Susanne Abel
Stay away from Gretchen
Eine unmögliche Liebe
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Susanne Abel stammt aus einem badischen Dorf an der französischen Grenze, arbeitete bereits mit siebzehn Jahren als Erziehungshelferin und später als Erzieherin. Nach einer Ausbildung zur Puppenspielerin landete sie über den Weg des Theaters beim Fernsehen. Sie schloss ein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin ab und realisiert seither als Autorin und Regisseurin zahlreiche Dokumentationen fürs Fernsehen. Die Autorin lebt und arbeitet in Köln.
Der Kölner Nachrichtenmoderator Tom Monderath macht sich Sorgen um seine 84-jährige Mutter Greta, die mehr und mehr vergisst. Als die Diagnose Demenz im Raum steht, ist Tom entsetzt. Bis die Krankheit seiner Mutter zu einem Geschenk wird: Erstmals in ihrem Leben erzählt Greta von sich – von ihrer Kindheit in Preußisch Eylau mit den geliebten Großeltern, der Flucht vor den russischen Soldaten im eisigen Winter, ihrer Begegnung mit dem GI Robert Cooper in Heidelberg. Ist all das der Schlüssel, um Gretas Traurigkeit zu verstehen, die auch Toms Kindheit überschattet hat?
Als Tom auf Briefe und Bilder aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stößt, kommt er einem unglaublichen Geheimnis auf die Spur. Wer ist das kleine Mädchen auf dem Foto, das Greta wie einen Schatz hütet? Mehr und mehr erkennt Tom, dass auch sein Lebensglück mit der Vergangenheit seiner Mutter verknüpft ist ...
Originalausgabe 2021
6. Auflage 2021
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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eBook-Herstellung: Greiner & Reichel, Köln (06)
eBook ISBN 978-3-423-43831-5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28259-8
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423438315
Für meine Eltern Else und Werner in liebevoller Erinnerung und Dankbarkeit
»Geschichte, wie bitter sie auch sein mag, ist Realität, die täglich in unserer Gegenwart und die in unsere Zukunft fortwirkt.«
Willy Brandt in einer Rede in Jerusalem am 7. Juni 1973
»In zwei Minuten sind wir live!«, ruft der Aufnahmeleiter durch das Nachrichtenstudio.
Die Kameramänner setzen ihre Kopfhörer auf.
»Wo ist Toms Cola? Und Sabine mit der Krawatte?«
Anchorman Tom Monderath nimmt hinter seinem Moderationspult Platz.
»Wir sind noch am Innenminister dran – eventuell haben wir eine Liveschalte, die du spontan anmoderierst. Ich geb’s dir dann aufs Ohr«, sagt die Regisseurin über den Studiolautsprecher.
Tom nickt, zieht am Strohhalm, schlürft die eiskalte Cola und probt murmelnd den Eröffnungstext: »Überall im Land werden Temperaturrekorde gemessen. Unwetter legten heute weite Teile von Deutschland lahm. Vor allem für ältere und kranke Menschen ist die Hitze eine Gefahr …«
»Die Eins etwas closer, die Zwei macht die übliche Fahrt«, gibt die Regie an die Kameramänner durch, und über die Studiolautsprecher ertönt: »Noch mal Maske bitte!«
»Noch eine Minute!«
»… nachdem gestern die höchsten Temperaturen des Jahres gemessen wurden, kam es heute in vielen Krankenhäusern …«
Sabine, Toms Assistentin, richtet mit ungewöhnlich fahrigen Händen seinen Krawattenknoten über dem Hemd.
»Was ist los?«, fragt er leise und deckt mit seiner Hand das Mikro ab.
»Ich hab … mein Vater … Mein Vater ist tot, und ich …« Den Rest des Satzes verschluckt Sabine und dreht sich weg. Das Glas Cola fällt um. Braune Spritzer zieren Toms weißes Hemd.
»Scheiße!«
Seine Assistentin hilft ihm aus dem Blazer. Der Aufnahmeleiter läuft mit dem Ersatzhemd an den Kameramännern vorbei.
»Noch dreißig!«
»Sorry«, stammelt Sabine.
»Mach dir keinen Kopf. Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragt Tom, schlüpft in sein frisches Hemd und stopft es in die Hose.
»Noch fünfzehn, alle aus dem Bild!«
Der Musikticker setzt ein.
Sabine schüttelt den Kopf und richtet Toms Krawatte.
»Letzter Trailer … Achtung, in zehn …«
»Danke«, sagt Tom, streift ihre Schulter und nimmt Platz.
Sabine springt zur Seite.
»Und fünf, vier, drei, zwei …«
»Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es folgen die wichtigsten Meldungen vom 5. Juli 2015.«
*
»Guten Abend, mein sehr verehrter Schatz«, antwortet die vierundachtzigjährige Greta neun Kilometer rheinaufwärts von ihrem Fernsehsessel aus und prostet ihm mit einem Tässchen Pfefferminztee zu. »Nicht schlecht, die Krawatte heute. Aber ich weiß ja nicht, warum deine Haare so kurz sein müssen. Findest du wirklich, dass dir das steht?« Sie nimmt den Teller mit den Schnittchen von ihrem Dinett-Servierwagen, der genauso alt ist wie ihr zu großes Domizil, und beißt von ihrem Leberwurstbrot ab.
»Natomanöver in der Ukraine. Den Krieg in der Ukraine und Putins Kraftmeiereien kann der Westen nicht länger hinnehmen …«
»Putin, dieser Weiberheld«, sagt sie und pult ein Stückchen Gurke aus ihren Zähnen, hört nebenbei, wie die amerikanische Präsidentschaftskandidatin Clinton vor der zunehmenden militärischen Macht der Chinesen warnt. Auch dass der griechische Ministerpräsident Tsipras über Schulden verhandeln will, beachtet sie nicht weiter, denn wie jeden Abend wartet sie nur auf eines: den speziellen Spruch zur Nacht, mit dem sich der Moderator verabschiedet.
