Der Krieg ist verloren. Der prächtigste Zoo Europas ist am Ende. Eine Frau kämpft für ihre Schützlinge und ihre große Liebe.
Im Sommer 1914 erfüllt sich für Emma ein Traum: Sie wird eine der ersten Pflegerinnen im prachtvollen Wiener Tiergarten Schönbrunn. Voller Leidenschaft widmet sie sich ihren Schützlingen, den Zebras, Giraffen und Orang-Utans. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, werden fast alle Männer eingezogen. Schneller als ihr lieb ist, muss Emma Verantwortung für die Tiere übernehmen und außerdem noch für ihre schwangere Schwester sorgen. An ihrer Seite steht Tierarzt Julius, der verletzt von der Front zurückgekehrt ist und nach dessen Nähe sich Emma zunehmend sehnt. Während die Bevölkerung gegen Ende des Krieges hungert, werden die Rufe immer lauter, den Zoo zu schließen. Kann Emma mit Julius’ Hilfe retten, was ihr am meisten am Herzen liegt?
Die beeindruckende Geschichte der Frauen von Schönbrunn - inspiriert von wahren Begebenheiten
Ein Leben für das Wohl der Tiere
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Januar 2022
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: © Magdalena Russocka / Trevillion Images
(Frau); Look and Learn / Bridgeman Images (Elefanten, Pfleger);
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Autorinnenfoto: © Fabian Kasper
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ISBN 978-3-8437-2615-3
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Juli 1914
Es war der erste warme Sommertag in diesem Jahr. Der gesamte Frühling hatte sich kühl und wechselhaft präsentiert. Anfang Mai hatte es noch einmal kräftig geschneit, und die Tulpen und Narzissen waren unter einer dicken weißen Decke begraben worden. Jetzt war die Kälte endgültig gebannt. Leuchtend blau und wolkenlos strahlte der Himmel über der Stadt und verhieß ein herrliches Wochenende. Die Luft war geschwängert vom Duft üppiger Sommerblumen und saftigem Gras.
Sonnenhungrig drängten die Wiener und Wienerinnen in die öffentlichen Parkanlagen. Man fuhr mit der Bahn zu einer feschen Landpartie in den Wienerwald oder in die Donauauen. Die warmen Wollmäntel wurden im Schrank verstaut. Stattdessen trug man wieder Sommerbekleidung aus luftigen Stoffen. Die Damen zwängten sich in viel zu enge Fischbeinkorsetts und zeigten fest geschnürte Taillen. Die Männer waren nicht minder eitel. Allerorts wurden elegante Sommeranzüge und schneidige Uniformen vom Mief der Mottenkugel befreit.
Auch Emma hatte ihr hübschestes Kleid aus dem Winterschlaf erweckt, es gründlich gereinigt und die zartgrüne Schleife im Rücken sorgfältig gebügelt. Heute war ein ganz besonderer Tag. Endlich würde sie sich offiziell als Tierpflegerin in der kaiserlichen Menagerie vorstellen. Zu arbeiten würde sie erst nächste Woche, am ersten Montag im August, beginnen. Seit sie sich zurückerinnern konnte, träumte sie davon, eines Tages in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Karl Moser war Veterinärmediziner, der neben seiner Praxis in Hietzing auch im Tiergarten Schönbrunn tätig war. Schon als kleines Mädchen hatte Emma ihn bei seiner Arbeit in die kaiserliche Menagerie begleiten dürfen. Sie hatte die Panzer von Riesenschildkröten gestreichelt, Lamas gefüttert und Papageien und Flamingos beobachtet. Damals war ihr Wunsch entstanden, Tierärztin zu werden. Doch leider waren Frauen für das Studium der Veterinärmedizin in Wien nicht zugelassen. Sie würde zur Ausbildung nach Zürich gehen müssen. Dort durften auch Frauen studieren, sofern sie genug Geld besaßen und für ihre Ausbildung bezahlen konnten. Emma sparte seit Jahren. Sie legte jede Krone und jeden Heller zur Seite. Wenn ihre Nachbarin Frau Schönborn zur Sommerfrische nach Baden fuhr, versorgte Emma ihre Katzen. Sie bewässerte die Blumen vom pensionierten Leutnant Fellner, wenn er seinen Bruder in Böhmen besuchte. Emmas Sparstrumpf wurde mit jedem Monat schwerer. Mit dem Geld, das sie im nächsten Jahr im Zoo verdiente, und einer finanziellen Unterstützung ihres Vaters, würde sie sich im Herbst des kommenden Jahres ihren Traum erfüllen können und nach Zürich gehen.
