Naoki Higashida
Warum ich euch nicht
in die Augen schauen kann
Ein autistischer Junge erklärt seine Welt
Aus dem Englischen von Christel Dormagen
Rowohlt E-Book
Naoki Higashida, geboren 1992 in Kimitsu, Japan, hat «Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann» im Alter von 13 Jahren verfasst. Er wurde für seine Texte mehrfach ausgezeichnet und hält Vorträge zum Thema Autismus.
Warum guckst du uns nicht in die Augen? Warum bist du so gern allein? Warum magst du nicht meine Hand halten? Warum rastest du aus? Dies sind nur einige der vielen Fragen, die Eltern eines autistischen Kindes umtreiben. In diesem Buch finden sie Antworten. Naoki Higashida, ein japanischer Junge und selbst schwer autistisch, nimmt den Leser mit in seine Welt, erklärt, was in ihm vorgeht – und löst mit seinen Antworten das bequeme Klischee auf, Menschen mit Autismus hätten keine Gefühle.
«Dieses Buch erklärt uns Autismus so, wie wir ihn noch nie gesehen haben.» (The Independent)
«Das Buch, das mir am meisten geholfen hat. Was ich las, half mir, als Vater aufgeklärter, hilfreicher, stolzer und glücklicher zu sein.» (David Mitchell)
Diese Übersetzung basiert auf der englischen Ausgabe, «The Reason I Jump», die 2013 bei Sceptre erschienen ist.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2014
Copyright der deutschen Erstausgabe © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Copyright der japanischen Originalausgabe © Naoki Higashida 2007
Copyright der englischen Übersetzung © KA Yoshida and David Mitchell 2013
Copyright des Vorworts © David Mitchell 2013
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
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ISBN Printausgabe 978-3-499-62873-3 (1. Auflage 2014)
ISBN E-Book 978-3-644-52461-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-52461-3
Mumps-, Masern-, Röteln-Impfungen galten eine Zeitlang als mögliche Ursache für Autismus [Anm. d. Übers.].
Der dreizehnjährige Autor dieses Buchs lädt Sie, seine Leser, ein, sich vorzustellen, Ihnen sei plötzlich Ihre Sprachfähigkeit abhandengekommen. Weder können Sie mitteilen, dass Sie müde sind, Hunger oder Schmerzen haben, noch nett mit einem Freund plaudern. Ich möchte dieses Gedankenspiel aber noch ein wenig erweitern. Stellen Sie sich also vor, dass nach dem Verlust Ihrer Kommunikationsfähigkeit auch noch der Redakteur, der für das Ordnen Ihrer Gedanken zuständig ist, einfach ohne Vorankündigung verschwindet. Höchstwahrscheinlich wussten Sie gar nichts von der Existenz dieses Gedankenredakteurs, aber jetzt, wo er nicht mehr da ist, geht Ihnen auf, dass er all die Jahre für das Funktionieren Ihres Gehirns gesorgt hat. Eine Flut von Ideen, Erinnerungen, Anregungen und Gedanken stürmt ununterbrochen auf Sie ein, und bisher hatte Ihr Redakteur diese Flut reguliert, sie zum allergrößten Teil weggeleitet und nur eine winzige Auswahl zu Ihnen durchgelassen. Doch jetzt sind Sie ganz und gar auf sich gestellt.
Jetzt ist Ihr Verstand ein Zimmer, in dem aus zwanzig Radios – jedes auf einen anderen Sender eingestellt – Musik und Stimmengebrüll dröhnen. Die Radios haben keinen Ausschaltknopf und keinen Lautstärkeregler, und das Zimmer, in dem Sie sich befinden, hat weder Tür noch Fenster. Und nur wenn Ihnen vor lauter Müdigkeit endlich die Augen zufallen, finden Sie ein wenig Ruhe. Um die Sache noch schlimmer zu machen, hat sich auch ein weiterer, bis dahin unbemerkter Redakteur kurzerhand davongemacht, Ihr Sinnen-Redakteur. Plötzlich stürzen sensorische Eindrücke aus Ihrer Umwelt direkt auf Sie ein – ungefiltert in Qualität und überwältigend in Quantität. Farben und Muster wimmeln durcheinander und fordern Ihre Aufmerksamkeit. Der Weichspüler in Ihrem Pullover riecht so stark wie Raumspray, das man Ihnen in die Nase pumpt. Ihre Wohlfühl-Jeans kratzen plötzlich wie Putzwolle. Auch Ihr Gleichgewichtssinn und Ihre körperliche Eigenwahrnehmung sind aus dem Lot geraten, weshalb der Fußboden, wie eine Fähre in schwerer See, ständig wegkippt und Sie nicht mehr genau wissen, wo Ihre Hände und Füße an Ihrem Rumpf befestigt sind. Sie können deutlich Ihre Schädelplatten spüren und ebenso Gesichtsmuskeln und Kinnlade: Ihr Kopf fühlt sich an, als steckte er in einem drei Nummern zu kleinen Motorradhelm, was vielleicht, vielleicht aber auch nicht erklärt, wieso die Klimaanlage ohrenbetäubend wie eine Bohrmaschine lärmt, während Ihr Vater, der direkt vor Ihnen steht, klingt, als befände er sich in einem Zug, der gerade durch mehrere kurze Tunnel fährt, und spräche von einem Mobiltelefon in fließendem Kantonesisch mit Ihnen. Sie sind nicht mehr in der Lage, Ihre Muttersprache zu verstehen, eigentlich überhaupt keine Sprache: Von jetzt an sind alle Sprachen für Sie Fremdsprachen. Selbst Ihr Zeitgefühl ist verschwunden, was dazu führt, dass Sie nicht mehr zwischen einer Minute und einer Stunde unterscheiden können, fast so, als wären Sie in einem Gedicht von Emily Dickinson über die Ewigkeit begraben oder in einen Zeit und Raum aufhebenden Science-Fiction-Film eingesperrt. Gedichte und Filme haben aber immerhin ein Ende, während dieser von mir beschriebene Zustand für Sie Ihre neue Realität wäre. Autismus ist ein lebenslanger Zustand, wobei das Wort «Autismus» für Sie ebenso wenig Sinn ergäbe wie das Wort oder αυτισμός.