»›Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten‹, soll August Bebel gesagt haben. Ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht.«
»Das wünsche ich dir auch, mein Schatz.« Greta schaltet den Fernseher aus und schiebt das schmutzige Geschirr mit dem Servierwagen Richtung Küche. Anfang der Sechzigerjahre ist sie in dieses Mietshaus mit den sechs Parteien eingezogen, das ihr Ehemann Konrad direkt am Rhein in Köln-Porz gebaut hat. Hier ist ihr Sohn Thomas aufgewachsen, und hier lebt sie seit dem überraschenden Tod ihres Mannes vor nahezu achtzehn Jahren auf einhundertsechzig Quadratmetern alleine.
Greta räumt das Geschirr in die Spülmaschine und denkt an Tom, wie alle ihren Jungen nennen. Sie erinnert sich nicht, wann sie ihn zum letzten Mal persönlich gesehen hat. Dabei wohnt er doch nur wenige Kilometer von ihr entfernt, mitten im Zentrum von Köln. Gut, er ist beruflich eingespannt, aber das ist noch lange kein Grund, sich nicht ab und zu telefonisch zu melden.
»Hier ist Mama«, sagt Greta Monderath betont heiter in ihren grünen Telefonhörer. »Lebst du noch? Ich wollte mich mal wieder bei dir melden, wenn du schon nicht anrufst, treulose Tomate du. Hallo?« Sie erzählt ihm von ihrem Tag, an dem sie wegen der großen Hitze nicht vor die Tür gegangen ist. Mitten im Satz wird sie von einer weiblichen Stimme unterbrochen: »Vielen Dank für Ihren Anruf.«
Durch das Wohnzimmerfenster sieht sie, wie sich über dem Rhein dunkle Wolken zusammenziehen. Es grollt und donnert.
»Das passt nicht zu ihm. Wochenlang nichts von sich hören lassen.«
Blitze zucken über dem Campingplatz auf der gegenüberliegenden Rheinseite. In Gretas Kopf überschlagen sich die Bilder vom kleinen Tom, wie er sich früher aus Angst vor Gewitter immer unters Bett verkrochen hat.
Ein Donner kracht. In ihrem rosafarbenen Hauskleid und Pantoffeln an den Füßen stolpert Greta aus der Wohnung, steigt in der Tiefgarage in ihren 3er BMW von 1996, legt den Rückwärtsgang ein, wendet und rast los, sobald sie auf der Straße ist. Schwarze Regenwolken haben den Sommerhimmel verdunkelt. Sie biegt auf die Kölner Straße ab und tritt das Gaspedal durch. Diesen Weg ist sie schon tausendmal gefahren, sie weiß, dass sie in zwanzig Minuten in der Innenstadt sein wird. Doch so weit kommt sie nicht, denn nach anderthalb Kilometern, vor der Autobahnbrücke, ist eine Vollsperrung.
Zwei Krankenwagen rasen an ihr vorbei. Ein Feuerwehrauto folgt. Blaulicht zerschneidet die Dunkelheit. In einem Schwall stürzt Regen vom Himmel, prasselt auf das Dach und hämmert gegen die Windschutzscheibe.
»Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann doch hier nicht wenden.«
Der Scheibenwischer kämpft mit den Wassermassen. Die anderen Autofahrer überholen sie langsam auf der Gegenspur und biegen nach links ab. Der stroboskopische Effekt des Flackerlichts macht sie kirre. Sie hat nur einen Gedanken: weg hier. Greta gibt sich einen Ruck, schert aus und fährt den anderen Autos hinterher. Dabei orientiert sie sich an den Rücklichtern des Vordermannes, biegt wie er links ab, dann rechts und landet auf der Autobahn.
»Was mach ich nur? Was mach ich nur?« Sie krallt sich mit beiden Händen am Lenkrad fest und starrt auf das Hinweisschild des Autobahnkreuzes.
»Gremberg, Gremberg.«
Sie weiß, dass sie hier rausfahren muss, um wieder zurück nach Köln zu kommen. Ein SUV fährt dicht hinter ihr auf, gibt Lichtzeichen und hupt. Sie macht das Fernlicht an, drückt das Gaspedal durch, traut sich nicht, den Lenker loszulassen, um den Schaltknüppel zu bedienen – und fährt am Kreuz Gremberg vorbei. Mit sechzig km/h im zweiten Gang.
Im Kegel ihres Scheinwerfers taucht ein blaues Hinweisschild auf: Autobahndreieck Heumar 1000 Meter.
»Heumar. Da muss ich runter! Ja!«
Ein holländischer Blumenlaster setzt sich links neben sie, überholt nicht, sondern bleibt hupend parallel. Greta starrt mit aufgerissenen Augen stur geradeaus. Bloß nicht von der Spur abkommen und mit dem LKW kollidieren, denkt sie und verpasst die Abfahrt zurück nach Köln.
Die weißen Streifen der Fahrbahnmarkierung fliegen ihr entgegen, und das Hupen der anderen Verkehrsteilnehmer verstummt. Sie hört das Quietschen der trocken laufenden Wischerblätter nicht, landet auf der A3 und fährt konstant mit sechzig km/h weiter durch die Nacht Richtung Südosten. Den Gedanken umzukehren hat sie längst vergessen.
Vier Stunden später, zwischen Aschaffenburg und Würzburg, ruckelt ihr Wagen und bleibt auf einem Anstieg mit leerem Benzintank liegen. Greta hört, wie der Regen auf die Scheibe prasselt. Darunter mischt sich nach einer Weile eine lauter werdende Polizeisirene. Im Rückspiegel flackerndes Blaulicht. Die Fahrertür wird aufgerissen.
»Was ist passiert?« Ein junger Autobahnpolizist leuchtet ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht.
Sie starrt ihn an und schlottert. Der Polizist greift über sie zum Lenkrad, ruft nach seinem Kollegen und schiebt dann gemeinsam mit diesem den alten BMW auf den Seitenstreifen.
»Bringen Sie mich nach Hause, bitte!«
»Wo ist denn zu Hause?«
Greta überlegt. »In Preußisch Eylau.«
»Wo ist das denn?«
»Ostpreußen.«
Der junge Beamte fordert sie auf, auf der Rückbank des Polizeiautos Platz zu nehmen, und verlangt ihre Papiere. Sie hat nichts dabei.
