Manfred Brauneck
Europas Theater
2500 Jahre Geschichte – eine Einführung
Rowohlt Digitalbuch
Prof em. Dr. Manfred Brauneck, Jahrgang 1934, lehrte seit 1973 Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft an der Universität Hamburg. Von 1986 bis 2003 Leiter des Zentrums für Theaterforschung, bis 2005 auch des Studiengangs Schauspieltheater-Regie. Seit 1973 zahlreiche Gastprofessuren in den USA, Polen und Bulgarien. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Theorie des Theaters, Grenzbereiche zwischen Theater und bildender Kunst. 2010 ausgezeichnet mit dem Balzan-Preis für Geschichte des europäischen Theaters.
EUROPAS THEATER gibt einen kompakten Überblick über dessen 2500-jährige Geschichte. Nicht zuletzt wird in dieser Einführung der Frage nachgegangen, welchen Anteil das Theater an der Stabilisierung, aber auch an der Infragestellung weltanschaulicher und politischer Gesellschaftsentwürfe hatte, welche Bewegkräfte auf das Theater eingewirkt haben, welche Rolle die Bühne für die Ausbildung nationaler und soziokultureller Identität spielte und wie das Theater selbst zu einem wesentlichen Element des abendländischen Zivilisationsmodells geworden ist. Geschichte des Theaters ist stets auch Sozial- und Kulturgeschichte, zumal es einen zentralen Platz unter den Künsten einnimmt. Für Europas Theater gingen die wesentlichen Impulse von seiner Auseinandersetzung mit der dramatischen Dichtung aus. Als die Chronisten ihrer Gesellschaft ließen und lassen die Dramatiker das Theater zu einem Seismographen ihrer Zeit werden.
Der renommierte Theaterwissenschaftler Manfred Brauneck bündelt in diesem mit vielen Abbildungen ausgestatteten Buch die Ergebnisse seiner lebenslangen Forschung und vermittelt sie anschaulich jedem am Theatergeschehen Interessierten.
rowohlts enzyklopädie
Herausgegeben von Burghard König
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2012
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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ISBN Buchausgabe 978-3-499-55710-1
ISBN Digitalbuch 978-3-644-46201-4
www.rowohlt-digitalbuch.de
ISBN 978-3-644-46201-4
Europas Theater verbindet ein gemeinsamer Ursprung in den Theaterfesten der Athener Polis, die dem Dionysos, dem Schutzgott des Gemeinwesens, gewidmet waren. Dieses Theater ist unlösbar verbunden mit der Tragödiendichtung der klassischen Zeit, des 5. Jahrhunderts v.Chr. Diese Tragödien stellten jene Sinnfragen, die die Menschen bis heute bewegen. Für das Theater sind sie eine künstlerische Herausforderung, zugleich eine eminente Inspiration. Von Beginn an existierte aber auch eine gänzlich andere Theatersphäre, in der eine vitalistische Gegenwelt, der «andere» Dionysos, ins Spiel kam: die Satyrspiele und der Mimus. Es war ein Theater, das dem wilden Spiel, dem Spott und der obszönen Schaustellerei freien Lauf ließ. Diese beiden Pole haben Europas Theaterkultur über den gesamten Zeitraum ihrer Geschichte in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen geprägt: Es gab das literarische, höchste dichterische Leistungen inspirierende Theater, das zur Repräsentation von Macht und Herrschaft ebenso tauglich war wie zur Bestätigung oder zur Kritik geltender Vorstellungen von Ordnung und Moral. Es gab aber stets auch jenes populäre, plebejische Theater der Mimen, der Gaukler und der Komödianten, deren unambitioniert dargebotene Kunstfertigkeit vor allem dem Spaß galt, auch dem Spott und dem bösen Verlachen. Das Possentheater der Phlyaken nahm den Heroen ihre Würde, blasphemisch und vulgär. Die fahrenden Spielleute des Mittelalters, die «giullari», mit deren Rolle sich Dario Fo im 20. Jahrhundert so kongenial identifizierte, attackierten vom Rande der Gesellschaft aus kirchliche und staatliche Obrigkeiten. Die Commedia dell’Arte bewahrte über zwei Jahrhunderte hin eine Spielfreudigkeit, die dem Theater der Literaten und der Aufklärer abhandengekommen war. Es war eine Theaterwelt von virtuoser Leichtigkeit und Galanterie, die die dunklen Ekstasen des Dionysos-Kults vergessen ließen. Im 19. Jahrhundert übernahmen vor allem musikalische Genres, Singspiel, Melodrama und Operette, den Part des populären Unterhaltungstheaters, das sich an den Rändern der großen Städte ansiedelte. Der junge Brecht meinte gar, dass das Theater erst dann wieder mit dem wirklichen Leben zu tun hätte, wenn man, rauchend und |8|entspannt zurückgelehnt, das Geschehen auf der Bühne betrachten – er meinte beurteilen – könne.
Unstrittig aber gingen für Europas Theater die wesentlichen Impulse von der Auseinandersetzung mit dramatischer Dichtung aus. Die Dramatiker waren es, die Bilder von der Gesellschaft entwarfen, vom Menschen und vom Umgang der Geschlechter und der Generationen miteinander, die aufrüttelten, aufklärten, revoltierten. Sie waren die Chronisten ihrer Gesellschaft und ließen das Theater ein Seismograph ihrer Zeit sein. Doch auch die Architekten und nicht zuletzt die Maler arbeiteten über die Jahrhunderte hin für das Theater. Sie prägten maßgeblich deren Erscheinungsbild und waren zuständig für dessen Schaueffekte und jenen verblüffenden Illusionismus, der die Menschen immer wieder faszinierte. Im 20. Jahrhundert plädierten sie gar für ein Theater der Bilder, das den Schauspieler, dem doch die Bühne letztlich wirklich gehört, zu verdrängen suchte.
Europäisches Theater ist seit seinen Anfängen eingebunden in nationale kulturelle Traditionen, die sich in Systemen mehr oder weniger verfestigt haben. Doch es ist ebenso geprägt von transnationalen Verflechtungen. Die Bühnenkünstler betrieben zu keiner Zeit ein wirklich sesshaftes Gewerbe. Auch ist das Zusammenspiel der theaterkulturellen Zentren mit der Peripherie, der der Metropolen, ihrer Vorstädte, ebenso mit den Ländern an den Rändern Europas eine spezifische Facette in der Geschichte des Theaters.
