Drei Generationen Frauen bewahren das prächtige Landgut Löwenhof.
Corina Bomanns drei große Spiegel-Bestseller in einem E-Bundle.
Agnetas Erbe: Ein schwedisches Landgut, eine mächtige Familie, eine Frau zwischen Liebe und Pflicht
Agneta kämpft mit den Tränen. Ein Telegramm ruft sie nach Hause, ihr Vater ist bei einem Brand ums Leben gekommen. Dabei hatte sie sich schweren Herzen von ihrer mächtigen Familie losgesagt und in Stockholm ein freies Leben als Malerin geführt. Eine Aussöhnung schien unmöglich. Jetzt werden ihr Titel, Glanz und Vermögen zu Füßen gelegt, sie soll das Erbe ihres Vaters antreten als Gutsherrin vom Löwenhof. Ihre Wünsche und Träume sind andere, ihr Herz sehnt sich nach Liebe …
Mathildas Geheimnis: Das Geheimnis der Gutsherrin. Die große Löwenhof-Saga von Corina Bomann geht weiter!
Südschweden, 1931. Mathilda ist 17 und nach dem Tod ihrer Mutter Waise. Völlig überrascht steht sie plötzlich der beeindruckenden Agneta Lejongård gegenüber. Die ihr unbekannte Gutsherrin ist ihr Vormund und nimmt sie mit auf den Löwenhof. Mathilda ahnt nicht, dass Agneta ihre Tante ist. Und noch bevor sie die Wahrheit über ihre Herkunft erfährt, bricht in Europa ein neuer Krieg aus. Das Leben auf dem Löwenhof verändert sich für immer, und Mathildas muss auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück ganz neue Wege gehen.
Solveigs Versprechen: Eine Frau greift nach den Sternen. Band 3 der großen Löwenhof-Saga von Corina Bomann!
Nach einem Unfall liegt Solveigs Welt in Scherben. Gerade noch glaubte die junge Braut, die Zukunft glänzend vor sich zu sehen. Traurig zieht sie zurück auf den Löwenhof zu ihrer Mutter und Großmutter. Dort wird sie gebraucht, die Zeit hat dem ehrwürdigen Gut zugesetzt. Solveig hat viele Ideen, doch welcher Weg ist der richtige? Ein Besucher aus Amerika und ein attraktiver Geschäftsmann aus Stockholm stoßen für Solveig die Tür auf in die weite Welt. Doch kann sie die Trauer um ihr verlorenes Glück wirklich schon loslassen? Solveig will noch einmal von vorne anfangen, für den Löwenhof und auch für eine neue große Liebe.
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Ullstein
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Sonderausgabe im Ullstein Taschenbuch
Januar 2022
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Agnetas Erbe:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: Bürosüd, München
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Mathildas Geheimnis:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: Bürosüd, München
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Solveigs Versprechen:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: Bürosüd, München
Titelabbildung: Arcangel Images/ © Malgorzata Maj (Frau); plainpicture / © Dave and Les Jacobs (Tür); www.buerosued.de (Landschaft/Fliesen)
Autorenfoto: © Nadja Klier
ISBN 978-3-8437-2755-6
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Buch 1
Etwas blendete mich. Als ich die Augen aufschlug, glaubte ich, in meinem alten Zimmer auf dem Löwenhof zu sein. Doch was ich im ersten Moment für eine Stuckverzierung hielt, entpuppte sich als langer Riss in der Decke, um den sich Wasserflecke gebildet hatten. Die dunkleren waren bereits da gewesen, als ich hier vor zwei Jahren eingezogen war, die hellen waren erst vor Kurzem dazugekommen. In der Wohnung über mir war ein Wassereimer umgefallen und hatte dem Kunstwerk eine weitere Facette hinzugefügt. Das Mauerwerk der Häuser in Stockholms Universitätsviertel war löchrig wie ein Schwamm und sog das Wasser genauso schnell auf, wie dieses dann unten wieder heraustropfte.
Dafür lebte man als Studentin hier billig. Meine Mutter würde es ärmlich und unter meinen Verhältnissen nennen, aber ich konnte hier sein, wer ich wirklich war. Ich konnte studieren, auch wenn es von den Mitgliedern der höheren Gesellschaft nicht gern gesehen wurde. Ich musste nicht auf Konventionen achten. Was machten da ein paar Flecke an der Zimmerdecke aus?
Kühle strich über mein Gesicht. Ich blickte in die Richtung des Luftstroms und bemerkte, dass das Zeitungspapier wieder einmal aus dem Loch im Glas gefallen war. Die unterste Scheibe des Sprossenfensters war schon lange kaputt. Zu verdanken hatte ich den Schaden einem Jungen, der beim wilden Spiel auf der Straße mein Fenster mit einem Stein erwischt hatte. Mein Vermieter sah nicht ein, dass er das Fenster reparieren lassen sollte. Und ich konnte es mir nicht leisten, denn dann hätte ich meinen Vater um mehr Geld bitten müssen. Seit dem letzten großen Streit an Weihnachten war ich nicht mehr auf dem Löwenhof gewesen, und ich hatte auch keinen Kontakt gesucht.
Ich wusste, dass meine Eltern die Art, wie ich lebte, missbilligten. Als ich vor zwei Jahren das Gericht aufsuchte, um meine Mündigkeit erklären zu lassen, hatten sie beide lange Gesichter gezogen, denn sie hatten gehofft, dass ich noch vor meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr heiraten würde. Dem war nicht so, und indem ich mein Leben selbst in die Hand nahm, zeigte ich ihnen deutlich, dass mein Weg nicht der sein würde, den sie für mich vorgesehen hatten.
Doch ohnehin würde nicht ich eines Tages das Gut erben, sondern mein Bruder. Hendrik war ein Musterkind, der beste Sohn, den sich ein Mann wie Graf Thure Lejongård vorstellen konnte. Vater wurde nicht müde, mir das vorzuhalten. Ich war kein Sohn, und ich war auch nur das zweite Kind. Ich konnte mein Leben führen, wie ich wollte. Jedenfalls waren meine Freundinnen und ich fest davon überzeugt, und für unsere Anschauung traten wir so oft wie möglich ein.
Zu meinem selbstgewählten Leben gehörte auch der scharfe Geruch, der in der Luft schwebte. Das beißende Aroma des Terpentins mischte sich mit dem milderen des Firnis und der Ölfarben. Auch wenn ich nicht an einem Bild arbeitete, schien er immer da zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wer vor mir diese Wohnung belegt hatte, doch wer immer mir folgte, würde wissen, dass seine Vorgängerin eine Malerin war.