Danke, dass Sie bis hierhin durchgehalten haben. Stieße Ihnen oder mir das oben Beschriebene irgendwann im Leben zu, würde das Ende für die meisten von uns Sedierung und Zwangseinweisung bedeuten; was danach kommt, wollen wir uns hier lieber nicht ausmalen.
Für Menschen, die in irgendeine Form des Autismus hineingeboren wurden, ist diese unredigierte, ungefilterte und absolut furchteinflößende Realität jedoch Alltag. Während wir Übrigen von Geburt an genetisch mit all jenen «Redakteurs»-Funktionen ausgestattet sind, müssen autistische Menschen ihr Leben lang lernen zu simulieren. Eine intellektuelle und emotionale Aufgabe, die eines Herkules, eines Sisyphos oder eines Titanen würdig ist. Wenn autistische Menschen keine Helden sind, dann weiß ich nicht, was Heldentum sein könnte – ganz abgesehen davon, dass diese Helden gar keine Wahl hatten. Das Empfindungsvermögen autistischer Menschen ist keine selbstverständlich vorhandene Tatsache, sondern ein mühsam, Ziegel für Ziegel, von ihnen errichtetes Gebäude, das ständiger Wartung bedarf. Und als ob das noch nicht genug wäre, müssen sie in einer Welt überleben, in der «behindert» ein anderes Wort für «zurückgeblieben» ist; in der Nervenzusammenbrüche und Panikattacken für private Ausraster gehalten werden; in der jemand, der eine Entschädigung für Erwerbsunfähigkeit beansprucht, als Sozialschmarotzer gilt; und in der die britische Außenpolitik von einem französischen Minister «autistisch» genannt werden kann. (M. Lellouche hat sich später entschuldigt und behauptet, er habe nicht im Traum damit gerechnet, dass das Adjektiv beleidigend wirken könne. Das glaube ich gern.)
Autismus ist kein Spaziergang für die Eltern des betroffenen Kinds oder seine Betreuer, und einen autistischen Sohn oder eine autistische Tochter großzuziehen ist nichts für Hasenherzige. Im Grunde ist es schon beim ersten nagenden Verdacht, dass mit Ihrem sechzehn Monate alten Säugling «irgendetwas nicht stimmt», vorbei mit der Hasenherzigkeit. Wenn dann das Urteil der Diagnose fällt, kommt Ihnen der Kinderpsychologe mit der abgedroschenen Binsenweisheit, Ihr Sohn werde auch weiterhin derselbe liebe kleine Knirps sein, der er vorher war, d.h. vor dieser lebensumstürzenden Nachricht. Und jetzt beginnt Ihr Spießrutenlauf: «Das ist ja wirklich zu traurig»; «Ach, dann wird er also so was wie Dustin Hoffman in Rain Man?»; «Sie werden diese sogenannte ‹Diagnose› doch hoffentlich nicht tatenlos hinnehmen!»; und mein Lieblingskommentar: «Tja, also ich habe meinem Hausarzt schon gesagt, wohin er sich seine MMR-Impfungen schieben kann.»[1] Ihre Kontaktaufnahme mit Hilfseinrichtungen ist schließlich der letzte Sargnagel für die Hasenherzigkeit. Stattdessen wächst Ihnen nun eine mit Zynismus durchsetzte Narbenschwarte, dick wie Rhinozeroshaut. Natürlich arbeiten talentierte, einfallsreiche Menschen in Autismus-Hilfsorganisationen. Mit deprimierender Regelmäßigkeit setzt man jedoch von Amts wegen auf Wundpflaster- und Feigenblatt-Lösungen, anstatt das Potenzial von Kindern mit Behinderungen zu erkennen und ihnen dabei zu helfen, auf lange Sicht nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Hoffen lässt immerhin erstens die Tatsache, dass die Wissenschaft Ihrer Frau heute nicht mehr wie noch vor wenigen Jahren vorwirft, den Autismus Ihres Kinds als «Kühlschrankmutter» selbst verursacht zu haben (Kühlschrankväter standen für einen Kommentar nicht zur Verfügung), und zweitens, dass wir nicht mehr in einer Gesellschaft leben, die autistische Menschen für Hexen oder Teufel hält und entsprechend behandelt.
Wie Sie Ihrem autistischen Kind helfen können