Sabine Ebert
1813 - Kriegsfeuer
Roman
Knaur e-books
Sabine Ebert wurde in Aschersleben geboren, ist in Berlin aufgewachsen und studierte in Rostock Lateinamerika- und Sprachwissenschaften. In ihrer langjährigen Wahlheimat Freiberg arbeitete sie als Journalistin und verfasste mehrere Sachbücher. Aus Passion für sächsische und deutsche Geschichte begann sie, historische Romane zu schreiben, die allesamt zu Bestsellern wurden. Eigens für die Arbeit an ihrem Roman über die Völkerschlacht und die geplante Fortsetzung zog sie nach Leipzig und wurde in der Messestadt schnell heimisch.
Frühjahr 1813: Europa stöhnt unter Napoleons Herrschaft. Nach der dramatischen Niederlage der Grande Armée gehen Preußen und das Zarenreich zum Gegenangriff über. Im ausgebluteten Sachsen müssen die Menschen Entscheidungen treffen, die ihr Leben unwiderruflich verändern werden: eine Mutter, die verzweifelt auf die Rückkehr ihrer Söhne hofft, ein General, der seinen Kopf riskiert, damit sich Sachsen den Alliierten anschließt, eine Gräfin, die aus Liebe Napoleons Spionin wird, zwei Studenten, die zu den Lützowern wollen, die junge Henriette auf der Flucht vor Plünderern …
Die Menschen ersehnen den Frieden, während die Herrscher insgeheim Europa längst unter sich aufgeteilt haben und so eine gewaltige Schlacht heraufbeschwören.
eBook-Ausgabe 2014
Knaur eBook
© 2013 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe
Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © FinePic®, München / © MuseumStock The Battle of the Nations of Leipzig on October 1813 by Vladimir Ivanovich Moshkov
Bonustexte "Uniformen zur Zeit Napoleons", "Das Lazarettwesen um 1813", "Die Mode in der napoleonischen Zeit" sowie "Kurzbiografien ausgewählter Persönlichkeiten" (außer Theodor Körner, Friedrich August Peter von Colomb, Friedrich August I. Joseph Maria Johannes Nepomuk Aloys Xaver (der Gerechte), Johann Adolph Freiherr von Thielmann, Abraham Gottlob Werner, Wilhelm August Lampadius, Johann Christoph Friedrich Gerlach): Michél Kothe, Vorstandsvorsitzender Verband Jahrfeier Völkerschlacht b. Leipzig 1813 e.V.
Redaktion eBook-Bonustexte: Anna Baubin
Illustrationen: Marlis Heidinger www.marlisheidinger.de
Kartenmaterial: Heike Boschmann, Computerkartographie Carrle
Animierte Karte: SpryFlash Interactive Services www.spryflash.com
Konzeption Animation: Aumayer Media www.aumayermedia.at
Projektmanagement eBook: Anne Müller
ISBN 978-3-426-41768-3
Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren spannenden Lesestoff aus dem Programm von Knaur eBook und neobooks.
Auf www.knaur-ebook.de finden Sie alle eBooks aus dem Programm der Verlagsgruppe Droemer Knaur.
Mit dem Knaur eBook Newsletter werden Sie regelmäßig über aktuelle Neuerscheinungen informiert.
Auf der Online-Plattform www.neobooks.com publizieren bisher unentdeckte Autoren ihre Werke als eBooks. Als Leser können Sie diese Titel überwiegend kostenlos herunterladen, lesen, rezensieren und zur Bewertung bei Droemer Knaur empfehlen.
Weitere Informationen rund um das Thema eBook erhalten Sie über unsere Facebook- und Twitter-Seiten:
http://www.facebook.com/knaurebook
http://twitter.com/knaurebook
http://www.facebook.com/neobooks
http://twitter.com/neobooks_com
»Das ist ja eine wahre Völkerschlacht«, soll ein preußischer Offizier während des mörderischen Kampfes im Oktober 1813 bei Leipzig geäußert haben.
Der Name hielt sich bis heute. Doch der Offizier irrte.
Nicht die Völker kämpften hier gegeneinander. Dies war ein Krieg skrupelloser Herrscher um Macht und Land. Einig waren sie sich nur darin, dass keines der Ideale Wirklichkeit werden durfte, für die ihre Bürger kämpften und starben.
So ist dieser Roman kein Urteil über Nationen.
Er soll an die Menschen aus vielen Völkern erinnern, die aus blanker Gier verraten und geopfert wurden.
#
In memoriam Thomas Friedrich
Wir vermissen dich so.
Fast alle Personen, die in diesem Buch vorkommen, haben tatsächlich gelebt. Und obwohl dies ein Roman ist und kein Sachbuch, hält sich meine Geschichte so genau wie nur möglich an ihre Lebensläufe und Lebenszeugnisse. Auch sämtliche Zeitungsberichte, Proklamationen und Briefe historischer Persönlichkeiten sind Originaltexte.
Ein Personenverzeichnis befindet sich im Anhang.
Blücher überschreiten die Oder?«, brachte Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, fassungslos in seiner eigentümlichen Sprechweise heraus.
Sofort begann sein rechtes Lid nervös zu zucken. Schon wieder zwang ihn einer seiner Generäle durch unerhörte Eigenmächtigkeit zum Handeln!
Erst Yorck, der ohne Erlaubnis im Dezember 1812 einfach Neutralität zwischen Russland und Preußen vereinbarte. Was ihn, den König, dazu nötigte, vom erzwungenen Militärbündnis mit Frankreich abzufallen und Napoleon Bonaparte den Krieg zu erklären. Ausgerechnet Bonaparte, der Preußen 1806 fast völlig vernichtet und nahezu ganz Europa unterworfen hatte!
Er hätte diesen Yorck wegen Insubordination in Festungshaft schicken sollen. Wäre nicht das erste Mal für ihn gewesen …
Und nun gab dieser verrückte alte Blücher die befohlene Wartestellung in Schlesien auf, marschierte mit seiner Armee über die Oder und würde damit auch die Österreicher und Schweden zum Vorrücken bringen!
