umschlagplatz für Tee.
Jetzt hatte Drayton sechs verschiedene Teekannen auf der drehbaren Platte in der Mitte des Tisches arrangiert. Jede Kanne war mit einem einzigartigen Motiv verziert. Die Bandbreite erstreckte sich von einem farbenprächtigen Keramikkohlkopf bis zu einer chinesischen Yi-Shing-Kanne aus gebranntem purpurnem Ton. In jeder Kanne zog eine andere Sorte Tee, und vor jeder der Damen standen sechs kleine Tässchen zum Probieren. Ein verziertes Silbertablett mit einer schnell schwindenden Gebäckmischung machte ohne Unterlass die Runde um den Tisch.
»Ich bin mir nie ganz sicher, wann das Wasser so weit ist«, gab eine Frau mit gelbem Twinset in dem langsamen Tonfall von sich, der verriet, dass sie in Savannah, Georgia, zu Hause war, während sie sich schnell nach dem letzten Butterkeks streckte.
»Dann, meine Liebe, werde ich für Sie ein berühmtes japanisches Sprichwort zitieren, das erbaulich und gleichzeitig wunderbar anschaulich ist. ›Karpfenaugen kommen, Fischaugen gehen … ‹«
»›Gleich wird der Wind in den Kiefern wehen‹«, schloss Theodosia und trat durch den Vorhang.
»Mit Fischaugen sind die ersten winzigen Bläschen gemeint«, erklärte sie und stellte ein Tablett mit frischen Butterkeksen auf den Tisch. »Die Karpfenaugen sind die großen Blasen, die verkünden, dass das Wasser richtig kocht. Und der Wind in den Kiefern ist, wie könnte es anders sein, das beginnende Pfeifen des Wasserkessels.«
Die charmanten Metaphern entlockten der entzückten Zuhörerschaft eine spontane Runde Applaus. Drayton sah auf, erfreut über den gekonnten Auftritt seiner geliebten Arbeitgeberin.
Die meisten Menschen waren vom ersten Augenblick an von Theodosia Browning entzückt: blau funkelnde Augen, aus denen kaum zu bändigende Energie strahlte, ein breites, intelligentes Gesicht, hohe Wangenknochen und ein üppiger, vollkommen geschwungener Mund, den sie, wenn sie verlegen war, zu einem Schmollen verzog.
Theodosia holte eine Schürze hinter der Ladentheke hervor und band sie sich um die Taille ihres Laura-Ashley-Kleides. Sie hatte zwar kein Übergewicht, war aber auch nicht wirklich schlank. Sie war kräftig, und das schon ein Leben lang. Konfektionsgröße 40, die dann und wann zu 42 tendierte, vor allem um Weihnachten und Neujahr herum, wenn der Teeladen überquoll von Hörnchen, süßen Waffeln, Sahneteilchen und Butterbiskuits und die Church Street hinauf und hinunter zu Weihnachtsfeiern geladen wurde, auf denen sich die Büffets unter Krabbensuppe, gebratener Ente und scharfen Garnelen mit Tassosauce bogen.
Theodosias Mutter, überzeugte Romantikerin und Liebhaberin der Geschichte, hatte ihre einzige Tochter nach Theodosia Alston benannt, der Frau von Joseph Alston, dem ehemaligen Gouverneur von South Carolina, und Tochter des ehemaligen Vizepräsidenten Aaron Burr.
Theodosia Alston hatte zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts eine glanzvolle Rolle als First Lady ihres Staates abgegeben. Doch ihr Ruhm war nur von kurzer Dauer. Im Jahre 1812 reiste sie als Passagier auf einem Segelschiff, das vor der Küste North Carolinas sank. Als die Leichen der Unglückseligen an Land gespült wurden, blieb Theodosia Alston als Einzige vermisst.
Als junges Mädchen hatte Theodosia oft mit ihrer Mutter in der Gartenschaukel gesessen und darüber spekuliert, was wohl in Wirklichkeit aus der historischen Theodosia geworden war. Während sie sich die Nachmittage damit vertrieben, dem Summen der Bienen zu lauschen, hatten sie sich unzählige aufregende Szenarien ausgedacht.
War sie von den Feinden ihres Vaters entführt worden? Hatten die Piraten, die vor der Küste ihr finsteres Unwesen trieben, die arme Theodosia Alston entführt und sie in die Sklaverei verkauft? Und als Jahre später das Anwesen einer alten Dame aus North Carolina veräußert wurde, weshalb fand man da ein Portrait dieser Dame in jungen Jahren, das so auffallend der vermissten Theodosia ähnelte?