Jetzt stand sie fertig angezogen im Garten und wartete ungeduldig. Wo blieben nur ihre Schwester und ihr Vater? Sie hatten schon vor Minuten aufbrechen wollen.
»Greta, Papa, kommt ihr?«
Heute war Gretas zwanzigster Geburtstag. Grund genug für ihren Vater, sich freizunehmen, um mit seinen beiden Töchtern, den Tag gebührend zu feiern. Der traditionelle Ausflug in den Tiergarten war geplant. Seit Emma sich zurückerinnern konnte, waren sie an jedem Geburtstag in den Zoo gegangen. Sowohl an ihrem als auch an Gretas.
»Immer mit der Ruhe!« Karl Moser trat gemächlich aus dem Haus. Er trug einen hellen Sommeranzug mit einem Strohhut. In seiner Rechten hielt er einen Spazierstock, das wichtigste Modeaccessoire eines Mannes. »Die Tiere laufen uns nicht davon.«
Endlich kam auch Greta hinunter in den Garten. Sie hatte sich sehr schick gemacht und trug ihr schönstes Sommerkleid aus dunkelgelbem Stoff. Sie hatte es selbst genäht. Greta war sehr geschickt im Umgang mit Nadel, Schere und Stoff. Ganz im Gegenteil zu Emma. Die beiden Schwestern hätten unterschiedlicher nicht sein können, sowohl was ihre Interessen betraf als auch ihr Aussehen. Während Emmas Haar kastanienbraun und schier unzähmbar schien, hatte Greta wundervoll glänzende schwarze Locken, die sie zu kunstvollen Zöpfen flocht. Emma war als Kind so dürr gewesen, dass ihre Schwester sie jeden Abend zu einer Tasse Kakao genötigt hatte. Greta hingegen hatte üppige weibliche Rundungen. Alles an ihr war weich und sanft. Ihr Körper wie auch ihr Wesen.
»Du bist wunderschön«, seufzte Emma bewundernd. »Wenn Gustav dich sieht, wird er dir auf der Stelle einen Heiratsantrag machen.«
Greta errötete und kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Danke!«
»Dabei habe ich wohl auch ein Wörtchen mitzureden«, brummte Karl Moser. Es war kein Geheimnis, dass er seine Töchter seit dem viel zu frühen Tod seiner Frau über die Maßen behütete. Er versuchte, jede Gefahr von ihnen fernzuhalten. Am liebsten hätte er einen Glassturz über beide gestülpt. Und jetzt sollte er sie einem anderen Mann anvertrauen?
»Du kannst dir keinen besseren Schwiegersohn als Gustav wünschen«, sagte Emma. »Er ist einfach perfekt für unsere Greta.«
Die Wangen der Schwester färbten sich noch dunkler. »Er hat mich ja noch nicht einmal gefragt, ob wir heiraten wollen«, widersprach sie leise.
»Aber das wird er heute tun.« Emma war voller Zuversicht. »Es gibt keinen passenderen Zeitpunkt als deinen Geburtstag.« Sie wusste, dass Greta auf Gustavs Vorstoß wartete.
Karl Moser murmelte etwas Unverständliches in seinen dichten Vollbart. Emma und Greta wussten auch so, dass er Gustav Weber mochte. Der Bauingenieur aus Mürzzuschlag und Greta waren füreinander geschaffen wie kein anderes Paar. Sie verbrachten jede freie Minute zusammen, schmiedeten Pläne für eine gemeinsame Zukunft und hatten in all der Zeit noch nie ein böses Wort miteinander gewechselt. Es hatte den Anschein, als würden sie zu zweit auf Wolken schweben.
Als Emma, Greta und Karl Moser kurz darauf die Hietzinger Hauptstraße entlangspazierten, wartete Gustav bereits vor der Kirche Maria Geburt auf sie. Auch er hatte sich fein gemacht, trug seinen besten Anzug und hielt einen kleinen bunten Blumenstrauß in der Hand. Sobald er Greta erblickte, hellte sich sein Gesicht auf. Emmas Schwester strahlte. Die beiden sahen einander so glücklich an, dass auch Karl Moser sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte und nichts dagegen hatte, als Greta den Nachmittag statt gemeinsam im Zoo lieber mit Gustav im Palmenhaus verbringen wollte.