Jetzt ließ sich die Entscheidungsschlacht um Europa nicht mehr aufhalten. Er musste achtgeben, dass die ganze Sache nicht in einen Volksaufstand mündete. Am Ende gar in eine Republik mit einer Verfassung, wie es vom Stein und noch ein paar Hitzköpfe forderten! Niemals!
Doch wenn er schon Krieg führen musste, konnte er sich wenigstens für die jahrelangen Demütigungen rächen und Preußen wieder zu einer respektierten Macht in Europa werden lassen. Und sich bei der Gelegenheit Sachsen einverleiben. Ein Stück von Polen sollte auch bei diesem Handel herausspringen – so viel, wie ihm der russische Zar überließ.
Milde beruhigt und getröstet durch diesen Gedanken, straffte sich Friedrich Wilhelm und fing an, eine Melodie zu summen. Ja, er würde wohl heute noch einen Marsch komponieren.
»Genug des Wartens, wir schlagen gemeinsam mit den Preußen los!«, befahl der Kaiser von Russland, Zar Alexander. »Wir haben Bonaparte und seine Grande Armée aus Russland verjagt, und wir werden sie noch viel weiter zurücktreiben, bis an die Gestade des Atlantiks.«
Ein triumphierendes Lächeln zog über sein junges Gesicht, als er daran dachte, wie sich die Überreste des napoleonischen Heeres durch die eisigen Weiten Russlands schleppten. Als schon alles verloren schien, hatten seine Truppen den Mythos von der Unbesiegbarkeit der Grande Armée zerstört.
Er hatte sein Volk zum Vaterländischen Krieg gegen den leibhaftigen Antichristen gerufen. Und der ließ sich täuschen, hielt ihn immer noch für einen verspielten Welpen. Doch jetzt stand ihm der russische Bär gegenüber, die Tatzen zum Angriff erhoben.
Wenn er, der Zar, als Sieger in Paris Einzug hielt, würde er nicht nur der mächtigste Herrscher Europas sein, man würde ihn auch als den Retter Europas feiern. Und die schönsten Frauen lägen ihm zu Füßen.
Kutusow war tot, also würde er diesmal selbst seine Truppen anführen. Deshalb schob der Zar den Gedanken an die polnische Geliebte für den Moment beiseite und rief seinen Generalstab zusammen.
»Mein lieber Metternich!«, sagte Kaiser Franz von Österreich mit strahlendem Lächeln und löste den Blick von seinen neuesten Herbarien. »Sie haben mir nun genug Zeit herausdiplomatiert, damit wir weitere Soldaten ausheben und die Kavallerie verstärken konnten. Jetzt sollten wir sie ins Feld führen und diesem korsischen Emporkömmling Paroli bieten. Aber der Schwarzenberg soll den Oberbefehl über alle drei Armeen haben: unsere, die Schlesische und die Nordarmee. Sonst machen wir nicht mit.«
Ihm selbst war nach der furchtbaren Niederlage von Austerlitz im Dezember 1805 die Lust auf Schlachten vergangen.
Schwarzenberg taugt nicht zum Heerführer, dachte der Graf von Metternich ganz nüchtern. Doch nur mit einem eigenen Mann an der Spitze können wir den Ausgang dieses Krieges bestimmen und dafür sorgen, dass die monarchische Ordnung Europas wiederhergestellt wird. Russland und Preußen dürfen nicht zu stark werden, Frankreich nicht zu schwach, damit es sich gegen beide behaupten kann. Sonst verliert Österreich seinen Einfluss und Europa das Gleichgewicht der Kräfte. Doch er sprach diese Gedanken nicht aus, die dem Kaiser ohnehin vertraut waren, sondern verneigte sich tief.
Franz I. lächelte immer noch. »Meine braven Böhmen und Ungarn schicken wir zuerst in den Angriff.«
»Wir vereinigen uns mit Blüchers Schlesischer Armee!«, befahl Kronprinz Karl Johann von Schweden, mit bürgerlichem Namen Bernadotte, ehemaliger Marschall der Grande Armée.
Nun war Blücher also nicht mehr sein Gegner, sondern sein Verbündeter. Und sein einstiger Freund und Kaiser der Feind. Wie ein Stachel im Fleisch wühlten in Bernadotte immer noch die beleidigenden Worte, mit denen Napoleon ihm die Schuld an den Verlusten in den Schlachten bei Aspern und Wagram im Mai und Juni 1809 gegeben hatte. Und abermals lebte die Erinnerung auf, mit wie viel Sturheit und Stolz der alte Haudegen Blücher noch nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt Widerstand geleistet und für seine Truppen Kapitulationsbedingungen erzwungen hatte. Das nötigte ihm, Bernadotte, damals so viel Respekt ab, dass er dem Besiegten den Degen zurückgab.
Doch als Adoptivsohn des Königs von Schweden hatte er zuallererst schwedische Interessen zu wahren. Also mitzukämpfen, wofür Schweden Norwegen bekommen würde, das noch zum napoleonischen Dänemark gehörte, und dafür zu sorgen, dass möglichst viele seiner Soldaten überlebten. Mit zusammengezogenen Augenbrauen wies er deshalb seinen Stabschef an: »Unsere Truppen sollen nicht zu schnell marschieren. Wir lassen die Preußen, Österreicher und Russen den ersten Angriff führen.«
Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen und Herrscher über nahezu ganz Europa, zeigte sich nicht im Geringsten beunruhigt, als ihm sein Generalstab von den Truppenbewegungen der feindlichen Armeen berichtete.
