Jessica von Bredow-Werndl
mit Ulrike Strerath-Bolz
Das Glück der Erde
Was ich täglich von meinen
wunderbaren Pferden lernen darf
Knaur e-books
Jessica von Bredow-Werndl ist eine der erfolgsreichsten Dressurreiterinnen Deutschlands und der Welt. Mit ihrem Bruder Benjamin führt sie das international renommierte Gut Aubenhausen und bildet dort Pferde und Reiter aus. Sie trainiert für die Olympia-Teilnahme in Tokio 2021 und Paris 2024.
Originalausgabe Oktober 2020
© 2020 Knaur Verlag
© 2020 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Gisela Fichtl
Covergestaltung: Isabella Materne, München
Coverabbildung: Nadine Harms
ISBN 978-3-426-46011-5
Ich widme dieses Buch all den Pferden,
die mich auf meinem bisherigen Weg begleitet haben.
Es ist noch früh, über den Bergen ist am klaren Himmel erst ein leichter heller Schimmer zu sehen. Die Sonne wird sich wohl noch eine gute Stunde Zeit lassen. Es war eine frostige Nacht, sicher ist der Boden im Reitpark, auf den Paddocks und auf den Koppeln hart gefroren. Wir werden vorsichtig sein müssen, wenn wir mit den Pferden rausgehen.
Gerade hat der Wecker geklingelt. Mein Mann und mein Sohn schlafen noch. Halb sieben ist es, als ich mich aus dem Schlafzimmer schleiche. Das ist früh, zumal ich keine natürliche Frühaufsteherin bin. Es fällt mir jeden Tag wieder schwer, aufzustehen und die anderen schlafen zu lassen. Und so werfe ich einen kurzen sehnsüchtigen Blick zurück auf die beiden Schläfer, bevor ich die Tür öffne und den ersten Schritt in den neuen Tag mache.
So beginnt für mich fast jeder Morgen hier in Aubenhausen. Ich trinke eine Tasse warmes Zitronenwasser, gehe ins Bad, dann in unseren Yogaraum, wo ich eine kleine Übungsreihe mache und mich anschließend zu einer kurzen Meditation hinsetze. Dazu gehört auch, dass ich, wie jeden Morgen, in mein Tagebuch schreibe: Drei Dinge, für die ich dankbar bin, drei Dinge, die meinen Tag heute besonders machen werden, meine Affirmation für den Tag. Ein wenig Zeit ganz allein für mich, und Stille, die ich brauche … Wenn ich den Yogaraum verlassen habe und im Bad fertig bin, fühle ich mich gut vorbereitet und freue mich auf den Tag. Spätestens um Viertel nach sieben wecke ich meine beiden Männer, wenn sie nicht schon wach sind.
Wenig später sitzen wir zusammen beim Frühstück. Gleich wird auch Karin zu uns stoßen, eine wunderbare junge Frau, die uns im Haushalt unterstützt, für uns kocht und auch Moritz mit betreut, wenn er aus der Kita kommt. Wir genießen unser gemeinsames Familienfrühstück – mein Mann und ich sind froh, jeden Morgen Zeit miteinander verbringen zu können. Auch er hat meistens seine eigene Zeit im Yogaraum oder geht joggen, bevor er in seinen langen Arbeitstag startet. Unsere Pointer-Hündin Chicca träumt vor einem der großen bodentiefen Fenster.
Inzwischen ist es heller geworden. Von unserem Tisch in der großen offenen Küche aus kann ich die Berge sehen, über denen gerade die Sonne aufgeht. Als ich das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine stelle, bemerke ich, dass schon die ersten Pferde auf die Koppeln gebracht worden sind. Friedlich stehen sie im Morgenlicht, meine braune Stute Zaire wälzt sich gerade auf der kalten Erde. Ich bin sicher, die Pferde genießen diese Stille in der frühen Zeit des Tages genauso sehr wie ich.
Karin und Moritz machen sich auf den Weg in die Kita, und ich schnappe mir meine Jacke, die ich über die Reitkleidung ziehe. Chicca holt sich noch ein paar Streicheleinheiten, bevor wir zusammen hinausgehen. Wenige Schritte nur, dann stehe ich schon vor dem ersten Stallgebäude. Es grenzt fast an unsere Terrasse. Heute werfe ich nur einen kurzen Blick hinein, dann gehe ich voller Vorfreude weiter den Hügel hinauf zu dem Stalltrakt neben der großen Reithalle.
