© 2021 Das Biografie-Institut
Fotos: S. →, → Manuela Baltz, alle anderen Maria Schmitz
Redaktion. Lektorat und Satz:
Das Biografie-Institut
Maria Schmitz, Dienheim
www.biografie-institut.de
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7557-6352-9
„Das Leben schreibt die besten Geschichten.“ Unter diesem Motto begann im Frühjahr 2015 an der Volkshochschule in Alsheim ein biografischer Erzähl- und Schreibkurs. Im Zentrum standen dabei elementare Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Warum sind wir, wie wir sind? Was hat uns geprägt? Dazu gehören die Umgebung, das Dorf, in dem wir aufgewachsen sind, sowie Menschen, die für uns wichtig waren.
Entstanden ist inzwischen eine Vielzahl lebendiger Geschichten aus Rheinhessen. Sie berichten von der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihren Herausforderungen, von alter und neuer Heimat und vom Zusammenleben in der Großfamilie und auf dem Dorf. Es sind lebendige Kindheitserinnerungen und heitere Anekdoten, aber auch Nachdenkliches und Ernstes. Vor allem sind es wahre Geschichten aus dem Alltagsleben in Rheinhessen, ein Stück Zeitgeschichte, das uns verdeutlicht, wie vieles sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat.
„Das müsstest Du eigentlich mal aufschreiben!“ Wie oft fällt dieser Satz, wenn Menschen aus ihrem Leben erzählen. Die vorliegenden Texte wollen Sie dazu ermutigen!
Maria Schmitz
Unter dem Begriff „Heimat“ versteht jeder etwas anderes. Heimat kann sowohl alt als auch neu sein. Manche lieben sie, andere denken nur ungern daran. Einige haben ihre Heimat verloren. Andere sind ein Leben lang auf der Suche nach ihr.
Die Teilnehmerinnen haben dazu ihre Gedanken und Ideen in eine uralte Gedichtform gefasst, das malaiische Pantum.
Ein Pantum kann aus beliebig vielen Strophen bestehen. Jede Strophe hat vier Zeilen. Das Interessante und gleichzeitig Herausfordernde an dieser Art, Gedichte zu schreiben, ist ein genau festgelegtes Muster, nach dem die Zeilen wiederholt werden. Jeweils die zweite und vierte Zeile einer Strophe werden als erste und dritte Zeile der nächsten Strophe wiederholt. Zusätzlich wird die dritte Zeile der ersten zur zweiten Zeile der letzten Strophe und der erste Vers des Gedichtes zum letzten, teilweise bleiben aber erste und dritte Zeile der ersten Strophe auch unvertauscht.
Heimat kann so vieles sein
Manchmal auch ein Ort aus Stein
Ist der Ruhepol in meiner Seele
Tief verankert in meinem Wesen.
Manchmal auch ein Ort aus Stein
Die Erinnerung an Sonnenschein
Tief verankert in meinem Wesen
Erdet mich auf meinen Wegen.
Die Erinnerung an Sonnenschein
Heimat kann auch Sprache sein
Erdet mich auf meinen Wegen
Auch aus der Ferne bringt sie Segen.
Heimat kann auch Sprache sein
Verständigung und Einigkeit
Auch aus der Ferne bringt sie Segen
Sie zu bewahren ist mein Streben.
Verständigung und Einigkeit
Lebensraum, Glückseligkeit
Sie zu bewahren ist mein Streben
Ist die Kindheit, ist das Leben.
Lebensraum, Glückseligkeit
Heimat kann so vieles sein
Ist die Kindheit, ist das Leben
Ist der Ruhepol in meiner Seele.
Anne Michel
Geboren bin ich in einem kleinen Dorf am Rhein
der Wonnegau mit seiner herrlichen Landschaft
Rheinhessen - jetzt gerade 200 Jahre alt
Weinberge, Felder und kleine Wäldchen
der Wonnegau mit seiner herrlichen Landschaft
mit Wasser, Bäumen und mildem Klima
Weinberge, Felder und kleine Wäldchen
artenreiche Vielfalt ringsum
mit Wasser, Bäumen und mildem Klima
hier gedeihen gute Weine
artenreiche Vielfalt ringsum
Obst und feines Gemüse wächst reichlich
hier gedeihen gute Weine
Weine, die man gerne gemeinsam trinkt
Obst und feines Gemüse wächst reichlich
für Essen und Trinken ist immer gesorgt
Weine die man gerne gemeinsam trinkt
dazu hört man Neues aus der Umgebung
für Essen und Trinken ist immer gesorgt
Gäste sind herzlich willkommen
dazu hört man Neues aus der Umgebung
Geboren bin ich in einem kleinen Dorf am Rhein
Gäste sind herzlich willkommen
Rheinhessen - jetzt gerade 200 Jahre alt.