Doch in Charleston, jener schönen Stadt, die einst, als Reis, Indigo und Tabak von den umliegenden Plantagen auf der ganzen Welt gefragt waren, als Charles Town begonnen hatte, hatten sich Legenden und Geschichte schon immer zu einer farbenfrohen Überlieferung vermischt.
Für Theodosia Browning war das Betreiben eines Teeladens die zivilisierte Mischung aus Handel und typisch südstaatlerischer Gastfreundschaft. Beinahe, als würde man die Türen seines Salons weit aufreißen und einfach abwarten, welche Überraschungsgäste hereinschneiten.
Doch Theodosia, inzwischen sechsunddreißig Jahre alt, war nicht immer Besitzerin eines Teeladens gewesen.
Vor vielen Jahren (Theodosia zählte lieber nicht mehr genau nach) hatte sie an der renommierten Universität von Charleston studiert. Mit englischer Literatur im Hauptfach hatte sie sich mitreißen lassen von den Werken Jane Austens, Mary Shelleys und Charlotte Brontes. Fest entschlossen, selbst romantische Dichterin zu sein, hatte Theodosia, ganz der Kunst verpflichtet, ein fließendes, purpurrotes Samtcape getragen, war auf der Suche nach Inspiration über den alten Magnolia-Friedhof gewandelt und hatte einen Nebenjob im Antiquariat angenommen.
Doch einen Monat vor ihrem Abschluss war Theodosias Vater gestorben, und weil auch ihre Mutter schon seit langem tot war, blieb ihr nur ein kleines Einkommen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie wusste, dass das Leben eines Dichters sogar noch eine missliche Stufe unter dem des Hungerkünstlers stehen kann, und so nahm Theodosia eine Stelle in einer Werbeagentur an.
Weil sie nicht nur mit Kreativität, sondern genauso mit einer genialen Begabung für Geschäftsführung und Marketing gesegnet war, stieg sie auf der Karriereleiter schnell nach oben. Sie begann ihre Karriere als einfache Mediaplanerin, stieg auf zur Kundenbetreuerin und wurde schließlich stellvertretende Leiterin des Bereichs Kundenbetreuung.
Doch zwölf Jahre in einer halsabschneiderischen, profitorientierten Maschinerie forderten ihren Preis. Lange Arbeitstage, knappe Fristen, nervöse Kunden und riskante Entscheidungen verloren immer mehr an Zauber. Theodosia suchte nach einer Gelegenheit, den Absprung von diesem Karussell zu schaffen.
Während einer Sitzung des Marketingkomitees für »Spoleto«, Charlestons jährlichem Kulturfestival, stolperte Theodosia über eine unerwartete Gelegenheit. Der künstlerische Leiter eines teilnehmenden Theaters versuchte, einen kleinen Teeladen auf der Church Street abzustoßen, den seine Mutter vor Jahren betrieben hatte. Theodosias Neugierde war geweckt, und sie nahm den staubigen, leer stehenden kleinen Teeladen genau unter die Lupe und dachte: Und was wäre wenn?
Nach einer langen, schlaflosen Nacht traf Theodosia die endgültige Entscheidung und verwandte ihre bescheidenen Ersparnisse für eine Anzahlung auf den Laden.
Überzeugt davon, dass die friedvolle Atmosphäre eines Teeladens ihrem Seelenheil sehr viel förderlicher sein würde als neuen Kreditkarten, Computerzubehör und Arzneimitteln den Weg zum Markt zu ebnen, stürzte Theodosia sich aus ganzem Herzen in ihr neues Unternehmen.
Sie lernte, den Twist, die Form der gedrehten Blätter, die Tips und das Aroma von Teeblättern einzuschätzen und erwarb ein imposantes Sortiment an offenen und abgepackten Tees von bedeutenden Großhändlern wie Freed, Teller & Freed’s in San Francisco und Kent & Dinmore in England.
Durch einen wunderbaren Zufall befand sich die letzte noch bewirtschaftete Teeplantage der Vereinigten Staaten, die Charleston-Teeplantage, gerade einmal vierzig Kilometer südlich von Charleston auf der subtropischen Insel Wadmalaw. Theodosia konnte also die Bekanntschaft der Eigentümer Mack Fleming und Bill Hall und ihrer 127 Morgen großen Plantage machen, auf der beinahe dreihundert Sorten Tee produziert wurden.