»Der König von Preußen ist ein Holzkopf und Schwächling, selbst seine Luise hatte mehr Schneid!«, rief er und schnaubte verächtlich. »Der Zar ist ein Weiberheld und ein Träumer, dessen einzig tauglicher Marschall begraben liegt, und der Kaiser von Österreich mein Schwiegervater. Der wird nicht gegen mich kämpfen. Und was Bernadotte angeht – der Verräter hat nicht die Courage, gegen mich anzutreten. Keiner von denen hat sie. Niemand bezwingt Napoleon!«
Wütend hieb er mit der Faust auf den Kartentisch, dann streckte er das Kreuz durch und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Wir ziehen alle Truppen zusammen, die wir aufbieten können. Diesmal schicken wir auch die Garden ins Feuer. Und bringt mir umgehend den sächsischen König! Ich muss dem ängstlichen alten Mann noch einmal einschärfen, dass uns der Sieg sicher ist, damit er treu bei Fuß bleibt.«
Ohne zu ahnen, dass die anderen Herrscher gerade Gleiches taten, schritten der Kaiser von Frankreich, der König von Preußen, der Zar von Russland, der Kaiser von Österreich und der Thronerbe von Schweden an einen Tisch mit ausgebreiteten Karten. Unabhängig voneinander suchte jeder von ihnen den Ort, an dem die entscheidende Schlacht stattfinden würde. Fast zur gleichen Zeit stießen sie mit dem Zeigefinger auf einen Punkt, der die logische Wahl für den Austragungsort dieser Schlacht war – die Tiefebene um Leipzig, flussreich und mit guten Straßen in alle Richtungen.
Unabhängig voneinander berechneten sie auch den wahrscheinlichsten Tag für den Beginn der Schlacht: den 16. Oktober 1813.
Mehr als eine halbe Million Männer würden sich dort gegenüberstehen und kämpfen, mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Diese Schlacht sollte vier Tage andauern und hunderttausend Leben kosten.
Eine neue, schreckliche Dimension des Tötens.
FRÜHLING DES KRIEGES –
ZEIT DER ENTSCHEIDUNGEN
Freiberg, 3. Mai 1813, Haus des Buchdruckers Gerlach am Untermarkt
Das war ein merkwürdiges Klopfen an der Tür. Beharrlich und dennoch viel zu schwach, als dass dort Militärs Einlass fordern könnten. Aber so aufdringlich würde auch kein Bettler klopfen.
Von dem leisen Hämmern mit jäher Sorge erfüllt, entschied die etwas füllige Hausherrin, selbst nachzuschauen, wer dort vor der Tür stand, obwohl sie schon auf halbem Weg nach oben war und ihr die Füße in den zu engen Schuhen schmerzten. Johanna Christiana Charisius, jung verwitwete Barthel und seit zweiundzwanzig Jahren Ehefrau des angesehenen Buchdruckers Friedrich Gerlach, rückte die mit Spitzen verzierte Haube zurecht, raffte den Rock des blau-weiß gestreiften Kleides und hastete die Treppe wieder hinab.
Auch wenn die Sonne noch so strahlte und alles friedlich schien an diesem Montagmorgen – dies waren unruhige, gefährliche Zeiten, Zeiten des Krieges, und man tat gut daran, sich zu vergewissern, wem man die Tür mehr als nur einen Spalt weit öffnete.
Doch als Johanna die Besucher erkannte, ließ sie vor Schreck die Maiglöckchen fallen, die sie von der Nachbarin mitgebracht hatte.
»Jette! Franz! Was macht ihr denn hier?«, rief sie entgeistert. Die siebzehnjährige Nichte und ihr kleiner Bruder sollten jetzt eigentlich hundert Kilometer von hier entfernt in Weißenfels sein, in ihrem Zuhause.
Und wie die beiden aussahen – völlig erschöpft und abgemagert! Henriette wirkte geradezu verzweifelt, der zehnjährige Franz, den sie fest an der Hand hielt, schien vor Müdigkeit fast umzufallen. Jettes Gesicht war staubbedeckt, ihr braunes Haar lugte statt unter einem Hut mit hübscher Schleife zerzaust unter einem Wollschal hervor, ihr blauer Mantel war verschmutzt. Wie überhaupt die Kleidung der Geschwister den Eindruck erweckte, als hätten die beiden seit Tagen unter freiem Himmel kampiert.
»Seid ihr etwa den ganzen Weg von Weißenfels hierhergelaufen?«, begriff Johanna fassungslos. »Allein durch Kriegsgebiet? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?!«
Henriette schob ihren Bruder durch den schmalen Türspalt ins Haus, sah ängstlich nach links und rechts und flüsterte dann: »Es ist etwas Schreckliches geschehen, Tante.«
Sie atmete tief durch und sagte noch leiser: »Ich glaube, ich habe jemanden getötet. Einen französischen Soldaten.«
»Kind! Sag doch nicht so etwas!«, hauchte Johanna entsetzt und schlug die Hände vor den Mund.
»Vielleicht war es auch ein Italiener oder Wallone, ich weiß es nicht … Ich hab kein Wort verstanden, als er auf mich einschrie«, wehklagte Jette, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Die kamen aus aller Herren Länder, die in Weißenfels einfielen.«
Hastig zog Johanna Gerlach die vollkommen aufgelöste Nichte ins Haus und schaute ebenfalls rasch noch einmal prüfend nach links und rechts.
Auch wenn die Stadt seit kurzem von Russen und Preußen besetzt war und nicht mehr von den Franzosen, so konnte doch überall die Geheime Polizei lauschen. Mit zittrigen Händen klaubte die Hausherrin die Maiglöckchen vom Treppenabsatz und schloss die Tür hinter sich.
In der Diele rief sie nach der Köchin – so dringend, dass Lisbeth Tröger gleich mit ihrem schweren, watschelnden Gang angelaufen kam, Mehlspuren auf der Schürze und Teigreste an den Händen.
»Nehmen Sie den Franz mit in die Küche und geben Sie ihm etwas zu essen!«, wies Johanna die Köchin an. »Er soll sich waschen und dann erst einmal schlafen. Und schauen Sie, dass sich auch für Fräulein Henriette auf die Schnelle etwas Heißes findet. Oder wenigstens ein paar Butterbrote.«
Die resolute Lisbeth war nicht weniger bestürzt über das verwahrloste Aussehen der Besucher als Johanna. Mütterlich legte sie ihren Arm um die Schulter des Jungen und brummte ihm beruhigend zu: »Wir werden schon etwas für den jungen Herrn finden.«
Trotz aller Müdigkeit huschte ein Lächeln über Franz’ staubverschmiertes Gesicht. Wenn sie hier zu Besuch gewesen waren, hatte Lisbeth ihn und seine Schwester immer vom Kuchenteig naschen lassen oder sie mit anderen Leckereien verwöhnt.