Marlies Uhrig
Von der Kapelle hoch oben schweift mein Blick übers Land
Weit in der Ferne leuchtet des Flusses silbrig Band
Wilde Blumen und Gräser blühen am Wegesrand
Fruchtbar und schön ist mein von Gott gesegnetes Heimatland
Weinberge soweit das Auge reicht
In der Ferne verschwommen sich der Odenwald zeigt
Im Westen der Donnersberg, so nah und doch so weit
Die Dämmerung beginnt, ich bin zur Rückkehr bereit
Vögel ziehen noch Kreise hoch über dem Land
Eine Ricke mit Kitz steht äsend am Feldes Rand
Von der Kapelle hoch oben schweift mein Blick übers Land
Fruchtbar und schön ist mein von Gott gesegnetes Heimatland
Anne Michel
Der Melibokus, Blickachse im Osten
Spaziergänge auf vertrauten Wegen
Stille Wege - wahre Schätze
nach der Tageshetze man mit der Seele Zwiesprache führt
Spaziergänge auf vertrauten Wegen
leise säuselt der Wind
nach der Tageshetze man mit der Seele Zwiesprache führt
Sonnenstrahlen, Vogelgesang - ach wie hold
leise säuselt der Wind
seichte Wellen, kleine Muscheln
Sonnenaufgang am Ufer des Rheins
Stille Wege - wahre Schätze
seichte Wellen, kleine Muscheln
Fußspuren im Sand, kleine Kiesel
Sonnenaufgang am Ufer des Rheins
Der Habicht seine Kreise zieht.
Fußspuren im Sand, kleine Kiesel
Espen rauschen,
der Habicht seine Kreise zieht
Kinderlachen aus der Ferne
Espen rauschen
Der Melibokus - Blickachse im Osten
Kinderlachen aus der Ferne
Stille Wege - wahre Schätze.
Marita Gordner
Pfeddersheim, der Ort, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbrachte, ist meine Herkunft und die meiner gesamten Familie.
Auf die Frage „Woher kommst du?“ antworte ich beharrlich: „Ich komme aus Pfeddersheim.“ Verwunderung, malt sich jedes Mal auf den Gesichtern der Fragenden ab. „Pfeddersheim, wo liegt das?“ „Im südlichen Wonnegau, nicht weit von Worms am Rhein entfernt,“ kläre ich die Ahnungslosen auf. Und stelle gleich die Gegenfrage: „Du kennst die ehemalige freie Reichstadt mit ihrer wechselvollen Geschichte nicht?“ „Worms kenne ich, aber von Pfeddersheim habe ich noch niemals gehört,“ bekomme ich dann meist etwas verschämt zur Antwort.
Wenn ich ehrlich bin, muss ich zuzugeben, dass es keine allzu große Bildungslücke ist, sich kein Wissen über „mein Pfeddersheim“ und seine leidvolle Geschichte angeeignet zu haben. Aber ich kenne und liebe die wechselvolle Vergangenheit meines Herkunftsortes.
Mir imponiert die abtrünnige Stadtbevölkerung, die sich den rebellierenden Bauern angeschlossen hatte, und unter der Flagge des Bundschuhs gegen die Obrigkeit und den Adel für Freiheit und Gleichberechtigung kämpfte. Bei genauerem Hinsehen findet man auch bei mir die latent vorhandene Bereitschaft zur Rebellion. An meinen Freundinnen und einigen Familienangehörigen entdecke ich diese Veranlagung ebenfalls. Vielleicht ist das Rebellische den meisten Pfeddersheimern gemein. Wer weiß?
Die Bauernschlacht von 1525 bei Pfeddersheim ist in allen Geschichtsbüchern vermerkt. Sie forderte unter den hoffnungslos unterlegenen Bauern und Bürgern einen unvorstellbaren Blutzoll. Der Sieg der Obrigkeiten beendete den Bauernaufstand und die kurzzeitige Hoffnung auf mehr Freiheiten und ein würdevolleres Leben.