Von Fleming und Hall lernte Theodosia alles über den Erntevorgang. Wie man die jüngsten, zartesten Blätter auswählte; den Gebrauch von Siebtischen, auf denen die Blätter mittels einer ausgefeilten Belüftungstechnik gewelkt wurden; Rolltechniken, bei denen über einen exakten Anrolldruck die Oberflächenzellen aufgebrochen wurden.
Sie ging sogar so weit, besondere Teerezepte nachzulesen. Das köstliche Orange-Pekoe-Soufflé eines Patissiers im Vier Jahreszeiten in San Francisco, ein Rezept für teegeräuchertes Hühnchen aus dem Hotel Peninsula in Hong Kong.
Und Theodosia warb Drayton Conneley von seinem Posten als Chef der Gästebetreuung in Charlestons berühmtem Vendue Inn ab.
Es dauerte nicht lange, und der wieder auferstandene Indigo Tea Shop wurde – als Teestube, Teefachgeschäft und Geschenkboutique – ein lohnendes Unternehmen und beliebter Abstecher vieler Stadtführungen und Rundfahrten. Zu Theodosias großer Freude erkoren ihre Nachbarn ihren Teeladen außerdem zum sozialen und geistigen Knotenpunkt des historischen Viertels.
Hufgeklapper auf dem Pflaster vor dem Indigo Tea Shop verkündete, dass die Pferdekutsche gekommen war, um ihre teekostenden Besucher zurück in ihre jeweiligen Pensionen und Hotels zu bringen.
»Ich hoffe, Sie haben Karten für eine der geführten Lamplighter-Touren heute Abend«, sagte Theodosia, während letzte Schlückchen genommen, Münder sorgfältig abgetupft und leinene Servietten säuberlich gefaltet wurden. »Viele der historischen Wohnhäuser auf dem Programm sind in Privatbesitz und öffnen nur zu diesem besonderen Anlass ihre Türen. Es ist wirklich sehenswert.«
Mit Unterstützung der Heritage Society, eines Vereins, der sich dem historischen Erbe der Stadt verschrieben hatte, war die Lamplighter-Tour in Charleston alljährliche Tradition. Sie fand in den letzten beiden Oktoberwochen statt, wenn die lang ersehnten kühleren Nächte zurückkehrten. Die abendlichen Rundgänge durch sehenswerte Straßen wie die Montagu oder Queen Avenue und die Church Street führten die Besucher auf gemütlichen Spaziergängen durch Kopfstein gepflasterte Gassen und boten ihnen die einmalige Gelegenheit, einmal den Fuß über die Schwelle einiger der großen, eleganten Herrenhäuser oder in ein paar von den fast klösterlichen, abgeschiedenen Hinterhofgärten zu setzen.
»Wenn mir eine ganz persönliche Empfehlung gestattet ist«, sagte Drayton, während er Stühle zurückschob und den Damen den Arm reichte, »würde ich Ihnen ganz besonders unseren Church-Street-Rundgang ans Herz legen. Er beginnt am Ravenel House, einem überwältigenden Beispiel viktorianischer Maßlosigkeit, und endet im Garten des eleganten Avis Melbourne House, wo unsere gütige Gastgeberin Miss Theodosia Browning engagiert wurde, eine Auswahl erlesener Tees zu servieren, darunter eine Lamplighter-Spezialmischung, die eigens zu diesem Anlass kreiert worden ist.«
»Ach Gott«, sagte eine der Damen, »wie faszinierend!«
»Ja«, erklärte Drayton. »Unsere Lamplighter-Mischung ist die liebliche Vermählung zweier traditioneller Schwarztees mit einem Hauch von Jasmin zur Verfeinerung der Note.«
Theodosia warf einen Blick zum Verkaufstresen hinüber und grinste Haley an, die gerade, die Arme voller Geschenkkörbe, aus dem Hinterzimmer gekommen war. Haley warf Drayton ständig vor, seine Rolle als Vorstandsmitglied der Charleston Heritage Society verführe ihn zu rhetorischer Überspanntheit.
»Natürlich«, fügte Theodosia mit neckischem Tonfall hinzu, der als Kontrapunkt zu Draytons gedacht war, »servieren wir auch Heidelbeermuff ins mit Schlagsahne.«
Rund um den Tisch erhob sich anerkennendes Gemurmel.