Michael regte sich neben mir. Sein rotblonder Haarschopf tauchte zwischen den Kissen auf, wenig später sah ich sein zerknautschtes Gesicht. Erst öffnete er ein Auge, dann das andere, um beide angesichts des Sonnenlichts, das mein Appartement flutete, wieder zusammenzukneifen.
»Warum bist du schon so früh auf?«
Ein Lächeln stieg in mir auf wie Sprudel in einem Sodaglas. Ich griff nach seinem Schopf. Sein Haar war dicht und so unglaublich weich wie das Fell einer Katze. Ich liebte es, meine Finger darin zu vergraben, besonders dann, wenn wir unserer Lust freien Lauf ließen und sein Kopf zwischen meinen Schenkeln ruhte.
»Es ist nach neun«, antwortete ich. »Eigentlich hätten wir schon längst wach sein müssen.«
»Sagt wer?« Er sah mich an und streckte beide Arme nach mir aus.
Es gab unter den Frauenrechtlerinnen einige regelrechte Männerhasserinnen, die es sich ausgebeten hätten, von einem Mann an sich gezogen zu werden. Doch mir gefiel es. Mir kam es eher darauf an, dass ich mir selbst aussuchen konnte, wen ich in mein Bett ließ. Seit einem Jahr war es ausschließlich Michael, und oftmals ertappte ich mich dabei, wie ich daran dachte, ihn nie wieder fortzulassen. Wenn er mit seinem Jurastudium fertig war, würden wir vielleicht heiraten. Es war komisch, dass ich, die ihrem Elternhaus entflohen war, an Heirat dachte, aber der Gedanke wärmte mir ungemein das Herz. Auch wenn ich dann meine hart erkämpfte Selbstständigkeit wieder verlor. Aber ich war sicher, dass Michael nichts dagegen haben würde, wenn ich weiterhin malte. Immerhin hatte er auch keine Vorbehalte gehabt, sich in eine Suffragette zu verlieben.
»Ich bin in einem guten Haus aufgewachsen, in dem Pünktlichkeit und Ordnung herrschen«, entgegnete ich.
Er küsste mich und vertrieb den aufsteigenden Gedanken an meine Eltern.
»Ach wirklich?«, fragte Michael und begann meinen Hals zu liebkosen und langsam an mir herunterzugleiten. Ich spürte ein Pochen zwischen den Beinen, das mich dazu brachte, ihn gewähren zu lassen. Ich mochte es sehr, wenn wir uns kurz nach dem Aufstehen liebten, es war einfach wunderbar und gab mir Kraft für den Tag, der vor mir lag.
Ein Klopfen ließ mich jäh zusammenzucken. Auch Michael hielt inne. Zunächst blickte er zur Tür, dann sah er mich fragend an. »Erwartest du jemanden?«
Sein Kopf glühte hochrot. Ich spürte, dass er nur schwerlich gegen seine Erregung ankam. Und auch ich hätte jetzt andere Dinge lieber getan, als darüber nachzudenken, wer um diese Zeit an meine Tür klopfte.
»Fräulein Lejongård? Sind Sie da?«, fragte eine Stimme, begleitet von einem weiteren Klopfen, das noch dringlicher klang. »Ich habe ein Telegramm für Sie. Es ist eilig!«
Ein Telegramm?
»Einen Moment, ich komme!«, rief ich und sah Michael an.
»Musst du wirklich?«, murrte er und begann erneut, meinen Hals zu küssen. So gern ich unter der warmen Decke in seinen Armen geblieben wäre, entzog ich mich ihm doch und stieg aus dem Bett. Die kalte Märzluft vertrieb meine Müdigkeit und leider auch meine Lust schlagartig. Hastig langte ich nach meinem Morgenmantel und schnürte ihn um die Taille zu. Dann ging ich zur Tür.
Der Mann, der die Uniform der Königlich Schwedischen Post trug, blickte mich ein wenig verlegen an. »Guten Morgen, verzeihen Sie die Störung, aber das hier sollte Ihnen sofort zugestellt werden.«
Ich nahm den kleinen Briefumschlag an mich und drehte ihn um. Das Telegramm kam von meiner Mutter. »Warten Sie einen Augenblick.«
Während der Mann an der Tür stehen blieb, ging ich zu der Kommode, wo ich immer etwas Geld aufbewahrte. Ich drückte dem Boten zehn Öre in die Hand und schloss die Tür. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der kleine Umschlag mehr wog als ein Kartoffelsack.
»Was ist denn?«, fragte Michael, der sich inzwischen im Bett aufgesetzt hatte. Im Gegensatz zu mir schien er nicht zu frieren, denn er lehnte mit freiem Oberkörper an den Kissen. So, wie die Sonne seiner Haut einen goldenen Schimmer verlieh, hätte er auch einem der zahlreichen Maler in unserem Viertel Modell sitzen können.
»Das werden wir gleich sehen.« Ich schob meinen Finger in die Öffnung zwischen den Brieflaschen und riss den Umschlag auf.
Was konnte Mutter wollen? Wir hatten seit dem Weihnachtsfest keinen Kontakt mehr. Ich zog das Telegramm hervor und klappte es auf. Erschrocken sog ich die Luft ein, als ich sah, was darauf geschrieben stand.
+++ Vater und Hendrik verunfallt +++ Komm bitte umgehend nach Hause +++ Mutter +++
Ich war wie erstarrt. Ein Unfall?
Mein Herz raste, und für einen Moment versuchte ich mir einzureden, dass dies nur ein gemeiner Trick meiner Mutter war, um mich nach Hause zu holen. Doch Stella Lejongård machte keine Scherze, wenn es um die Gesundheit und das Leben ihrer Familienangehörigen ging.
»Was ist?«, fragte Michael und erhob sich.
Ich konnte nicht antworten. Wie versteinert stand ich im Raum und konnte meinen Blick nicht von dem Telegramm lösen. Die Schreibmaschinenschrift darauf schien zu brennen.
Erst, als er mir seine Hand auf die Schulter legte, kam ich wieder zu mir.
»Mein … mein Vater …«, stammelte ich. »Er und mein Bruder … sie hatten einen Unfall.«
»Wobei?«, fragte Michael.
»Das steht hier nicht, vielleicht war etwas mit den Pferden …«
Meine Gedanken rasten. Vater und Hendrik waren hervorragende Reiter. Ein Reitunfall, bei dem beide verletzt worden waren, erschien mir unwahrscheinlich. Wie schwer mochten sie verletzt sein? Es war gewiss ernst, sonst würde Mutter mich nicht nach Hause rufen. Das Blatt entglitt meinen Händen. Michael bückte sich und hob es auf.