Aus den geöffneten Stalltüren dampft es in die Frostluft hinaus, ein warmer Geruch umfängt mich. Der Geruch, der mein Leben prägt. Der Duft der Pferde.
Seit meiner Kindheit lebe ich mit Tieren, vor allem mit Pferden. Sie sind meine große Liebe und Leidenschaft. Und diese Leidenschaft ist mein Beruf geworden. In der Arbeit mit ihnen, im Leben mit ihnen habe ich mich entwickelt, durch großartige Zeiten und bittere Krisen hindurch. Durch Erfolg und Misserfolg, Spaß und harte Arbeit. Und immer mit Liebe und Freude an dem, was ich tue.
Ich kann in diesem Buch nicht von all den wunderbaren Pferden erzählen, die mich auf meinem bisherigen Lebensweg begleitet haben. Aber das ist auch nicht nötig, denn dies ist ja kein Lebensrückblick – dafür bin ich noch ein bisschen zu jung. Mein Wunsch ist vielmehr zu teilen, was mich die Arbeit mit den Pferden über das Leben gelehrt hat: Erkenntnisse, die vielleicht auch für andere wegweisend oder bereichernd sein können, ganz egal, ob sie reiten oder nicht.
Ich möchte in diesem Buch von den Erfahrungen berichten, die mich zu der gemacht haben, die ich heute bin. Vor allem aber von der Faszination der Beziehung zwischen Mensch und Pferd, der gemeinsamen Arbeit beim Dressurreiten, die so viel mehr ist als Leistungssport. Aus all diesen Erfahrungen hat sich unsere Philosophie im Umgang mit den Pferden entwickelt, die wir hier in Aubenhausen leben. Sie beruht auf dem Grundsatz spielerischer Konsequenz, und sie ermöglicht es uns, Pferde zu Höchstleistungen zu motivieren – sie zu glücklichen Athleten zu machen. Dabei bleiben wir niemals stehen, sondern sind auf dem Weg und lernen täglich dazu.
Die Pferde, von denen ich hier erzähle, stehen für Stationen auf diesem Weg und für wichtige Lernerfahrungen, die ich machen durfte. Jedes Pferd war und ist ein Teil meines Lebens und ein großes Geschenk.
Ich stamme – und das ist in unserer »Branche« recht ungewöhnlich – nicht aus einer klassischen Reiterfamilie. Sport hat allerdings auch bei meinen Eltern schon immer eine große Rolle gespielt. Meine Mutter Micaela war und ist eine großartige Skifahrerin, sie ist sogar Europacuprennen gefahren. Mein Vater Klaus war drei Mal deutscher Meister und einmal Vizeeuropameister im Segeln und ist mit dem Mountainbike tausend Kilometer durch Nepal gefahren. Auch in der weiteren Familie wird Sport großgeschrieben. So teile ich mit meinem Bruder Benjamin nicht nur die Verantwortung für unser Gut Aubenhausen, sondern auch die Leidenschaft fürs Dressurreiten – und den Erfolg.
Keine Reiterfamilie also. Ganz klar kann ich aber für mich und meinen Bruder sagen: Wir kommen aus einer unglaublich warmherzigen Familie. Wir hatten eine schöne Kindheit. Nicht nur wegen der großen Liebe in unserer Familie, sondern auch wegen des außergewöhnlich schönen Umfelds: Schon bevor wir nach Aubenhausen zogen, durfte ich meine ersten Lebensjahre in großer Freiheit genießen. Wir lebten damals in einem Haus in Rosenheim, direkt am Waldrand. Liebe und Freiheit – diese starke Kombination hat mich sehr geprägt und bestimmt mein Leben bis heute. Auch meinen Umgang mit den Pferden.
Liebe und Freiheit – diese starke Kombination hat mich sehr geprägt und bestimmt mein Leben bis heute. Auch meinen Umgang mit den Pferden.
