Hanna Caspian
Gut Greifenau
Goldsturm
Roman
Knaur e-books
Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Hanna Caspian beleuchtet mit ihren gefühlvollen und spannungsgeladenen historischen Romanen bevorzugt spannende Themen der deutschen Geschichte. Hanna Caspian, geb. 1964, studierte Literaturwissenschaften, Politikwissenschaft und Sprachen in Aachen und arbeitete danach lange Jahre im PR- und Marketingbereich. Mit ihrem Mann lebt sie heute als freie Autorin in Köln, wenn sie nicht gerade durch die Weltgeschichte reist. Besuchen Sie gerne die Homepage der Autorin: www.hanna-caspian.de
Originalausgabe April 2020
© 2020 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Karten: Computerkartographie Carrle
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Collage unter Verwendung von Motiven von Richard Jenkins, Lee Avison/Arcangel Images und Edijs Volcjoks/shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45740-5
»Nichts hat das deutsche Volk
– dies muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden –
so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif
gemacht wie die Inflation.«
Stefan Zweig
Aus: Die Welt von gestern: Erinnerungen eines Europäers
Konstantin Graf von Auwitz-Aarhayn – Erbe und Gutsherr von Gut Greifenau
Rebecca Gräfin von Auwitz-Aarhayn – Gutsherrin von Gut Greifenau
Gräfin Feodora, geb. Gregorius – ehemalige Gutsherrin von Greifenau, Witwe und Mutter der fünf Kinder
Katharina Urban – Konstantins jüngere Schwester
Julius Urban – Katharinas Mann
Cornelius Urban – Julius’ Vater, Großindustrieller
Eleonora Urban – Julius’ Mutter
Anastasia – älteste Schwester, verheiratete Gräfin von Sawatzki
Nikolaus – mittlerer Bruder
Alexander – jüngster Bruder
Albert Sonntag – Gutsleiter, ehemaliger Kutscher und Chauffeur
Ida Sonntag – Stubenmädchen, verheiratet mit Albert; Wiebkes Schwester
Theodor Caspers – oberster Hausdiener und Butler
Ottilie Schott – Mamsell
Wiebke Plümecke – Stubenmädchen
Eugen Lignau – Stallmeister / Vorknecht
Bertha Polzin – Köchin
Sibylle Weidemann – Küchenmädchen
Kilian Hübner – Hausbursche
Gustav Minkwitz – Schweizer / Melker
Irmgard Hindemith – ehemalige Köchin, leitet eine Pension
Therese Hindemith – Irmgard Hindemiths Schwester, leitet eine Pension
Frau Thalmann – führt die Meierei, verwitwete Gutsverwalterin
Margarete Emmerling – ehemalige Prostituierte, alias Annabella Kassini
Arnulf Seibold – Neureicher Gutsnachbar von Konstantin
César Chantelois – französischer Privatlehrer / Klavierlehrer aus Paris
Haug von Baselt – Waffenkamerad von Nikolaus
Egidius Wittekind – evangelisch-lutherischer Pastor
Paul Plümecke – Dorfschmied, Wiebkes und Idas Bruder
Doktor Reichenbach – Arzt in Greifenau
Karl Matthis – Dorflehrer
Lorenz Kurscheidt – Rebeccas Vater
Walburga Kurscheidt – Rebeccas Mutter
Karoline Kurscheidt – Rebeccas Schwester
Magda – Dienstmädchen bei den Urbans
Gustl – Katharinas Dienstmädchen
Wilma – Katharinas Kindermädchen
Stanislaus Graf Gregorius – älterer Bruder von Feodora
Oksana Gräfin Gregorius – Stanislaus’ Frau
Pavel Graf Gregorius – jüngerer Bruder von Feodora
Raissa Gräfin Gregorius – Pavels Frau
Leonid Graf Gregorius – Pavels und Raissas Sohn
Andrej Graf Gregorius – Pavels und Raissas Sohn
Wenigstens etwas Gutes hatte der Besuch seiner Familie – es gab echten Bohnenkaffee. Konstantin trank genüsslich einen großen Schluck. Das Frühstück war wesentlich opulenter als normalerweise. Sonst, wenn nur er und Rebecca frühstückten, gab es Zichorienkaffee. Ihr machte es nichts aus. Aber ihm gelüstete nach echtem Bohnenkaffee. Doch die deutschen Kolonien, in denen Kaffee angepflanzt wurde, waren mit dem Krieg verloren gegangen. Und die Alliierten beschränkten immer noch die Einfuhr von Waren aller Art. Echter Bohnenkaffee war teuer. Aber der Tag würde schon so unangenehm genug werden. Konstantin wollte ihn nicht noch mit einer Diskussion darüber beginnen, warum es nur bürgerlichen Kaffeeersatz gab.
Mama setzte ihre Tasse ab. Für sie gab es natürlich Tee. Es war vielleicht das letzte Überbleibsel ihrer russischen Herkunft. Sie hatte sich nie an das Kaffeetrinken ihrer deutschen Familie gewöhnen können.
So, wie Mama ihre Söhne anblickte, vermutete Konstantin, dass es jetzt losgehen sollte. Sie hatte ihr Frühstück beendet. Und das hatte in früheren Zeiten bedeutet, dass auch ihre Kinder aufzuhören hatten. Demonstrativ biss er in seine Brötchenhälfte, die mit selbst gemachter Pflaumenmarmelade bestrichen war. Vermutlich das Einzige, was seinen Tag heute versüßen würde.
»Ich wäre dann so weit«, warf Mama gereizt in die Runde.
Während Rebecca kaum einen Happen runtergebracht hatte, hatten Nikolaus und Alexander ordentlich zugelangt.
»Hmmm. Wie hatte ich mich auf das Essen auf Greifenau gefreut«, gab Alexander nun von sich. Er hob seine Tasse und ließ sich von Caspers, dem Hausdiener, Kaffee nachschenken. Auch etwas, das er neben dem Bohnenkaffee in seinem jetzigen Leben nur noch selten erfuhr: den Luxus, bedient zu werden.
»Was habe ich dir beigebracht? Man spricht nicht mit vollem Mund!«
»Ich hab schon runtergeschluckt.«
Mama schaute ihren jüngsten Sohn beleidigt an. Sie würde sich nichts vormachen lassen. Aber statt etwas zu erwidern, wandte sie sich an Rebecca.
»Wie wird es in deiner Klasse gehalten, die Erbfolge?«
Alle wussten, warum sie hier waren. Ein schwieriges Thema. Ein Thema, das vermutlich gerade bei allen adeligen Familien Streit und Unruhe verursachte. Es stand nichts weniger an als die Auflösung des Familienfideikommisses. Die Regelungen der adeligen Fideikommisse besagten, dass der Familienbesitz vom jeweiligen Familienoberhaupt nur in einer Art Nießbrauchrecht benutzt werden durfte. Das eigentliche Familiengut mit dem Herrschaftshaus und dem dazugehörigen Land durfte und konnte nicht veräußert werden – bisher. Der größte Teil des Vermögens ging von einer Hand in die nachfolgende über, ohne auf die jeweilige Anzahl der Söhne aufgeteilt zu werden. Das hätte nämlich zur Folge gehabt, dass jedes Gut von Generation zu Generation kleiner geworden wäre. Dem hatte man in alten Feudalzeiten einen Riegel vorgeschoben. Deshalb erbten nicht alle Söhne, sondern nur der älteste. Doch die bürgerliche Regierung der ersten deutschen Republik hatte beschlossen, diese überholte Regelung abzuschaffen. So, wie sie bereits andere Vorrechte des Adels aufgelöst hatte.