»Ich muss nach Hause.« Beinahe flüsterte ich diese Worte nur.
Da ich vor Michael keine Geheimnisse hatte, ließ ich zu, dass er das Telegramm las.
»Du lieber Himmel!«, murmelte er erschrocken, dann blickte er mich an und griff nach meiner Hand, die sich anfühlte, als gehörte sie nicht zu mir. »Kann ich etwas für dich tun? Soll ich mitkommen?«
»Nein«, sagte ich und versuchte, mich wieder zu sammeln. »Ich … ich muss einen Zug nehmen. Oder eine Kutsche.«
»Mit der Kutsche wärst du zu langsam«, bemerkte Michael. »Aber vielleicht fährt heute ein Zug nach Kristianstad.«
Ich nickte, aber es kam mir so vor, als würde mir mein Körper nicht gehorchen. Ich musste mich beeilen, aber ich konnte nicht. Am liebsten hätte ich mich unter die Decke verkrochen und so getan, als hätte mich das Telegramm nicht erreicht. Als wäre ich nicht hier. Doch ich musste los. Verdammt, ich musste los!
Schließlich schaffte ich es, mich von meinem Platz zu lösen.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Michael.
Ich schüttelte den Kopf. Das hier musste ich allein durchstehen, da gab es keine Hilfe. Und ihn mitnehmen zu meiner Mutter? Gott bewahre!
Als ich den windschiefen Schrank öffnete, verwandelte sich die bleierne Schwere in meinem Körper in eine fahrige Nervosität. Mit zitternden Händen suchte ich ein paar Sachen zusammen. Dabei war es mir egal, was meine Mutter dazu sagen würde. Meine besten Stücke waren ohnehin auf dem Löwenhof geblieben, sie würde mit nichts, was ich trug, zufrieden sein. Eine schwarze Bluse glitt mir durch die Hand. Aus irgendeinem Grund starrte ich sie länger an, als es nötig gewesen wäre. Kein Schwarz, sagte ich mir und fühlte eine Welle der Angst in mir aufsteigen. Schwarz war Trauerkleidung, und es schien mir ein schlechtes Omen, wenn ich sie mitnahm. Also schleuderte ich sie in die hintere Ecke des Schranks. Ein Unfall, sagte ich mir. Es war ein Unfall, sie sind verletzt, aber noch am Leben. Mutter hätte mir nicht verschwiegen, wenn einer von ihnen gestorben wäre.
Als ich mich anzog, fühlte ich mich fiebrig. Der Stoff schmerzte auf meiner Haut. Der Mantel, den ich überstreifte, erdrückte mich beinahe mit seinem Gewicht. Meine Hände bebten, als ich die Tasche packte.
Ich wandte mich Michael zu. Er hatte seinen Körper inzwischen in einen Morgenmantel gehüllt.
»So«, sagte ich, wie immer, wenn ich etwas beendet hatte. Er breitete die Arme aus.
»Komm her«, murmelte er, zog mich an sich und vergrub sein Gesicht an meinem Hals, so wie ich meines an seinem. Fast schon verzweifelt schlang ich meine Arme um ihn und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.
»Ich bin bei dir, hörst du?«, sagte er in mein Haar. »Egal, was du tust und was dir bevorsteht, ich bin bei dir. Mit meinen Gedanken helfe ich dir.«
»Das ist lieb«, entgegnete ich. »Danke.«
Eigentlich hätten seine Worte eine andere Entgegnung verdient gehabt, doch ich konnte nicht. Trotz allem, was Michael mir bedeutete: Das Telegramm hatte mich wieder zur Tochter des Hauses Lejongård gemacht, die keusch sein musste, bis ihre Eltern einen Mann für sie gefunden hatten. Es brach mir das Herz, aber ich hatte keine andere Wahl. Widerwillig löste ich mich von ihm und wandte mich meinem Gepäck zu.
»Kommst du zurück?«, hörte ich seine Stimme hinter mir.
Ich erstarrte. Er fragte das immer, wenn ich nach Hause fuhr, auch früher schon hatte er mir diese Frage gestellt. Früher hatte ich immer lachend mit Ja geantwortet, aber nun wurde mir das Herz schwer. Natürlich würde ich zurückkehren. Doch in diesem Augenblick konnte ich schwerlich sagen, wann das der Fall sein würde, und das beunruhigte mich ein wenig.
»Ich komme zurück, sobald ich kann, versprochen«, sagte ich und warf ihm noch einen Handkuss zu. Dann drehte ich mich endgültig um, nahm meine Tasche und verließ die Wohnung.
Draußen empfing mich der frische Geruch des Frühlings, der ausnahmsweise nicht von Gestank verdorben wurde: Hin und wieder erleichterte sich jemand in einem naheliegenden Hauseingang, meist am Sonntagabend, nachdem Horden von Studenten und anderen Männern aus den Gasthäusern gekommen waren.
War es möglich, dass sich die Guttempler bei den Studenten durchgesetzt hatten? Unwahrscheinlich.
Schnell schritt ich die Straße entlang. Der Stadtteil Norrmalm mit seinen breiten Straßen und klassizistischen Gebäuden war am Montagvormittag ein Ort reger Geschäftigkeit. Neben Arbeitern und Reisenden, die zum Bahnhof wollten, waren auch viele Studenten auf den Straßen unterwegs.
Ich hätte mich heute Mittag ebenfalls zu einem Seminar in der Königlichen Kunsthochschule einfinden müssen, doch dieser Gedanke erfüllte mich mit seltsamer Gleichgültigkeit. Mir schien es, als sei alles um mich herum in die Ferne gerückt, so als würde ich durch einen Nebel waten, der nur Konturen rings um mich auftauchen ließ. Das Einzige, was ich wirklich wahrnahm, war das Gewicht meiner Tasche und das unruhige Wühlen in meinem Magen. Wann mochte der nächste Zug fahren? Konnte ich Mutter vorher per Telegramm erreichen?
Es war erstaunlich, was das Schicksal anrichten konnte. Noch gestern hatte ich keinen Gedanken an mein Elternhaus verschwendet. Jetzt konnte ich an nichts anderes denken. Und auf einmal waren all die Gerüche und Eindrücke, die Sonnentage und auch die Verletzungen wieder da, Bilder, die unauslöschlich in meinem Verstand abgelegt waren.