Dieses Buch gibt einen kompakten Überblick über «Europas Theater». In zehn Kapiteln wird der Gang durch dessen Geschichte verfolgt. Es wird der Frage nachgegangen, welchen Anteil das Theater an der Stabilisierung, aber auch der Infragestellung weltanschaulicher oder ideologisch geprägter Gesellschaftsbilder hatte, welche Bewegkräfte auf das Theater eingewirkt haben, welche Rolle es für die Ausbildung nationaler oder soziokultureller Identität gespielt hat; wie es ein essenzieller Bestandteil des spezifisch abendländischen Zivilisationsmodells ist. Geschichte des Theaters ist auch Sozial- und Kulturgeschichte, zumal das Theater seit seinen Anfängen einen exzeptionellen Platz unter den Künsten einnimmt. Dabei wird sich zeigen, dass sich vom Standpunkt heutiger Rezeption aus die Bewertungen einzelner Entwicklungen und Werk|9|zusammenhänge oftmals verschoben haben im Hinblick auf deren Bedeutung im theaterkulturellen Kontext ihrer Zeit.
Es ist mir ein besonderes Anliegen, dem Verlag zu danken, dass mein Buch in «rowohlts enzyklopädie» erscheinen konnte. Mein besonderer Dank gilt Burghard König, der diese Reihe begründet und «Europas Theater» noch betreut hat. Seine kritische Hilfe bei der Redaktion und letzten Kontrolle war für mich als Autor überaus hilfreich. Alissa Brauneck hat mit großer Sorgfalt die Schreibarbeiten übernommen, bei den bibliographischen Recherchen mitgearbeitet und das Manuskript betreut. Dafür danke ich ihr herzlich. Gewidmet ist dieses Buch meiner verstorbenen Frau.
Hamburg, Januar 2012
Manfred Brauneck
Im Kult des Dionysos hat das griechische Theater seinen Ursprung. Es steht am Beginn des europäischen Theaters, das im Fortgang seiner Geschichte die Kraft dieses Ursprungsmythos in immer neuen Transformationen weiterträgt. Eine Ausstellung der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin 2009 dokumentierte die Inspirationskraft, die dieser Mythos im Lauf der Geschichte entfaltet hat.
In Griechenland war Dionysos seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v.Chr. bekannt. Sein Kult hatte eine Vielzahl von lokalen und regionalen Ausformungen. Ursprungsland des Dionysos-Mythos ist Thrakien, eine aus der Sicht der Griechen barbarische, von kriegerischen Stammesfürsten beherrschte Region, deren Mysterienkulte jedoch übernommen wurden und das Weltbild der Griechen um eine Dimension der Spiritualität erweitert haben. Als Sohn des Zeus und der Königstochter Semele hatte Dionysos eine menschliche Mutter und den obersten Gott zum Vater. Der Mythos erzählt, wie fatal die ehebrecherische Liaison des Zeus die Biographie des jungen Dionysos, ein Hybrid von höchst gegensätzlichem Wesen, geprägt hat; wie die eifersüchtige Hera, nachdem sie mit einer mörderischen List den Tod der Semele herbeigeführt hatte, das Kind den Titanen überließ. Die zerrissen es, kochten die Stücke in einem Kessel und fraßen sie. Der Mythos erzählt aber auch, wie Rhea die verstreuten Stücke wieder zusammensetzt und Dionysos ins Leben zurückkehrt; wie er durch die Welt reist und in Gestalt von Löwe, Stier oder Schlange seine Gegner täuscht und unter jenen, die seine Göttlichkeit nicht anerkennen, Furcht und Schrecken verbreitet. Kein anderer der griechischen Götter hat eine vergleichbar ausführlich erzählte Lebensgeschichte. Es ist ein Auf und Ab von Verletzungen und Triumphen, bis Dionysos schließlich als einer der zwölf olympischen Götter anerkannt wird. Die Ausführlichkeit der Biographie mag ein Grund dafür gewesen |12|sein, dass dieser Gott, der sich selbst als «den furchtbarsten, zugleich aber für die Menschen auch den sanftesten aller Götter» bezeichnet, stets gegenwärtiger war als die Olympier um Zeus und Hera, obwohl er seine Fremdheit nie verlor. Euripides, der späteste der klassischen Dichter, ein Aufgeklärter, der wusste, dass es galt, das Leben ohne die Hilfe der Götter zu bestehen, stellt diesen Aspekt des Dionysos-Mythos ins Zentrum seiner Tragödie «Bakchen». Sie wurde 406 v.Chr. uraufgeführt. Es ist vermutlich die einzige Tragödie der klassischen Zeit, in der Dionysos als Theaterfigur auftritt: der Maskengott in der Theatermaske. Die Differenz von Kult und dem spielerischen Ereignis war aufgehoben. Nur Euripides konnte dies im Rahmen der geltenden Tragödienkonvention wagen. Die Rationalität streng gewahrter ästhetischer Form und ritueller Festordnung ermöglichte es, die gewalttätige, irrationale Dimension der Weltordnung aufzudecken und zugleich dieses stets gefährdete Spannungsgefüge von Chaos und Ordnung im Gleichgewicht zu halten.
In den «Bakchen» erzählt Euripides, wie Pentheus, der König von Theben, die Einführung des Dionysos-Kults verbieten wollte: Durch die Freisetzung unkontrollierter Emotionen und rauschhafter Lebenssteigerung, die den Kern dieses Kults ausmachen, sieht Pentheus die Ordnung seines Gemeinwesens gefährdet. Verführt von dem Gott, gibt er jedoch der Verlockung nach – verkleidet als Frau –, dem orgiastischen Treiben der Dionysos-Anhängerinnen, der Bakchen, in den Schluchten des Kithairon zuzusehen. Als diese Pentheus entdecken, halten sie ihn – von dem Gott in Wahnsinn und Raserei versetzt – für ein wildes Tier und reißen ihn in Stücke. Anführerin der ekstatischen Frauenhorde ist Agaue, die Mutter des Pentheus. Als Jagdtrophäe aufgespießt, trägt sie dessen Kopf triumphierend zurück in den Palast. Dort erst erwacht sie aus der rituellen Verblendung und erkennt ihre fürchterliche Tat. Dionysos aber steht lächelnd auf dem Dach des Palasts und betrachtet sein Vernichtungswerk an der Königssippe. Die Tragödie führt die Imaginationswelten zusammen, die die Komplexität der Erfahrungsbereiche dieses Mythos ausmachen: die kollektive Grenzüberschreitung im Rausch und im Tanz und die exzessive Freisetzung einer Triebdynamik, die das Kontrollsystem der sozialen Ordnung außer Kraft setzt. Das Ausbrechen aus diesem Normengefüge institutionalisiert der Ritus des dionysischen Kults |13|als Masken- und Rollenspiel. In seinem Buch «Die eigene und die fremde Kultur» (1979) beschreibt der französische Ethnologe Michel Leiris Besessenheitsriten, zu denen auch der Dionysos-Kult gehört, und weist auf den Charakter des «theaterhaften Spektakels» hin, der der Ausübung dieses Kults eigen ist. Die Fremdheit des Gottes überträgt sich im Spiel auf die Akteure des Kults als Erfahrung der eigenen Fremdheit, die im Wesen dessen wahrgenommen wird, dessen Maske der Spieler trägt. Die Freiheit, die dieser Kult zulässt, war immer auch die Freiheit zu töten. Der dionysische Ritus vollzog dies in symbolischer Form. In den «Bakchen» ist es die Imagination, gefasst in ein ästhetisches Regelwerk, die das theatrale Spiel im Zuschauer auslöst. Das Zerfetzen des Pentheus bleibt dessen Blicken entzogen. Dies verbot das Kontrollsystem des attischen Theaters, das den Zuschauer von der unmittelbaren Wahrnehmung derartiger Gewalttätigkeit bewahrte.