Rebecca setzte sich gerade auf. »Ehefrauen und Töchter sind ebenfalls erbberechtigt, natürlich noch nicht in gleichem Maß.«
Feodora schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Na, vermutlich ist es für euch ja auch nicht wichtig, wer die alten Sofas bekommt.«
Mit zusammengepressten Lippen überlegte Rebecca, wie sie diesen Affront kontern wollte. Sie atmete einmal tief durch. »Ich hätte schon gerne das Porzellan meiner Großmutter.«
»Das Porzellan? Sammeltassen?« Es klang genauso abschätzig, wie Konstantins Mutter beabsichtigt hatte.
Rebecca wusste, wie wichtig der heutige Tag für ihre Zukunft war, deshalb schluckte sie jede Erwiderung hinunter.
»Na gut.« Konstantin stand auf. »Nikolaus, Alexander, dann lasst uns rüber ins Arbeitszimmer gehen.«
»Ich werde natürlich dabei sein.« Feodora machte Anstalten aufzustehen. Sofort war Caspers an ihrer Seite und zog den Stuhl zurück.
»Dann kennst du dich mit den Gesetzen der Fideikommisse aus?« Sein letzter Versuch, sie von ihrer Teilnahme abzuhalten.
»Es geht schließlich um die Zukunft des Hauses, das ich lange Jahre geführt habe. Das willst du mir sicher nicht verwehren.«
Konstantin drückte sein Kreuz durch. »Wenn du unbedingt möchtest, kannst du gerne dabei sein. Aber eine Stimme hast du nicht. Nach dem neuen Gesetz haben das nur ich als Erbe und die rechtmäßigen Anwärter, was unserem Hausrecht gemäß Nikolaus und Alexander wären. Auch Anastasia und Katharina sind als Frauen außen vor.«
»Empörend ist das!«
»Warst du nicht gegen das Frauenwahlrecht?«, mischte sich Rebecca wieder ein.
Feodora wandte sich ihr wütend zu. »Dann verrat mir mal eins, meine sozialistische Schwiegertochter …«
»Sozialdemokratisch«, verbesserte Rebecca.
»Das ist doch das Gleiche.«
»Ganz und gar nicht.«
»Aus meiner Perspektive seid ihr alle gleich. Und unterbrich mich gefälligst nicht. Also, sag mir, wieso deine Genossen, wenn sie so viel Wert auf die Frauenrechte legen, in ihr Gesetz nicht reingeschrieben haben, dass nur die Anwärter, was ja ausschließlich die männlichen Nachfolger betrifft, Stimmrecht haben und die Töchter nachgeordnet sind.«
Rebecca knirschte mit den Zähnen. »Weil sie es deiner Klasse nicht ganz so schwer machen wollten. Es hätte nur zu noch mehr Unmut geführt. Außerdem ist es vom jeweiligen Hausgesetz abhängig. Wenn in den einzelnen Häusern die Frauen auch erbberechtigt sind, dann dürfen sie ja als Anwärterinnen teilnehmen.«
»Die Hausgesetze der adeligen Geschlechter sind doch alle Jahrhunderte alt.«
»Von wann ist eigentlich das Hausgesetz derer des Hauses Auwitz-Aarhayn?«, mischte sich nun auch Alexander ein.
»Das aktuelle stammt aus dem Jahr 1815«, antwortete Nikolaus.
Natürlich. Konstantin hätte wetten können, dass Nikolaus sich ihr Hausgesetz noch mal äußerst gründlich durchgelesen hatte. Aber das hatte er zuvor ebenso getan, vorsichtshalber. Er kannte seine Brüder zu gut.
»Ihr hättet es doch jederzeit ändern können«, sagte Rebecca.
»Das ist nicht so einfach.« Konstantin wollte schlichten. Himmel, er musste dafür sorgen, dass dieses Gespräch nicht vollkommen aus dem Ruder lief.
»Es war ja auch völlig unnötig, bis passiert ist, was passiert ist«, spie Feodora aus.
Konstantin wollte Rebecca ein Zeichen der Beschwichtigung machen, doch zu spät.
»Du meinst, wenn deine Klasse nicht diesen verheerenden Krieg angezettelt und verloren hätte?«
»Wieso haben sie ihn denn verloren? Doch nur, weil du und deinesgleichen unseren Soldaten und Offizieren das Messer in den Rücken gerammt haben!« Mamas Stimme kippte ins Schrille. Empört ließ sie sich auf ihren Stuhl zurückfallen.
Caspers wusste für einen Moment nicht, was er tun sollte. Sollte er ihren Stuhl wieder an den Tisch schieben? Mama entließ ihn mit einer knappen Geste.
Eine unangenehme Stille breitete sich in dem Raum aus. Niemand wollte wohl diese Diskussion erneut entfachen. Zu oft hatten sie sich schon erbittert darüber gestritten.
Mama hob leise ihre Stimme, als gäbe sie sich geschlagen. »Nicht nur, dass wir von Gesetzes wegen kein eigener Stand mehr sind. Jetzt sprengen sie auch noch die Regularien uralter Häuser. Das zerstört die ureigenen Prinzipien der Monarchie. Davon werden wir uns nie wieder erholen.«
Ein winziges Lächeln umspielte Rebeccas Mund. Oh bitte, sag jetzt nichts, dachte Konstantin. Dieses Gespräch würde sonst in einer Blutfehde enden. Anscheinend erhörte seine Frau sein stummes Gebet, denn sie stand steif auf.
»Dann lass ich euch nun allein. Ich habe noch einen Termin.« Es klang erleichtert. »Und ihr könnt in Ruhe besprechen, wie ihr es mit dieser Verordnung über Familiengüter halten wollt.«
Konstantin machte eine Geste. »Dann lasst uns rübergehen.«
»Können wir nicht einfach hier sitzen bleiben?« Alexander hatte wohl noch Hunger.
Mama verdrehte die Augen. »Natürlich werden wir das nicht am Esstisch im Angesicht von leeren Eierschalen besprechen. Ich will doch wenigstens im letzten Akt vor dem Untergang meines Standes das letzte bisschen Würde behalten, das mir diese Regierung noch zugesteht. Anstand und Sitte können sie mir nicht nehmen.« Sie stand auf und wandte sich an Konstantin. »Und übrigens, ich muss schon alleine aus einem Grund dabei sein: Du wirst doch wohl über die mir und deinen Brüdern noch zustehende Apanage sprechen wollen.« Erst jetzt verließ sie demonstrativ den Raum. Caspers folgte ihr pflichtergeben.