Drayton, dem der viel sagende Blickwechsel nicht entgangen war, schnappte sich einen der mit kleinen Teedöschen gefüllten und mit weißem Geschenkband umwundenen Körbe und hob ihn hoch, damit alle ihn sehen konnten. »Und vergessen Sie nicht, ehe Sie gehen, noch einen genauen Blick auf unsere Geschenkkörbe zu werfen.
Miss Parker hier hat jüngstens begonnen, sich der für South Carolina traditionellen Kunst des Webens von Vanillegraskörben zu widmen, und ich muss sagen, sie hat sich zu einer geschickten Handwerkerin entwickelt.«
Haley errötete. »Danke sehr«, murmelte sie.
Und natürlich, weil die Damen Damen waren, kundige Konsumentinnen und enthusiastische Touristen, wurden wenigstens drei der grazil gefertigten Geschenkkörbe in Theodosias indigoblaues Seidenpapier geschlagen und vorsichtig in der Kutsche verstaut.
»Hast du Earl Grey mit runtergebracht?«, fragte Theodosia, als die Tür ins Schloss gefallen war und die langen Schatten ihr sagten, dass an diesem Nachmittag keine Teegäste mehr zu erwarten waren.
Haley nickte.
»Komm her, Earl, mein Freund«, rief Theodosia und klatschte in die Hände.
Eine haarige Schnauze schob sich durch die Vorhänge, und dann kam ein knochiger Hund zum Vorschein und trottete langsam über den Holzboden. Als er bei Theodosia angekommen war, legte er den Kopf in ihren Schoß und seufzte zufrieden.
Earl Grey, Theodosias Adoptivhund, sah heute um Klassen besser aus als damals, als sie ihn gefunden hatte. Hungrig und zitternd hatte er zusammengerollt in einer Pappschachtel in der engen Kopfsteinpflastergasse gelegen, die hinter dem Laden vorbeiführte, ein ausgesetzter, unerwünschter Köter, der sich offensichtlich wochenlang auf den Straßen herumgetrieben hatte.
Doch Theodosia hatte sein feiner Kopf gefallen, der sanfte, bestürzte Blick und das ruhige Wesen, und sie hatte ihn sofort bei sich aufgenommen. Sie gab ihm Futter, Pflege, Obdach und einen Namen, und sie gab ihm ihre ganze Liebe.
Als Drayton Einspruch dagegen erhob, einen Straßenköter nach dem bekannten Premierminister aus dem neunzehnten Jahrhundert zu benennen, der als Erster den berühmten Tee mit Bergamotte-Aroma aus China mitgebracht hatte, hatte Theodosia dagegen gehalten, der Name sei mehr eine altenglische Referenz an die gesprenkelte Fellfärbung.
»Ich finde nicht, dass er sehr grau aussieht«, hatte Drayton beinahe beleidigt eingewandt.
Und er hatte Recht, der Hund war eigentlich eher schwarz-weiß gesprenkelt.
»Da. Auf der Innenseite seines linken Hinterbeins«, hatte Theodosia erklärt. »Da ist das Fell eindeutig grau.«
Drayton war ratlos, was den Hund anbelangte. »Eine Promenadenmischung!«, hatte er mit hochgezogenen Augenbrauen verkündet.
»Wie die Mischung eines feinen Tees«, hatte Theodosia schlagfertig gekontert. Sie legte ihre kräftigen Hände auf den schmalen Kopf des Hundes und massierte ihn sanft hinter den Ohren, während er zu ihr aufblickte, die klaren braunen Augen voll Liebe. »Ja«, hatte sie erklärt, »dieser Kerl ist eine Mischung aus Dalmatiner und Labrador. Ein Dalbrador.« Und von jenem Moment an wurde Earl Grey aus dem Geschlecht der Dalbradore allseits geliebter, offizieller Empfangschef des Indigo Tea Shops und ständiger Mitbewohner in Theodosias gemütlicher Zwei-Zimmer-Wohnung über dem Laden.
»Wie viele Vanillegraskörbe kannst du schaffen?«, fragte Theodosia, als Haley auf Zehenspitzen sechs ihrer Körbe in das Regal hinter der Kasse stellte.