Verehrt wurde Dionysos anfangs als Gott der Fruchtbarkeit, der rauschhaft ausgelebten Lebensfreude, des Weins und des Glücks. Seinen Ritus feierten fast ausschließlich Frauen. Tanzend schwärmten sie aus in die Berge, waren eins mit ihrem Gott in heiliger Ekstase. In dessen Doppelgeschlechtlichkeit war die besondere Affinität des dionysischen Kults zu einer weiblich-schwärmerischen Erotik angelegt. Zum Gefolge dieses «differenten Gottes», dessen Bild vor allem durch die attische Vasenmalerei verbreitet wurde, gehörten Selene und Satyrn. Vor allem diese quirligen animalischen Zwitterwesen mit einem Pferdeschweif am Steiß, spitzen Ohren und einem grotesk aufgerichteten Phallus trieben die wilden sexuellen Spiele dieses Kults auf die Spitze, verliehen diesem aber auch einen burlesk-komischen Zug. Das Satyrspiel, das zum festen Bestandteil der späteren Tragödienwettbewerbe wurde, ebenso die Alte und Mittlere attische Komödie sind literarisierte Formen dieser rituellen Auftritte. Stets auch sind es Maskenspiele. Bewegung vor allem, chorische Tanzformationen und der Dithyrambos, das Chorlied, das zu Ehren des Dionysos gesungen und getanzt wurde, vom rauen durchdringenden Klang der Aulosmusik begleitet, schufen eine Atmosphäre archaischer Orgiastik, die alle Sinne aufwühlte. Zum Erscheinungsbild des Kults gehörten die Mänaden, die «Rasenden». Es waren Tänzerinnen in langen, gekräuselten Gewändern, die, den Kopf ekstatisch in den Nacken gewor|14|fen, mit Leopardenfellen behangen waren und den Thyrsos, einen Stab mit Weinranken umwunden, in den Händen hielten. Bildnerische Darstellungen vermitteln noch heute eine Vorstellung von deren furiosen Tänzen. Der Gott, der auf diese Weise gefeiert wurde, war ein Gott des Ausnahmezustands, ein Gott der dunklen Verlockungen, dessen Erscheinungsbild die Maske war.
Im 6. Jahrhundert v.Chr. kam es zu einer Renaissance des in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und Regionen verankerten Dionysos-Kults. Es war eine Reform, die dessen Integrationskraft bewahrte, dessen entgrenzende Emotionalität jedoch in kontrollierte Bahnen lenkte. |15|Im Zentrum dieser Kultreform stand Dionysos Eleuthereus: nicht mehr der einstige volkstümliche Bauerngott, sondern der Dionysos der athenischen Agora, ein politischer Gott der Stadt, Schirmherr der aristokratischen Polis. Mit dieser Reform verbunden war eine neue Entwicklungsstufe des griechischen Zivilisationsmodells, und zugleich war es die Geburtsstunde des Theaters. Initiator der Reform war die in Athen herrschende Tyrannendynastie der Peisistratiden, in deren politischem Interesse es lag, die über Jahrzehnte hin in mannigfaltigen Konflikten verstrickten sozialen Gruppen und aristokratischen Familienclans zu befrieden. Zwar hatten die meisten attischen Demen (Gemeinden) bereits im 6. Jahrhundert v.Chr. eigene Feste zu Ehren des Dionysos, jedoch rückte erst der Ausbau des im Monat Elaphebolion (März/April) gefeierten Dionysos-Fests zu einem repräsentativen Staatsfest, den Großen (oder auch Städtischen) Dionysien, dieses Ereignis ins Zentrum des religionspolitischen Interesses. Getragen war dieses Staatsfest von der Idee, die Stadt und die Region unter der Schirmherrschaft des Dionysos Eleuthereus zu feiern. Im 5. Jahrhundert v.Chr. wurde dieses Fest zu einer imposanten Manifestation der wirtschaftlichen und politischen Macht der inzwischen demokratisch verfassten Polis weiterentwickelt. Es wurde zum Anlass, an die Grundwerte zu erinnern, die den Zusammenhalt des Gemeinwesens im Inneren wie gegen Bedrohungen von außen sicherstellten, diese als politische Errungenschaft zu feiern und, wenn es der Zustand der Polis erforderte, sie von den herrschenden Eliten neu einzufordern. Vor allem diese Aufgabe kam den Tragödien- und den Komödienwettbewerben zu. Während die Tragödie die großen mythischen Erzählungen als Garanten eines von den Göttern verbürgten Sinns von Welt und Geschichte darstellte, prangerte die Komödie die Laster und Schandtaten der politischen Klasse in kaum überbietbarer Schärfe an, überschüttete deren Repräsentanten mit Spott und Hohn.
Von ihren Anfängen an nahm diese Entwicklung einen glanzvollen, für das gesamte europäische Kulturverständnis folgenreichen Verlauf. Es war vermutlich der Tyrann Peisistratos (um 600 bis 528/27), der die Ausgestaltung des bis dahin lange schon gefeierten Dionysos-Fests zu einem mehrtätigen Staatsfest in Auftrag gab. Er hatte – so scheint es der für diese Zeit sehr lückenhaften Quellenlage nach – den Dichter und|16| |17|Schau|18|spieler Thespis mit der Ausgestaltung dieses Fests beauftragt. Dessen «Erfindung» war die Tragödie, wie sie in ihrer frühesten Form um das Jahr 534 v.Chr. erstmals aufgeführt wurde. Von Beginn an waren diese Aufführungen das zentrale Ereignis der Dionysien. Ob in dieser frühen Phase die Tragödien bereits als Agon, also als Wettkampf der Dichter, aufgeführt wurden, muss wohl offen bleiben. Wahrscheinlich ist, dass erst Kleisthenes um 502/1 v.Chr. den Agon regelhaft in der Veranstaltungsfolge der Großen Dionysien verankert und auch dem Verlauf dieses Fests seine endgültige Form gegeben hat.