»Wie heißen Sie?«
»Schönaich. Greta Schönaich. Am 7.3.1931 geboren.«
»Können wir irgendjemanden aus Ihrer Familie erreichen?«
»Meine Großeltern warten auf mich!«
Die beiden Autobahnpolizisten werfen sich einen Blick zu.
»Haben Sie sonst jemanden? Eine Tochter vielleicht oder einen Sohn?«
»Ja, ich habe eine Tochter.«
»Und wo wohnt die?«
Greta blickt durch ihn hindurch. »Mein Sohn ist im Fernsehen.«
»Alles klar«, sagt der Polizist, und dann fahren er und sein Kollege sie mitten in der Nacht direkt ins Aschaffenburger Klinikum.
*
»Es besteht der dringende Verdacht auf Demenz. Sie sollten Ihre Mutter untersuchen lassen«, sagt Oberarzt Dr. Wirth Tom Monderath, der am frühen Morgen von der Polizei informiert worden ist, dass Greta verwirrt zweihundertfünfzig Kilometer von Köln entfernt aufgefunden wurde.
»Das kann nicht sein.« Tom reibt seine müden Augen. Alles in ihm weigert sich, das, was er hört, an sich herankommen zu lassen. »Ich war vorgestern mit ihr essen. Sie war völlig normal, wie immer. Das wäre mir doch aufgefallen.«
»Natürlich kann es auch andere Ursachen geben«, sagt Dr. Wirth und stellt in den Raum, dass auch Depressionen, Abflussstörungen der Hirnrückenmarksflüssigkeit, Schilddrüsenunterfunktion oder Nebenwirkungen von Medikamenten einen derartigen Zustand verursachen können.
»Und es kann natürlich auch mit dieser Hitze zusammenhängen. Die macht vielen alten Menschen zu schaffen. Sie sollten das auf jeden Fall mit dem Hausarzt Ihrer Mutter besprechen.«
*
Eine Etage höher riecht es nach Desinfektionsmittel und Urin. Greta schlägt die Augen auf und schaut sich verstohlen um. Neben ihr steht ein Bett, in dem eine alte Dame liegt.
»Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wo ich hier bin?«, fragt sie.
Die spindeldürre Greisin neben ihr brabbelt Unverständliches und blickt ins Leere. Greta sieht den Toilettenstuhl, den Haltegriff über ihrem Bett, ihr Nachthemd mit den zu kurzen Ärmeln und folgert, dass sie in einem Krankenhaus sein muss. Sie versucht, aus dem Bett zu steigen, doch rechts und links sind Gitter angebracht, die das verhindern.
»Hallo!«, ruft sie. Als niemand reagiert, klettert sie über die Absperrung, hält sich das Nachthemd hinten zu und irrt suchend den langen Krankenhausflur entlang. Am Schwesternzimmer poltert sie mit ihren Fäusten gegen die Scheibe.
»Was ist los? Warum bin ich hier? Und wo sind meine Kleider?«
»Sie müssen zurück auf Ihr Zimmer«, ruft eine junge Schwester in fränkischem Dialekt, läuft zu Greta auf den Flur und packt sie am Arm.
»Gar nichts muss ich!«, wehrt sie sich. Sie kann es nicht leiden, wenn man an ihr herumzerrt. »Ich bestehe darauf, dass Sie mir meine Sachen zurückgeben und ein Taxi rufen.«
Eine weitere Pflegerin, das Schild weist sie als Stationsschwester aus, kommt hinzu und hakt sich bei Greta unter, um sie auf ihr Zimmer zu begleiten.
Greta mag vielleicht alt sein, doch sie ist körperlich fit und wehrt sich mit Händen und Füßen. »Das ist Freiheitsberaubung! Das wird ein Nachspiel haben.«
»Ja, sicher«, sagt die Stationsschwester routiniert, schiebt Greta einen Rollstuhl unter den Hintern, und mit gekonntem Griff von beiden Seiten bugsieren sie und die junge Pflegerin die alte Dame hinein.
»Warten Sie nur, bis mein Sohn hier ist. Er arbeitet beim Fernsehen!«
»Klar. Mein Vater ist der Chef vom Vatikan.«
In diesem Moment betritt ihr schlaksiger, zwei Meter großer Sohn, der berühmte Moderator Tom Monderath, neben einem Arzt die Station. Als die Schwestern ihn sehen, lassen sie Greta sofort los.
»Tom!«, ruft sie, springt aus dem Rollstuhl, hetzt ihm mit wehendem Nachthemd entgegen und stolpert ihm in die Arme. »Gott sei Dank, dass du endlich da bist!«
Die Krankenschwestern werfen sich einen aufgeregten Blick zu, offensichtlich kennen sie diesen Nachrichtenmann.
»Mam, was machst du denn? Was ist los mit dir?«, flüstert Tom und hält ihr Nachthemd zusammen. »Haben Sie vielleicht einen Bademantel, Dr. Wirth?«
»Sicher«, antwortet dieser, gibt die Bitte an die Stationsleiterin weiter und führt Mutter und Sohn nach einer kurzen Vorstellung ins Arztzimmer. »Wie fühlen Sie sich denn heute Morgen?«
»Na, wie soll ich mich denn fühlen, junger Mann?«, antwortet Greta schnippisch.
»Wissen Sie, wie Sie hierhergekommen sind?«
»Wissen Sie es?«
»Können Sie mir sagen, welchen Tag wir heute haben?«
»Wissen Sie das etwa auch nicht?«, kontert sie.
*
Unglaublich, denkt Tom und hört sich an, wie seine betagte Mutter den Oberarzt auflaufen lässt. Sie soll dement sein? Im Leben nicht!
Sein Smartphone vibriert. Die Kölner Redaktion versucht ihn zu erreichen.