Das mit den Pferden und dem Reiten begann eher zufällig. Wir bekamen von unserer Großmutter zu Weihnachten ein Pony geschenkt. So besaßen wir also plötzlich ein »Familienpferd«. Es war ein Criollo-Wallach mit Namen Nekoma (die Criollos stammen aus Südamerika, es sind robuste Reitpferde, die in ihrer Heimat viel von den Hirten eingesetzt werden). Nekoma war bereits angeritten und lebte bei unserer Tante Barbara in einem Ortsteil von Rosenheim.
Damit war der Grundstein für den Einstieg in den Reitsport gelegt. Nekoma wurde hauptsächlich von unserer Mutter geritten. Das weckte natürlich auch bei uns Kindern das Interesse am Reiten, und so durften wir ein bis zwei Mal pro Woche auf Schulponys lernen.
Praktisch von Anfang an war ich … ja, beseelt und verliebt. Die Faszination für die Pferde hatte mich sofort erfasst und ließ mich nicht mehr los. Meine Begeisterung für die großen Vierbeiner ging tatsächlich noch weit über das hinaus, was man Mädchen ohnehin so nachsagt. Für mich war jeder Tag im Stall ein besonderer Tag. Ich liebte es einfach, von diesen wunderbaren Wesen umgeben zu sein. Wenn ich nur ein Mal in der Woche hindurfte, war das eben der große Tag, das Highlight. Und hätte ich eine Möglichkeit gefunden, unabhängig von den anderen Familienmitgliedern dort hinzukommen, ich hätte jede Mühe auf mich genommen. Ganz so einfach war das aber nicht: Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade vier Jahre alt.
Mit unserem ersten Pony hatte etwas begonnen, was sich nicht mehr aufhalten ließ. Und unsere »Herde« wuchs: Zum nächsten Weihnachtsfest bekamen Benjamin und ich zwei Lewitzer Fohlen geschenkt. Ein großartiges Geschenk, das wir mit großem Jubel willkommen hießen, aber man sieht daran auch, dass in unserer Familie niemand wirklich Ahnung von Pferden hatte. Was tut ein Kind mit einem noch nicht angerittenen jungen Pony?
Unser Glück war, dass wir Paul Elzenbaumer hatten, der später, bis zur Rente und sogar noch weit darüber hinaus, bei uns auf dem Hof als Pferdewirtschaftsmeister angestellt war und bis heute immer noch in Teilzeit bei uns beschäftigt ist. Er wurde unser erster Reitlehrer, und er hat auch die beiden jungen Lewitzer angeritten, als sie alt genug waren. Bis dahin übten wir fleißig weiter auf den Schulponys.
Den Umgang mit jungen Pferden sind wir von Kindesbeinen an gewöhnt. Irgendwie haben wir uns als Reiter von Anfang an immer zusammen mit unseren Pferden weiterentwickelt und gemeinsam mit ihnen gelernt. Auch die Pferde, mit denen wir Junioren-Europameister geworden sind, haben wir jung gekauft und mit unserem damaligen Trainer Stefan Münch ausgebildet. Ich glaube, das ist schon etwas Besonderes, und es prägt unsere Arbeit bis heute.
Dieses Weihnachtsgeschenk hat meine Begeisterung für Tiere noch deutlich intensiver werden lassen. Mein ganzes Zimmer war voll mit Bildern von Vierbeinern, ich beschäftigte mich tagaus, tagein mit nichts so gern wie mit Tieren.
Und dann passierte etwas ganz Entscheidendes: Meine Tante kaufte das Gut Aubenhausen (es liegt etwa 15 Kilometer von Rosenheim entfernt). Sie setzte ihre Zucht der Lewitzer Ponys, die in Rosenheim begonnen hatte, hier fort. Mein Bruder und ich verbrachten jede freie Minute auf dem Hof, wir ritten beide, und für mich waren die Ponys Spielkameraden, Puppenersatz und noch viel mehr. Ich liebte sie heiß und innig und konnte mich stundenlang mit ihnen beschäftigen.
Bis 1993 leitete meine Tante den Hof mit ihrer Ponyzucht, die sie dann leider aufgeben musste, und mein Großvater übernahm das Gut vorübergehend.