Neben den Großen Dionysien gab es in Athen zwei wesentlich ältere Dionysos-Feste, die Anthesterien und die dem Dionysos Lenaios gewidmeten Lenäen. Beide Feste waren in der aristokratischen und in der sakralen Verfassung der Polis verankert. Von beiden Dionysos-Festen wird berichtet, dass bereits 581 und 561 v.Chr. «Komödienchöre» zur Aufführung gekommen seien. Dennoch erhielt die Komödie, obwohl sie als volkstümliche Posse im Brauchtum längst eingeführt war, weitaus später als die Tragödie literarisches Profil. Parodien, Verspottung und Rüge menschlicher Gebrechen standen am Beginn des komischen Theaters. Anfang des 5. Jahrhunderts v.Chr. kam es zu einer thematischen Erweiterung dieses Genres durch das Aufgreifen politischer Missstände. Anlass dazu war offenbar die Demokratisierung der Polisverfassung. So konnten die Peisistratiden mit ihrem Projekt der Großen Dionysien zwar an vorhandene Traditionen anschließen, setzten aber auch neue Akzente. Dieses Neue war die zentrale Rolle, die sie dem Dionysos Eleuthereus zuwiesen. Zugleich rückte damit die Tragödie ins Zentrum des Fests. So ließ sich mit der Dionysos-Verehrung die politische Stabilität der Polis feiern und für die Polis als politische Idee werben.
Neben Thespis spielte für die Frühgeschichte der Tragödie der Dichter Arion eine gewisse Rolle, der im 7. Jahrhundert v.Chr. am Hof zu Korinth lebte. Er hat dort vermutlich als Erster den Dithyrambos, das dionysische Kultlied, zu einem literarischen Genre, einem Tanz- und Erzähllied, umgeformt. Damit hatte der Dithyrambos seine ausschließliche Bindung an den Dionysos-Kult aufgegeben und wurde als Wechselgesang von Chorführer und Chor «aufgeführt»: gesungen und getanzt. Es war der erste Schritt einer Literarisierung von vorliterarischen Kultformen. Konkreter |19|fassbar ist eine Entwicklung, die unter dem Tyrannen Kleisthenes (um 600 bis 570) in dem in der Nähe von Korinth gelegenen Sikyon stattgefunden hat. Dort kam es zu einer Art Kombination mythischer Erzählungen um den lokal verehrten Heroen Adrastos mit den Ritualen des Dionysos-Kults, also dem Dithyrambos und dem Gebrauch der Maske, jedoch noch ohne mimetisches Rollenspiel. In Korinth wie in Sikyon waren diese Kultreformen mit den politischen Interessen der lokalen Tyrannendynastien verbunden. Wie das Reformprojekt der Peisistratiden in Athen, war dies der Beginn einer Säkularisierung dieser Kulte.
In Athen standen diese Entscheidungen im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Polis zu einem demokratisch verfassten Stadtstaat, der die gesamte Region Attika einschloss. Dies betraf ungefähr 300000 Menschen. Athen war das politische, wirtschaftliche und religiöse Zentrum. Die grundlegenden Reformen, die die Demokratie letztlich stabilisierten, fanden unter Perikles in den Jahren zwischen 461 und 450 v.Chr. statt. Der entscheidende Schritt, der dies ermöglichte, war die Entmachtung des Areopags (462/1), der wichtigsten Institution der Gesetzeswahrung. Zu Recht spricht Christian Meier (1987, S. 354) in diesem Zusammenhang von einer Epochenschwelle: «Kein anderes Ereignis der griechischen Geschichte der klassischen Zeit hat in der Überlieferung, wie sie uns vorliegt, einen so tiefen Eindruck hinterlassen.»
In den ersten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts v.Chr., etwa zu Beginn der Karriere von Aischylos als Theaterdichter – war Athen noch von der Aristokratie beherrscht. Doch bereits zu dieser Zeit waren die Bürger durch ihre Teilnahme an der Volksversammlung an der Gestaltung des öffentlichen politischen Lebens beteiligt. Diese Beteiligung galt auch für die Rahmenbedingungen der dramatischen Wettkämpfe. Auf diese Weise war für die Athener Bürger nicht nur das große kultische Staatsfest «ihre» Angelegenheit, sie konnten sich ebenso mit der Politik der Polis identifizieren, da sie an deren Gestaltung beteiligt waren. Dies war eine entscheidende Voraussetzung für die Erfolge Athens in den Perserkriegen der Jahre 491 bis 479 v.Chr.
Die außenpolitische Leistung der Polis und der vorangegangene Demokratisierungsprozess waren wesentliche Voraussetzungen, auf denen sich der dramatische Agon zur künstlerischen Höhe der klassischen Zeit |20|entwickeln konnte. Die Tragödien des Aischylos reflektieren diese Entwicklung der Polis zugunsten ihrer Demokratisierung. So heißt es in den «Heketiden» (aufgeführt 463) – im Sinne einer gegen den aristokratischen Areopag gerichteten Tendenz: «… das Volk herrsche» (vgl. Ch. Meier 1987, S. 358).
Zentrum des öffentlichen Lebens in Athen war die Agora, ein zentral gelegener Platz, auf dem alle für das Gemeinwesen wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Dort trat die Volksversammlung zusammen. Zentrum der Agora war ein «heiliger Kreis», in dem Gerichtsverhandlungen stattfanden. Die kultischen Feiern fanden in der «Orchestra», dem kreisrunden Tanzplatz der Agora, statt. Dabei sind «heiliger Kreis» und «Orchestra» nur «funktional differenzierende Bezeichnungen für ein und dieselbe Anlage» (F. Kolb 1977, S. 48). Vor dem Bau des Dionysos-Theaters am Südhang der Akropolis war die Agora auch der Aufführungsplatz der dramatischen Wettkämpfe. Sie repräsentierte den Geist der Polisverfassung und stand unter der Schirmherrschaft des Dionysos Eleuthereus. Dieser Ort war gleichsam die «Schnittstelle von Politik, Religion und Kunst» (S. Gödde 2008, S. 95), eine Konstellation, die die Geschichte des europäischen Theaters über Jahrhunderte hin prägte.