»Wo kann ich denn kurz in Ruhe telefonieren?«
»Kommen Sie«, sagt die Stationsschwester und führt ihn auf den Balkon. Toms Blick fällt auf einen übervollen Aschenbecher. »Sie können hier auch rauchen. Ist zwar nicht erlaubt, aber Sie sehen ja.«
Er zögert kurz. »Danke, aber ich hab’s mir abgewöhnt.«
Als er allein ist, lässt Tom sich auf dem ramponierten Campingstuhl nieder und wählt die Nummer seiner Assistentin. »Sabine, ich schaffe das nicht bis zur Redaktionskonferenz.«
»Hier ist Jenny«, meldet sich stattdessen eine rauchige Stimme. »Ich wollte …«
»Gib mir Sabine.«
»Sabine ist nicht da. Ich bin ihre Urlaubsvertretung.«
Tom beendet das Gespräch und wählt die Nummer des Redaktionsleiters. »Sabine ist in Urlaub, Clemens?«, fragt er und studiert, ob im Aschenbecher Kippen sind, die man noch einmal anzünden könnte.
»Sonderurlaub, es gab einen Todesfall in ihrer Familie. Ich weiß, dass du mit Jenny nicht kannst, aber sie ist gut und die Einzige, die auf die Schnelle einspringen konnte«, sagt Clemens.
»Fuck!« Tom wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Ich schaffe es nicht zur Konferenz.« Er blickt auf seine Armbanduhr. Es ist kurz nach zwölf. Wenn er hier zügig loskommt und die Autobahn halbwegs frei ist, müsste er um siebzehn Uhr zurück sein. Genug Zeit, um die Abendsendung vorzubereiten.
»Ist was passiert?«, fragt sein Redaktionsleiter.
»Nein. Ich muss nur was organisieren.«
Die Nachricht, dass der aus dem Fernsehen und Klatschzeitschriften bekannte Journalist anwesend ist, scheint sich wie ein Lauffeuer in der Klinik verbreitet zu haben. Auf dem Flur tummeln sich auffallend viele Schwestern, die versuchen, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Tom lächelt, schiebt sich die schwarze Baseballmütze tiefer ins Gesicht und sucht den Weg zum Besprechungszimmer.
Dort sitzt Greta in einem drei Nummern zu großen Jogginganzug auf der Behandlungsliege.
»Die denken, ich bin plemplem.«
»Wo ist denn der Arzt?«, fragt Tom.
»Also, die haben mir jetzt schon ein Loch in den Bauch gefragt. Das kann ich nun wirklich nicht auch noch wissen.«
»Verflucht! Ich muss zurück nach Köln.«
»Kannst du dich mal setzen. Du machst einen ja ganz verrückt. Und nimm endlich diese Mütze ab, du hast so schöne blonde Haare.«
Tom reißt die Tür auf, um Dr. Wirth oder einen anderen Arzt zu suchen, und stolpert fast über eine hochgewachsene Blondine im weißen Kittel, die von der anderen Seite die Türklinke in der Hand hat.
»Sorry«, sagt Tom.
Die Assistenzärztin stellt sich vor und setzt sich hinter den Schreibtisch.
»Hören Sie, Frau Doktor, ich habe keine Zeit.«
»Bevor wir Ihre Mutter entlassen können, müssen wir noch die Personalien aufnehmen. In welcher Krankenkasse ist sie?«
Tom schaut Greta fragend an.
»Techniker. Brauchen sie auch noch meine Mitgliedsnummer?«
»Die weißt du?«
»Sicher!« Greta betet die siebzehnstellige Versichertennummer herunter.
Die Ärztin grinst Tom an.
Schöne Augen, denkt er, lässt seinen Blick den langen Hals hinabwandern und liest auf ihrem Namensschild Dr. Nadine Ney. Für einen Augenblick vergisst er den Zeitdruck und den unangenehmen Grund dieses Aufenthalts.
»Jetzt brauche ich noch Namen und Adresse des behandelnden Hausarztes«, fragt sie über Gretas Kopf hinweg. Tom registriert, dass sie keinen Ehering an ihren schlanken Händen trägt.
»Das weiß der nicht! Schreiben Sie auf: Dr. Heinrich Fischer, Hauptstraße 397, 51143 Köln-Porz. Brauchen Sie auch noch die Telefonnummer?«
»Nein, danke.« Die Ärztin schmunzelt.
»Brauchen Sie meine Telefonnummer, Nadine?«, fragt Tom und schaut Dr. Ney in ihre braunen Augen. »Ich meine, nur für alle Fälle.«
»Ach ja, das ist sicherlich nicht verkehrt.« Die Ärztin streicht eine herausgefallene Strähne hinter ihr Ohr und steckt seine Visitenkarte in die Kitteltasche zum Stethoskop.
Ab dem Ortsausgangsschild von Aschaffenburg drückt Tom das Gaspedal durch, fädelt auf die Autobahn ein und rast mit zweihundertzwanzig km/h Richtung Köln.
»Warum fährst du ständig links?«, fragt seine Mutter auf dem Beifahrersitz und hält sich mit ihrer rechten Hand krampfhaft am Griff über der Beifahrertür fest, der nicht umsonst Angstgriff heißt. Ihre linke krallt sich in die Plastiktüte mit ihren Kleidern, die ihnen kurz vor der übereilten Abfahrt eine Krankenschwester übergeben hat. Bei jeder Gelegenheit bremst Greta automatisch, obwohl unter ihrem Fuß nichts ist als eine schwarze Gummimatte.
»Weil ich heute noch ankommen will. Zufälligerweise habe ich eine kleine Nebenbeschäftigung«, sagt Tom mit versteinerter Miene und stellt das Radio lauter.
»In Franken war es gestern mit 40,3 Grad so heiß wie in Rio. Der deutsche Hitzerekord wurde geknackt. Glaubt man alten Bauernregeln, bleibt das Wetter jetzt erst einmal so.«
Der Asphalt flimmert.
Aus den Boxen quäkt Namikas »Hallo Lieblingsmensch« zum gefühlt tausendsten Mal in diesem Sommer.
»Leeven Jott«, flucht Tom in breitestem Kölsch und schaltet das Radio wieder aus. Er hasst diese weinerliche Stimme, und noch mehr hasst er es, dass er sich nicht im Griff hat. DEMENZ. Dieses Wort darf sich nicht in seinem Hirn breitmachen. Er konzentriert sich auf das Atmen, versucht, sich zu beruhigen, und wirft seiner Mutter einen unsicheren Blick zu.