»Wie viele brauchst du denn?«
»Schätzomative mindestens fünfzehn bis zu den Feiertagen. Wenn unsere Web-Site bis dahin steht, das Doppelte.«
»Vielleicht kann Bethany mir helfen, dann schaffe ich noch mal zwölf Stück«, sagte Haley. Ihre Freundin Bethany Sheperd lebte momentan bei ihr in der kleinen Gartenwohnung auf der anderen Seite der Gasse. »Aber den Hauptteil werden wir wohl kaufen müssen.«
»Kein Problem«, sagte Theodosia. »Ich wollte sowieso raus ins Low Country. Dann besorge ich noch ein paar Körbe.«
Vanillegraskörbe gehörten zu den Haupterzeugnissen, die an den provisorischen Ständen entlang des Highway 17 Richtung Norden verkauft wurden. Aus Vanillegrasbüscheln, Kiefernnadeln und Binsen handgefertigt und mit Fasern der für South Carolina typischen Fächerpalmen verschnürt, waren die Körbe schön und praktisch zugleich, und die Frauen im Low Country, der Umgebung Charlestons, waren sehr stolz auf ihr Kunsthandwerk.
»Wie geht es Bethany?«, fragte Theodosia, und die Sorge um Haleys Freundin, deren Mann vor gerade einmal acht Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, machte ihre Züge sanft. In den vergangenen Monaten hatte die schüchterne Bethany ab und zu im Teeladen ausgeholfen, und Theodosia hoffte, dass die junge Frau ihr Gleichgewicht bald wieder fand.
»Mal so, mal so«, sagte Haley gemessen. »Es ist nicht leicht, mit siebenundzwanzig schon Witwe zu sein. Ich glaube, ohne ihr Praktikum wäre Bethany wirklich verloren.«
»Dann ist wenigstens der Aspekt ihres Lebens erfolgreich«, sagte Theodosia.
»Ja, dank Drayton.« Haley warf Drayton Conneley einen dankbaren Blick zu. Er war gerade am Telefon und besprach letzte Einzelheiten der für den Abend geplanten Veranstaltung. »Ich weiß nicht, was Bethany getan hätte, wenn er bei der Heritage Society kein gutes Wort für sie eingelegt hätte. Bethany hat sich für ihren Magister der Kunstgeschichte wirklich abgerackert, aber es ist trotzdem unmöglich, ohne Praktikumszeugnis irgendwo einen Job als Museumsleiterin zu bekommen. Vielleicht jetzt…« Haleys Stimme bebte, und ihre großen braunen Augen füllten sich mit Tränen.
Theodosia beugte sich zu ihr und tätschelte aufmunternd ihre Hand. »Die Zeit heilt alle Wunden«, sagte sie weich. »Und in Charleston ist die Zeit ein guter alter Freund.«
Wie ein weicher, purpurner Umhang hatte sich die Dunkelheit auf die Stadt gesenkt. Fächerpalmen wiegten sich sanft in der Abendbrise. Die Trauertauben, die sich in ausladenden Eichen und Pecannussbäumen zur Ruhe begeben hatten, hatten lange schon ihre flaumigen Köpfe unter die zerbrechlichen Flügel gesteckt.
Doch auf der gesamten Church Street herrschte eine lebhafte und verzauberte Atmosphäre. Auf breiten Veranden flackerten verheißungsvoll Kerzen in Messingständern. Teilnehmer verschiedener Lamplighter-Touren drängten sich in Trauben auf den Gehsteigen, verschwanden im schummrigen Schatten und tauchten in goldenen Lichtfeldern wieder auf, die aus den Torbögen belebter Häuser auf die dunkle Straße hinausfielen, Häuser, die an diesem besonderen Abend all jenen offen standen, die eine Eintrittskarte in der Hand und Ehrfurcht vor der Geschichte in ihren Herzen trugen.
Die Stufen zum Avis Melbourne House waren mit dicken, orangefarbenen Kürbissen geschmückt. Auf der ausladenden Veranda, wo sechs weiße ionische Säulen gebieterisch Wacht hielten, begrüßten junge Frauen in Gewändern aus dem achtzehnten Jahrhundert die Besucher mit Laternen und scheuem Lächeln. Sie trugen das Haar zu glatten Knoten frisiert, und ihr zierlicher Gang wirkte ein wenig gekünstelt, so ungewohnt waren die vielen Lagen Unterröcke und das verwirrende Rascheln von Seide.
Die Ausmaße der Räume im Innern des Hauses waren riesig. Dieses Heim war für ein Leben in großem Stil entworfen worden; von den Decken baumelten vergoldete Lüster, die Wände waren geschmückt mit üppigen Ölgemälden, und in jedem Raum gab es einen Kamin aus italienischem Marmor. Die Farbpalette entsprach den Pastelltönen französischen Stils: Lachs, Perlweiß, Blassblau.