Es war ein langer Weg aus den «Schluchten des Kithairon», den orgiastischen Feiern des Dionysos-Kults auf die Athener Agora. Es war eine Entwicklung von vorliterarischen Gesängen und rituellen Maskenspielen zur ästhetischen Überformung dieser Kultelemente im dramatischen Agon. Dieser blieb zutiefst geprägt von den ursprünglichen Gegensätzen, in denen sich zwei diametral entgegengesetzte existenzielle Haltungen Ausdruck verschafften. In der theatralen Vergegenwärtigung fand die Verwandlung der Schauspieler in die Gestalten des Mythos statt: die Darstellung der maßlosen, von den Göttern verhängten Leiden der Heroen. Tanz und Gesang der Chöre ließen bei aller literarischen Überformung die Bewegungsdynamik und musikalische Atmosphäre des kultischen Brauchtums noch erahnen. Dennoch blieb das ästhetische Regelwerk präsent, die Rationalität von Spiel- und Wettkampfordnung, die dem Agon einen stabilen rechtlichen und ökonomischen Rahmen gab. Dieser stellte jene emotionale Balance her, die den Zuschauer zu den Schrecken der Inhalte Distanz wahren ließ, damit er am Ende über die |21|beste künstlerische Leistung urteilen konnte. So sehr ihn das Entsetzen über die Tragödienhandlung auch gepackt und verwirrt haben mag, verließ er die Theateraufführung erst nach jener emotionalen Lockerungsübung, die das Satyrspiel bewirkt hatte. Es konterkarierte die vorhergegangene Ernsthaftigkeit und den kathartischen Schock der Tragödie ironisch, mitunter blasphemisch, machte Kopf und Gemüt wieder frei.
Die Großen Dionysien wurden von einem der höchsten politischen Amtsträger, dem Archon, geleitet. Während der Festtage herrschte in der Stadt der Ausnahmezustand. Alle Bürger waren zur Teilnahme verpflichtet. Dies allein schon lässt die herausragende polis-politische Zwecksetzung erkennen, die mit diesem Staatsfest verbunden war: Es ging um die Polis, um ihre Identität und innere Stabilität, um das Wertegefüge, auf dem der Zusammenhalt des Gemeinwesens beruhte. Verstöße gegen die Festordnung wurden als Religionsfrevel mit der Todesstrafe geahndet. Die Choregen, die mit ihrem privaten Vermögen den dramatischen Agon finanzierten, die Aufführungen ausstatteten und einstudierten, wurden vom Archon ausgewählt. Erst um 307/6 v.Chr. wurde diese Praxis verändert. Im Zuge der politischen Entwicklung Athens verlor die reiche Oberschicht zunehmend an Einfluss, sodass die großen Feste seitdem aus der Staatskasse finanziert wurden. Den Choregen wurden durch Los die Dichter und die Schauspieler zugeordnet. Die Übernahme einer Choregie war mit großem Prestige verbunden und bedeutete in der Regel den Einstieg in eine exponierte politische Laufbahn. Themistokles, Perikles und Alkibiades sind prominente Beispiele für diesen Karriereweg. Dass im Zentrum des Fests der dramatische Agon stand, erklärt sich aus dessen Bedeutung in den archaischen Totenkulten. Die in solchem Zusammenhang stattfindenden Wettkämpfe – zumeist waren es Ring- und Faustkämpfe – hatten den Zweck, die Toten zu ehren, sie dadurch versöhnlich zu stimmen, um einer fortwährenden unguten Geisterhaftigkeit der Verstorbenen über die Lebenden vorzubeugen. Der Agon war innerhalb der Bestattungsrituale ein «Sühnebrauch» (K. Meuli). Da alle Festspiele der Griechen ihren Ursprung in den Totenehrungen oder in vergleichbaren Heroenkulten hatten, war der Agon stets das zentrale Element kultischer Festgestaltung.
|22|Verfolgten die Großen Dionysien in ihrer Anfangsphase vornehmlich die politischen Interessen der Tyrannendynastien, so löste sie Kleisthenes Ende des 6. Jahrhunderts v.Chr. aus diesem Interessenzusammenhang. Die Großen Dionysien waren seitdem eine festliche Manifestation der demokratisch verfassten Polis.
Am Tag vor dem Beginn dieses Fests fand die Einholung des Kultbilds des Dionysos ins Theater statt. Es war ein ritueller Akt des Erinnerns an die Überführung des Kultbilds aus Eleutherai, einem Dorf in der Nähe von Athen, der ursprünglichen Kultstätte des Dionysos Eleuthereus (vgl. S. Gödde 2008, S. 100). Die Dauer der Großen Dionysien betrug fünf Tage. Nachdem das Fest mit einer Prozession, allen voran die politischen und die religiösen Funktionsträger, eingeleitet wurde, fand am ersten Tag der Dithyramben-Agon, ein Wettkampf der Chöre, statt. Der dramatische Agon nahm vier von fünf Festtagen ein. Am zweiten Festtag wurden fünf Komödien aufgeführt, am dritten, vierten und fünften Tag je eine Tragödientrilogie. Jede Trilogie wurde mit einem Satyrspiel abgeschlossen. Die Aufführungen zogen sich vom Aufgang der Sonne bis zu deren Untergang hin.
Festgelegt war der rechtliche Status der Kerngruppe der am dramatischen Agon unmittelbar Beteiligten. Während die Dichter und die Schauspieler ihre Tätigkeit beruflich ausübten, auch nicht Bürger von Athen zu sein brauchten, war der Bürgerstatus für den Choregen und die Choreuten, die Mitglieder der Chöre, verpflichtend. In der Tragödie und beim Satyrspiel traten anfangs 12, später 15 Choreuten auf, in der Komödie waren es 24. Die Choreuten waren durchweg Laiendarsteller, für die die Bewältigung der sprachlich anspruchsvollen Texte eine beträchtliche Aufgabe bedeutete und lange Probezeiten beanspruchte. Da das Bürgerrecht ausschließlich Männern zukam, waren Frauen und deren Kinder lediglich als Publikum im Theater präsent.
Trat in der frühen Tragödie nur ein Schauspieler als Gegenpart («Antworter») zum Chor auf und vergegenwärtigte alle Rollen, vermutlich war dies stets der Dichter des Stücks, so erweiterte Aischylos die Zahl der Schauspieler auf zwei. Dies hatte wesentliche Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Dramaturgie der Stücke. Streitgespräche ließen sich inszenieren. Das Spielgeschehen konnte breiter entfaltet werden. Wech|23|selgespräche fanden seitdem nicht nur mit dem Chor statt, sondern auch zwischen den beiden Darstellern. Sophokles brachte schließlich einen dritten Schauspieler ins Spiel. Die herausragende Rolle, die dem Tragödien-Agon bei den Großen Dionysien zukam, schlug sich auch in dem hohen Ansehen der Tragödienprotagonisten nieder. Seit 450/49 v.Chr. wurden auch sie – nicht nur wie seit Beginn der Wettkämpfe die Dichter – mit einem Preis ausgezeichnet. Die Schauspieler der Komödie erhielten erst etwa 100 Jahre später, zwischen 329 und 312 v.Chr., einen Preis. Bei den Lenäen, bei denen der Komödien-Agon im Mittelpunkt stand, wurden die Schauspieler bereits seit 422 v.Chr. ausgezeichnet. Seit Mitte des 4. Jahrhunderts v.Chr. wurde von den Veranstaltern dafür Sorge getragen, dass die Stars unter den Schauspielern gleichmäßig auf die Stücke der konkurrierenden Dichter verteilt wurden, um eine gewisse Chancengleichheit im Wettkampf zu gewährleisten. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts v.Chr. schlossen sich die professionellen Schauspieler in Standesvertretungen zusammen. Die Truppen wurden von einem Prinzipal geleitet. Er war der Unternehmer und zugleich der Erste Schauspieler, der «Protagonist».