Doch bevor die Köchin den Jungen in die Küche schob, drehte sie sich noch einmal um.
»Darf ich das Fräulein etwas fragen?«, brachte sie ungewohnt verzagt heraus.
Johanna erriet sofort, was nun kommen würde, und sah Lisbeth voller Mitleid an.
»Es heißt, dass Leipzig wegen der Seuchengefahr seine Lazarette nach Weißenfels verlegt hat und nun dort die Verwundeten gepflegt werden, die aus Russland zurückgekommen sind«, begann Lisbeth, die Augen flehend auf Jette gerichtet. »Haben Sie vielleicht einen meiner Söhne gesehen, Fräulein? Der Fritz, der Paul, der Claus und der Wilhelm … Die kennen Sie doch von früher. Sie sind alle bei der Reitenden Artillerie, Batterie Hiller …«
Henriette schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Es waren überhaupt keine Sachsen unter denen, die kamen.«
Niedergeschlagen schlurfte die Köchin hinaus.
Johanna führte ihre Nichte in den Salon, auch wenn sie normalerweise niemanden in so staubigen und abgerissenen Sachen auf den guten Möbeln sitzen lassen würde. Sie drückte sie auf das Chaiselongue und gab ihr eine Schale mit Gebäck, eine wahre Kostbarkeit in diesen Zeiten. Doch bevor sie sich selbst hinsetzte, lief sie noch einmal zur Tür und rief dem neuen Dienstmädchen zu: »Nelli, hol den Meister aus dem Kontor, rasch! Sag, es ist ein Notfall.«
Dann schloss sie sorgfältig die Tür, ließ sich neben Henriette sinken, die – nur auf der Sofakante sitzend – ausgehungert Biskuitgebäck in sich hineinstopfte, und drängte: »Nun sag endlich, was ist geschehen? Wo ist dein Vater? Weiß er überhaupt, wo ihr beiden steckt?«
Mit einer energischen Bewegung streifte sie die drückenden Schuhe ab, ließ sie auf den Boden poltern und redete weiter, ohne zwischendurch richtig Luft zu holen. »Euer guter Onkel und ich, wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht! Man munkelt, es habe gestern Kämpfe südlich von Leipzig gegeben, in eurer Gegend. Eine riesige Schlacht, Preußen unter General Blücher und Russen gegen Napoleon. Deshalb sind auch die Truppen abgezogen, die wir hier als Einquartierung hatten. Doch es gibt noch keinerlei Nachricht, wie die Sache ausgegangen ist.«
Henriette ließ die Schale mit dem Gebäck in den Schoß sinken.
»Die Schlacht hab ich von weitem gehört, den Kanonendonner«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Es war schrecklich. Aber da waren wir schon auf der Flucht, der Franz und ich – seit Freitag.«
»Seit vier Tagen?!« Johanna fiel erneut aus allen Wolken.
»Am Freitag und Samstag wurde schon ganz nah bei Weißenfels gekämpft. Napoleon selbst soll seine Truppen dorthin geführt haben«, berichtete Henriette leise. »Unmengen Soldaten lagerten um die Stadt und mittendrin. Sogar auf dem Marktplatz biwakierten welche.«
Sie holte tief Luft und blickte starr geradeaus, ein paar Tränen wegblinzelnd. »Vater ist tot. Er starb am Dienstag.«
»Das Lazarettfieber?«, rief Johanna erschrocken und rückte instinktiv ein wenig ab, wofür sie sich im nächsten Augenblick schämte. Der Schrecken darüber, die Nichte könnte die gefährliche Krankheit mitgebracht haben, ließ die Nachricht kaum in ihr Bewusstsein eindringen, dass der Schwager gestorben war – ein Buchbinder, dessen Werkstatt in den letzten Jahren gerade das Nötigste für seine Familie einbrachte, weil sich nur noch wenige Kunden die prachtvollen Ausstattungen leisten konnten, auf die er sich so gut verstand.
»Seit wir hörten, dass Leipzig seine Lazarette wegen Überfüllung nach Weißenfels auslagert, fragten wir uns andauernd, wie es euch nun gehen mag«, beteuerte Johanna.
»Es war sein Herz. Der Arzt sagte, es wollte einfach nicht mehr schlagen.« Jette wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, öffnete den Mund und streckte zum Beweis kurz die Zunge heraus.
»Sieh, keine roten Ränder an der Zunge! Franz und ich, wir wären längst auch krank, wenn es das Lazarettfieber gewesen wäre. Wegen des Krieges und der Seuchen mussten wir Vater schnell beerdigen, ohne euch eine Nachricht schicken zu können. Alles ist anders geworden durch den Krieg. Nichts ist mehr, wie es war.«
Sie stockte, stellte das Gebäck beiseite und senkte den Kopf.
»Da stand ich nun ganz allein und wusste nicht, wie ich den Franz durchkriegen sollte. Ich hatte Angst, ich war verzweifelt. Und dann kam dieser Soldat ins Haus und fing an, alles auf der Suche nach Geld oder irgendetwas Wertvollem zu durchwühlen. Dabei hatten wir gar nichts mehr. Die Stadt ist seit Wochen mit Verwundeten überfüllt – alles Männer, die vom Feldzug aus Russland zurückkehrten. Das waren auch Franzosen, aber wenn man sah, in welch elendem Zustand sie waren, blutete einem das Herz. Wir gaben ihnen von dem wenigen, das wir noch besaßen, damit sie nicht verhungerten, zerrissen Betttücher zu Verbänden. Doch der, der am Freitag in unser Haus kam, der war gesund und wollte nur plündern. Ich flehte ihn auf Französisch an, so viel mir in meiner Angst einfiel, uns zu verschonen, weil wir Waisen waren. Doch das kümmerte ihn nicht.«
Unwillkürlich legte sie eine Hand an den Hals und schluckte mühsam. »Er riss mir das Medaillon mit dem Bild meiner Mutter ab – das Einzige, was mir von ihr geblieben ist … Und dann nahm er unser letztes Brot. Er hielt es mir drohend vors Gesicht und verlangte mehr. Er schrie und drückte mich gegen die Wand … Ich tastete um mich und hielt plötzlich den Schürhaken in der Hand … und damit habe ich zugeschlagen. Er fiel zu Boden, und Blut lief über sein Gesicht. Das … hab ich nicht gewollt.«
Sie spreizte ihre Finger ab und betrachtete sie wie einen fremden Gegenstand. »An meinen Händen klebt nun Blut. Wie soll ich damit leben?«, fragte sie und fiel ihrer Tante schluchzend um den Hals.