»Mam, jetzt erzähl mir mal alles, damit ich es kapiere.«
Greta schaut ihn an. »Wie?«
»Was ist passiert, dass du mitten in der Nacht durch halb Deutschland fährst?«
»Jetzt mach nicht so einen Aufstand. Ich hab dich früher auch überall rausgeholt. Und hab ich jemals gefragt? Bist du jetzt sauer, oder was?«
»Nein. Ich bin nicht sauer.« Tom weiß, dass er lügt. Er ist stinksauer. Er könnte platzen vor Wut.
»Mein Gott, Junge, vielleicht solltest du einfach mal weniger arbeiten. So viel Stress kann doch nicht gut sein.«
Tom weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Er hat knapp drei Stunden geschlafen, wurde von der Polizei geweckt, ist mitten in der Nacht nach Aschaffenburg gerast, wurde dort mit der Verdachtsdiagnose Demenz konfrontiert, und jetzt sitzt seine Mutter da und erzählt ihm in aller Seelenruhe von weniger Stress.
»Ich hätte auch mit meinem Auto zurückfahren können«, sagt Greta. »Wo ist es überhaupt?«
»Der ADAC wird es zurückführen. Aber meinst du nicht, dass es besser ist, wenn du das Autofahren ganz sein lässt?«
»Quatsch!«
»Mam, du bist fast fünfundachtzig.«
»Noch lange nicht!«
»Du hast dich auf der Autobahn nicht mehr zurechtgefunden.«
»Bin ich jetzt nichts mehr wert, weil ich ein Mal einen Fehler gemacht habe? Komm du erst mal in mein Alter.«
DEMENZ. Dieses Unwort wabert in seinem Kopf. Er will es loswerden, das Wort und vor allem den Gedanken daran, dass seine Mutter damit in Zusammenhang gebracht werden könnte. Das darf nicht sein. Das kann nicht sein. Nach Depressionen hat der Oberarzt gefragt, und Tom hat ihm keine Antwort gegeben, denn dieser Begriff ist tabu. Seine ganze Kindheit und Jugend waren geprägt davon, dass Mam tagelang im abgedunkelten Schlafzimmer verschwand und regelmäßig in sogenannten Sanatorien abtauchte. Mit ihr darüber geredet hat er immer nur indirekt.
»Nimmst du eigentlich noch diese Medizin, gegen …?«, versucht er es nebenbei.
»Du meinst diese Leck-mich-am-Arsch-Pillen?«
Er grinst. »Genau die!«
»Schon lange nicht mehr. Brauchst du welche?«
»Wenn du so weitermachst, ja!«, sagt er, wirft ihr einen verstohlenen Blick zu und ist erleichtert, dass das Telefon klingelt.
»Ja?«
»Soll ich dir die Themen schicken?«, fragt Jenny über die Freisprechanlage.
»Ich sitze im Auto, gib sie durch.«
»Ganz oben steht das Hitzeproblem. Gefolgt von Griechenland und der Schuldenkrise.«
»Wie gestern«, kommentiert Tom.
»Ja, aber Varoufakis ist als Finanzminister zurückgetreten. Es ist ein Interview mit Schäuble geplant. Er hat wenig Zeit, wir –«
»Varoufakis ist zurückgetreten? Warum sagst du das nicht sofort?«
»Wie soll ich wissen, dass du das nicht weißt. Das ist bereits über eine Stunde raus. Hast du kein Internet?«
»NEIN, JENNY! ICH FAHRE. ICH HABE KEIN INTERNET!« Wozu um alles in der Welt hat er eine Assistentin? Mit Sabine wäre das nicht passiert. Sie arbeitet ihm seit Jahren zu, weiß genau, was er braucht.
»Das Büro von Schäuble sagt, dass wir vor siebzehn Uhr aufzeichnen müssen, er hat Abendtermine.«
»Das ist zu knapp, verdammt. Soll ich da etwa selber anrufen und einen späteren Termin verhandeln? Ich hab Clemens gesagt, dass ich …«
»Okay! Ich kümmere mich.« Aufgelegt.
»Jenny?« Tom kann es nicht leiden, wenn er unterbrochen wird. Und noch weniger kann er es leiden, abgehängt zu werden.
»Oh, oh!«, sagt Greta, die ihren Sohn länger von der Seite betrachtet hat.
»WAS?«
»Aber du rasierst dich schon noch, bevor du ins Fernsehen gehst?«
»Wenn das deine größte Sorge ist.«
»Ist es nicht.«
»Sondern?«
»Jenny. Ist das deine Freundin?«
»Maaaaaam!«
»Ich meine ja nur …«
Auf dieses Gespräch hat Tom nun überhaupt keine Lust. Seit Jahren ist seine Mutter mit der Frage beschäftigt, warum er noch nicht unter der Haube ist. Seit Jahren glaubt sie, dass jede Frau in seiner Nähe eine potenzielle Schwiegertochter sein könnte, und seit Jahren erzählt sie ihm, dass sie gerne Oma werden möchte.
Er ruft Sabine auf ihrer privaten Nummer an. »Mein herzliches Beileid«, sagt er. »Ich wünsche dir viel Kraft für alles, was jetzt auf dich zukommt«, fügt er hinzu und will eigentlich nur wissen, wann sie wieder zurück ist.
»Danke«, schluchzt sie über die Freisprechanlage.
»Ist dein Vater überraschend verstorben? Oder warst du vorbereitet und konntest dich noch …?«
»Er hat sich … er hat …«, stammelt seine Assistentin. »Er hat sich umgebracht, Tom.«
»Was?« Es ist, als hätte ihm jemand in die Magengrube getreten. Tom merkt nicht, dass ein Porsche hinter ihm Lichtsignale gibt, um ihn von der linken Spur abzudrängen. »Weißt du … warum?«
»Er sollte ins Pflegeheim, hatte Parkinson. Und seit meine Mutter tot ist …« Sabines Stimme versagt.
»Sabine, Mensch, das tut mir so leid«, sagt Tom und vermutet, dass sie das wahrscheinlich gar nicht mehr gehört hat, weil er in ein Funkloch gefahren ist.