»Ich finde die tropischen Pflanzen viel interessanter«, entschuldigte sich Greta. Emma wusste, dass die Palmen ihrer Schwester ebenso unwichtig waren wie die Zebras. Sie wollte mit Gustav allein sein und hätte dafür auch die orientalisch-ägyptische Sammlung im kunsthistorischen Museum besucht.
»Wie du meinst«, sagte Karl Moser. »Das Palmenhaus ist ein sehenswerter Ort mit zahlreichen außergewöhnlichen Exponaten.«
Greta nickte artig.
»Dann treffen wir uns hinterher im Hietzinger Hof, um deinen Geburtstag gebührend zu feiern?«, schlug ihr Vater vor.
»Wir halten euch zwei Plätze im Schatten frei«, versprach Greta sichtlich erleichtert.
Weil der Kaiser seinen Zoo als Bildungsstätte für seine Untertanen betrachtete und keinen Vergnügungspark neben seinem Schloss duldete, gab es in der kaiserlichen Menagerie weder Restaurants noch Cafés. Natürlich hatten die Wiener Gastronomen rasch eine Lösung für das Problem gefunden. Innerhalb weniger Jahre hatte sich eine ganze Reihe schicker Lokale rund um die Menagerie angesiedelt, in denen sich die Gäste nach dem Besuch des Zoos stärken konnten. Bis vor seinem Tod hatte Johann Strauss jedes Wochenende im Dommayer seine Walzermelodien zum Besten gegeben. Am Tivoli gab es eine beliebte Rutschbahn. Und der Hietzinger Hof mit seinem Lichtspieltheater war nur eines von vielen schicken Gasthäusern mit gehobener Küche. Bei Schönwetter musste man Schlange stehen, um einen der schattigen Plätze im Garten zu ergattern.
»Fein!« Emma rieb sich die Hände. »Ich freue mich jetzt schon auf ein Himbeerkracherl.«
Während Gustav und Greta die Schlossallee bereits nach wenigen Metern verließen, um zum Palmenhaus abzubiegen, liefen Emma und ihr Vater weiter bis zum Eingang der Menagerie. Rechts und links säumten Kastanienbäume den Weg. Ein paar von ihnen trugen noch weiß-rosa Blüten. Hinter den Bäumen breitete sich eine barocke Gartenanlage aus. Perfekt geschnittene Buchsbäume umsäumten Blumenbeete, in denen nichts dem Zufall überlassen war. Das Meer an Blüten war nach Farbe und Wuchshöhe geordnet. Jede Pflanze hatte einen bestimmten Platz. Täglich war eine ganze Armee an Gärtnern damit beschäftigt, die künstliche Harmonie zu erschaffen und zu erhalten. Emma ertappte sich jedes Mal bei dem Wunsch, einen der riesigen Pflanztöpfe umstellen zu wollen, damit ein bisschen Abwechslung in das Bild kam. Zwanghafte Ordnung war ihr ein Gräuel.
Gemeinsam mit anderen Besuchern spazierten Emma und ihr Vater über den gekiesten Weg. An niedrigen Nebengebäuden vorbei gelangten sie zum Zentrum der Menagerie, dem Papageienkäfig, einem runden Bau, der sich auf einem Sockel befand. Der Pavillon erstrahlte im satten Schönbrunner Gelb. Die Gitterstäbe der Käfige waren dunkelgrün gestrichen. Diese beiden Farben fanden sich auch in allen anderen Gebäuden des Zoos wieder. Vom Papageienpavillon führten strahlenförmig angelegte Wege zu den verschiedenen Tierhäusern.
»Wir treffen Franz bei den Elefanten«, erklärte Karl Moser.
Franz Geiger war der leitende Tierpfleger im Zoo. Auch wenn er einige Jahre älter war als ihr Vater, hatte sich über die vielen Jahre der Zusammenarbeit eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden Männern entwickelt. Emma hatte Franz die Stelle im Zoo zu verdanken. Er hatte sich beim Zoodirektor Alois Kraus persönlich für sie eingesetzt.
Hinter dem Bärengehege lag das Dickhäuterhaus. Schon von Weitem sah Emma die Menschentraube, die sich rund um das Außengehege gebildet hatte. Wer in den hinteren Reihen stand, musste geduldig warten, bis er nach vorne durfte. Doch das Warten lohnte sich. Bei Schönwetter konnte man die Tiere im Freien ohne Bezahlung bestaunen. Wollte man in eines der Häuser gehen, musste man eine Eintrittskarte bei den Automaten lösen, die davor angebracht waren. Auf diese Weise konnte ein Teil der enormen Kosten des Zoos beglichen werden. Freilich kam für den Hauptteil der Ausgaben der Kaiser selbst auf.