Andere kostümierte Führer, ebenfalls Mitglieder der Heritage Society, geleiteten die Besucher durch den Salon, das Speisezimmer, die Bibliothek. Dabei erzählten sie über Architektur, Antiquitäten und die Schönen Künste.
Durch den langen Korridor im Zentrum des Hauses, die Schritte verschluckt von plüschigen Aubussonteppichen, gelangten die Gäste hinaus in den Garten im Innenhof.
Viele Teilnehmer der Führung waren mittlerweile hier versammelt und saßen an Tischen, die sich um einen dreistöckigen Brunnen scharten. Inmitten von üppigem Blattwerk war das Geräusch von rieselndem Wasser angenehm entspannend.
Theodosia tauchte aus der Seitentüre von ihrem Kommandoposten in der Dienstbotenkammer auf. Während der letzten Stunde hatten sie und Drayton alle Hände voll zu tun gehabt. Er hatte die Zubereitung fünf verschiedener Teesorten überwacht, während sie silberne Teekannen zu Haley hinausbrachte, die sie servierte, und dann nach drinnen eilte, um Nachschub zu holen. Irgendwann waren sie so im Stress gewesen, dass Theodosia Haley gebeten hatte, Bethany anzurufen und um Unterstützung zu bitten.
Als Theodosia jetzt ihren Blick über die Gäste im Garten schweifen ließ, sah es endlich so aus, als könne sie eine kleine Verschnaufpause einlegen. Haley und Bethany bewegten sich mit routinierter Präzision zwischen den etwa zwanzig Tischen, schenkten Tee ein und boten eine zweite Portion Blaubeermuffins an. Sie trugen lange weiße Schürzen über schwarzen Blusen und weiten Hosen und sahen aus wie französische Kellner. Die Tische waren mit festlichem weißen Leinen gedeckt, und in der Mitte saß ein Gesteck aus purpurnen Blumen in Nestern aus Grün.
»Theodosia, Darling!«
Theodosia drehte sich um und sah Samantha Rabathan, diesjährige Vorsitzende der Church Street-Führung über den gepflasterten Hof auf sich zukommen. Sie trug acht Zentimeter hohe Absätze und ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Ganz ihrer Rolle als Teil der Schickeria und Modespezialistin verpflichtet, war Samantha bezaubernd gekleidet. Sie trug einen mit Volants besetzten cremefarbenen Seidenrock und einen apricotfarbenen Kaschmirpullover, der vorne großzügig ausgeschnitten war, um ihre passende Pfirsichhaut und die üppige Ausstattung zur Geltung zu bringen.
Theodosia schob sich eine widerspenstige Strähne ihrer kastanienbraunen Haare hinters Ohr und stellte die große Teekanne auf einen der behelfsmäßigen Serviertische. Sogar in ihrer mitternachtblauen maßgeschneiderten Hose und dem weißen Spitzentop, einer Aufmachung, die von mehreren der anwesenden Herren mit bewundernden Blicken quittiert worden war, kam sie sich neben Samanthas buntem Gefieder auf einmal vor wie ein grauer Spatz.
»Wir haben volles Haus, Samantha.« Theodosia deutete mit einer Geste über die zufriedene Gästeschar, die sich im Hof an Tee und Gebäck labte. »Deine Tour ist ein riesiger Erfolg.«
»Ja wirklich, nicht wahr?«, stimmte Samantha ihr kichernd zu. »Ich habe mich gerade ein bisschen mit meinem Mobiltelefon umgehört und erfahren, dass bei der Tradd-Street-Führung gerade mal halb so viele Leute mitgemacht haben.« Sie stieß Theodosia mit dem Ellbogen an und senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Raunen: »Wusstest du, dass wir neunzig Karten mehr verkauft haben als im letzten Jahr? Das ist ein neuer Church-Street-Rekord!«
Im letzten Jahr war Delaine Dish Vorsitzende der Church-Street-Führungen gewesen. Aus irgendeinem Grund, den Theodosia nicht kannte, bestand zwischen Samantha und Delaine eine unterschwellige, gehässige Rivalität, deren Ursachen zu ergründen sie ebenso wenig Lust verspürte, wie zwischen deren Fronten zu geraten.