Konstantin beobachtete, wie Alexander sich noch ein Brötchen nahm und es zerteilte. Er ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder. Mama forderte ihre Apanage ein. Und seine Brüder auch. Und er konnte es ihnen nicht einmal verdenken.
»Ich hoffe, ihr versprecht euch nicht zu viel. Was aufgeteilt werden kann, sind vor allem große Schulden.«
»Das glaub ich dir nicht. Schließlich hat Urban doch so viel in dieses Gut investiert.« Wie immer distanzierte Nikolaus sich von seinem bürgerlichen Schwager, indem er ihn nur beim Nachnamen nannte.
»Ohne seine Hilfe hätten wir das Gut ganz verloren! In einem Stück!«
»Wie konnte Julius denn dann überhaupt Teile kaufen? Ich dachte, eben das geht wegen des Fideikommisses nicht«, fragte Alexander interessiert nach.
»Tatsächlich ist es so. Noch habe ich nur das Geld von ihm geliehen bekommen. Aber Julius’ Anwälte haben davor einen ziemlich komplizierten Vertrag aufgesetzt, der die automatische Überführung des gekauften Landes in Julius’ Besitz regelt, sobald das Fideikommiss aufgelöst wird. Da gibt es kein Schlupfloch … In der Minute, in der diese alte Regelung aufgelöst wird, gehört ein gutes Drittel von Greifenaus Landbesitz ihm. Ihm und Katharina.«
Nikolaus schnalzte unzufrieden mit der Zunge. »Wie konntest du es nur so weit kommen lassen?«
»Wenn du dich erinnern magst, habe ich das Gut von Papa hoch verschuldet übernommen. Den Verkauf des Gutes konnte ich mithilfe von Julius’ Geld abwenden. Aber das bedeutet auch: Ich schulde ihm sündhaft viel Geld.«
Seine beiden Brüder schauten ihn an. Das verräterische Wörtchen war ich gewesen. Natürlich würde Konstantin darauf bestehen, dass Gut Greifenau weiter ihm alleine gehörte.
»Du willst es also nicht aufteilen?«, fragte Nikolaus harsch.
»Nach gültigem Recht zum Zeitpunkt von Papas Tod habe ich es allein geerbt, oder etwa nicht?«
»Das ist niederträchtig.«
Die beiden Brüder duellierten sich mit Blicken.
»Ich dachte, du hängst so an den alten Gesetzen, Brüderchen«, warf Alexander Nikolaus spöttisch vor die Füße.
»Nenn mich nicht Brüderchen, Kleiner! Was hat er dir dafür versprochen, dass du dich auf seine Seite schlägst?« Nikolaus schnaubte laut.
»Noch nichts. Aber vielleicht kommt da ja noch was?« Alexander grinste seine Brüder an. Konstantin wusste, dass Alex es ernst meinte. Er meinte es immer ernst, wenn irgendwo etwas zu holen war.
Nikolaus wandte sich an Konstantin. »Dir ist klar, dass du dazu niemals meine Zustimmung bekommen wirst.«
»Die Änderung der Aufteilung des Vermögens muss mit einer Dreiviertelmehrheit angenommen werden. Wenn wir zu keiner Einigung gelangen, dann wird unser Familienfideikommiss im April 1921 zwangsaufgelöst. Ohne dass wir darauf Einfluss nehmen können, wie die Vermögensaufteilung aussehen wird.«
Nikolaus wirkte für einen Moment verunsichert. »Ich glaube dir nicht, dass es so schlecht um das Gut steht. Dieses Jahr war die Ernte doch gut.«
Konstantin seufzte. »Was wir angepflanzt haben, ist gut gewachsen. Aber ich mache mir große Sorgen. Wir hätten noch viel mehr Felder bestellen müssen. Aber es fehlte an allem – an Saatgut, an Dünger, an Leuten, die die Felder bestellen konnten.«
Im Grunde durfte Konstantin sich nicht beschweren. Anderen Gutsbesitzern ging es erheblich schlechter. Die Zahl der Güter, die zwangsverkauft wurden, schien von Monat zu Monat zu steigen. Diesem Schicksal war Greifenau gerade noch so entkommen. Julius und Katharina waren ihnen im letzten Moment beigesprungen. Konstantin wollte gar nicht daran denken, wo er ansonsten gerade wäre.
»Euch sollte klar sei, dass die Kriegsanleihen, in die Papa im Krieg das gesamte Barvermögen gesteckt hat, keinen Pfifferling mehr wert sind.«
Der Krieg war verloren. Der Traum davon, dass die Kriegsgegner mit ihren Reichtümern die Schulden des Kaisers und seiner Regierung bezahlen sollten, hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Jetzt mussten die Deutschen deren Schulden und Schäden bezahlen, mit ihrem eigenen Schweiß und Blut. Das ganze Reich litt Hunger.
»Und die Kredite, die Papa aufgenommen hatte, konnte ich in letzter Sekunde noch mit Julius’ Geld begleichen. Doch die Krise ist noch nicht ausgestanden. Was Greifenau jetzt noch das Genick brechen könnte, sind die neuen Steuergesetze.«
Jahrelang, ja, jahrzehntelang hatten alle Stände nach einer einheitlichen Steuererhebung im Reich gerufen. Das veraltete, dem Deutschen Zollverein entsprungene Gebilde von Ländern, Grafschaften und Herzogtümern, die allesamt ihre eigenen Steuern erhoben, war mit Kaiser Wilhelm weggebrochen. Die herrschenden Häuser, die in ihren jeweiligen Ländern Steuern erhoben hatten, waren im Zuge der Novemberrevolution in einem kurzen, aber heftigen Feuersturm hinweggefegt worden. Das Kaiserhaus, Könige und Herzöge waren enteignet. Immer noch war nichts geregelt. War es legal gewesen, sie zu enteignen? Würden sie eine Entschädigung bekommen?
Sollte nicht der gesamte Adelsstand enteignet werden, so wie Russland es ihnen vorgemacht hatte? Adelige wie die von Auwitz-Aarhayn sollten am nächsten Baum aufgeknüpft oder wenigstens aus ihrem herrschaftlichen Haus verjagt werden. Die Stimmen, die das forderten, verstummten allerdings in den letzten Monaten. Die SPD-Regierung tat ihr Möglichstes, um die bolschewistischen Kräfte zum Schweigen zu bringen. Und wenn das bedeutete, auf demonstrierende Arbeiter und Soldaten zu schießen, dann taten sie das eben.
Derweil saß der neu ernannte Finanzminister Erzberger daran, die Steuergesetzgebung komplett zu reformieren. Aber was dieser Reichsminister da vorstellte, lief darauf hinaus, dass alle mehr Steuern zahlen sollten, deutlich mehr Steuern! Und die adeligen Großgrundbesitzer waren davon nicht ausgenommen. Ganz im Gegenteil.