Sollte jetzt schon alles vorbei sein? Würden wir Aubenhausen verlieren? Mein Bruder und ich waren entsetzt von dieser Vorstellung. Doch so weit kam es zum Glück nicht. Der Verkauf des Gestüts gestaltete sich nicht so einfach, und eines Abends beim Essen fragte unser Vater: »Und was ist, wenn wir nach Aubenhausen ziehen?« Benjamin und ich drehten regelrecht durch vor Freude. Wir sprangen auf der Eckbank herum und jubelten: »Wir ziehen zu den Pferden!« Und meine Mutter freute sich ebenso sehr wie wir, wenn auch weniger lautstark. Für mich jedenfalls war es ein magischer Moment, den ich niemals vergessen werde. Mit Tieren zu leben war mein Traum. Und jetzt sollte er wirklich wahr werden. Es war also nicht das Ende, es war der Anfang.
Wer heute nach Aubenhausen kommt, würde den alten Hof nicht mehr wiedererkennen. Damals gab es nur riesige Weideflächen, die den größten Teil des Jahres einfach Matschwiesen waren, einen Tümpel und an Gebäuden einen Offenstall, die kleine Reithalle, zwei Querställe und das Bauernhaus. Ziemlich wild, das Ganze, aber für uns war es das Paradies.
Als wir in dieses Paradies einzogen, war ich sieben Jahre alt, Benjamin war achteinhalb. Es war wirklich ein Traum. Durch das kleine Guckloch-Fenster meines neuen Kinderzimmers konnte ich auf den Hof schauen. Und ich verbrachte jede freie Minute draußen. Puppenspielen war out, die Barbies vergessen. Echte Tiere! Etwas anderes interessierte mich nicht mehr. Meine kleine Dackelhündin Daisy wurde im Puppenwagen durch die Gegend gefahren und mit Decke und Krönchen ausstaffiert. Sie ließ sich das meistens auch mit großem Gleichmut gefallen.
Vor allem aber mein Pony Little Girl, damals etwa vier Jahre alt, wurde, so viel es ging, bespaßt, sobald ich von der Schule nach Hause kam. Am Wochenende am liebsten den ganzen Tag lang. Little Girl wurde auch in alle meine Spiele einbezogen. Eine Zeit lang spielte ich zum Beispiel, der Zug, der am Gutsgelände vorbeifuhr, wolle mich einfangen und in ein Kinderheim bringen. Aber Little Girl rettete mich im wilden Galopp jedes Mal, wenn die Gefahr am allergrößten war.
Das Schönste waren die Sommerabende in den Ferien, wenn wir bis in den späten Abend hinein draußen spielen durften. Liebe und Freiheit – das Geheimnis einer glücklichen Kindheit?
Der Hof hat sich von den wilden Anfängen her sehr langsam und organisch entwickelt. Mein Vater war immer mutig und achtete gleichermaßen auf ein Wachstum, das mit unseren reiterlichen Erfolgen Schritt hielt. In einem Jahr wurde ein zusätzlicher Stall gebaut, zwei Jahre später die große Reithalle, irgendwann kam dann die Führanlage dazu, dann wurde die Rennbahn gebaut, der Springplatz und das Dressurviereck. Ich bin froh, dass es so ablief und uns in keiner Hinsicht überforderte.
Übrigens auch wirtschaftlich nicht, der Ausbau des Guts wurde ja erst durch die finanziellen Mittel möglich, die die Büromöbelfirma unserer Familie mit der Zeit einbrachte.
Das Wort »Auftragseingang« wurde für uns Kinder zum Zauberwort, auch wenn wir uns darunter gar nichts Konkretes vorstellen konnten. Aber wir wussten, wenn der Auftragseingang in Ordnung ist, kann es in Aubenhausen weitergehen. Und wir spürten: Wenn es dem Auftragseingang gut geht, dann geht es unserem Vater gut. Und manchmal geht es ihm eben auch nicht so gut. Das sagt für mich sehr viel über den engen Zusammenhalt in unserer Familie aus, aber auch darüber, wie offen und ehrlich bei uns mit dem Thema Geld (und auch mit sehr vielen anderen Themen) umgegangen wurde.