»Was macht der Krieg nur aus uns allen?«, murmelte Johanna bedrückt, während sie der Nichte den Rücken tätschelte. Aus der Nähe hatte sie die Würgespuren am Hals des Mädchens gesehen. Dass jener Eindringling am Ende mehr als nur Geld und Brot von Jette verlangt haben könnte, schien dieser gar nicht bewusst zu sein.
Doch dann riss sich die Frau des Buchdruckers zusammen. »Denk nicht mehr daran! Vielleicht war er ja auch nur ohnmächtig und lebt noch. Hier bist du in Sicherheit.«
Sie behielt den Gedanken bei sich, dass es Sicherheit in diesen Zeiten nicht gab. Noch wusste niemand in der Stadt, wie die gestrige Schlacht ausgegangen war. Ob die Verbündeten Napoleon zurück über den Rhein treiben konnten, wie die meisten Menschen hofften, damit endlich Frieden wurde, oder ob der Usurpator die Russen und Preußen erneut besiegt hatte.
Doch ihre Worte erreichten Henriette nicht.
»Wenn ihn seine Leute gefunden hätten, dann hätten sie mich und Franz auf der Stelle umgebracht …«, wehklagte das Mädchen. »Also nahm ich meinen Bruder, dieses letzte Brot und das Medaillon, und wir schlichen uns aus der Stadt hinaus. In meiner Angst konnte ich nicht einmal daran denken, noch ein paar Sachen zusammenzupacken, etwas Kleidung. Wir mussten schnellstens fort. So rannten wir los, einfach nur Richtung Süden, weil es hieß, die französische Armee würde nordwärts nach Leipzig ziehen. Es waren viele Leute auf der Flucht, manchmal hat uns jemand aus Barmherzigkeit auf einem Fuhrwerk ein Stück mitgenommen. Die Preußen, wenn wir auf welche gestoßen sind, ließen uns durch die Linien …«
Sie griff nach der Tasse mit heißer Milch, die Lisbeth mit einem aufmunternden Lächeln gebracht hatte, und umklammerte sie, als könnte sie so die innere Kälte aus sich vertreiben. Dann trank sie hastig aus, sonst würde sie noch anfangen, mit den Zähnen zu klappern. Am liebsten wollte sie weinen und schreien, mit den Füßen aufstampfen und in die Welt hinausschreien, was für ein Irrsinn dieser Krieg war, in dem sich Menschen töteten, die einander nicht einmal kannten – um eines Brotes willen!
Noch vor gar nicht langer Zeit schien ihr Leben geordnet. Der Krieg war weit entfernt, ihrem Vater ging es gut, sie hatte Gedichte geschrieben, Bücher gelesen und davon geträumt, dass einmal ein junger Mann ihr Herz erobern würde. Doch nichts würde jemals wieder so sein. Sie hatte durch ihre Bluttat die Unschuld der Seele verloren und würde nie wieder ein unbeschwertes Leben führen. Und statt Gedichten würden jetzt Kriegsproklamationen gedruckt und gelesen.
»Tante«, bat sie leise und sah Johanna ins Gesicht. »Könnt ihr mich und Franz aufnehmen? Ich werde mich in der Werkstatt nützlich machen. In der Buchhandlung. Oder in der Küche … Ich kann Lettern sortieren oder Korrektur lesen. Der Oheim druckt doch noch seine Gemeinnützigen Nachrichten?«
Johanna seufzte. Sie vergrub die Hände in ihren braunen Locken, zwischen denen erste graue Strähnen schimmerten, ohne zu bemerken, dass dabei das gerüschte Häubchen verrutschte. Dann tätschelte sie die Hände ihrer Nichte, lächelte ihr mühsam zu und sagte: »Kind, begreifst du, wie viel Glück du hattest, lebend hierhergekommen zu sein? Ihr seid direkt vor dem Krieg hergezogen! Es muss gestern Tausende Tote auf beiden Seiten in dieser Schlacht gegeben haben, von der wir noch nicht einmal wissen, wo genau sie stattfand und wie sie ausgegangen ist. Vielleicht ist euer Haus zerstört. Aber mach dir keine Sorgen! Ihr bleibt natürlich hier.«
Sie stemmte sich hoch, rückte die Haube zurecht und trippelte auf Strümpfen zur Tür. »Wo steckt denn nun der Meister?«, rief sie ungeduldig hinaus.
Nelli, das junge Dienstmädchen mit den leuchtend roten Haaren, kam und knickste. »Er ist immer noch im Rathaus, Meisterin. Beim Zensor, die Seiten für die nächste Ausgabe vorlegen.«
Warum muss das ausgerechnet heute so lange dauern?, dachte die Frau des Buchdruckers voller Ungeduld. Aber jetzt muss ich erst einmal dafür sorgen, dass das Mädchen zur Ruhe und auf andere Gedanken kommt. Was für schreckliche Zeiten, wenn schon solche zarten jungen Dinger mit Schürhaken auf bewaffnete Männer losgehen! Ich hoffe, sie vergisst das Ganze. Und dass sie nicht doch noch das Lazarettfieber ins Haus bringt. Gott steh uns allen bei!
Mit einem gespielt munteren Lächeln forderte sie ihre Nichte auf nachzusehen, was ihr Bruder inzwischen mache und was es noch zu essen gebe.