»Agneta!«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ich blieb stehen und wandte mich um. Marit kam angelaufen. Sie hatte ihren grünen Rock gerafft, sodass man ein Stück ihrer langen Unterhose sehen konnte. Ihre braunen, immer ein wenig ausgetreten wirkenden Stiefeletten waren mit Matsch bespritzt. Ein selbstgestrickter Schal wehte um ihren Hals. »Du meine Güte, bist du taub?«, fragte sie, als sie mich erreichte. »Ich laufe schon ewig hinter dir her!«
Marit übertrieb, ich war gerade zweihundert Meter von meiner Wohnung entfernt. Aber so war meine Freundin. Ich stellte die Tasche vor mir auf den Boden, um sie in meine Arme zu schließen.
»Entschuldige bitte, ich war in Gedanken. Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof. Familienangelegenheit.«
»Dann kommst du heute nicht zu der Aktion vor dem Büro des Dekans?« Marit wirkte enttäuscht. Mit flammendem Eifer organisierte sie Demonstrationen, beschaffte Materialien für Banner und trommelte die Frauen zusammen. Vor dem Büro des Dekans wollten wir heute gegen Bemühungen protestieren, die Einschreibungen von Frauen zu reglementieren. »Ich dachte, du stehst mit deiner Familie nicht mehr in so engem Kontakt.«
»Das stimmt, aber meinem Vater und meinem Bruder ist etwas zugestoßen. Es klingt ernst, und meine Mutter bittet mich, unverzüglich zu kommen.«
Marit schlug die Hand vor den Mund. »Das ist ja schrecklich! Hat sie geschrieben, was passiert ist?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie hätte sich nicht gemeldet, wenn es nicht wirklich dringend wäre.«
»Ach, das tut mir leid.« Sie schloss ihre Arme um mich und drückte mich fest. »Kann ich etwas für dich tun?«
»Ich fürchte nicht, aber danke. Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß, ja?«
»Ja, bitte. Ich werde für deinen Vater und deinen Bruder beten. Ich hab es ja sonst nicht so mit Gott und der Kirche, aber in dem Fall werde ich eine Ausnahme machen.«
Das stimmte. Marit ließ sich nur selten in der Kirche sehen, weil sie fand, dass dort nichts für die Gleichstellung der Frauen getan wurde. Wenn sie anbot, für uns zu beten, war das schon etwas Besonderes.
Insgeheim wünschte ich mir, dass ich sie mitnehmen könnte. Was auch immer mich erwartete, ich würde ihre Unterstützung dringend brauchen, aber es ging nicht.
»Grüß die anderen von mir«, sagte ich, als ich sie wieder aus meinen Armen entließ. »Sag ihnen, dass ich ihnen die Daumen drücke für die Kundgebung.«
»Das ist jetzt nicht wichtig«, gab Marit zurück. »Für dich zählt erst mal deine Familie, sonst nichts. Obwohl ich zugeben muss, dass wir dich vermissen werden. Wenn ich daran denke, wie du Professor Svensson gegen die Wand geredet hast …«
»Danke.« Ich umarmte Marit erneut und drücke sie fest an mein Herz, dann hob ich meine Tasche wieder vom Boden auf. Sie schien noch schwerer geworden zu sein.
»Alles Gute, und pass auf dich auf!« Marit winkte, bis ich mich umwandte und weiterging.
Ich passierte die wunderschöne Königliche Oper, vor der ich sonst öfter stehen blieb, um sie zu betrachten, und näherte mich schließlich dem Bahnhof.
Rauchgeruch hing schwer in der Luft. Vom Hafen her ertönte das laute Horn eines Dampfers, gefolgt vom Pfeifen einer Lokomotive. Seit Schweden beschlossen hatte, sich nie wieder in irgendwelche Kriege hineinziehen zu lassen, befand sich das Land im Aufschwung. Und auch für uns Frauen änderte sich etwas. Wir konnten uns mit fünfundzwanzig Jahren für mündig erklären lassen, sofern wir nicht verheiratet waren. Erst vor Kurzem war ein Gesetz erlassen worden, das es Frauen erlaubte, ihren ererbten Besitz durch einen Ehevertrag zu schützen. Das waren wichtige Siege für die Frauenbewegung, allerdings hatten wir das größte Ziel noch nicht erreicht: das Frauenwahlrecht, das Finnland bereits vor sieben Jahren eingeführt hatte. Auch in Norwegen wurden Fortschritte gemacht, aber nicht hier. Die Politiker mochten sich vielleicht taub stellen, doch das bedeutete nicht, dass sie nicht merkten, was wir taten. Wir würden weiterkämpfen.
Auch in der Königlichen Kunstakademie tat sich einiges. Im Jahr 1864 war mit Anna Nordlander die erste Frau zugelassen worden. Der Versuch einiger Studenten und Künstler, die sich zu einer Gruppe namens »Opponenterna« zusammengeschlossen hatten, um grundlegende Reformen in Gang zu setzen, schlug zwar fehl, aber mittlerweile strömten immer mehr Frauen in die Akademie. Natürlich blieb es nicht ohne Konflikte, doch alle Mühen wurden von dem Gefühl der Freiheit aufgewogen.
Als ich endlich den Bahnhof erreichte, lief mir der Schweiß in Rinnsalen vom Gesicht und über den Rücken. Ich war froh, einen Mantel übergezogen zu haben. Die Märzluft trug die Ahnung des Frühlings in sich, aber dennoch war sie tückisch. Vor dem klassizistischen weißen Gebäude tummelte sich ein Gewirr von Menschen. Hier und da stach ein Hut heraus oder eine cremefarbene Anzugjacke. Droschken fuhren eng hintereinander, ihnen entstiegen weitere Passagiere. Ich fragte mich, wie sie es schafften, einander nicht in die Hacken zu treten.
Im vergangenen Jahr hatte ich den Bahnhof gemalt und mir eine Rüge von meinem Professor eingefangen. Ich hatte mich für den Stil van Goghs entschieden, weil ich wusste, dass Andersen ihn verehrte. Doch ich hatte mich verrechnet. Der Professor schlich um meine Staffelei herum, natürlich vor all meinen Kommilitonen, und wiegte den Kopf hin und her. Dann kratzte er sich am Kinn, kniff die Augen zusammen und wandte sich mir zu.