»Ein Hundsfott ist er, dieser Erzberger!«, spie Nikolaus aus.
Konstantin stimmte ihm stumm zu. Seit Juli schon wurden die neuen Steuerpläne besprochen. Was da auf ihn zurollte, machte ihm richtiggehend Angst.
Alexander nickte zu seinen Worten, doch Nikolaus starrte wütend vor sich hin.
Konstantin musste ihnen erklären, wie ernst die Lage wirklich war. Es ging um viel mehr als nur um Geld. »Die Staatsmacht beutelt die Großgrundbesitzer nicht ohne Grund. Gerade erst hab ich die Kriegsabgaben auf Einkommen und Vermögen gezahlt. Natürlich wieder mit geliehenem Geld. Und ich habe nichts, was ich investieren kann. Ich müsste dringend den Viehbestand erhöhen. Ich müsste dringend in neue Maschinen investieren. Dabei habe ich nicht mal Geld genug für ausreichend Saatgut. Wir sparen hier an allen Ecken und Enden, und es reicht trotzdem nicht.«
»Was soll das bedeuten? Willst du damit sagen, Greifenau ist insolvent?«, herrschte Nikolaus ihn an.
»Es wäre es, wenn wir Julius nicht hätten.«
»Pfft, das kann ich nicht glauben!«
»Was glaubst du denn? Nach Kriegsende haben sich die Probleme nicht in Luft aufgelöst.«
»Die Bevölkerung braucht Nahrung. Woher sollte sie kommen, wenn nicht von den alten Familiengütern? Sie werden sich mit diesen Gesetzen ins eigene Fleisch schneiden. Sie werden niemals damit durchkommen!«
»Kapierst du nicht, was hier passiert?« Jetzt wurde auch Konstantin laut. »Es ist doch ganz einfach. Die Regierung hat mit ihrem neuen Siedlungsgesetz alles, was sie braucht. Das Land der zwangsverkauften adeligen Güter werden sie an kleinere Pächter verteilen. Das neue Siedlungsgesetz wird dafür sorgen, dass die Ländereien weiter bestellt werden. Nur eben nicht mehr von uns.«
Nikolaus starrte ihn stumm an. Er hatte dem nichts entgegenzusetzen. Konnte es sein, dass sein Bruder wirklich so naiv war?
»Würden wir insolvent gehen, würde die Regierung das Land verkaufen. Ganz einfach. Und zwischen mir und der Tatsache, dass demnächst einfache Bauern unser Land besitzen könnten, stehen nur Julius’ Vermögen und mein unbedingter Wille, dieses Gut als Ganzes zu erhalten. Und eins verspreche ich dir: Ich kämpfe mit meinem letzten Tropfen Blut dafür, dass dieses Gut in einer Hand bleibt.«
Nikolaus stand so schnell auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. »Und ich verspreche dir auch etwas: Ich werde meine Zustimmung nie dafür geben. Ich will meinen Anteil. Sonst werden wir eben zwangsaufgelöst. In zwei Jahren kann noch verdammt viel passieren. Vielleicht kommt der Kaiser ja doch noch zurück und beendet diesen ganzen Spuk hier.« Wutentbrannt, aber auch frustriert drehte sich sein Bruder um und stürmte aus dem Speisesalon.
Konstantin wischte sich mit beiden Händen durchs Gesicht.
»Würdest du mir, falls es dem Gut irgendwann wieder gut geht, die Apanage auszahlen?« Alexander rutschte auf seinem Stuhl herum.
Konstantin starrte auf sein angebissenes Brötchen. »Wir müssten eine Regelung treffen … Ich … hatte mir schon überlegt, so bald es mir möglich ist, euch eure Apanage auszuzahlen, die ihr seit Papas Tod von mir hättet bekommen müssen.«
»Auf Lebenszeit?«
»Nein. Nur bis zur Auflösung des Familienfideikommisses. Danach werden Apanagen rechtlich alle Grundlagen entzogen.«
»Da hab ich ja verdammt noch mal ein ziemlich kurzes Streichholz gezogen.« Alexanders Worte klangen desillusioniert.
»Aber das hattest du doch schon immer.« Konstantin schaute seinen jüngsten Brüder mitleidig an.
»Stimmt.«
»Alex … ich kann dir versprechen, dass ich dir in Notzeiten immer nach meinen Möglichkeiten beistehen werde.«
»Klingt verlockend.« Sein jüngster Bruder klang sarkastisch.
»Alex … ich … Mir sind doch auch die Hände gebunden.«
»Nikolaus wird nicht nachgeben. Das weißt du, oder?«
»Wir können diesen Weg natürlich gehen. Warten wir einfach ab. Aber dir ist hoffentlich auch bewusst, wo das enden wird?«
Alexander zuckte mit den Schultern.
»Wenn er mir seine Zustimmung verweigert – und ich brauche eine Dreiviertelmehrheit, die ich jetzt nicht einmal mit deiner Stimme hätte –, wird das Gut in zwei Jahren zwangsaufgelöst. Vermutlich zu einem denkbar niedrigen Preis. Von diesem Erlös werden die Schulden abgerechnet. Was übrig bleibt … wenn etwas übrig bleibt … davon erbt jeder einen Anteil – einen denkbar kleinen Teil des Geldes, oder vielleicht auch die Schulden.«
Alexander wurde ganz bleich. »Ich hätte nicht gedacht, dass das Gut dermaßen belastet ist.«
»Und ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals das Gut führen würde mit einem derartigen Schuldenberg. Aber in diesen Zeiten scheint nichts mehr so zu sein, wie wir es uns mal gedacht haben. Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, ob das Gut überhaupt weiterhin jemandem gehören wird, der den Namen Auwitz-Aarhayn trägt.«
Konstantin saß allein im Arbeitszimmer und trank den kalten Kaffee. Missgestimmt legte er das Rechnungsbuch beiseite. Die große Kladde war alt und abgegriffen. Die ersten Einträge darin waren noch von seinem Großvater.
Graf Donatus von Auwitz-Aarhayn – was er wohl zu seinem Enkel sagen würde? Ob er zufrieden wäre, wie er Gut Greifenau führte? Sicher nicht. Obwohl, zu seinen Zeiten musste es auch schwierige Jahre gegeben haben. Es waren eben andere Zeiten gewesen, ganz andere Zeiten.
Er griff nach einer anderen Kladde, der mit den Ausgaben des Herrenhauses. Als er die Listen durchging, zeigten sich auf seiner Stirn wiederum Sorgenfalten. Die Dienerschaft, die ihnen geblieben war, war fleißig und stand treu zu ihrem Haus. Trotzdem … Gehälter, Wein, Essen – was das alles kostete! Nichts im Vergleich zu dem, was Papa oder Großvater für den Haushalt ausgegeben hatten. Damals hatte es mehr als doppelt so viele Bedienstete gegeben. Sie hatten fünfmal so viel für Essen ausgegeben, mit täglichen Viergängemenüs und all den anderen Feierlichkeiten. Die Ausgaben für Wein und diverse Luxusartikel waren gigantisch gewesen.