»Dann kannst du dich erst einmal waschen und ausschlafen. Eure Sachen bringen wir schon wieder in Ordnung. Für Franz finde ich etwas in den Truhen, aus dem mein Eduard herausgewachsen ist. Und dir werde ich eines meiner Kleider passend machen.«
Sie musterte Henriette und lächelte erneut. »Ich werde es kürzen müssen. Aber bei deiner schmalen Taille kann ich vermutlich so viel Stoff abnähen, dass wir noch ein Schultertuch herausbekommen.«
In Gedanken versunken und ohne die geringste Ahnung, welch unerwarteter Besuch in seinem Haushalt eingetroffen war, spazierte Friedrich Gerlach nach dem Pflichtbesuch beim königlichen Zensor wieder zu seinem Heim am Untermarkt. Kurz bevor der Buchdrucker die Tür erreichte, entdeckte er den schmächtigen Doktor Bursian, den Aufseher der Freiberger Militärhospitäler, der, heftig mit dem Arm winkend, auf sich aufmerksam machte und mit wehenden Rockschößen quer über den Marktplatz auf ihn zuhastete, mitten durch eine Pfütze hindurch.
Johann Christoph Friedrich Gerlach, ein nicht allzu großer, etwas beleibter Mann von siebenundfünfzig Jahren mit freundlichen Gesichtszügen und schütterem weißem Haar, blieb stehen und blickte dem Arzt entgegen.
Dr. Bursians Kleidung war zerdrückt, sein rechtes Brillenglas zerkratzt, die Halsbinde saß schief, die Augen waren tief umschattet, und angesichts der Bartstoppeln auf den Wangen musste seine letzte Rasur wohl schon zwei Tage zurückliegen.
»Hätten Sie die Güte, dies in Ihrer nächsten Ausgabe zu veröffentlichen?«, fragte er und zog ein zerknittertes, eng beschriebenes Blatt aus seiner Weste.
»Ein Dank an all die Frauen, die uns Leinen und Charpie für die Verwundeten gespendet haben – und der Aufruf, mit ihrer Mildtätigkeit nicht nachzulassen«, erklärte der Lazarettverwalter, während der Buchdrucker die wenigen Zeilen mit der Überschrift »Dank und Bitte« überflog.
»Es kommen immer mehr Verletzte, wir wissen einfach nicht mehr, wie wir sie noch versorgen sollen.«
Bursian räusperte sich verlegen. »Und wenn Sie als Ihren Beitrag diese Annonce …«
»Natürlich berechne ich Ihnen keine Kosten«, fiel Friedrich Gerlach ihm ins Wort. Sonst hätte Bursian einen Gehilfen geschickt und wäre angesichts der vielen Arbeit, die auf ihn wartete, nicht persönlich gekommen. »In solchen Zeiten muss jeder beitragen, was er kann. Möchten Sie mit mir auf eine Tasse Tee ins Kontor?«
Einladend wies er zur Tür.
Doch der schmächtige Lazarettverwalter winkte ab. »Bin in Eile. Es gibt so viel zu tun! Und uns fehlt es an Personal, nicht nur an Leinen und Medikamenten …«
Er neigte sich Gerlach ein wenig entgegen und raunte bedeutungsschwer: »In der gestrigen Schlacht soll es so viele Tote und Verwundete gegeben haben, dass wir uns hier auf das Schlimmste gefasst machen müssen.«
»Weiß man denn schon, wo sie stattfand? Und vor allem, wer gesiegt hat, die Franzosen oder die Alliierten?«, fragte der Buchdrucker aufgeregt. »Es ist noch kein offizielles Bulletin eingetroffen.«
»Gekämpft wurde südwestlich von Leipzig, vor allem in Großgörschen, Kleingörschen, Kaja und Rahna«, berichtete Carl Friedrich Bursian und verzog den Mundwinkel zu einem grimmigen Lächeln. »Auf das Bulletin bin ich wirklich gespannt, denn jede Seite behauptet, gewonnen zu haben. Aber es heißt, die Alliierten ziehen sich in großer Eile zurück. Das sieht nicht gerade nach einem Sieg aus, oder? Jedenfalls habe ich Order, alles für die Aufnahme weiterer Verwundeter vorzubereiten.«
Er tippte an die Krempe seines Hutes, machte auf dem Absatz kehrt und lief mit hastigen Schritten Richtung Kreuzgasse davon. Im Dom setzte das anmutige Spiel der Silbermannorgel ein, das jäh abbrach und abermals aufgenommen wurde. Der Organist übte wohl wieder.
Der Buchdrucker sah Bursian kurz nach, bevor er das geräumige Eckhaus an Untermarkt und Bäckergässchen betrat, in dem seine Werkstatt, seine Buchhandlung und seine Wohnung untergebracht waren.
Er wunderte sich, dass ihn seine Frau nicht mit dem üblichen »Wie lief es heute?« empfing, wenn er vom Zensor heimkehrte. Dies waren stets heikle Besuche, aber doppelt schwierig in Kriegszeiten!
Manchmal war er es leid, in seinen Freiberger gemeinnützigen Nachrichten für das Königlich-Sächsische Erzgebirge, die er nunmehr im vierzehnten Jahr herausgab, über Belanglosigkeiten zu berichten, während in diesem Krieg die schrecklichsten Dinge geschahen.
Hatten nun gestern die Franzosen oder die Alliierten gesiegt? Und wenn sich die verbündeten Russen und Preußen tatsächlich zurückzogen – wie weit und für wie lange? Waren sie vernichtend geschlagen, oder sammelten sie nur ihre Reserven und neue Munition? Davon hing das Schicksal Sachsens, Deutschlands, Europas ab. Die Menschen sehnten sich nach Frieden und waren es leid, unter französischer Besatzung zu leben. Reformen, eine Ständeverfassung, mehr Rechte für die Bürgerschaft – das war es, wovon er träumte und seine Logenbrüder auch.
Doch er hatte die Konzession nur mit der Auflage erteilt bekommen, keinerlei politische Abhandlungen zu veröffentlichen. Das durfte lediglich die Leipziger Zeitung, die neulich sogar einen Aufruf des Universitätsrektors Krug veröffentlicht hatte, das sächsische Volk solle sich bewaffnen und zum Kampf für die Freiheit und ein einiges Vaterland erheben, so wie die Preußen es taten.