Franz Geiger stand neben dem Tierhaus und blickte suchend umher. Als er sie schließlich erblickte, winkte er sie fröhlich zu sich.
»Servus, Franz!« Die Männer begrüßten einander herzlich mit einem Händeschlag.
Dann wandte Franz sich an Emma. »Sieh einer an, das Fräulein wird tatsächlich in die Fußstapfen des Herrn Papa treten.« Er tippte sich zum Gruß an seine Uniformmütze und verbeugte sich vor Emma. Sie hatte den Mann noch nie in etwas anderem als seiner dunkelgrünen Uniform gesehen. Auch außerhalb seiner Arbeitszeit trennte sich Franz nicht von seiner offiziellen Kleidung. Nur seine Schürze legte er ab, wenn er den Tiergarten verließ.
»Na ja, ich habe es zumindest vor«, sagte Emma.
»Wenn Sie bloß halb so ehrgeizig sind, wie ich denke, werden Sie Ihr Ziel erreichen.« Der Pfleger klang zuversichtlich.
»Warum sind die Kühe im Freien?«, fragte Emma. Vom abgetrennten Bereich der Pfleger aus hatten sie einen freien Blick auf das Gehege. Im hinteren Teil standen zwei Elefanten in der Ecke und rollten ihre Rüssel ein. Ein Tier schwang das rechte Vorderbein. Beides waren Zeichen von Nervosität. Das hatte Emma von ihrem Vater gelernt.
Es gab drei Tiere im Zoo: Pepi, Mitzi und Mädi. Die Elefanten zählten zu den Hauptattraktionen der Menagerie. Als vor acht Jahren das erste Elefantenjunge, Mädi, in Gefangenschaft zur Welt gekommen war, hatte man das Ereignis nicht nur in Wien gefeiert. Die Nachricht war um die ganze Welt gegangen und hatte ein neues Kapitel in der Zoogeschichte geschrieben.
»Wir haben Pepi separieren müssen«, erklärte Franz. »Er ist aggressiv geworden und hat die beiden Damen attackiert.«
»Warum hat er das getan?«, fragte Emma.
Franz hob die Schultern und seufzte. »Ich weiß es nicht.«
Jetzt trat ein Tierpfleger aus dem Stall und ging auf die Elefanten zu. Er trug einen langen Stecken mit einem Haken vorne dran. Kaum dass er sich den Tieren näherte, setzte sich das größere der beiden, Mitzi, in Bewegung. Wie auf Kommando folgte ihr ihre Tochter Mädi. Die Elefanten hatten sichtlich Angst vor dem spitzen Haken, mit dem sie so lange gequält worden waren, bis ihr Wille gebrochen war. Als Mädchen hatte Emma immer wegsehen müssen, wenn einer der Tierpfleger die Elefanten damit gestochen hatte. Sie war fest davon überzeugt, dass es auch einen anderen Weg gab, Tiere zu halten. Und ab nächster Woche würde sie endlich damit anfangen können, ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Emma konnte es kaum erwarten.
»Für welche Tiere werde ich zuständig sein?«, fragte sie Franz aufgeregt. »Darf ich zu den Elefanten?«
Franz runzelte die hohe Stirn. »Die Frauen im Zoo kümmern sich um die kleineren und weniger gefährlichen Tiere.«
»Aber die Elefanten sind doch nicht gefährlich«, entgegnete Emma entrüstet. Schon als Kind hatte sie Mitzi und Mädi regelmäßig füttern dürfen. Sie hatte zugesehen, wie ihr Vater Pepi einen Splitter aus dem Fuß gezogen hatte. Nach der Behandlung hatten sie Franz dabei geholfen, Mädi und Mitzi mit Wasser abzuspritzen, was die Tiere sichtlich genossen hatten. Bevor Emma den Stall verlassen hatte, hatte Mädi ihren Unterarm mit ihrer Rüsselspitze berührt. Heute noch konnte sich Emma an die weiche Berührung erinnern, die sich angefühlt hatte, als wäre ein Schmetterlingsschwarm ganz dicht über ihre Haut geflattert. Es erschien ihr völlig verkehrt, diese sanften Riesen mit Metallhaken zu malträtieren.
»Du wirst mit den Wasservögeln und Schildkröten beginnen«, sagte Franz.
»In Ordnung.« Emma versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Das ist nicht meine Entscheidung«, entschuldigte sich Franz.