Einzig positiv war, dass er nach Papas Tod der Erbschaftssteuer entgangen war. Bisher waren Ehegatten und Kinder von der Steuer ausgenommen, bald nicht mehr. Erzberger hatte auch dieses Gesetz geändert.
Die Zeiten wandelten sich, schnell und drastisch. Konstantin war offiziell kein Graf mehr. Was hier in Hinterpommern nicht viel bedeutete. Er war immer noch der Patron, dem das Land gehörte, auf dem die Pächter arbeiteten. Fast alle nannten ihn noch Herr Graf. Nur das höfliche Erlaucht oder Euer Wohlgeboren fehlte immer öfter in der Anrede. Doch es wäre ihm egal gewesen, wenn nur der Titel und der Stand weggefallen wären. Allerdings fürchtete er, bald ein ehemaliger Graf ohne ein Landgut zu sein.
Die Tür ging auf, und Rebecca trat herein.
»Ich nehme an, es ist genau so gelaufen, wie du befürchtet hast?«
»Schlimmer … Nein, eigentlich genau so. Nikolaus sperrt sich.«
»Und jetzt?«
Konstantin zuckte mit den Schultern. »Nichts. Wir stehen genau dort, wo wir gestern auch schon gestanden haben. Ich habe nicht damit gerechnet, ihn beim ersten Mal davon überzeugen zu können, dass mein Vorschlag für alle die beste Lösung ist. Er hat ihn sich nicht mal angehört.«
»Und Alex?«
»Glücklich ist er nicht. Aber er wird sich arrangieren.«
»Du hast ja noch fast zwei Jahre Zeit, um alles zu regeln.«
»Hm«, grummelte er griesgrämig. »Je länger es sich zieht, desto schlimmer wird es. Und soll ich wirklich meinen letzten Tropfen Blut dafür geben, damit am Ende meine Brüder vielleicht keine Schulden übernehmen müssen? Wenn ich hundert Prozent für Greifenau gebe, will ich auch wissen, dass Greifenau zu hundert Prozent mir gehört.«
Sie seufzte laut. Rebecca wirkte in den letzten Tagen äußerst angespannt, wie immer, wenn Mama sich ankündigte. Ihre Wortgefechte folgten schon einer eigenen Tradition.
»Ich wollte dich etwas fragen …« Sie blickte ihn liebevoll an. »Was wäre eigentlich, wenn du einen männlichen Nachfolger hättest? Einen Sohn. Würde das etwas ändern?«
Konstantin stockte der Atem. »Soll das heißen … du bist schwanger?« Schnell sprang er auf.
»Ich bin … Ich hab es bisher noch nicht gesagt, weil ich nicht sicher war. Ich hatte zwischendurch Blutungen, aber jetzt …«
»Wirklich? Du bist schwanger?!«
Rebecca nickte lächelnd. Er kniete sich vor sie und legte seine Hand auf den Bauch.
Jetzt endlich lachte Rebecca erleichtert auf. »Etwas tiefer.«
»Aber ja, natürlich.« Seine Hand fühlte nichts, zumindest nichts durch den Rock. »Bist du dir sicher?«
»Ich dachte schon kurz nach unserer Reise nach Ahlbeck, dass ich schwanger sei. Aber dann kam eine kleine Blutung, nur ganz wenig, aber ich war verunsichert. Und vor drei Wochen noch mal. Nichts Schlimmes, aber genug, dass ich noch nicht vollkommen sicher sein konnte. Ich war gerade bei Doktor Reichenbach.« Sie strahlte ihn glücklich an. »Wir bekommen ein Kind.«
Er kam wieder hoch und nahm ihren Kopf in beide Hände. Zärtlich strich er ihr eine honigblonde Strähne aus der Stirn und küsste sie. »Du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt.«
»Reichenbach sagt, ich soll mich trotzdem schonen. Die Blutungen müssen nichts bedeuten, trotzdem sollten wir vorsichtig sein. Ich sei eine Gebärende in fortgeschrittenem Alter, hat er gesagt.«
»Immerhin bist du schon achtundzwanzig Jahre alt. Wenn es kommt, vermutlich neunundzwanzig.« Konstantin lächelte selig.
»Ich dachte nur, wegen des Erntedankfestes am Samstag …«
»Oh, ja … tatsächlich. Da werden wir uns etwas einfallen lassen müssen.«
»Ich will mich nicht einfach davonstehlen wie Feodora früher. Sitzen ist ja auch kein Problem. Ich will nur nicht lange stehen oder tanzen.«
»Du solltest dich auf jeden Fall schonen.«
»Es sind ja nur am Sonnabend ein paar Stunden, und am Sonntag zum Dankgottesdienst.«
»Oje, du tanzt auf keinen Fall mit Strelitz, dem Braumeister. Ein Körper wie ein Fass, Arme wie Keulen, und er tanzt wie ein Berserker«, warnte Konstantin.
Rebecca grinste verschwörerisch. »Dann werde ich mich vor ihm in Acht nehmen.«
Ein Kind, sein eigenes Kind! Ein Sohn vielleicht, oder eine Tochter. Egal. Er würde es lieben. Und Rebecca würde es auch lieben. Sie würde die Erziehung nicht einer herrischen Kinderfrau überlassen. Das hatten sie schon besprochen. Ihre Kinder würden glücklich und geliebt aufwachsen.
Und tatsächlich. Würden sie einen Sohn bekommen, würde das die Karten noch mal ganz neu mischen. »Wenn es ein Junge wird, dann hätten wir einen weiteren Anwärter. Und wenn Alex auf meiner Seite steht, haben wir die erforderliche Dreiviertelmehrheit, um das Familiengut nach meinen Vorschlägen aufzulösen.« Plötzlich erschienen ihm all die großen Probleme ein wenig kleiner zu sein.
»Konstantin, lass uns noch warten, bevor wir es der Familie sagen.«
Er blickte in ihr besorgtes Gesicht. »Natürlich. Das ist vermutlich das Beste.«
Eine heftige Böe blies ihnen ins Gesicht. Der Wind wusste nicht, was er wollte. Mal kam er vom Meer, brachte Salz und frische Gedanken, mal drückte er von Land gegen ihre Rücken, als hätte er etwas dagegen, dass sie widerstanden. Große Wolkengebirge jagten über den Himmel, aber vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch, die ihnen das Gesicht wärmten, mit der letzten Kraft des Herbstes.
Albert hielt Ida umschlungen. Er war so groß, dass er sein Kinn auf ihren Scheitel legen konnte. Ihr Rücken presste sich an seinen Bauch. Ihre Finger fanden sich und schlangen sich ineinander. Endlich verbunden. Sie hatten sich gefunden, unter denkbar schlechtesten Voraussetzungen. Albert hatte um seine Liebe gekämpft, als er überrascht erkannt hatte, dass er lieben konnte. Wie ein kleines Wunder, so kam es ihm immer noch vor.