»Eine feine Arbeit«, sagte er, und ich war dumm genug, zu glauben, dass er tatsächlich zu einem Lob ansetzen würde. »Wirklich fein … für einen Kopisten.« Seine Miene verfinsterte sich so stark, dass ich meinte, vor den Fenstern wäre die Sonne verschwunden. »Allerdings glaube ich nicht, dass Sie hier sind, um sich zur Kunstfälscherin ausbilden zu lassen. Wenn dem nämlich so wäre, müsste ich darauf bestehen, dass Sie sofort der Universität verwiesen werden.«
Andersens Stimme donnerte durch den Saal. Ich erstarrte. Die Blicke meiner Kommilitonen trafen mich wie Nadelspitzen. Von den meisten hatte ich kein Mitleid zu erwarten. Es gab kaum Frauen in Andersens Seminar, und die meisten Männer waren wie der Professor selbst auch der Meinung, dass eine Frau besser in einer Ehe und hinter dem Herd aufgehoben war.
Einen ähnlichen Gedanken muss der Professor mir angesehen haben.
»Und bevor Sie mir nun wieder die Ansichten Ihrer Suffragetten-Freundinnen vorhalten«, fuhr er, jetzt richtig in Rage, fort, »so kann ich Ihnen versichern, dass ich Sie eigenhändig aus dem Kurs geworfen hätte, wenn Sie ein Mann gewesen wären. Wenn ich einen van Gogh sehen will, reise ich nach Paris, aber hier will ich sehen, wer Sie sind! Und ob Sie es verdienen, von mir ausgebildet zu werden!«
Ich starrte den Professor an. Zunächst war mein Kopf wie leer, dann wurde mir klar, was für einen großen Fehler ich gemacht hatte. Es war sonst nicht meine Art, irgendwem nach dem Mund zu reden. Warum hatte ich es bei Andersen versucht?
Tränen stiegen in mir auf, doch ich wollte nicht vor den anderen heulen. Die Burschen hätten mich gewiss ausgelacht. Ich dachte an meine Mutter, überlegte, was sie in dieser Situation gesagt und getan hätte. Und auf einmal wurde mein Selbstmitleid zu Zorn.
Andersen musterte mich, wahrscheinlich erwartete er Tränen. Doch er bekam den wütendsten Blick, zu dem ich imstande war.
Die Erinnerung beiseiteschiebend, betrat ich die Wartehalle des Bahnhofs. Mein Blick fiel auf die große Uhr. Seit dem Empfang des Telegramms war eine Stunde vergangen. Vor dem Fahrkartenschalter hatte sich eine lange Schlange gebildet. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich einzureihen. In meinen Schläfen pulsierte es. Unter der bogenförmig gewölbten Decke der Halle sammelten sich die Stimmen zu einem undurchdringlichen Gemisch, es klang beinahe wie Donnergrollen. Früher hatte ich dieses Geräusch aufregend gefunden: Nach der Stille, von der ich auf unserem Gut stets umgeben war, war dies der Klang der Welt, der Freiheit für mich. Aus irgendeinem Grund störte er mich jetzt, ja er wurde mir beinahe unerträglich.
Das Pfeifen eines einfahrenden Zuges lenkte mich ein wenig ab. Weitere Leute strömten in die Wartehalle. Einige trugen Lodenmäntel wie ich, andere waren in teure Pelze gehüllt. Eine Frau mit einem riesigen Federhut zog meinen Blick an. Meine Mutter hatte wahrscheinlich Dutzende solcher Hüte. Ich selbst hielt nicht viel von diesem Pomp und schon gar nicht von diesen Kopfbedeckungen. Sie waren schwer und plump und verdeckten oftmals den Menschen darunter.
»Fräulein?«
Ich wirbelte herum. Die Schlange war inzwischen vorgerückt, und ich war an der Reihe.
»Oh, verzeihen Sie bitte, ich war in Gedanken. Ich hätte gern eine Fahrkarte nach Kristianstad. Wann fährt der nächste Zug?«
»In einer halben Stunde«, antwortete er. »Einfach?«
»Ja«, hörte ich mich antworten, noch bevor ich nachdenken konnte. Michael hatte ich versprochen, möglichst bald wieder zurück zu sein. Doch wann würde das sein? Mutter hätte mir nicht geschrieben, wenn die Verletzungen nur leicht gewesen wären. Vater und besonders Hendrik brauchten meine Unterstützung. Und wenn das Schlimmste eintraf … Ich weigerte mich, daran zu denken.
Aber ich wusste, dass ich auch dann nicht ohne Weiteres zurückkehren konnte. Und Geld für ein Ticket zu verschwenden, das ich vielleicht nicht nutzen würde, konnte ich mir nicht erlauben.
Der Mann hinter dem Schalter beäugte mich kurz und nannte mir den Preis. Ich schob ihm die Kronen über den Tresen und machte mich mit der Fahrkarte auf den Weg. Die Zeit, die ich bis zur Abfahrt des Zuges noch hatte, würde ich dafür nutzen, Mutter zu telegrafieren.
Während der gesamten Bahnfahrt starrte ich gedankenverloren aus dem Fenster. Lebhaft erinnerte ich mich, wie ich schon einmal um das Leben meiner Eltern gebangt hatte. Damals war ich zwölf Jahre alt gewesen. Meine Eltern hatten eine Reise nach Frankreich unternommen und waren zwei Tage nach der angekündigten Rückkehr immer noch nicht wieder zu Hause. Wir hatten keine Nachricht erhalten, und das ganze Gut war in Aufregung.
Fräulein Rosendahl war damals die Kammerzofe meiner Mutter. Eigentlich eine ruhige und gefestigte Person, verlor sie an dem Tag die Contenance. Sie saß in der Küche und weinte um ihre Herrin.
Auch ich sorgte mich um meine Eltern, allerdings war ich nicht so aufgelöst wie sie. Mein Bruder Hendrik war ja da, und er schien noch ganz ruhig. Als ich ihn darauf ansprach, dass unsere Eltern längst von sich hätten hören lassen müssen, antwortete er nur, dass sie wahrscheinlich spontan Verwandte besucht hätten. Das Telegramm, das uns davon in Kenntnis setzen sollte, sei nur aus irgendeinem Grund nicht angekommen.
Nach dieser Antwort ging er schulterzuckend von dannen. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich viel Zeit beim Fohlengatter verbrachte oder durch die Wiesen lief. Doch Fräulein Rosendahls Tränen machten mir klar, dass die Möglichkeit bestand, dass sie niemals zurückkehrten. Dass Hendrik und ich Waisen sein würden. Dass ein fremder Vormund unsere Erziehung übernehmen müsste.