Streng geregelt war auch die Feststellung des Siegers im dramatischen Agon. Zehn Richter, einige durch Los ermittelt, die anderen vom Rat der Fünfhundert, dem athenischen «Parlament», vorgeschlagen, entschieden über die Vergabe der Preise. Die Sieger erhielten einen Lorbeerkranz. Danach legten die Verantwortlichen – Archon, Chorege und die Preisrichter – vor der Volksversammlung Rechenschaft über den Verlauf des Fests ab.
Auch die Sitzordnung des Publikums in der großräumigen Theateranlage unterlag festen Konventionen. Um die Orchestra saßen nach Sonderrechten, den «Prohedrien», geordnet, die Priester und die höchsten Beamten der Polis auf thronartigen Ehrensesseln. Die Reihen dahinter waren für die Ratsmitglieder und verdiente Fremde vorgesehen. Die folgenden Ränge bis hinauf an den äußersten Rand der Theateranlage waren die Plätze der männlichen Bürger; ganz oben saßen diejenigen, denen der Bürgerstatus nicht zukam, die Frauen, die Kinder und die Sklaven.
Neben den Werken der Klassiker, die heute noch aufgeführt werden, sind die Theateranlagen die eindrucksvollsten Zeugnisse dieser Theaterkultur.|24||25| Noch als Ruinen vermitteln sie deren Gemeinschaftsidee, die bis ins 19. und 20. Jahrhundert immer wieder von Reformern beschworen und in ihrer architektonischen Manifestation adaptiert wurde. So meinte auch die Festspieltheaterbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sich darauf berufen zu können. Viele der griechischen Theater wurden in neuerer Zeit restauriert und so weitgehend wieder hergestellt, dass sie als Spielstätten genutzt werden können. Einige sind heute Anziehungspunkt für Festspieltouristen aus aller Welt. Gastspiele des Ensembles des griechischen Nationaltheaters sind dabei künstlerische Höhepunkte. Die Monumentalbauten von Athen und Epidauros nehmen in diesem modernen Festspielbetrieb eine herausragende Stellung ein.
Die Spielstätten des griechischen Theaters waren stets in kultische Bezirke integriert, zugleich in den landschaftlichen Raum, in Hanglagen, sodass eine Einheit von Natur und jener Spiritualität erfahrbar war, die auch die Stücke, die dort aufgeführt wurden, prägte. So lose die drei wesentlichen Strukturelemente dieser Theater – Koilon, Orchestra und Skene – in ihrer architektonisch-konstruktiven Form auch verbunden waren, der geistige Funktionszusammenhang verlieh den Anlagen den Charakter großer Geschlossenheit.
Ort des Publikums war das Koilon. Dieser imposante Bauteil fächerte sich mit seinen Sitzreihen halbkreisförmig von der am Fuß des Hangs gelegenen Orchestra aus hinauf bis an den oberen Rand der Anlage. Das Koilon hatte je nach der Größe des Gesamtbaus einen Radius von 40 bis 60 Metern und fasste in seinen hellenistischen Ausbaustufen bis zu 15000 Zuschauer. Durch Gänge, die sogenannten Keile, war das Koilon in mehrere Segmente gegliedert. Die Orchestra, das Blick- und Sinnzentrum des Theaters, war der kreisrunde oder halbkreisförmige Auftrittsort des Chors. Ihr Durchmesser konnte bis zu 20 Meter betragen. Auftritt und Abgang des Chors erfolgten durch die seitlich gelegenen mächtigen Parodostore. An die Orchestra schloss sich, dem Koilon gegenüber, das Skenengebäude mit dem Proskenium an. Das Proskenium war eine lang gestreckte Halle von geringer Tiefe. Sie war zur Orchestra hin offen, jedoch von einer Pfostenreihe begrenzt. Nach hinten wurde das Proskenium durch das Skenengebäude abgeschlossen. Dessen Front hatte drei |26|Tore, das mittlere war deutlich größer angelegt. Aus diesen Toren traten die Schauspieler – quasi «auf die Bühne» – heraus. Die Skene bildete mit ihren beidseitig vorspringenden Flügeln, den Paraskenien, eine hufeisenförmige Gebäudeanlage. Das Dach des Skenengebäudes war bespielbar. Der Auftrittsplatz der Schauspieler, das Logeion, war nur leicht erhöht gegenüber der Orchestra. Die Pfosten des Proskeniums dienten der Anbringung bemalter Holztafeln, der Pinakes. Sie dienten offenbar der dekorativen Ausgestaltung des Proskeniums.
Geschlossene Theatergebäude kannte das antike griechische Theater nicht. Dieser Bautypus, der für das europäische Theater der Neuzeit zur Regel wurde, war eine Schöpfung des römischen Theaterwesens. Dieses aber repräsentierte eine gänzlich andere Idee des Zusammenhangs von Kult, Theater und Gesellschaft. Letztlich galt dies auch für die späthellenistischen Umbauten der griechischen Theater, wie sie seit Mitte des 3. Jahrhunderts v.Chr. stattfanden. Neubauten gab es zu dieser Zeit kaum noch. Diese späten Umbauten passten die vorhandenen Spielstätten der veränderten Aufführungspraxis des hellenistischen Theaters an. Dabei kam es im Wesentlichen zu zwei grundlegenden Neuerungen. In dem Maß, wie die Chöre in den Dramen dieser Zeit in ihrer Bedeutung zurückgedrängt wurden, schließlich ganz entfielen, verlor auch die Orchestra ihren ursprünglichen Sinn. Sie wurde allenfalls noch für musikalisch-chorische Darbietungen oder für virtuose Auftritte von Pantomimen genutzt. Die zweite Veränderung betraf den Gebäudekomplex von Proskenium und Skene. Auftrittsort der Schauspieler war nun das Dach des Proskeniums. Dieses wurde durch zwei seitlich gelegene Rampen erschlossen. Da die Lage des Spielplatzes im Obergeschoß die Sichtverhältnisse für die ersten Reihen beeinträchtigte, wurden diese als Ehrenplätze aufgegeben. Auch war die neue Spielfläche deutlich weniger tief als bei den vorhellenistischen Anlagen. Dies entsprach dem Umstand, dass die späthellenistischen Stücke ohne Chöre auskamen und wesentlich weniger Akteure ins Spiel brachten. Das szenische Geschehen erhielt auf der neuen Bühne einen reliefartigen Charakter. Eine weitere Entwicklung, die dem Geschmackswandel dieser Zeit entsprach und bereits eine Frühform der römischen Bühnenanlagen darstellte, war die dekorative Ausgestaltung der Frontseite der Skene zu einer Prunkfassade. Dabei wurden |27|die Tore, vor allem das mittlere, stark vergrößert und zu einem prachtvollen Palasttor ausgestaltet. Die Tendenz zur dekorativen Ausstattung der Theateranlage führte auch zur Aufstellung von Statuen berühmter Persönlichkeiten am Rande der Orchestra.