In stillem Übereinkommen schauten sie auf die Wellen, die sich den Sand hinaufkämpften. Bald würde das Wasser ihre Schuhe erreichen. Sie waren am Meer, frei. Hier durften sie sein, wer sie wirklich waren. Albert und Ida, Mann und Frau. Keine Dienstmagd, kein Verwalter, kein Kutscher, keine Waisen mehr. Sie waren jetzt eine Familie. Sie waren nicht mehr alleine auf der Welt. Dieses Gefühl der Verbundenheit ging ebenso tief wie ihre Liebe.
Es war Zeit, aber Albert wollte dieses Gefühl, dass sein Leben endlich einen glücklichen Pfad eingeschlagen hatte, noch einen Moment länger genießen. Gerade hier in Kolberg.
Links von ihnen lag der lange Seesteg, auf dem wie vor zwanzig Jahren die Herrschaften spazieren gingen und ihren Wohlstand zur Schau trugen. Viele von ihnen logierten im weißen Strandschloss an der Seebrücke. Keine Könige oder Prinzessinnen wohnten darin – aber es war das größte Gebäude, das Albert als Kind gekannt hatte. Wer immer es sich leisten konnte, sich dort einzuquartieren, war in seinen Augen unermesslich reich.
Wie oft hatte er sich gewünscht, er könnte das Leben mit einem dieser Jungs tauschen, die in sauberen Matrosenanzügen mit guten Schuhen neben ihren Eltern gingen, oft ein Eis in der Hand. Nicht wegen des Eises, nicht wegen des sauberen Matrosenanzugs oder ihren weichen Betten im Strandschloss, sondern einfach, weil er dann zu jemandem gehören würde. Weil jemand sich Sorgen machte, wenn er zu nahe ans Wasser gegangen wäre. Weil jemand nach ihm rufen würde, wenn er aus dem Blick verschwand. Weil jemand ihm liebend über die Haare gestrichen hätte. All das hatte er jetzt. Es kam ihm noch immer wie ein Wunder vor.
Als das Wasser Idas Fußspitzen erreichte, bewegte sie sich. Sie nahm Alberts Hand, und gemeinsam stapften sie durch den feinen Sand. Gegenwind blies ihnen die Haare aus dem Gesicht. Der letzte Morgen ihrer Hochzeitsreise. Sie würden nun ihre Koffer aus der Pension holen und zum Bahnhof gehen. Die Zugfahrt nach Hause war lang. Albert warf noch einen letzten Blick zurück. Das Damenbad, der Seesteg, das Herrenbad, und etwas entfernt lag das Familienbad. Als Kind hatte er solche Vergnügungen nur vom Zuschauen gekannt.
Hand in Hand liefen sie durch Kolberg, zurück zu der kleinen Pension, in der sie sich eingemietet hatten. Sie war urig und hatte nur drei Zimmer. Lachend hatte Ida sich am ersten Morgen beschwert, dass die Brötchen nicht selbst gebacken waren, wie bei Tante Irmgard und Therese. Doch sie hatte es nicht ernst gemeint. Für sie war es erst das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie in einer Pension übernachtete. Und das erste Mal zählte nicht als Urlaub. Da hatte sie ihren todkranken Mann gepflegt, der an der Spanischen Grippe gestorben war.
Ida liebte die kleine Pension. Sie hätte jede Pension geliebt, in der sie nicht selber schrubben und putzen und aufräumen musste. Etwas, was ihr Leben bisher tagtäglich bestimmt hatte. Nicht, dass sie nicht immer noch hart arbeiten musste. Es war aber dennoch anders.
Ursprünglich hatte Ida nicht in der zweiten Klasse reisen wollen. Sie sollten das Geld besser sparen, hatte sie vorgeschlagen. Doch Albert hatte darauf bestanden. Sie würden nur einmal eine Hochzeitsreise machen. Ihre Reise, auch wenn sie nur wenige Tage dauerte, sollte unvergesslich werden.
Für die Hinfahrt hatte Bertha ihnen Brote geschmiert. Jetzt mussten sie sich am Bahnsteig etwas für unterwegs kaufen. Sie nahmen in einem leeren Abteil Platz. Albert verstaute das Gepäck über ihnen. Keine zehn Minuten später hörten sie, wie zur Abfahrt gepfiffen wurde. Mit einem kleinen Ruckeln setzte sich der Zug in Bewegung. Ida trank einen Schluck Milch aus einer Flasche und reichte sie ihm weiter. »Und, wie hat sich das für dich angefühlt? In der Stadt deiner Kindheit zu sein, aber heute als gestandener Mann mit einem unerwartet hohen Einkommen?«
»Unerwartet hohes Einkommen? Nun übertreib mal nicht.« Albert lachte trocken auf. »Aber ich weiß, was du meinst. So lange Jahre liegen zwischen mir und dem Waisenhaus. So viel ist in der Zwischenzeit passiert. Tatsächlich habe ich mir einen erstaunlich hohen Stand erarbeiten können. Trotzdem, ich kann es immer noch in mir spüren. Die Schläge, die Demütigungen, den Hunger.«
Ida griff nach seiner Hand. Auch etwas, was sie verband – ihre Erfahrungen im Waisenhaus. »Im Gegensatz zu früher fühle ich mich heute reich beschenkt – mit Liebe, einer Familie, Geschwistern. Einem Heim!«
Albert nickte. Ja, im Gegensatz zu seiner entbehrungsreichen Vergangenheit waren ihm in den letzten Jahren einige glückliche Überraschungen zuteilgeworden. Er hatte seinen Vater gefunden und sich ihm sogar offenbart, in der Sekunde seines Todes. Sein Vater war glücklich gewesen, dass er ihn noch hatte kennenlernen dürfen. Und auch seine Mutter hatte Albert in der Nähe von Greifenau gefunden. Ihre Geschichte war nicht weniger tragisch als seine eigene. Es gab nichts zu verzeihen. Der Weg, den er zu ihr zurückgelegt hatte, war steinig und lang, aber er lag hinter ihm. Heute hatte er endlich eine Mutter.
Versonnen blickte Albert aus dem Fenster. Die Bahn ratterte über eine Brücke. Unter ihnen floss die Persante auf ihren letzten Metern geradewegs in die Ostsee. Die Preußische Staatsbahn würde sie nach Belgard bringen. Dort hatte Ida ihre Kindheit verbracht. Und von dort ging es weiter nach Stargard und weiter nach Hause. Sie entfernten sich von Kolberg. Das Land war heute ein anderes, die Stadt war eine andere, und auch er hatte sich verändert.
»Und … wirst du es dem Grafen sagen?« Ida strich sich eine Strähne ihres kupferroten Haares aus dem Gesicht.
Albert blickte zu Ida. »Was?«
»Dass ihr einen gemeinsamen Vater habt, was sonst?«
Verwirrung stand in Alberts Gesicht. »Natürlich nicht.«
»Natürlich nicht? … Wieso nicht? Es ist schließlich die Wahrheit. Und deine Mutter könnte es noch bezeugen. Wittekind ebenfalls.«
»Wittekind?« Er verzog widerwillig das Gesicht.