Dergleichen war in Freiberg natürlich undenkbar, auch wenn einige Professoren der hiesigen Königlich-Sächsischen Bergakademie durchaus die Ansichten Krugs teilten.
Mittlerweile musste man sich Zeitungen aus Preußen kommen lassen, um zu erfahren, was in deutschen Landen vonstattenging.
Selbst die harmlosesten stadtgeschichtlichen Aufsätze hatte er sich Zeile für Zeile vom Zensor genehmigen zu lassen und musste stets auf der Hut sein. Etwaiges Missfallen würde ihn viel Geld kosten, womöglich sogar die Konzession und im schlimmsten Fall eine Haftstrafe oder den Tod einbringen.
Kein Wort durfte im ganzen Land über die Niederlage und die schrecklichen Verluste der Grande Armée in Russland veröffentlicht werden, bevor das amtliche Bulletin dazu erschien, und das wurde erst herausgegeben, als die Truppen schon wochenlang auf dem Rückzug waren. Dabei betraf das viele Sachsen ganz direkt: Über zweiundzwanzigtausend Mann musste Sachsen Napoleon für diesen Feldzug stellen. Auch Bayern, Westphalen, Preußen, Österreich und Württemberg hatten große Korps zu entsenden.
Von den meisten Sachsen gab es keinerlei Lebenszeichen aus Russland, während ihre Angehörigen immer verzweifelter auf Nachricht warteten. Lisbeth zum Beispiel, seine Köchin, hatte vier von ihren sechs Söhnen dort und wollte einfach die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie noch zurückkehrten. Aber es gab keine Listen von Toten, Gefangenen und Verwundeten.
Mitunter fragte er sich, was wohl einst die Nachgeborenen von dieser Zeit denken würden, wenn sie in seinen Gemeinnützigen Nachrichten blätterten. Ob sie wohl zwischen den Zeilen herauslasen, was wirklich in der Stadt vor sich ging? Zum Beispiel aus jener Danksagung und Bitte des Hospitalaufsehers, die in der Ausgabe der nächsten Woche stehen würde? Oder aus den amtlichen Bekanntmachungen über die Einquartierungsbedingungen der Militärs? Drei Pfund Brot und ein Pfund Fleisch täglich für jeden Offizier – wie sollten die Familien das nach den langen Kriegen und der katastrophalen Missernte im vergangenen Jahr aufbringen? Zumal es keine Entschädigungen mehr für die Quartierbilletts gab wie früher!
Und würden einst die Nachgeborenen aus den wiederholten Aufrufen an die Rekruten, sich endlich zum Dienst einzufinden, den richtigen Schluss ziehen, dass den jungen Männern die Kriegsbegeisterung abhandengekommen war und sie lieber das Weite suchten, statt sich zu den Truppen zu melden?
Wohlweislich hatte er seinen ältesten Sohn, der zwanzig Jahre zählte, schon vor längerer Zeit auf Bildungsreise ins Ausland geschickt. Und sein Zweitgeborener, Eduard, war mit fünfzehn noch zu jung, um ins Feld zu ziehen.
Das alles ging Friedrich Gerlach wieder einmal durch den Kopf, während er das Haus betrat, den grauen Hut auf den Haken hing, den Gehstock ablegte und den Frack gegen einen bequemen Hausrock tauschte – immer noch verwundert, dass ihm weder seine Frau noch das Dienstmädchen entgegenkamen.
Weil es ihm zu albern erschien, nach ihnen zu rufen, räusperte er sich erst, dann trat er noch einmal zur Tür, öffnete sie und ließ sie etwas lauter als gewohnt zuschlagen.
Das endlich zeigte Wirkung. Ein paar Augenblicke später stand Johanna in der Diele, und schon an ihrer Miene erkannte er, dass etwas Außergewöhnliches, Besorgniserregendes geschehen sein musste.
Sein erster Gedanke: Sie hatte noch vor ihm etwas über den Ausgang der gestrigen Schlacht erfahren, obwohl das äußerst unwahrscheinlich war. Kehrten etwa die Franzosen zurück? Doch was er stattdessen zu hören bekam, traf ihn wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.
In ein viel zu langes Nachthemd ihrer Tante aus rüschenbesetztem Musselin gehüllt, lag Henriette im großen Bett des Gästezimmers, nachdem sie etwas gegessen und sich den Schmutz der Landstraße vom Leib gewaschen hatte. So erschöpft sie auch war, sie konnte nicht schlafen.
Die Erinnerungen an das in den letzten Tagen Durchlittene loderten in ihrem Kopf, der Donner der Kanonen hallte ihr noch in den Ohren … und dazwischen die Worte, die ihr Bruder irgendwann während ihrer viertägigen Flucht gemurmelt hatte: »Er lebt noch. Dieser Franzose. Er hat noch geatmet, ich hab’s genau gesehen.«
Henriette wusste nicht, ob das stimmte. Aber sie wünschte, es wäre so. Und hier war sie hoffentlich weit genug fort von ihrem Haus in Weißenfels, um nicht gefunden und bestraft zu werden.
Als ihr Vater noch lebte, da hatte sie begeistert die patriotischen Schriften Ernst Moritz Arndts und die Gedichte Theodor Körners gelesen, den sie in jugendlicher Schwärmerei verehrte und der vor drei Jahren, als er noch in Freiberg studierte, gegenüber dem Haus ihres Onkels am Untermarkt wohnte. Alle Mädchen der Stadt hatten dem gutaussehenden jungen Mann mit den dunklen Locken und den schönen Augen nachgeschaut. Doch der Student aus Dresden schien nur Spott für sie übrig zu haben.
Sie hatte etwas tun wollen, so wie die preußischen Frauen ihrem Land halfen, sich gegen den Unterdrücker zu wehren. Oder die Aufständischen in Lübeck und Hamburg. Und sie fand die Vorstellung atemberaubend, dass sich alle Deutschen gemeinsam erheben könnten, um die Besatzer aus dem Land zu jagen und sich zu einer geeinten Nation zusammenzuschließen. Weshalb Preußen oder Württemberger in Sachsen als Ausländer galten, obwohl sie alle eine Sprache sprachen, das war für sie nicht einzusehen.