Der früheste griechische Theaterbau ist das Dionysos-Theater in Athen. Es ist eine Ikone der europäischen Theatergeschichte und wurde um 500 v.Chr. am Südhang der Akropolis in unmittelbarer Nähe des Bezirks des Dionysos Eleuthereus mit Tempel und Heiligem Hain errichtet. Anlass für die Aufgabe der Athener Agora als Aufführungsstätte der dramatischen Wettkämpfe war wohl auch der Einsturz der hölzernen Zuschauergerüste im Jahr 496 v.Chr. Diese Holzgerüste waren rund um den Tanzplatz aufgestellt. Die Baugeschichte des Dionysos-Theaters verlief in mehreren Stufen. Die früheste Anlage war eine Holzkonstruktion. Wenn es zu dieser Zeit bereits Aufbauten gegeben haben sollte, waren dies allenfalls nur einfache Gerüste. Denkbar ist auch, dass die vorgefundenen Felsformationen als Kennzeichnung der Örtlichkeiten im Spielgeschehen ausreichten. Die Orchestra hatte in dem stufenförmig abfallenden Gelände vermutlich die Form einer Terrasse. Die Stücke des Aischylos wurden überwiegend in dieser einfachen Theateranlage der ersten Baustufe aufgeführt. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts erfolgte ein weiterer Ausbau. Auch diente seit dieser Zeit das Dionysos-Theater wieder als politischer Versammlungsort. Die ursprüngliche Einheit von politischem, kultischem und theatralem Handlungsort war also, wie dies auf der Agora der Fall war, wieder hergestellt. Reste großer Fundamente aus Stein lassen vermuten, dass das hölzerne Szenengebäude mit einer Breite von etwa 28 und einer Tiefe von ca. drei Metern deutlich größer war als bei der Vorstufe dieser Anlage. Auch hätte in diesen Fundamenten eine Bühnenmaschinerie installiert werden können. Das Szenengebäude war mit einer Pfostenreihe zur Orchestra hin abgegrenzt. Wahrscheinlich gab es bereits die Paraskenien. Zwischen diesen lag die 18 Meter breite Spielfläche. Diese war etwa einen Meter höher gelegen als die Orchestra. Weitaus deutlicheres Profil hat der endgültige Umbau des Theaters, den der Athener Politiker Lykurgos (390–324) in den Jahren zwischen 338 und 326 in Auftrag gegeben hatte. Dieses Projekt stand im Zusammenhang anderer repräsentativer Großbauten in Athen, die |28|das Erscheinungsbild der Stadt wesentlich veränderten. Lykurg führte auch eine umfassende Theaterreform durch, die bereits vom Geist des Hellenismus geprägt war. Unter anderem ließ er die Texte der klassischen Dramatiker, deren Wiederaufführung inzwischen Brauch geworden war, kanonisieren, um die Willkür der Schauspieler im Umgang mit diesen Stücken zu unterbinden. Auf dieser Baustufe betrug der Durchmesser der Orchestra etwa 20 Meter. Die Spielfläche für die Schauspieler war ebenfalls etwa 20 Meter breit. Der Ausbau des Koilon mit seinen steinernen Sitzreihen bot seitdem etwa 15000 Zuschauern Platz. Hinter dem Skenengebäude war eine langgestreckte Marmorhalle errichtet worden, die vermutlich den Vorbereitungsarbeiten für die Aufführungen diente. Weitere Umbauten, die im 2. Jahrhundert v.Chr. und später durchgeführt wurden, trugen dem veränderten Spielbetrieb des späthellenistischen Theaters Rechnung.
Der großartigste griechische Theaterbau, der heute in seinen wesentlichen Teilen rekonstruiert ist, ist das Theater von Epidauros. Es wurde um 300 v.Chr. in unmittelbarer Nähe eines Asklepios-Heiligtums errichtet. Die Anlage hat auch heute nichts von ihrer Faszination verloren. Noch in antiker Zeit wurde dieses Theater als ein in seiner Harmonie und Schönheit unerreichtes Bauwerk gepriesen. Die riesige Anlage hat eine 5870 qm große überbaute Fläche. Ursprünglich fasste das Theater etwa 6200 Zuschauer. Nach einem hellenistischen Umbau in den Jahren 170/60 v.Chr. bot es Plätze für etwa 14000 Zuschauer. Das Skenengebäude war 30 Meter lang und etwa 7,5 Meter tief. Das Proskenium hat eine Länge von 22 Metern und liegt auf gleicher Höhe mit der Orchestra. Einen Eindruck der Großartigkeit dieses Theaters vermittelt auch eines der beiden noch erhaltenen doppeltürigen, knapp fünf Meter hohen Parodostore.
Diese Theateranlagen waren Raumsymbole einer gesellschaftlichen Vision, deren Integrationskraft zur Entwicklung der Demokratie in Athen entscheidend beigetragen hat. Allen Bürgern wurde dadurch die Gemeinschaftsidee der Polis unmittelbar erlebbar. Sie waren Publikum, aber auch Mitgestalter des dramatischen Agons. Die Monumentalität der meisten griechischen Theater, die durchweg in der freien Landschaft lagen, ließen die Aufführungen, die dort stattfanden, in erster Linie als |29|Schau-Ereignisse wirksam sein, zumal für das Publikum in der oberen Hälfte des Koilon. Auch waren es Darbietungen von überwiegend musikalischem Charakter. Wort, Musik und Tanzgebärde bildeten eine Einheit. Der bühnentechnische Aufwand war zwar gering, doch von eindrucksvoller Aussagekraft. Bühnenbilder kannte das griechische Theater nicht. Die Orte des Geschehens vermittelten sich über das Wort. In der Tragödie spielten sich die meisten Ereignisse mit einer (später in die Texte eingefügten) Szenenangabe «vor dem Palasttor» ab, seltener in einer Naturszenerie. In der Komödie war der Handlungsort überwiegend «auf der Straße». Auch das Dach des Proskeniums wurde als Auftrittsort genutzt. Innenraumszenen kamen im griechischen Theater nicht vor. Was im Innenraum geschah, darüber wurde berichtet; ebenso über Großereignisse, Schlachten oder das Herannahen eines fremden Heeres. Der Bericht eines Boten, der «über die Mauer» schaut, war ein fester dramaturgischer Bestandteil der Dramen, vielfach ein rhetorisches Glanzstück.