»Ach ja«, säuselte Samantha und fächelte sich mit einem Programmheft frische Luft zu, »was für eine laue Nacht.«
Und weg war sie, schwebte über den Hof davon, während die Absätze ihrer makellosen, cremefarbenen Schuhe gefährlich nahe dran waren, zwischen die Fugen der Steine zu geraten und ihr Mobiltelefon aufs Neue gellte.
»Ich weiß wirklich nicht, wieso ihr so warm ist«, flüsterte Drayton Theodosia ins Ohr. »Sie ist nicht gerade warm eingepackt.«
»Sei nett, Drayton«, sagte Theodosia. »Samantha hat sich wirklich viel Mühe mit dem Kartenverkauf und der Organisation der Freiwilligen gegeben.«
»Du kannst es dir leisten, Großmut an den Tag zu legen«, sagte er naserümpfend. »Zu dir ist Samantha schon immer nett gewesen. Ich glaube, insgeheim ist sie neidisch auf deine Vergangenheit in der Werbebranche. Sie weiß, dass du den Eskimos den sprichwörtlichen Kühlschrank verkauft hast. Aber ganz und gar unverfälscht und neutral betrachtet ist dies das Ergebnis vereinter Bemühungen. Um das hier auf die Beine zu stellen, haben sich viele Menschen große Mühe gegeben!«
»Einverstanden«, sagte Theodosia. »Und jetzt sag mir, was unsere ziemlich unwissenschaftliche Erhebung ergeben hat.«
Drayton strahlte. »Drei zu eins für die Lamplighter-Mischung! Ich schätze, wir haben nicht mal mehr eine halbe Kanne übrig.«
»Wirklich?« Theodosias Wangen fingen an zu brennen und ihre sonst ruhige, melodische Stimme war vor Aufregung ganz rau.
»Das Volk hat gesprochen, Madam. Dieser Tee ist ein Bombenerfolg!«
»Also füllen wir mehr davon ab und setzen ihn mit auf die Website«, sagte sie.
»Nein. Wir machen eine eigene Kampagne!« Drayton bedachte Theodosia mit einem untypischen Grinsen, nahm die silberne Teekanne, die sie vorher abgesetzt hatte, und machte sich auf den Weg ins Haus. »Da drinnen wartet Arbeit. Zum Glück ist ein Ende in Sicht.« Er hielt inne. »Kommst du?«
»Nur eine Minute, Drayton.«
Theodosia stand halb verborgen unter einem eleganten, mit Wein bewachsenen Bogen und schwelgte sich im Glanz des Erfolgs. Es war der erste Tee, den sie selbst gemischt hatte. Sicher, die Mischung basierte auf zwei vorzüglich milden Tees von der American Tea Plantation. Und sie hatte von Draytons unschätzbarer Erfahrung profitiert. Aber trotzdem …
»Verzeihung.«
Theodosia wirbelte herum und stand zwei winzigen Frauen gegenüber. Beide waren kaum einen Meter fünfzig groß, ziemlich fortgeschrittenen Alters und in identische grüne Kostüme gekleidet. Zwillinge, dachte sie, dann sah sie näher hin. Nein, nur gleich gekleidet. Wahrscheinlich Schwestern.
»Mavis Beaumont.« Eine der Damen in Grün streckte ihr grazil die behandschuhte Hand entgegen.
»Theodosia Browning«, sagte Theodosia und ergriff die winzige Hand. Sie blinzelte. Die beiden anzusehen war als sähe man doppelt.
»Sie sind doch die Frau mit dem wunderbaren Hund, nicht wahr?«, sagte Mavis.
Theodosia nickte. Das passierte regelmäßig. »Sie meinen Earl Grey«
»Das ist er!« Mavis Beaumont wandte sich an ihre Schwester: »Miss Browning hat diesen wundervoll dressierten Hund, der kranke Leute besucht. Ich hatte Gelegenheit, ihn kennen zu lernen, als Missy sich das Bein gebrochen hat.«
Die Schwester nickte lächelnd.
»Earl Grey ist ein Therapiehund«, erklärte Theodosia, falls die beiden nicht verstanden haben sollten, dass Earl Grey Teil eines ganz konkreten Programms war.