Reiterlich entwickelten wir uns mit. Mein Vater förderte zunächst die angestellten Bereiter und unsere Mutter, und wir Kinder liefen mit unseren Ponys Little Girl und Lady eben so mit. Recht bald wurde meinen Eltern aber klar, dass Benjamin und ich, wenn wir Turniere reiten wollten, einen guten Trainer brauchten. Als sich die ersten Erfolge einstellten (konkret war es ein Reiterwettbewerb im nahe gelegenen Grafing, an dem ich mit Little Girl teilnahm), wurde tatsächlich Stefan Münch auf uns aufmerksam, der dann die nächsten elf Jahre unser wichtigster und prägendster Ausbilder werden sollte. Er hat mit seiner Familie in der Nähe von Aubenhausen gelebt und uns durch die Junioren- und Junge-Reiter-Jahre geführt.
Mit Pferden zu arbeiten, sie reifen zu sehen und zu beobachten, wie sie sich im Laufe unserer gemeinsamen Zeit entwickeln, fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Jedes Pferd ist ein Individuum und hat seinen eigenen Charakter, seine ganz eigene Persönlichkeit. Die Pferde für das gemeinsame Tun und Arbeiten zu begeistern, macht mir Freude und erfüllt mich jeden Tag neu. Ich gebe mir große Mühe, ihnen ein Gefühl für ihren Körper zu vermitteln und ihre Möglichkeiten zu zeigen. Wenn sie die Aufgaben, die wir reiten, verstanden haben und Zeit bekommen, die nötige Kraft dafür zu entwickeln, fallen sie ihnen irgendwann ganz leicht. Wenn die Pferde dann auch noch glücklich, stolz und zufrieden sind, habe ich mein Ziel erreicht: aus einem begabten jungen Pferd einen glücklichen Athleten zu machen.
Wenn die Pferde dann auch noch glücklich, stolz und zufrieden sind, habe ich mein Ziel erreicht: aus einem begabten jungen Pferd einen glücklichen Athleten zu machen.
Die Abstammung eines Pferdes ist mir dabei nicht so wichtig. Die großen Dressurpferderassen haben durchaus spezielle Fähigkeiten und Eigenheiten, aber sie sind nicht so stark spezialisiert, dass man sagen könnte, bestimmte Dinge gehen eben nur mit einem Hannoveraner oder einem Trakehner.
Wenn ich mich für ein Pferd interessiere, schaue ich auf ganz andere Merkmale. Der Körperbau ist wichtig, die Gangarten, aber vor allem die Persönlichkeit und Ausstrahlung. Ist das Pferd nervös oder ruhig? Wirkt es gelangweilt oder neugierig? Ist es bewegungsfreudig? Diese Fragen beschäftigen mich viel mehr als ihre Ahnentafeln.
Auch das Geschlecht des Pferdes spielt für mich keine besonders große Rolle. Viele Reiter arbeiten nicht so gern mit Stuten, weil es schwieriger sein kann, sie für sich zu gewinnen, als bei Wallachen. Ich mag alle Pferde gern, auch Stuten. Nach meiner Erfahrung ist es sogar umso schöner, wenn es erst einmal gelungen ist, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Eine Stute, mit der ich richtig Freundschaft geschlossen habe, geht für mich durchs Feuer, das durfte ich immer wieder erleben.
Ich darf Tiere als Partner gewinnen, eine subtile, auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Beziehung zu ihnen aufbauen und irgendwann gemeinsam mit ihnen tanzen.
Für mich sind die Pferde, mit denen ich lebe und arbeite, wie hochbegabte Kinder. Die meisten Pferde sind von Natur aus eifrig, wissbegierig und freundlich, sie wollen gefallen und alles richtig machen. Wenn wir ihnen Anerkennung schenken und sie überschwänglich loben, können wir sie für uns gewinnen, denn dann wollen sie noch mehr richtig machen. Wenn sie etwas nicht verstehen oder in unseren Augen nicht richtig machen, liegt es meistens an uns: Dann haben wir es ihnen noch nicht gut genug erklärt. Und so schwierig und manchmal auch langwierig es sein kann, einen guten Zugang zu einem Pferd zu bekommen, umso wundervoller ist es für mich, wenn ich es dann doch geschafft habe. Auch wenn bei so viel Hochbegabung Genie und Wahnsinn manchmal allzu nah beieinanderliegen.