Auch zwei bühnentechnische Einrichtungen waren typisch für die Dramaturgie der Stücke: das Ekkyklema und die Mechane. Das Ekkyklema war eine auf Rollen bewegliche hölzerne Plattform, die aus dem mittleren Tor der Skene für einen Moment nur herausgefahren wurde. Schlagartig und als enormer Effekt inszeniert, wurden damit Ereignisse, zumeist Resultate mörderischer Handlungen, die im Innenraum stattgefunden hatten, tableauartig dem Publikum vorgeführt. Beispielhaft für den Einsatz des Ekkyklema ist jene Szene in Aischylos’ «Agamemnon», als Klytaimnestra die toten Körper von Agamemnon und Kassandra, die sie zusammen mit ihrem Geliebten Aigisthos unmittelbar zuvor erschlagen hatte, zeigt und als Rächerin triumphiert. Tötungsszenen auf offener Bühne waren im griechischen Theater äußerst selten, sie widersprachen der ästhetischen Konvention.
Die Mechane war ein hölzerner Kran, der in der Art einer Flugmaschine eingesetzt wurde. Götter konnten damit in die Szene «eingeflogen» werden, ebenso wurden effektvolle Abgänge mit Hilfe dieser Maschinerie inszeniert. Auf diese Weise entkommt Medea im geflügelten Helioswagen, die beiden von ihr getöteten Knaben im Arm, ihren von Jason angeführten Verfolgern. In der Komödie waren es groteske «Himmelsritte», die mit Hilfe der Mechane inszeniert wurden. So etwa |30|fährt der Winzer Trygaios in Aristophanes’ Komödie «Frieden» auf einem riesigen Mistkäfer zum Olymp auf, um die Friedensgöttin Eirene auf die Erde herabzuholen. Beide Bühnenmaschinen wurden im hellenistischen Theater exzessiv eingesetzt. Die Klassiker des 5. Jahrhunderts v.Chr. machten davon nur sehr zurückhaltend Gebrauch.
Das griechische Theater war Maskentheater. Nicht Illusion, jedoch Verwandlung fand in der Szene statt. Dieses Moment behielt das Theater seit seiner Entstehung aus dem Ritus bei. Die Maske verwandelte den Schauspieler in seiner körperlichen Erscheinung und verlieh ihm eine zeichenhafte Identität. Das Publikum konnte den Status der Figur eindeutig erkennen, auch wenn es sich in großer räumlicher Distanz zur Orchestra und zum Auftrittsort der Schauspieler befand. Hinzu kam, dass ein Schauspieler stets mehrere Rollen übernehmen musste, was durch den Maskentausch – als Rollentausch – ermöglicht wurde. Das Spiel mit der Maske musste mit Gestik und Rhetorik der dargestellten Figur abgestimmt sein. Für beides existierte ein in der Konvention festgelegtes Zeichensystem. Nie ging es im griechischen Theater um eine individuelle Ausgestaltung der Rolle. Die «natürliche Person» des Schauspielers verschwand quasi im Zusammenspiel standardisierter Ausdrucksmittel. Die Masken der klassischen Zeit waren einfach, aus Leder oder Leinwand gefertigt. Gesichtszüge waren durch Bemalung konturiert, Mund und Augen als Öffnungen freigehalten. Männer- und Frauenrollen wurden durch Hell- oder Dunkelfärbung der Maske unterschieden. Gleiches galt für die Darstellung von Griechen und Orientalen. Waren die Masken in der Regel von einfacher Erhabenheit, so gab es dennoch Masken, die maßloses Leiden anzeigten, etwa die Maske des geblendeten Ödipus, aus dessen Augen schwarze Blutbäche quollen. Als Schreckgestalten waren in der «Orestie» des Aischylos die Erinnyen durch ihre Masken gekennzeichnet. Ende des 5. und vor allem im Theater des 4. Jahrhunderts v.Chr. entwickelten sich die heute durch viele bildnerische Darstellungen geläufigen Theatermasken. Diese Masken waren starr und expressiv in ihrem Ausdruck und kennzeichneten feste Typen. Die Mundöffnung wurde größer; Stirn und Haare wurden zum Onkos, einem gewaltigen Kopfputz, überhöht. Das hellenistische Theater forcierte diese realistisch-expressive Tendenz in der Maskenbildung.
|31|Standardisiert war auch das Kostüm, das zum raschen Erkennen der Figuren beitrug. Typisch waren lange Ärmel, die die Gestik effektvoll ausspielen ließen. Auch im Kostüm unterschied sich das Theater der klassischen Zeit gegenüber den späteren Entwicklungen im Hellenismus. Zu dieser Zeit wurden die Gewänder prächtiger, die Kopfmaske großvolumiger, der Bewegungsduktus statischer. Die hellenistischen Schauspieler trugen bis zu 20 cm hohe Schuhe, den sogenannten Kothurn. Zusammen mit dem Onkos erhielten die Schauspieler auf der deutlich erhöhten Spielfläche der Bühne eine alles Menschenmaß überschreitende Größe.
Masken und Kostüme der Komödie ließen deren Ursprung aus vorliterarischen Brauchtumsspielen erkennen. Es waren vor allem die sogenannten Dickbauchtänzer, die, mit kurzem Chiton bekleidet, Bauch und Gesäß kräftig ausgepolstert hatten. Zusammen mit einem ledernen Phallus betonte dies den Genitalbereich und deformierte die Gestalt des Darstellers zum Obszönen hin. Die literarische Komödie übernahm im Prinzip diese archaisch anmutende Ausstattung. Neben den Masken und Kostümen des Standardpersonals, also jüngeren und älteren Männern, Frauen, Hetären, Mägden und Sklaven, gab es groteske Sondermasken, etwa Wolken, Vögel, Hunde, Schiffe oder gar ganze Städte. Es gab Figurinen wie Flaschen oder Augen, aber auch Masken von Göttern und Politikern. Deren Erkennbarkeit war trotz parodistischer Übertreibung sichergestellt. War die Figurenzeichnung der klassischen Zeit bei aller Übertreibung eher realistisch bis hin zur individuellen Charakteristik, so tendierte die spätere Entwicklung in der Komödie wie auch in der Tragödie zur Typisierung des Personals. In der Komödie glich sich das Kostüm der Figuren zunehmend dem Stil der Alltagstracht an.