Jeden Montagabend besuchten Theodosia und Earl Grey das O’Doud-Seniorenheim und stellten sich für die Streicheltiertherapie zur Verfügung. Earl Grey trug seine blaue Nylonweste mit der Stickerei, die ihn als ausgebildeten Therapiehund auswies, und dann streiften die beiden durch die großen Aufenthaltsräume, blieben stehen, um mit den betagten, aber durchaus redefreudigen Bewohnern zu plaudern und besuchten jene, die bettlägrig waren, in ihren Zimmern.
Earl Grey war schnell einer der Lieblinge der Bewohner geworden, von denen viele nur ab und zu Besuch von ihren Familien bekamen. Und erst letzten Monat hatte Earl Grey sich mit einer Frau angefreundet, die einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, in Folge dessen ihre gesamte rechte Seite gelähmt war. In der Aufregung, Earl Grey zu streicheln, hatte die Frau den rechten Arm zum ersten Mal seit Monaten bewegt und eine Streichelbewegung auf dem Rücken des Tiers zu Stande gebracht. Aufgrund dieses Durchbruchs hatte die Frau eine Physiotherapie begonnen und den rechten Arm schließlich teilweise wieder nutzen können.
Mavis Beaumont packte Theodosia am Arm. »Ein schönes Fest, meine Liebe.«
Die Schwester, welche offensichtlich nicht sprach, zumindest nicht an diesem Abend, nickte lächelnd.
»Gute Nacht«, rief Theodosia ihnen nach.
»Was war das denn?«, fragte Haley, die mit einem großen Tablett auf der Schulter vorbeikam.
»Verehrerinnen von Earl Grey.«
»Der Junge muss ’nen PR-Agenten haben«, witzelte Haley.
»Ach ja, danke, dass du Bethany hergeholt hast«, sagte Theodosia, »ich hoffe nur, wir haben ihr keinen Strich durch ihr Abendprogramm gemacht.«
»Machst du Witze?«, fragte Haley. »Das arme Ding saß mutterseelenallein zu Hause, in ›Die Geschichte der Kunst‹ von Gombrich vertieft. Nicht, dass irgendwas verkehrt daran wäre, es sich mit einem Buch über Kunstgeschichte gemütlich zu machen, aber ganz unter uns, es war ein wunderbarer Vorwand, sie endlich mal aus dem Haus zu locken und unters Volk zu bringen. Glaub mir, das ist für sie das Beste.«
Von ihrem Posten am anderen Ende des Gartens sah Bethany zu ihnen herüber. Die Mienen der beiden Frauen sagten ihr, dass sie über sie sprachen. Sie lächelte schwach, weil sie wusste, dass sie nur ihr Bestes wollten, und sie war dankbar für Freunde, die so um ihr Wohl besorgt waren.
Mit ihrem feinen, ovalen Gesicht, dem blassen Teint, den langen dunklen Haaren und den tiefbraunen Augen war Bethany eine echte Schönheit. Doch ihre Körpersprache spiegelte die tiefe Traurigkeit wider, die ihr Inneres beherrschte. Wo die meisten jungen Frauen ihres Alters sich mit unbekümmerter Grazie bewegten, war Bethany still und gefasst. Wo Freude und Heiterkeit ihr Gesicht erhellen sollten, war nur Melancholie.
Bethany nahm ein Tablett und ging zum nächsten leeren Tisch hinüber. Sie räumte ab, achtete gewissenhaft auf die empfindlichen Porzellantassen und Kännchen und ging ernst zum nächsten Tisch. Die Kerzen auf den Tischen, die noch vor einer Stunde so hell gestrahlt hatten, begannen zu flackern. Die Besucher der Lamplighter-Tour leerten ihre Tassen, schlenderten langsam zurück ins Haus und verabschiedeten sich. Der Abend neigte sich dem Ende zu.
Bethany warf einen Blick über den Innenhof zu jener Stelle, wo noch vor ein paar Minuten Theodosia und Haley gestanden hatten. Sie waren nirgends mehr zu sehen. Sie mussten wohl in den Anrichteraum verschwunden sein, um mit dem Aufräumen anzufangen, dachte sie.
Bethany ging kreuz und quer über den gepflasterten Hof, nahm hier eine Tasse mit und dort einen Teller. Als sie in ihrer Arbeit innehielt und sich umblickte, waren nur noch zwei Tische besetzt.
Korrigiere, nur noch einer, sagte sie sich, als die vier an dem Tisch neben dem Brunnen sich ebenfalls erhoben und langsam davon schlenderten, plaudernd, den dunklen Garten bewunderten und auf die dichten Büschel Greisenbart deuteten, die von den Bäumen hingen.