Um den Pastor war es merkwürdig still geworden, seitdem eine schwangere Frau ihn beschuldigt hatte, Vater ihres Kindes zu sein. Natürlich vermutete Wittekind, dass Albert dahintersteckte. In der Kirche schaute er nicht in seine Richtung. Wenn er ihn auf der Straße sah, ging er ihm aus dem Weg. War es ein Waffenstillstand, oder hatte Wittekind akzeptiert, dass Albert die letzte Schlacht in ihrem wortlos geführten Krieg gewonnen hatte? Der Pastor hatte wohl mächtig Ärger von seinem Vorgesetzten bekommen, so munkelte man in Greifenau. Trotzdem, Alberts Hoffnung, dass Wittekind versetzt werden würde, hatte sich nicht erfüllt. Wie alt mochte er nun sein? Bestimmt schon Mitte siebzig. Trotzdem hätte Albert es lieber gesehen, wenn er endlich endgültig aus seinem Leben verschwinden würde. Mit Mitte siebzig war es doch längst überfällig, dass er sein Amt abgab. Albert schüttelte seinen Kopf.
»Nein, ich werde es Graf Konstantin nicht sagen. Ich kenne keinen Grund, der dafür spricht.«
»Du hättest endlich Geschwister.«
»Die hab ich jetzt auch.«
»Nur weiß niemand von ihnen, dass sie noch einen Halbbruder haben.«
»Und das ist auch gut so«, entgegnete Albert vehement.
»Graf Konstantin hält viel von dir.«
Das stimmte. Albert war Graf Konstantins rechte Hand. Auch die meisten Pächter akzeptierten seine neue Rolle. An seinen freien Tagen verschlang er Bücher über Landwirtschaft, die ihm der Graf geliehen hatte. Er wusste jetzt schon fast so gut Bescheid wie sein studierter Arbeitgeber. Trotzdem, niemand war unersetzlich.
»Was, glaubst du, würde Gräfin von Sawatzki davon halten? Oder Nikolaus und Alexander, die beiden Tunichtgute?«
»Aber du verstehst dich doch wirklich gut mit dem Patron, und auch mit seiner Schwester, mit …«
»Katharina Urban heißt sie jetzt.«
»Ja, mit der. Sie haben keine Standesdünkel, sonst hätten sie ja wohl kaum beide Bürgerliche geheiratet.«
Albert schnaubte laut. »Ida, du machst es dir zu einfach. Was glaubst du, was Konstantin Graf von Auwitz-Aarhayn denken würde über einen, der ihn als Erstgeborenen vom Thron schubst?«
»Du hast gesagt, du würdest sowieso nichts erben.«
»Das ist die gesetzliche Regelung. Aber für ihn bedeutet es doch weit mehr. Er ist aufgewachsen in dem Wissen, der Erstgeborene zu sein. Mit all den dazugehörigen Privilegien. Wenn ihm dann bewusst wird, dass der eigene Vater ihn angelogen hat, ein Leben lang! Und jetzt hat Graf Konstantin keine Chance mehr, das mit ihm selbst zu klären.« Albert schüttelte den Kopf.
»Aber Graf Adolphis wusste doch selbst nichts von dir. Er hat also nicht mal gelogen.«
Entschieden schüttelte Albert den Kopf. »Nein, glaub mir. Es ist besser so, wie es ist. Was würde diese Information in ihm auslösen? Plötzlich wäre er nicht mehr der Erstgeborene. Selbst wenn es sonst keinerlei Konsequenzen hätte.«
»Dann lässt du ihn weiter mit einer Lüge leben, damit es ihm besser geht?«, fragte Ida erstaunlich bitter. »Dabei wurde dir so viel mehr zugemutet.« Ihr Blick schweifte über die pommersche Landschaft, die sich allmählich vor ihnen ausbreitete.
»Was versprichst du dir denn davon?«, fragte er versöhnlich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Anerkennung. Schließlich bist du der Sohn des Grafen von Auwitz-Aarhayn.«
Albert atmete tief durch, bevor diese Worte über seine Lippen kamen. »Die Leute würden mich Bastard nennen. Das hatte ich lange genug. Das brauche ich nicht noch einmal.«
»Aber du bist der Erstgeborene!« Sie reckte sich kämpferisch.
»Ida, ich bitte dich: Mach keinen Fehler. Uns geht es zum ersten Mal im Leben richtig gut. Wir haben viel zu verlieren. Setz das nicht aufs Spiel! Mein Vater hätte vielleicht einen Grund gehabt, mich in seiner Nähe zu behalten. Für meine Halbbrüder bin ich im besten Fall eine Schande!«
»Viel zu verlieren?« Es klang ungläubig.
»Natürlich! Du doch genauso wie ich. Sollen wir unsere Stellungen für die Wahrheit aufgeben? Was ist, wenn wir gekündigt würden? Glaubst du, solche Stellungen finden sich so schnell wieder – in der Nähe meiner Mutter und meiner Tante? Willst du wirklich riskieren, von Wiebke und Paul wegziehen zu müssen? Das würde deiner Schwester das Herz brechen. Schlimmer noch: Was, wenn die beiden auch ihre Stellung verlieren würden?«
Er schaute sie an. Ida presste die Lippen aufeinander. Sie schien nicht einverstanden mit seiner Schlussfolgerung, akzeptierte aber die Argumente.
»Sag was.«
Ida seufzte und lächelte dann versöhnlich. Aber in ihren grünen Augen stand etwas anderes. »Ich denke jedes Mal daran, wenn ich Pastor Wittekind sehe.«
»Wittekind«, stieß Albert den Namen verächtlich aus. »Der ist ja jetzt klein mit Hut. Er kann mir nicht mal mehr in die Augen sehen, wenn ich ihm begegne. Natürlich hasst er mich jetzt umso mehr, aber er hat schmerzhaft gelernt, dass er mich unterschätzt hat. In jeder Hinsicht.«
»Und wenn er es ausplaudert?«
»Warum sollte er? Dann würde sein eigenes schändliches Verhalten auffliegen. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Hm …«
Albert sah seine Frau an. Führte Ida etwas im Schilde? Würde sie Stillschweigen bewahren? Irgendwie schien sie nicht überzeugt davon, dass es das Beste war, über seine Herkunft zu schweigen. Eine leichte Unruhe befiel ihn. »Versprich mir, dass du nichts ausplauderst. Nicht an deine Geschwister und an sonst niemanden.«
Sie lehnte sich zu ihm hinüber und legte die Hände an sein Gesicht. »Ich verspreche es. Aber du musst mir auch etwas versprechen.«
»Was?«
»Wenn die Zeit reif ist, wirst du es sagen. Und irgendwann, das fühle ich, irgendwann wird die Zeit reif sein.«
»Gut. Ich verspreche es: Wenn die Zeit reif ist. Aber den Zeitpunkt bestimme ich. Niemand sonst.«
Es klopfte dezent an der Tür ihrer Hotelsuite. Katharina schaute überrascht zu Julius. »Haben wir etwas bestellt? Wollten wir nicht in den Rose Room zur Tea Time?«
Julius nickte und ging zur Tür. Ein Page stand davor, ein silbernes Tablett vor sich. »Ein Telegramm für Sie, Sir.«
»Oh, danke.« Julius gab etwas Trinkgeld und schloss die Tür.