»Wasservögel und Schildkröten sind fein«, beeilte sich Emma zu sagen. Sie konnte ja hinterher trotzdem den Elefanten, Giraffen und Affen einen Besuch abstatten.
»Ich werde am Ende des Monats mit Direktor Kraus reden«, versprach Franz. »Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste. An manchen Tagen ist mir die Arbeit zu viel. Ich will schon seit längerer Zeit das Affenhaus abgeben.«
»Das Affenhaus …«, wiederholte Emma mit glänzenden Augen. Sowohl ihr Vater als auch Franz unterdrückten ein Schmunzeln.
»Wenn du in Zürich studieren willst, wirst du dich mit allen Tieren beschäftigen müssen«, sagte ihr Vater.
»Ich weiß«, antwortete Emma fröhlich. »Aber ich darf doch trotzdem besondere Vorlieben für bestimmte Tiere haben.« Ihr Vater schien zu wissen, worauf sie anspielte. Karl Mosers Herz schlug für die Seehunde und Pinguine im Zoo.
»Ach, wir haben doch alle unsere Lieblinge«, meinte Franz. »Ich mag die Wölfe. Ich glaube, sie erinnern mich an den Hund, von dem ich immer geträumt habe.«
Gemeinsam gingen sie zu den Mannschaftsräumen, die neben dem Wirtschaftshof lagen. Der Weg führte an den Bären, den Raubtieren und Sumpfbibern vorbei. Emma fiel es schwer, nicht bei jedem Gehege stehen zu bleiben. Zu gerne hätte sie allen Tieren ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Vor einigen Gehegen drängten sich mehr Schaulustige als vor anderen. Die Wildhühner konnten nur wenige Menschen begeistern, während die Kängurus vor allem bei Familien mit Kindern beliebt waren.
Vor einem einstöckigen Gebäude hielt Franz schließlich an. »Hier sind die Garderoben für Männer und Frauen. Du wirst am Montag einen Schrank für die Arbeitskleidung zugeteilt bekommen.«
»Eine Uniform?«, fragte Emma und stellte sich vor, wie sie wohl in dem dunkelgrünen Anzug mit der steifen Mütze am Kopf aussehen würde.
»Eine Schürze«, antwortete Franz irritiert.
Auch hier gab es einen deutlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Wie gut, dass Emma gefragt hatte. Sie würde eines ihrer ältesten Kleider anziehen.
»Im hinteren Teil der Wirtschaftsgebäude befindet sich die Küche. Für einige Tiere wird Spezialnahrung gekocht. Du wirst in den ersten Wochen dort mithelfen.«
»Ich werde kochen?« Küchenarbeit gehörte nicht zu Emmas Lieblingsbeschäftigungen. Ganz im Gegensatz zu Greta, die gerne neue Rezepte ausprobierte, Kuchen und Kekse backte und sich jetzt schon aufs Einkochen der Gartenmarillen in ein paar Tagen freute.
Karl Moser blieb ihre Enttäuschung nicht verborgen. »Du lernst eben alles von der Pike auf. Das hat große Vorteile, glaube mir.«
Emma nickte. Sie hatte immer gewusst, dass der Weg, den sie vor sich hatte, nicht einfach werden würde. Die erste Hürde, die Matura, hatte sie vor einem Monat mit Bravour gemeistert. Zwar stand in ihrem Zeugnis nicht der Zusatz »Reif zum Besuch der Universität«, denn dieser Beisatz war in Wien nach wie vor den jungen Männern vorbehalten, für die Zulassung zum Studium in Zürich war das jedoch egal. Dort zählten ihre Noten, und die waren hervorragend.
Zuversichtlich strahlte Emma ihren Vater an. »Ich werde so viel lernen, wie ich nur irgendwie kann«, versprach sie. »Am liebsten würde ich sofort eine Schürze umbinden und mit der Arbeit beginnen.« Das war nicht gelogen.
Karl Moser lachte. »Das wäre jammerschade. Dieses Kleid hat ein Vermögen gekostet.«
»Dann sehen wir uns am Montag um acht Uhr?«, fragte Franz.
»Ich bin mit Sicherheit pünktlich.«
»Daran zweifle ich keinen Augenblick.«
Emma und ihr Vater verabschiedeten sich von Franz und machten einen ausgedehnten Spaziergang durch den Zoo. Sie besuchten das Affenhaus und schauten sich danach die Reptilien an. Auch die Seehunde und Pinguine ließen sie nicht aus. Erst als Emmas Magen so laut knurrte, dass ihr Vater ihn trotz der enormen Geräuschkulisse hören konnte, drängte er: »Es ist höchste Zeit für eine Jause mit unserem Geburtstagskind im Hietzinger Hof, was sagst du?«
Emma widersprach nicht, denn schon am Montag würde sie wieder hier sein. Und ab dann jeden Tag.