Ohne dass ich von Fräulein Rosendahl bemerkt wurde, schlich ich mich in mein Zimmer, und während ich aus dem Fenster starrte, geisterten alle erdenklichen Schrecken vor meinem inneren Auge herum – bis eine Kutsche vorfuhr. Die Kutsche meiner Eltern. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und als ich sie aussteigen sah, fühlte ich eine nie gekannte Erleichterung.
Sie waren zurück, das Königspaar meines Kinderlandes. Die Liebe meiner Mutter zu erringen, war stets schwer gewesen, sie betrachtete mich wie eine Puppe, die hübsch ausstaffiert werden musste und zu schweigen hatte, was mir damals schon schwerfiel. Mein Vater jedoch teilte seine Zuneigung zu mir mit vollen Händen aus. Jedenfalls solange ich ein Kind war, das mit den Problemen der Älteren nichts zu tun hatte. Wir ritten miteinander aus, oftmals trug er mich im Haus umher und erzählte mir vor dem Zubettgehen Geschichten von Rittern und Räubern.
Das Verhältnis zu meinen Eltern verschlechterte sich, sobald ich die Höhere Töchterschule in Stockholm verlassen hatte. Ihr Wunsch war es, dass ich möglichst schnell heiratete und Kinder bekam. Doch auch nach meinem Debüt fand sich kein geeigneter Kandidat, was meine Mutter verstimmte und meinen Vater sorgenvoll in meine Zukunft blicken ließ. Beide ahnten nicht, dass ich ein Leben, wie sie es mir zugedacht hatten, nicht wollte. Ich wollte studieren, etwas von der Welt sehen, in Kunstsalons verkehren. Ich wollte einen weiteren Blick auf die Welt, ich wollte Wissen anhäufen und vor allem neue Bilder in meinem Kopf. Und ich wollte mir meinen Ehemann selbst wählen. Es dauerte nicht lange, bis es zum Eklat kam. Doch das machte mir nicht viel aus, war da doch mein Bruder, der eines Tages das Gut erben und für den Bestand des Hauses Lejongård sorgen würde. Ich dagegen war dazu verdammt, mit meiner Freiheit auch meinen Namen zu verlieren – und den Löwenhof zu verlassen.
Und nun …
Im Stillen verfluchte ich Mutter. Sie hätte mir wenigstens einen Anhaltspunkt geben müssen, was genau passiert war und wie es den beiden ging. Ich schob meine Gedanken beiseite und versuchte mich auf den Anblick vor dem Fenster zu konzentrieren. Sonnenlicht fiel zwischen den mächtigen Baumstämmen hindurch, die den Bahndamm säumten. Schon immer hatten Wälder meine Phantasie angeregt. Ich hatte von Elfen und Trollen geträumt, von Zauberwelten jenseits verwunschener Lichtungen.
Als wir den Wald verließen, kamen wir an riesigen Feldern vorbei, auf denen an verschatteten Stellen noch ein paar schmutzige Flecken Schnee lagen. Schon bald würden sich grün-goldene Teppiche über die sanft gerundeten Hügel spannen. In Skåne, der Kornkammer Schwedens, waren die Güter ebenso berühmt wie die Landschaft. Einige Gutsherren hatten den Rang eines Grafen inne, andere gehörten dem niederen Adel an. Aber sie alle waren wichtig für Schweden und sich in den meisten Belangen auch einig: Wenn sie eine Bahnlinie haben wollten, bekamen sie sie. Ich war damals noch nicht auf der Welt, aber ich konnte mir vorstellen, wie sich mein Großvater darum bemüht hatte.
Die Abenddämmerung leuchtete rot am Horizont, als der Zug in Kristianstad hielt. Viele Passagiere stiegen hier nicht mehr aus. Ich war schon seit einer Weile allein im Abteil. Ich ergriff meine Tasche, zog sie von der Gepäckablage und ging damit zur Waggontür. Eisiger Wind schlug mir entgegen und biss in meine Wangen. Der Winter war noch nicht besiegt.
Im ersten Moment erkannte ich niemanden jenseits des Bahnsteigs. War mein Telegramm nicht angekommen?
Als es mir in dem zugigen Bahnhof zu ungemütlich wurde, strebte ich dem Ausgang zu. Im kleinen Schaffnerhäuschen brannte Licht. Ich trug die Tasche zur Treppe. Wenig später hörte ich Pferdehufe auf dem Straßenpflaster. Unsere Kutsche fuhr vor dem Bahnhof vor. Ich erkannte sie deutlich an ihrem dunkelroten Anstrich. Eine Laterne schaukelte neben dem Kutschbock. Mutter hatte doch jemanden geschickt. Der Kutscher stellte die Bremse fest und stieg herab.
»Ah, da sind Sie ja, gnädiges Fräulein.« Der alte August zog seine Mütze vom Kopf. Sein dichtes weißes Haar stand an den Seiten ein wenig ab. »Es ist schon ziemlich lange her.«
»Es waren doch nur drei Monate.«
»Für einen alten Mann wie mich ist das fast eine Ewigkeit«, gab er zurück und nahm mir die Tasche ab. »Wo ist Ihr restliches Gepäck?«
»In Stockholm natürlich!«, erwiderte ich und versuchte die Unruhe zu verbergen, die mich angesichts dieser Frage überkam.
»Nun, wenn Sie wollen, veranlasse ich, dass es geholt wird«, sagte er.
Was hatte meine Mutter dem armen Mann erzählt? Dass ich von nun an hierbleiben würde? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!
»Wie geht es meinem Vater und meinem Bruder?«, fragte ich, während wir zur Kutsche gingen. Der Atem der Pferde wurde vor ihren Nüstern zu kleinen Wölkchen.
»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, gnädiges Fräulein, bedaure!«
Ich runzelte die Stirn. »Können Sie es mir nicht sagen, weil Sie es nicht wissen, oder …«
»Ihre Mutter hat mir untersagt, mit Ihnen darüber zu sprechen«, entgegnete August mit ernstem Gesicht. »Sie möchte Sie persönlich unterrichten.«
»Dann steht es schlimm?«
Der Kutscher presste die Lippen zusammen. Er brauchte nicht zu antworten, ich sah es an seinem Blick. Es stand schlimm.
»Können Sie mir denn sagen, was das für ein Unfall war? Sind die Pferde durchgegangen?«
»Sie werden es sehen«, sagte August bedrückt und öffnete mir den Schlag.
Wenig später setzte die Kutsche sich schaukelnd in Bewegung.