Er wechselt die Spur und fährt schweigend und langsamer weiter. In seinem Kopf ist es leer. Bei der Ausfahrt Montabaur zuckt er zusammen, denn er kann sich nicht erinnern, wann er über den Elzer Berg gefahren ist. Tom kann sich auch nicht erinnern, wann seine Mutter neben ihm zum letzten Mal etwas gesagt hat. Er wirft ihr erneut einen verstohlenen Blick zu.
Greta sieht verloren aus. So klein und verletzlich in dem geschmacklosen, drei Nummern zu großen Aschaffenburger Jogginganzug.
»Alles okay, Mam?«
»Mir ist kalt.«
»Sorry. Die Klimaanlage. Tut mir leid. Ich mach sie aus, dann wird dir schnell wieder warm.«
Das Telefon klingelt.
»Wir haben Schäuble für 18:30 Uhr klargemacht. Ist das okay für dich?«
»Ja«, sagt Tom und verlässt bei der Abfahrt Köln-Poll die A4.
*
»Ich muss gleich ins Studio, Mam. Ich kann nicht mit dir nach oben gehen. Ist das in Ordnung?« Tom hat vor ihrem Haus gehalten und sieht sie nun angespannt an.
»Natürlich. Ich brauche dich nicht«, sagt Greta und setzt ihre ganze Kraft ein, um eine gute Verfassung vorzutäuschen und das zu spielen, was früher war. Sie weiß, sie darf jetzt keinen Fehler machen. »Wo ist mein Schlüsselbund?«, fragt sie.
»Ich gebe dir meinen. Versprich, dass du zu deinem Hausarzt gehst.«
»Ja, ja!« Sie winkt ihm hinterher und murmelt: »Unkraut vergeht nicht.«
Greta huscht ins Haus, ist erleichtert, dass kein Mieter ihren Weg kreuzt, und verriegelt in ihrer Wohnung die Tür hinter sich. Als die ganze Anspannung von ihr abfällt, sackt sie in sich zusammen und lässt endlich die Krankenhaustüte mit ihren Kleidern los.
Sie weiß, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Und sie hat Angst. »Lass dich nicht hängen!«, befiehlt sie sich, gibt sich einen Ruck, geht zielstrebig ins Bad und vermeidet es, sich im Spiegelschrank anzublicken. Sie muss ihre Gedanken festhalten, die sonst verschwinden.
AUTO schreibt sie in Versalien auf den Post-it-Block, der mit dem Kugelschreiber auf dem Fensterbrett liegt, und klebt das Papierchen auf die geflieste Wand, die voller bunter Zettel ist.
BUCH ÜBER GEDÄCHTNISTRAINING LESEN!
APFEL ESSEN! JEDEN TAG EINEN!!!!!
EINE TABLETTE FÜR HIRNDURCHBLUTUNG!
»Stimmt, die Hirnpillen«, sagt sie zu sich, nimmt eine Tablette aus der Schachtel und schluckt sie ohne Wasser. Dann zieht sie erneut den Blister aus der Packung, drückt fünf weitere raus und würgt sie hinunter.
*
Mit der Einfahrt in die Tiefgarage des Senders hat Tom das Unwort erfolgreich verdrängt. Die Fragen, ob der griechische Austritt aus dem Euro noch abzuwenden ist und ob das eine Katastrophe für Europa wäre, beherrschen seine Gedanken. Um schneller im Studio zu sein, läuft er am Aufzug vorbei und nimmt die Treppe.
Alles steht. Die Scheinwerfer leuchten sein Moderationspult aus. Auf dem Monitor sieht er den ungeduldigen Finanzminister, der in Berlin auf ihn wartet. Tom wirft sein verschwitztes T-Shirt in die Ecke, Clemens drückt ihm ein Dossier und eine Liste von Fragen in die Hand, Jenny hilft ihm in das weiße Hemd und den Blazer, die Maskenbildnerin rasiert sein Gesicht.
»Halte Schäuble noch zwei Minuten hin, Clem«, sagt Tom zu seinem Redaktionsleiter und geht die Fragen durch.
»Welche Krawatte?«, fragt ihn Jenny Walter und hält ihm drei zur Auswahl hin.
»Die rotgetupfte«, befiehlt Tom und würdigt die vierzigjährige Ersatzassistentin keines Blickes.
Als Jenny skeptisch »Die?« fragt, schaut er auf und sieht, dass die immer schwarz tragende Kölnerin die Krawatte mit den orangefarbenen Punkten mit gerunzelter Stirn mustert.
Tom reagiert nicht und schreibt Notizen auf die Moderationskarten. Wenig später sieht er aus den Augenwinkeln, wie Lars, der Aufnahmeleiter, einen Hocker vor ihn hinstellt.
»Danke, Jens«, sagt Jenny, die mit ihren bestimmt nur eins sechzig nicht an Tom heranragt.
»Lars«, verbessert sie der Kollege.
Jenny beachtet ihn nicht weiter, steigt auf den Hocker, und schon zieht sie Tom die fertig gebundene Krawatte über den Kopf und ordnet seinen Kragen.
»Fertig«, sagt sie. »Was ist mit der Brille?«
»Wie, was soll mit der Brille sein?«
»Du hast doch sonst immer …«
»Ich habe meine Kontaktlinsen zu Hause vergessen«, unterbricht er sie scharf, setzt sein Profilächeln auf und geht zum Moderationspult. »Grüße Sie, Herr Schäuble.«
Routiniert gelassen will Tom im Laufe des Interviews wissen, ob die Verhandlungen mit der griechischen Regierung nun einfacher werden oder der Minister den Austritt Griechenlands aus dem Euro befürchte.
Diplomatisch weicht Schäuble aus. »Ich sehe keine Katastrophe für Europa.«
Nach dem Gespräch konzentriert sich Tom auf die Vorbereitung der Abendsendung.
»Willst du was trinken oder essen?«, fragt ihn die Ersatzassistentin.
»Ja«, antwortet er, ohne aufzublicken.
»Und was?«
»Noch ’ne Frage, und ich flipp aus!«
Er ist dankbar, dass der Aufnahmeleiter ihm ungefragt eine Flasche Wasser auf das Pult stellt. »Fünf Minuten noch.«
Die Kameramänner nehmen Position ein. Die Maskenbildnerin tupft Toms Oberlippe ab und huscht neben die Studiokameras. Die Erkennungsmelodie ertönt.