Dressurreiten heißt für mich »mit Pferden tanzen«. Bis es dann aber wirklich nach einem Tanz aussieht, vergehen viele Jahre mit »Ups and Downs«, und es ist wahrlich nicht immer leicht. Doch genau das ist es, was mich so an unserem Sport fasziniert: Ich darf Tiere als Partner gewinnen, eine subtile, auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Beziehung zu ihnen aufbauen und irgendwann gemeinsam mit ihnen tanzen.
Meine Jahre als junge Reiterin haben mich sowohl sportlich als auch menschlich stark geprägt. Ich hatte das große Glück und die unschätzbare Chance, über Jahre hin mehr und mehr in den Leistungssport Reiten einzutauchen. Und am Ende konnte ich immer selbst die Entscheidung treffen, ob und wie es weitergehen sollte.
Das hat mit meiner Familie zu tun, und mit unserer Situation hier in Aubenhausen, aber auch mit den Pferden, die mit mir in diesen Jahren lebten und lernten. Und natürlich mit den Menschen, von und mit denen ich lernen durfte.
Mein erstes eigenes Pony hieß Little Girl. Sehr passend, dieser Name, denn ich war ja selbst noch ein kleines Mädchen, als ich sie bekam. Ziemlich klein sogar, ich war fünf Jahre alt. Little Girl war nicht das erste Pony, auf dem ich geritten bin, aber eben das erste Pony, das mir gehörte. Sie war ein Lewitzer Pony mit ganz vielen Punkten. Tatsächlich sah sie ein bisschen so aus wie das Pferd »Kleiner Onkel« von Pippi Langstrumpf.
Damals spielte es für mich natürlich überhaupt keine Rolle, dass ich etwas von ihr lernte. Wir hatten einfach nur jede Menge Spaß miteinander, ich habe am liebsten den ganzen Tag mit ihr gespielt. Alles andere wurde komplett uninteressant. Ich verbrachte meine gesamte freie Zeit mit Little Girl, und mir fiel immer wieder ein neues Spiel ein. Als wir dann wenig später nach Aubenhausen zogen, wurde unsere Verbindung noch intensiver, denn jetzt war ich ihr dauerhaft näher als vorher! Ich habe mich, so oft es ging, mit ihr beschäftigt, an den Wochenenden war ich bestimmt fünf oder sechs Mal am Tag bei ihr und bin mit ihr durchs Gelände getobt. Ich habe ihr Obstsalat geschnippelt, ohne mich auch nur ein Mal über die viele Arbeit zu beschweren. Natürlich habe ich auch gemistet und sie gebürstet und ja, ich gestehe, ich habe ihr sogar mit Menschen-Zahnpasta die Zähne geputzt. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich auch noch in meinem Bett geschlafen (oder ich bei ihr im Stall). Aber das wäre dann wohl doch zu weit gegangen …
Wenn ich mir etwas zu Weihnachten oder zum Geburtstag gewünscht habe, dann hatte es immer mit Little Girl – oder mit meiner kleinen Dackelhündin Daisy – zu tun. Ich habe mir fast nie etwas für mich selbst gewünscht.
Erst heute kann ich einschätzen, was für eine großartige Lehrmeisterin diese kleine Pferdepersönlichkeit war. Denn alles wurde anders, als aus der noch sehr, sehr jungen Reiterin Jessica die Pferdebesitzerin Jessica wurde. Ich übernahm damit – im Rahmen dessen, was in meinem Alter möglich war – die Verantwortung für ein anderes Lebewesen. Anders als ein Hund, der oft in der Familie aufgeht und überall mit dabei ist, sodass sich immer irgendjemand um ihn kümmert, war sie auf mich angewiesen. Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr war ich für sie zuständig und sorgte dafür, dass es ihr an nichts fehlte und dass sie vor allem immer beschäftigt und glücklich war. Wenn wir verreisten, kümmerte ich mich um eine Urlaubsvertretung, die für ein paar Tage meine Aufgaben übernahm. Schließlich wollte ich ja, dass sie in dieser Zeit nicht nur gut versorgt wurde, sondern auch ihr fröhliches Leben weiterführen konnte!