Mutters seltsamer Befehl an August und die Tatsache, dass sich der alte Mann, den ich seit Kindertagen kannte, daran hielt, ließen mich nichts Gutes ahnen. Mein Magen schmerzte, und in meinen Schläfen pochte es. Was, wenn das Schlimmste eingetreten war? Warum war Mutter eigentlich nicht mitgekommen, um mich gleich über die Geschehnisse in Kenntnis zu setzen? Dass sie fürsorglich am Bett meines Vaters oder meines Bruders saß, konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Stella Lejongård überließ die Sorge um Kranke gern den Ärzten und ihrem Personal.
Nach einer Stunde tauchte das Gutshaus vor uns auf. Vom Tageslicht war nur noch ein schmaler roter Streifen am Horizont geblieben, doch es reichte, um die grobe Steinmauer zu beleuchten, die das Herrenhaus umgab. Das große, fein geschwungene Eisentor mit den Löwenköpfen auf den Torflügeln hatte in früheren Zeiten Räuber und Aufständische abgehalten. Jetzt stand es offen.
Wir fuhren an den hohen Linden vorbei, die zu dieser Jahreszeit kahl waren. Im Sommer überschatteten ihre Kronen den Weg wie ein Dach. Bienen summten darin, und es roch süß nach Honig. Doch davon war jetzt nichts zu finden. Stattdessen ließ sich ein Schwarm Krähen in ihren Ästen nieder. Und der Geruch … wirkte irgendwie eigenartig. Ich konnte noch nicht genau beschreiben, was es war, aber es beunruhigte mich.
Die weißen Mauern des Herrenhauses waren auch in der Dämmerung gut auszumachen. Die Fenster der beiden unteren Etagen leuchteten uns hell entgegen.
Bei diesem Anblick überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Zum einen wühlten Angst und Ungewissheit in mir, zum anderen empfand ich Freude und Wärme. Ich erinnerte mich wieder daran, dass es nicht das Gut gewesen war, das mich von hier weggetrieben hatte. Die grünen Wiesen, die mächtigen Wälder, die Pferdekoppeln und Ställe, selbst das weiße Herrenhaus waren immer freundlich zu mir gewesen und hatten mich nicht bewertet.
Im Haus selbst hatte ich mich stundenlang vor unserer Gouvernante und auch meiner Mutter verstecken können. Als wir noch klein waren, hatte ich mit Hendrik auf dem Dachboden gesessen und mir Geschichten ausgedacht. Möglicherweise war es in einem dieser Momente gewesen, dass ich beschlossen hatte, mich der Kunst zuzuwenden, dem Malen oder dem Schreiben.
Plötzlich fiel mir ein, wonach es bei den Linden gerochen hatte. Es traf mich wie ein Schlag. Scharfer Brandgeruch strömte durchs Kutschenfenster herein. Als ich klein war, hatte mal eine der Feldscheunen gebrannt. Der Wind hatte den Qualm zum Haus geweht. Tagelang hing der Geruch in den Räumen, egal, wie viel Lavendel die Mädchen auch verteilten. Hatte es ein Feuer gegeben?
Von der Kutsche aus konnte ich nichts erkennen, das Licht aus den Fenstern des Wohnhauses überstrahlte alles.
Als August schließlich auf die Rotunde vor dem Eingang fuhr, hielt es mich kaum noch auf dem Sitz. Ich wartete nicht, bis die Kutsche vollends zum Stehen gekommen war, sondern riss die Tür auf und sprang hinunter, sobald August »Ho!« gerufen hatte. Beinahe wäre ich auf dem Kies gestolpert, doch ich fing mich und stieg die Stufen hinauf. Da die Haustür um diese Stunde verschlossen war, läutete ich.
Wenig später erschien Arno Bruns, der Kammerdiener meines Vaters. Mittlerweile musste er Ende fünfzig sein. Sein schwarzes Haar war beständig grauer geworden, inzwischen leuchtete es fast weiß. Sein Gesicht war kantig, seine Augen waren braun wie Kaffeebohnen und seine Augenbrauen buschig. Als Kind hatte ich vor ihm immer Angst gehabt. Zusammen mit Fräulein Rosendahl, die seit einigen Jahren Hausdame war, leitete er das Personal an und achtete stets auf das Wohl unserer Familie.
»Guten Abend, gnädiges Fräulein«, sagte er, nachdem er die Tür geöffnet hatte, und begrüßte mich mit einer leichten Verbeugung. »Es freut mich, dass Sie heil angekommen sind.«
»Danke, Bruns«, sagte ich. »Wo ist meine Mutter?«
»Im Schlafgemach des gnädigen Herrn«, antwortete Bruns. »Ich begleite Sie.«
Gern hätte ich auf seine Begleitung verzichtet, doch in diesem Haus hatte alles seine Regeln. Auch die Rückkehr einer missratenen Tochter. Schweigend erklommen wir die Treppe. Hatte es schon bei August nichts genützt, ihn zu fragen, war es bei Bruns von vornherein zwecklos, eine Antwort zu erwarten. Seiner Miene sah man erst recht nichts an. Als junger Mann war er in England gewesen, wo er zum Kammerdiener ausgebildet worden war. Er wurde nicht müde, dem Personal von dem zu erzählen, was er »englischen Standard« nannte.
Vor Sorge um meinen Vater und Hendrik nahm ich die Pracht der Eingangshalle, die von einem riesigen Kristalllüster beleuchtet wurde, nur beiläufig wahr. Hohe Gemälde begrüßten den Besucher. Hier eine Jagdszene, da eine weitläufige Landschaft mit strahlendem Himmel und dazwischen Porträts einiger verdienter Vorfahren. Der berühmteste davon war Axel Lejongård, der ein Vertrauter des ersten Bernadotte-Königs war und dessen Wahl zum Kronprinzen unterstützt hatte. Mit Backenbart, leuchtend blauen Augen und steifer Uniform schaute er den Betrachter an, selbstbewusst und sicher sehr anziehend für die Damen, denen er damals begegnet war.
Unwillkürlich nickte ich meinem ruhmvollen Ahnen zu, dann schloss ich dichter zu Bruns auf. Dessen Schritte waren auf dem Teppich kaum zu vernehmen. Würdevoll wie zu einem Ball ging er voran.
Ich wunderte mich über mich selbst, dass ich das bemerkte. Ich war hier aufgewachsen, ich kannte jeden Winkel, und dennoch staunte ich immer wieder, wenn ich nach längerer Zeit herkam.