»Ganz Deutschland leidet unter der Tropenhitze«, moderiert Tom die Sendung vom 6. Juli 2015 an.
*
»Da sagst du was«, meint Greta in ihrem Porzer Wohnzimmer und schiebt sich ein Salamischnittchen mit Remouladenkringel in den Mund.
»Seit wann trägst du denn die Brille?«, fragt sie und leckt sich die Oberlippe ab. »Du wirst auch nicht jünger, mein Schatz.«
»Die Hitze der vergangenen Tage war für viele nahezu unerträglich. An heißen Tagen sterben fast doppelt so viele ältere Menschen als an kühlen«, klingt es aus dem Fernsehen. »Der Grund: Ihre körperlichen Warnsignale für Überhitzung arbeiten mit Verzögerung.«
Greta stopft sich die Hälfte eines harten Eies in den Mund. »Du siehst aber immer noch sehr gut aus, nicht so schäbig wie der aus dem zweiten Programm.«
*
»Willst du noch ein Kölsch?«, fragt Jenny nach der Sendung und versucht, auf dem Weg aus dem Studio Schritt mit Tom zu halten.
»Klar will ich ein Kölsch. Ich will IMMER ein Kölsch. Nach JEDER Sendung.«
Es ist ihm egal, dass Jenny kopfschüttelnd stehen bleibt. Er lässt sich mit dem Aufzug nach oben fahren. In seinem geräumigen Büro mit Blick über den Rhein überfliegt Tom weitere Meldungen des Tages. In Dreieich wurden sechzehn Menschen verletzt, weil ein Autofahrer in falscher Richtung in einen Verkehrskreisel gefahren und mit einem Bus kollidiert ist. Der Fahrer ist ein sechsundachtzig Jahre alter Mann. Da ist es wieder das Unwort: DEMENZ.
Die Tür geht auf, und Jenny knallt ihm wortlos die Flasche Kölsch auf den Tisch. »Brauchst du noch etwas?«
»Nein!« Im Monitorlicht wirkt Toms Gesicht hart. Er verkneift es sich zu sagen, dass sie das nächste Mal anklopfen soll.
»Darf ich noch etwas anmerken?«
Er löscht die Suchbegriffe: Demenz, Kennzeichen. »Was?«
»Das mit dem Gedankenlesen funktioniert nicht. Du musst mir schon sagen, wenn du was brauchst.«
Tom schaut sie nicht an, überfliegt die Schlagzeilen der ›New York Times‹ und muss sich zusammennehmen, um nicht eine Grundsatzdiskussion über die Aufgabenbereiche einer Assistentin vom Zaun zu brechen. Auch weil er sich sicher ist, dass Sabine in wenigen Tagen wieder zurück sein wird. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass Jenny sich nicht vom Fleck rührt. Langsam hebt er den Kopf und blickt sie an.
»Noch was?«
»Ja«, sagt sie mit Nachdruck. »Deine Krawatte sieht scheiße aus!« Sie macht auf dem Absatz kehrt und lässt die Tür hinter sich zufallen.
»Fuck!« Er zerrt sich den Binder vom Hals und wirft ihn in den Papierkorb, stößt sich am Tisch ab, dreht den Schreibtischstuhl so, dass er aus dem Fenster schauen kann. Er sieht weder den Dom auf der anderen Rheinseite noch das Abendrot am Horizont dahinter, setzt die Flasche Kölsch an und leert sie in einem Zug. »Was für ein beschissener Tag!«
Eine halbe Stunde später sammelt Tom seine Sachen zusammen und fährt nach Hause in die Penthousewohnung im Gerling-Quartier. Er ist hundemüde und froh, endlich allein zu sein. Tom liebt den Purismus in der Wohnung, die er erst vor zwei Wochen bezogen hat. Er kickt die Schuhe von den Füßen. Im Computer öffnet er die Playlist von Avicci, dreht die Anlage auf Anschlag, schließt die Augen. Die Töne explodieren im Ohr. Er tanzt durch sein Wohnzimmer, reißt sich die Kleider vom Leib und stellt sich unter die heiße Dusche. DEMENZ. Fuck! Das Wort ist wieder da.
Nackt zieht er den Korken aus einem Flaschenhals und hofft, dass der Chianti es wegschwemmen kann. Das erste Glas kippt er hinunter. Nach dem zweiten vibrieren in ihm die Bässe. Auf der Terrasse sieht er den glutroten Mond hinter dem Dom aufgehen. Er legt sich mit der Weinflasche in die Hängematte und schließt die Augen.
Zwischen zwei Musikstücken brüllt eine Nachbarin von gegenüber: »Ruhe!«
Tom regelt die Lautstärke und schaukelt in den Schlaf.
Die schrille Stimme holt ihn wieder zurück. »Sind wir denn hier im Irrenhaus? Erst diese Musik und jetzt diese Fickerei. Fenster zu!«
Tatsächlich. Eine Frau stöhnt. Ihr tiefes, langgezogenes »Aaaah« wird lauter. Im Halbschlaf stellt Tom sich vor, wie er der Aschaffenburger Assistenzärztin – wie hieß sie noch gleich? – ihren Kittel aufknöpft. Das »Ah« wird zum rhythmischen »Ja, Ja, Ja!«. Tom denkt daran, wie er mit seiner Innenarchitektin Melanie letzte Woche die Dusche eingeweiht hat. Er lässt sich aus der Hängematte plumpsen, sucht in der Wohnung sein Smartphone und schreibt Mela eine WhatsApp-Nachricht:
Haste noch Zeit?
Sorry, muss morgen um 5 raus und nach Berlin. Schlafe quasi schon
Tom überlegt, wie er Mela wohl zu Telefonsex überreden könnte, eigentlich kennt er sie ja kaum. Sein Telefon vibriert. Unbekannter Anrufer. Vielleicht hat sie ja die gleiche Idee, denkt er.
»Jaaaa?«
»Hier ist Jenny.«
Toms Erektion ist verschwunden.
»Ich schlafe«, sagte er und wirft das Handy in die Ecke.