Über die Kastanienallee kehrten sie zurück zum Ausgang. Emma malte sich aus, wie ihr erster Arbeitstag wohl werden würde. Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie die lauten Stimmen außerhalb des Schlossgartens nicht wahrnahm. Erst als das Gejohle vom Tröten von Hupen und Schlagen von Trommeln begleitet wurde, erwachte ihre Aufmerksamkeit.
»Was ist da los?«, fragte sie ihren Vater.
»Vielleicht haben die Vienna und die Hakoah wieder gegeneinander gespielt?«
Obwohl der Fußball ein sehr junger Sport war und die ersten Vereine erst seit rund zehn Jahren gegeneinander antraten, erfreute sich der Ballsport großer Beliebtheit. Jedes Wochenende strömten die Wiener zu den Sportplätzen.
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Emma. »Ein Fußballspiel ist doch kein Grund, dass Männer wie Frauen in so großen Gruppen durch die Stadt laufen. Noch dazu an einem Dienstag.« In ausgelassener Stimmung zogen zahlreiche Feiernde über die Hietzinger Hauptstraße. Sie wedelten mit kleinen Fähnchen in den Farben des Habsburgerhauses und riefen Parolen, die Emma immer noch nicht verstehen konnte. Der Umzug erinnerte an den Faschingsausklang. Ein Zeitungsjunge lief ihrem Vater fast direkt in die Arme. Karl Moser hielt den barfüßigen Jungen auf. Die Kappe rutschte dem Burschen tief in die Stirn. Er schob sie keck zurück.
»Was ist los, warum feiern die Menschen?«, fragte Karl Moser.
»Haben Sie’s noch nicht gehört?«
»Würde ich fragen, wenn ich Bescheid wüsste?«
Der Junge hielt ihm die Abendausgabe der Wiener Zeitung vor die Nase. »Da steht’s«, sagte der Junge aufgeregt. »Der Kaiser hat den Serben den Krieg erklärt.«
Die Nachricht traf Emma wie ein Schlag ins Gesicht. Krieg! Sie hatte dieses Wort bisher nur aus Geschichten gekannt. Die letzten großen Schlachten in Solferino oder Königgrätz hatten lange vor ihrer Geburt stattgefunden. Emma war in einer Phase des Friedens groß geworden. Er war für sie eine Selbstverständlichkeit, über die sie nie nachgedacht hatte.
Ihr Vater drückte dem Jungen eine Münze in die Hand und kaufte ihm die Zeitung ab. Der Bub tippte sich an die Kappe und lief weiter. »Krieg«, rief er aufgeregt. »Der Kaiser hat den Serben den Krieg erklärt.«
Auf der Stirn ihres Vaters hatten sich tiefe Sorgenfalten gebildet, während der Mann, der neben ihm stehen geblieben war, laut jubelnd seinen Hut in die Höhe warf.
»Sie scheinen einen Krieg mit einem Volksfest zu verwechseln«, murmelte Karl Moser finster.
»So freuen Sie sich doch!« Der Mann lachte. »In ein paar Wochen ist der Spuk wieder vorbei. Wir verpassen den Serben einen Denkzettel. Höchste Zeit, dass der wilde Haufen am Balkan wieder pariert. Die glauben, dass sie sich alles erlauben können. Kassieren Geld aus Wien und wollen ständig Extrawürste.«
»Das Pack hat unseren Thronfolger erschossen«, mischte sich die Frau neben ihm ein. Singend schlossen sich beide dem Tross Feiernder an und zogen mit ihnen Richtung Schloss Schönbrunn. Es hatte den Anschein, als wollten die Menschen dem Kaiser höchstpersönlich zu seiner Entscheidung gratulieren.
»Was ist, Papa?«, fragte Emma unsicher. Das Gesicht ihres Vaters hatte jede Farbe verloren. Noch nie hatte sie ihn so erschüttert gesehen.
»Ich bin nicht sonderlich gläubig«, sagte er ernst. »Aber wir sollten beten, dass der Mann recht hat und der Krieg zu Weihnachten wieder beendet ist.«
»Und wenn nicht?«, fragte Emma ängstlich.
»Dann stehe Gott uns bei.«