»Von wem ist es?«
»Von meinen Eltern.« Er faltete das Blatt auseinander. Er las, dann runzelte er die Stirn.
Katharina schaute ihn neugierig an. Das Telegramm schien ungewöhnlich lang zu sein. »Ist was mit deinen Eltern? Geht es ihnen gut?«
»Ja, ja …«, antwortete Julius abwesend. Er war vertieft in die Zeilen.
»Was ist es dann?«
»Nur etwas Geschäftliches«, sagte er ausweichend.
»Was denn?«
»Ich soll etwas für Papa erledigen.« Bei den Nachrichten seines Vaters war er immer etwas geheimniskrämerisch. Katharina fragte sich, welche Art Geschäfte er wohl vor ihr verbarg.
»Schon wieder?«
Alle paar Wochen hatten sie Julius’ Eltern telegrafiert, um sie auf dem Laufenden zu halten. Ansonsten schrieben sie Postkarten, gelegentlich Briefe. Eleonora, Katharinas Schwiegermutter, musste schon über ein Dutzend Postkarten bekommen haben. Aus jeder größeren Stadt eine. Buenos Aires, dorthin hatte sie ihre Hochzeitsreise zuerst geführt. Nein, die erste Karte war wohl die aus Cadiz. Von Spanien aus waren sie auf die Kanaren gefahren. Erst dann hatten sie den Atlantik überquert in Richtung Argentinien.
Julius hatte ihr Buenos Aires gezeigt, die Stadt, in der er sich mehrere Jahre aufgehalten hatte, als in Europa der Krieg tobte. Nach einigen Wochen waren sie dort wieder an Bord gegangen. Das Schiff war wesentlich kleiner gewesen als das, mit dem sie den Atlantik überquert hatten, aber nicht weniger luxuriös. Nach Besichtigungen in Montevideo und Rio de Janeiro folgte eine elendig lange Seereise die Ostküste Südamerikas hoch bis in die Karibik. Mit kleinen Zwischenstopps auf Barbados, Martinique und in Havanna. Schließlich gingen sie in Miami an Land und reisten mit dem Zug weiter.
New Orleans war einfach überwältigend chaotisch, lebendig und farbenfroh. Es kam ihr beinahe so vor, als wäre sie in einem Märchenland gelandet. Länger als ursprünglich geplant blieben sie hier, bis sie sich schließlich den Mississippi hinaufwagten. Atlanta und Nashville folgten. In Washington gab es so viel zu sehen. Julius traf dort jemanden, der in der Export-Import-Firma seines Vater gearbeitet hatte, bevor man im Krieg alle Besitztümer der Deutschen beschlagnahmt hatte. Danach war es weitergegangen nach Baltimore und Philadelphia. Aber keine Stadt pulsierte in ihrem eigenen aufregenden Takt so wie New York.
Katharina konnte von der Stadt gar nicht genug bekommen. Je länger sie hierblieb, desto mehr verschwand die junge Komtess aus Hinterpommern, und eine weltgewandte, moderne junge Frau kam zum Vorschein. Sie residierten im Waldorf Astoria. Katharina liebte es, die Peacock Alley zwischen den beiden großen Grandhotels entlangzuflanieren. Pfauenallee nannten sie die New Yorker, weil dort die Reichen ihre Pracht zur Schau stellten. Die beiden Hotels hatten sich zu einem zusammengeschlossen, und dies war nun das größte und ganz sicher auch das nobelste Hotel der Welt. Man musste zum Einkaufen nicht einmal das Gebäude verlassen.
Mit Schrecken dachte Katharina daran, wie es würde, wenn sie ihr auf das Dreifache angewachsene Gepäck nach Hause einschiffen mussten.
Zweimal hatte sie Konstantin und Rebecca geschrieben. Aber die hatten wohl zu viel zu tun, um zurückzuschreiben. Ein kurzer Brief von Alexander hatte sie erreicht. Er ließ die besten Grüße von Mama und Anastasia ausrichten, was vermutlich gelogen war. Aber eine halbe Erdkugel von Ostpreußen entfernt war ihr das egal. Ihrer Schwester würden sicher vor Neid die Ohren glühen. Anastasia saß nun mit Mama auf einem abgelegenen Gut in der Nähe des Frischen Haffs, während ihre impulsive, unerzogene kleine Schwester die Welt bereisen durfte auf die denkbar luxuriöseste Weise. Diese Vorstellung gefiel ihr.
Was ihr nicht gefiel, oder zumindest merkwürdig vorkam, waren die Telegramme von Cornelius, Julius’ Vater. Seit sie amerikanischen Boden betreten hatten, kamen alle paar Tage Telegramme mit irgendwelchen Aufträgen, die Julius für seinen Vater erledigen sollte. Katharina wünschte sich, er würde nicht immer so ein Geheimnis aus seinen Erledigungen machen.
»Ja, etwas Geschäftliches. Ich muss kurz weg.« Julius starrte reglos auf das Blatt. Plötzlich zog er seine Taschenuhr aus der Westenjacke, schaute kurz darauf und sagte: »Pass auf. Geh du doch schon mal in den Rose Room. Ich werde mich dir später anschließen.«
Später, das kannte sie schon. Manchmal war er zwei oder mehr Stunden weg.
»Ich könnte mitkommen.« Es fiel ihnen noch immer schwer, voneinander getrennt zu sein. Sie waren kurz nach ihrer Vermählung aufgebrochen und seitdem praktisch kaum eine Minute ohne den anderen. Doch seit sie in den USA angekommen waren, hatte sich das geändert. Zu ihrer beider Leidwesen.
»Ach was. Das ist nur langweiliger Geschäftskram.«
»Dann kann ich dich doch dabei unterhalten.«
Er steckte das Telegramm in seine Hosentasche und kam zu ihr herüber. »Mein teuerster Schatz. Ganz sicher werde ich dich nicht mit den Geschäften meines Vaters behelligen. Es reicht, wenn ich mich langweile.«
»Und wenn du wieder so lange brauchst?« Sie stand auf und strich sich ihr wadenlanges Nachmittagskleid aus besticktem Satin, das so gut zu ihren grünen Augen passte, glatt.
»Dann kaufst du dir was Schönes.« Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich.
»Aber heute Abend gehen wir zum Broadway, versprochen?«
»Ganz sicher. Ich habe nicht vor, mir meine Hochzeitsreise von Arbeit verderben zu lassen.« Er besiegelte sein Versprechen mit einem weiteren Kuss. Dann ging er zurück ins Schlafzimmer und fing an, sich umzuziehen.