An der Zimmertür meines Vaters machten wir halt. Meine Mutter verfügte ebenfalls über ein eigenes Gemach. Das eigentliche eheliche Schlafzimmer wurde von beiden nur noch selten benutzt. Ich konnte mich entsinnen, dass ich mit vier oder fünf Jahren öfter in das Bett meiner Eltern gekrochen war, doch damit war dann plötzlich Schluss. Später erst verstand ich, dass ich nicht mehr in den Raum durfte, weil er unbenutzt blieb.
Bruns klopfte, und als keine Antwort ertönte, öffnete er einfach die Tür. Das erschien mir seltsam, denn normalerweise wartete er, bis der Gutsherr sich äußerte. Aber vielleicht schlief mein Vater gerade, und vielleicht hatte ich die Stimme meiner Mutter nur nicht gehört.
Als ich das Zimmer betrat, erstarrte ich. Meine Mutter war nicht zugegen. Nur mein Vater lag auf dem Bett, gekleidet in seinen besten Frack. Sein Gesicht war bleich und sah aus, als hätte man es mit einer weißen Paste bestrichen. Es erinnerte mich auf schreckliche Weise an das Make‑up eines Clowns, den ich in einem Zirkus gesehen hatte.
Mir blieb die Luft weg, und ich taumelte zurück. Die Brust meines Vaters war still, seine Hände lagen schwer und leblos auf ihr.
»Gnädiges Fräulein, setzen Sie sich«, sagte Bruns und schob einen Hocker hinter mich. Einen Moment lang war ich versucht, mich fallen zu lassen. Doch dann wirbelte ich herum und starrte den Kammerdiener fassungslos an. Wessen Idee war das hier gewesen? Ganz sicher nicht seine!
»Bruns«, stammelte ich. »Was soll das? Warum haben Sie mich nicht gewarnt?«
Brennender Hass stieg in mir auf. Mein Vater war tot. Und niemand hatte mich darauf vorbereitet. Niemand hatte versucht, es mir schonend zu erklären. Der Kammerdiener hatte mich einfach hergebracht unter dem Vorwand, meine Mutter wäre hier. Das Gesicht des Mannes wurde zuerst feuerrot, dann bleich und dann wieder rot.
»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, ich dachte …«
»Lügen Sie mich nicht an!«, fauchte ich. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass mein Vater verstorben ist?«
Der Kammerdiener schnappte nach Luft und blickte sich hilfesuchend um.
»Es war meine Anweisung«, sagte eine Stimme hinter ihm. Im nächsten Augenblick sah ich sie. Bleich und schlicht in Schwarz gekleidet.
Mutter! Ich begann am ganzen Leib zu zittern. Tränen schossen mir in die Augen.
»Ich wusste nicht, dass du jetzt schon kommst, deshalb habe ich mir erlaubt, mich zu entfernen.« Ihre Stimme verriet keinerlei Gefühl.
»Sie können gehen, Bruns«, schnappte ich, worauf er sich verneigte und den Raum verließ.
»Wie ich dir schrieb, hat es einen Unfall gegeben. Im großen Stall ist ein Feuer ausgebrochen. Dein Vater und dein Bruder haben versucht, die Pferde in Sicherheit zu bringen. Dabei stürzte das Scheunendach über ihnen ein.«
Ich hätte sie am liebsten angeschrien und sie gefragt, was ich getan hatte, um sie zu solch einer Niedertracht zu veranlassen. Mich nicht in Empfang zu nehmen, um mir zu sagen, dass mein Vater tot war, mich nicht zu trösten und nicht zu warten, bis ich mich beruhigt hatte, bevor ich vor den Aufgebahrten geführt wurde, war das Schlimmste, was ich je erlebt hatte. Das Schlimmste, was sie mir je angetan hatte.
Mein Bruder lebte. Das erleichterte mich ein wenig, allerdings war ich immer noch zu betäubt und schockiert, um eine Regung zu zeigen.
Es waren keine Tränen der Trauer, die mir in die Augen schossen.
Meine Augen brannten vor Zorn.
Die Miene von Stella Lejongård regte sich kein Stück. Meine Mutter war immer kühl und kontrolliert, aber in diesem Moment des Verlustes verstand ich sie noch weniger als sonst.
Das mochte stimmen, aber nichts rechtfertigte, dass mich Bruns ohne ein Wort zu sagen in ein Totenzimmer führte. »Du hättest mir entgegenkommen müssen«, gab ich zurück. Jetzt stiegen die Tränen doch in mir auf und setzten sich in meiner Kehle fest. »Du hättest mich wenigstens durch August oder Bruns warnen lassen können.«
»Du hättest mich in Empfang nehmen müssen!«, wiederholte ich. »Du hättest es mir sagen müssen, bevor ich ihn sah! Was für eine Mutter bist du?«
»Und was für eine Tochter bist du?«, fragte sie kühl. »Du hast dich schon lange nicht mehr um die Familie gekümmert! Du wolltest deinen eigenen Kopf durchsetzen.«
»Also ist das meine Schuld?« Ich riss den Arm hoch und deutete auf Vater. Meine Stimme überschlug sich. Wahrscheinlich hörten es sogar noch die Mädchen oben in ihren Quartieren. »Nur weil ich meinen eigenen Weg gehen wollte? Wir sind im zwanzigsten Jahrhundert, Mutter, nicht mehr im Mittelalter. Ein Stall gerät nicht in Brand, wenn eine Tochter nicht den Vorstellungen ihrer Eltern entspricht!«
»Dein Vater hat gehofft, dass du zur Vernunft kommen würdest! Er hat noch auf dem Sterbebett auf dich gewartet und gefragt, wann du eintreffen würdest.«
»Ich bin losgefahren, sobald ich das Telegramm erhalten hatte!«, presste ich hervor, während die Tränen mich würgten. Jetzt verstand ich, worauf sie hinauswollte und was sie damit bezweckt hatte, mich mit meinem toten Vater zu konfrontieren. Das war in ihren Augen wohl eine angemessene Strafe dafür, dass ich mich von der Familie befreit hatte.
Ihre Stimme klang fest. Der Tod meines Vaters war für sie nur ein Grund, mir die Hölle heißzumachen.
Vielleicht tat ich damit genau das, was ich früher getan hatte, aber um nicht vor ihr zusammenzubrechen, stürmte ich aus dem Raum. Dass Bruns neben der Tür stand und unseren Streit mitverfolgt hatte, kümmerte mich dabei nicht. Ich musste an einen Ort, der mir Ruhe gab, um zu weinen.
Doch er war nicht da. So stürzte ich in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett und weinte wie schon lange nicht mehr.