Bis heute sorge ich dafür, dass die Pferde hier in Aubenhausen rundum glücklich sind.
Ich glaube, das ist der ganz entscheidende Punkt. Ich fühlte mich dafür verantwortlich, dass Little Girl ein glückliches Pferd war. Wenn ich nur eine Sache nennen dürfte, die ich von ihr gelernt habe, dann wäre es sicher diese: Bis heute sorge ich dafür, dass die Pferde hier in Aubenhausen rundum glücklich sind – und nicht nur die in Aubenhausen. Durch unsere Medienpräsenz möchten wir auch zeigen, wie wir uns um das Wohlergehen der Pferde bemühen.
Auch reiterlich habe ich von und mit Little Girl unglaublich viel gelernt. Die Lewitzer Ponys sind nicht unbedingt für ein großartiges Gangwerk bekannt. Trotzdem waren wir beide richtig gut. Obwohl mein Bruder Benjamin zur gleichen Zeit schon ein gangvolles Pony hatte, konnten wir reiterlich immer gut mithalten. Unsere innige Verbindung und unsere harmonische Ausstrahlung machten wohl einiges wett. Tatsächlich haben wir Benjamin sogar einmal, bei einer oberbayerischen Jugendmeisterschaft, geschlagen, und das, obwohl sein Pferd Dacapo die deutlich besseren Gangarten hatte. Ich behaupte immer, ich hätte damals einfach schöner im Sattel gesessen als mein Bruder; darüber lachen wir heute noch manchmal.
Vielleicht hatte ich damals schon ein Geschick dafür, auf spielerische Weise und mit einem liebevollen und fürsorglichen Umgang im Zusammenspiel mit einem Pferd viel zu erreichen..
Vielleicht hatte ich damals schon ein Geschick dafür, auf spielerische Weise und mit einem liebevollen und fürsorglichen Umgang im Zusammenspiel mit einem Pferd viel zu erreichen.
Letzten Endes war es auch Little Girl, die mitgeholfen hat, mein Interesse am »großen« Reitsport zu wecken. Mein allererster Reitlehrer, Paul Elzenbaumer, hat dazu natürlich auch sehr stark beigetragen, da er es gut verstand, meinen Ehrgeiz zu wecken. Aber dass ich mir jede Reitsportübertragung im Fernsehen ansah, auch wenn sie zu nachtschlafender Zeit gesendet wurde, und schon als Grundschulkind erklärt habe, ich wolle mal so gut werden wie Nicole Uphoff, Isabell Werth oder Monica Theodorescu und Olympiasiegerin werden, das war schon eine spezielle Art von Verrücktheit.
Ich kann diesem großartigen kleinen Pferd gar nicht genug danken. Sie war nicht nur ein ausgesprochenes »Spaßpferd«, sie war auch eine unglaublich treue, ehrliche Seele, die mir mit großem Langmut alle Fehler verzieh und geduldig auf mich aufgepasst hat. Sie war zwar kein Bewegungsgenie, aber ein echtes Charakterpferd. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich sie nicht gehabt hätte. Wenn es ein Pferd in meinem Leben gegeben hat, das das kleine Mädchen Jessica auf den Weg geschickt hat, um die Profireiterin und die Pferdemama Jessica zu werden, dann war es Little Girl.
Im Übrigen war es auch Little Girl, mit der ich dem Trainer Stefan Münch aufgefallen bin, der ein Talent in mir entdeckte und mir half, etwas daraus zu machen.
Stefan Münch hat meinen Bruder und mich elf lange, wunderbare Jahre begleitet. Dass er nach dem Turnier in Grafing auf uns zukam, war vielleicht der größte Glücksfall in meiner ganzen bisherigen Laufbahn. Stefan war damals schon ein erfahrener Ausbilder, und wir haben uns sehr gefreut, als er das Angebot unseres Vaters annahm, bei uns Reitlehrer zu werden.
Stefan Münch wurde nie laut und war auch nie ungerecht zu den Pferden. Wenn ein Pferd etwas nicht verstand, hat er den Fehler immer bei sich selbst oder bei uns Reitern gesucht.