Doch als sie die verwundeten Franzosen pflegte, die aus Russland heimgekehrt waren, diese ausgemergelten Gestalten mit ihren Erfrierungen und furchtbaren Wunden, da konnte sie nichts anderes als Mitleid mit ihnen empfinden.
Und dann hatte sie vielleicht getötet und war bis ins Mark entsetzt über sich selbst.
Ob jener Fremde wohl freiwillig in den Krieg gezogen war, um andere Menschen umzubringen? Oder hatte er sich nach Hause gesehnt, sich genauso wie sie gefürchtet und wollte einfach nur überleben?
Was wäre geschehen, wenn dieser Mann ihren Angriff abgewehrt hätte? Schaudernd bei der Erinnerung an die Szene starrte sie auf ihren Bruder, der in dem schmaleren Bett unter dem Fenster schlief.
Sie machte sich Gedanken um einen Toten, während gestern vermutlich Tausende gestorben waren.
»Scht! Wir reden nicht mehr davon. Schau nach vorn!«, hatte die Tante gesagt.
Wie sollte sie jemals vergessen, was sie getan hatte?
Sie würde nie wieder eine Zeile schreiben oder ein Gedicht lesen können. Das Recht dazu hatte sie durch ihre Bluttat verwirkt.
Henriette krümmte sich noch mehr zusammen, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen.
Ihr Bruder murmelte etwas im Schlaf, wurde unruhig und schlug laut stöhnend um sich. Rasch ging sie zu ihm und berührte ihn erst sanft an der Schulter, dann rüttelte sie ihn, bis er die Augen aufschlug und sie verständnislos anstarrte.
»Du hast schlecht geträumt, Franz«, sagte sie, umschloss ihren Bruder mit den Armen und wiegte ihn. Ohne Protest duldete er, was er sonst verwehrte, seit er fünf geworden war.
»Wir sind in Freiberg. In Sicherheit. Du musst keine Angst mehr haben«, flüsterte sie. Wortlos ließ sich Franz wieder auf das Laken sinken, drehte sich zur Seite, zog die Decke über das Gesicht und schien einzuschlafen.
Fröstelnd ging Henriette zurück ins Bett. Die Arme um die Knie geschlungen, lag sie da und dachte nach, bis sie unten die Haustür zuschlagen hörte. Das musste wohl der Onkel sein.
Sie wartete so lange ab, wie Tante Johanna wohl brauchen würde, um ihrem Mann zu erzählen, was vorgefallen war. Dann schlüpfte sie in den viel zu langen und zu weiten cremefarbenen Morgenmantel mit rosa Rüschen, der neben der Tür hing, und ging die Treppe hinab, um den Oheim zu begrüßen. Das gehörte sich wohl, wenn er sie und Franz bei sich aufnehmen sollte.
Freiberg, 3. Mai 1813
Mitfühlend sah Friedrich Gerlach durch die ovalen Brillengläser auf seine Nichte, die barfuß und mit ängstlichem Blick im ihr viel zu großen Morgenmantel seiner Frau auf der Treppe stand. Sie war schon immer zart für ihr Alter gewesen, aber nun wirkte sie auf ihn wie der Inbegriff von Zerbrechlichkeit.
»Jette, Liebes, natürlich seid ihr hier willkommen«, sagte er warmherzig, ging ihr entgegen und schloss sie in seine Arme.
Unendlich erleichtert ließ sich Henriette gegen ihn sinken, und nun schossen ihr die Tränen in die Augen.
»Komm, setz dich!«, forderte der Oheim sie auf und führte sie behutsam zum Tisch.
Johanna tätschelte erneut tröstend den Rücken ihrer Nichte, während ihr Mann wortlos nach einem Taschentuch suchte und es dem Mädchen reichte.
Friedrich Gerlach war ein zutiefst friedliebender Mensch, der mit seinen Druckwerken Bildung und humanistische Ideale verbreiten wollte. Dass das Leben seiner Nichte in den letzten Tagen so gewaltsam aus den Fugen geraten war, schmerzte ihn über alle Maßen und machte ihn hilflos.
Er würde mit ihr reden müssen, damit ihre Seele nicht noch mehr Schaden nahm. Aber nicht jetzt. Er wollte sie nicht bedrängen. Jette kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie ihn jederzeit um Rat fragen konnte. Sollte sie entscheiden, wann sie dazu bereit war. Im Moment hatte er ja selbst noch keine Antworten, sondern war einfach nur erleichtert, dass sie und Franz überlebt hatten.
Henriette brauchte eine Weile, bis sie sich gesammelt hatte. Dann schneuzte sie sich kräftig und sah mit verquollenen Augen auf.
»Ich weiß, ihr habt es schwer in diesen Zeiten«, schniefte sie. »Aber ich kann mir mein Brot verdienen. Ihr habt jetzt bestimmt nicht mehr genug Leute in der Druckerei. Ich kann dort arbeiten … oder Bücher verkaufen …«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, protestierte die Tante sofort. »Was sollen denn die Leute von uns denken? Dass wir deine Notlage ausnutzen und dich wie eine Magd hier schuften lassen?«
»Wieso nicht?«, widersprach ihr Mann mit beschwichtigender Stimme. »Vielleicht wird ihr ein bisschen Ablenkung guttun. Du weißt doch, wie gern sie die Zeit in der Setzerei verbracht hat, wenn ihre Familie bei uns zu Besuch war.«
Die Begeisterung, mit der sich seine Nichte schon als Kind immer wieder zeigen ließ, wie aus einzelnen Lettern Wörter, Zeilen und ganze Seiten wurden, ihre Ehrfurcht und Leidenschaft für Bücher hatten ihn schon lange für sie eingenommen. Sie war genauso eine Bücherverrückte wie er, viel mehr als seine Söhne, die einmal das Geschäft übernehmen sollten. Deshalb mochte er sie so.
Blücher