Die abgeschlachteten Bauern wurden eilig in Massengräbern verscharrt. Eines davon fand man bei der Renovierung der katholischen Kirche. Für die Fundamente der neuen Sakristei zogen Bauarbeiter neben dem Gotteshaus tiefe Gräben. Das Entsetzen war groß, als sie bemerkten, dass sie zusammen mit Erde und Schutt zusätzlich menschliche Knochen zutage förderten. Niemand hatte sie auf diese Möglichkeit vorbereitet, da in keinem kirchlichen oder städtischen Register ein Hinweis auf ein Massengrab an dieser Stelle vorhanden war.
Meterhoch, über- und durcheinander lagen die Gebeine in der Erde. Anhand der Position der Knochen war erkennbar, dass die Leichen damals wahllos in hastig ausgehobene Löcher geworfen worden waren.
Ich erinnere mich, in meiner Kindheit vor der Wand mit den unzähligen Skeletten gestanden zu haben. Schaurig anzusehen, die bleichen Schädel mit den leeren Augenhöhlen und den manchmal noch vollständig erhaltenen Gebissen. Alle vorhandenen Knochen, die es im menschlichen Körper gibt, lagen offen und auf eine bizarre Art zur Schau gestellt, vor den erstaunten Bürgern.
Tief in mir regte sich Mitleid mit den längst Verblichenen. Wut und Aufsässigkeit breiteten sich in mir aus. Und das Unverständnis darüber, dass man dem damaligen dritten Stand jedwedes Recht und ein Minimum an Menschenwürde rigoros verweigerte.
Würde ich Ahnenforschung betreiben, käme womöglich heraus, dass es die Vorfahren meiner Familie waren, die für eine aussichtslose Sache kämpften und wegen ihrer Überzeugung starben.
Die Vorstellung, dass einer unserer Urahnen der damaligen Obrigkeit mit einem Dreschflegel aufs Haupt geschlagen hat, erfüllt mich mit Befriedigung. Überaus stolz auf den wackeren Kämpen wäre ich auf jeden Fall.
Mein Kopfkino startet wie von selbst. Der Film, der vor meinem inneren Auge abläuft, zeichnet einen Hergang der Schlacht, deren Verlauf und Ausgang im krassen Gegensatz zu den historischen Fakten stehen. Die Fiktion von einem heroischen Sieg der Aufständischen würde selbst heute noch, jedes Pfeddersheimer Herz erfreuen und mit Genugtuung erfüllen. Schade, dass diese Darstellung ausschließlich meiner blühenden Fantasie geschuldet ist!
Herkunft sind für mich die mittelalterlichen Gassen, gesäumt von windschiefen Häuschen, die sich dicht an dicht entlang der Stadtmauer drängen, die Simultankirche, geteilt durch den Kirchturm in die evangelische und die katholische Kirche, der wunderschöne Platz davor, auf dem ich so oft mit meinen Freundinnen spielte, mit seinem uralten Baumbestand, an dessen Ende das katholische Pfarrhaus steht. Auf den Treppen des imposanten Barockgebäudes standen schon unzählige Erstkommunionkinder, bereit in die Linse des Fotografen zu lächeln. Auch ich stand dort stolz mit einer Kerze in der Hand. So wie meine Mutter, meine Tanten und Cousinen und meine Brüder. Auch das ist Herkunft.
An der anderen Seite des Kirchenplatzes stand die „Alte Schule“. Dort wurden schon Pfeddersheimer Kinder unterrichtet in einer Zeit, als der Lehrer noch Schulmeister genannt wurde. Bilder von der Einschulung meiner Eltern gleichen dem Bild von meinem ersten Schultag. Gleichfalls stehen sie auf der Treppe des altehrwürdigen Schulhauses, das sich in keiner Weise verändert zu haben scheint.
Ein Ungetüm von einem Ofen stand in einer Mulde im Flur, schwarz, gewaltig und mit einem Gitter gesichert. Im Winter schaufelte ein Mitarbeiter der Gemeinde riesige Mengen von Koks in seinen gierigen Schlund. Warm wurde es trotzdem oftmals nicht. Ich erinnere mich an viele Tage, an denen wir in unseren Jacken mit eiskalten Händen in den Bänken saßen und gebannt auf die Schönheit der sich verändernden Eisblumen an den Fenstern starrten. Selbst diese Erinnerungen sind Herkunft!