Am nächsten Morgen joggt er in aller Herrgottsfrüh über den Kaiser-Wilhelm-Ring in Richtung Stadtgarten. Hundertvierzig Beats per Minute geben seinen Laufrhythmus vor. Im künstlichen Weiher am Mediapark spiegelt sich die Morgensonne. ›Levels‹ von Avicii peitscht ihn auf.
Tom reißt die Arme in die Luft. Das wird sein Tag! Er spurtet an den roten Zeitungskästen des ›Kölner Express‹ und der ›Bild‹-Zeitung vorbei, beschleunigt sein Tempo, um die grüne Fußgängerampel an der Inneren Kanalstraße zu erwischen. Schlagartig bleibt er stehen. Dann dreht er sich um, geht langsam auf die Zeitungskästen zu und sieht sein Konterfei auf dem Titelblatt der ›Bild‹-Zeitung. Darüber:
MUTTER VON STARMODERATOR AUF AUTOBAHN VERIRRT
Eine Gassigeherin wirft Kleingeld in den Kasten, öffnet die Klappe, holt eine Zeitung heraus und mustert Tom von der Seite. Der zieht seine Baseballkappe tiefer ins Gesicht, hetzt den Weg zurück in Richtung Innenstadt und hat plötzlich das Gefühl, von jedem Autofahrer erkannt zu werden. Schritt für Schritt verwandelt sich sein Entsetzen in Wut. Wer hat das an die Presse durchgestochen? Polizei? Krankenhaus?
Tom wählt die oberste Nummer seiner Anrufliste.
»Walter«, meldet sich Jenny nach dem ersten Klingeln.
»Wie kann das passieren, dass ich das nicht vorher erfahre?«
»Wie das passieren kann? Sorry, aber als ich dir das heute Nacht erzählen wollte, hast du mich weggedrückt.«
»Wir müssen …«
Jenny unterbricht ihn. »Ich hab schon Kontakt mit Blücher aufgenommen, dem Medienanwalt. Er kümmert sich.«
»Okay«, sagt Tom und beendet das Gespräch, weil ein Anrufer anklopft. Es ist seine Mutter.
»Mam, ich kann jetzt nicht.«
Greta lässt sich nicht abwimmeln.
»Ich brauch mein Auto! Ich muss einkaufen!«
Herr, schmeiß Hirn vom Himmel, denkt er und rast über die rote Fußgängerampel.
»Tom?«
»Ich kümmere mich darum. Bleib zu Haus, ich komme nachher vorbei.«
Das Schrankzimmer voll gleicher Hosen, Anzüge, Hemden und T-Shirts ist der schallsicherste Raum der Wohnung. Hier kann er sich gewiss sein, dass kein Nachbar hört, wie er brüllt: »Verfickte Scheiße!«
Erneut wählt er Jennys Nummer und bittet sie, in der Aschaffenburger Werkstatt anzurufen, damit der Wagen seiner Mam vor Ort verkauft wird.
»Mach ich«, sagt sie. »Ich denke, du musst dafür sorgen, dass deine Mutter heute in der Wohnung bleibt, nicht dass ihr noch ein Fotograf auflauert. Ich habe gesehen, sie steht mit voller Adresse im Telefonbuch.«
»Fuck!«
Fünf Minuten später sitzt Tom in seinem Wagen und rast auf der Deutzer Brücke über den Rhein.
»Bist du zufällig in der Gegend, oder was verschafft mir die Ehre?«, empfängt ihn seine Mutter misstrauisch, nachdem sie ihm endlich die Tür aufgemacht hat.
»Ich dachte, wir könnten zusammen frühstücken.« Tom stellt vier vollbepackte Einkaufstüten und einen Kasten Wasser ab. Er weiß, dass er Ruhe ausstrahlen muss. »Ich hab für dich eingekauft, dann musst du bei dieser Affenhitze nicht vor die Tür.«
Greta durchsucht die Tüten.
»Da sind auch Kreuzworträtselhefte drin«, sagt er, schleicht in den Flur und zieht den Telefonstecker. »Ich hab sogar ein neues Telefon für dich, Mam. Ein Handy.«
Greta verschränkt ihre Arme und schüttelt den Kopf. »Das kannst du wieder mitnehmen. So was brauch ich nicht.«
»Doch, Mam. In Porz sind alle Telefonleitungen gestört, und bis die wieder in Ordnung sind, kannst du mich damit erreichen.«
Er erklärt ihr, wie simpel das Gerät mit den riesigen Tasten zu bedienen ist und wie sie seine Handynummer anrufen kann. Mit ihren faltigen Fingern probiert Greta und ist erstaunt, dass es jedes Mal bei Tom klingelt.
»Und wenn ich dich anrufe, musst du nur auf die grüne Taste drücken, Mam.«
»Das muss ich mir aufschreiben«, meint sie und geht ins Bad.
Tom nutzt ihre Abwesenheit, um das Festnetztelefon oben auf dem Regal seines früheren Kinderzimmers verschwinden zu lassen.
»Komm mal«, ruft Greta. »Ich weiß nicht, wie ich das schreiben soll.«
Leise schließt er die Zimmertür und geht zu seiner Mutter, die vor einer Wand voll mit bunten Notizzetteln steht.
20 UHR TOM IM FERNSEHEN.
2015!
APFEL ESSEN! JEDEN TAG EINEN!!!!!
ALLES AUFSCHREIBEN!!!
Sein Atem stockt.
»Was guckst du so?«, fragt sie und drückt ihm den Post-it-Block in die Hand. »Das Gedächtnis verrutscht im Alter. Aufschreiben ist immer gut.«
Tom bringt kein Wort heraus. Bleib ruhig, denkt er, notiert die Tastenkombination und gibt seiner Mutter den Block zurück.
Greta klebt den Zettel mit HANDY. ZWEIMAL UNTERSTER KNOPF = TOM auf eine freie Kachel. »Ich hab Hunger«, sagt sie und verschwindet Richtung Küche.
Tom lässt sie gehen, reißt den Notizzettel mit der Aufschrift AUTO von der Wand, zerknüllt ihn und steckt ihn in die Hosentasche. Wenig später nimmt er den Wohnungsschlüssel vom Brett, fährt unter einem Vorwand zum nächsten Schlüsseldienst und lässt sich einen nachmachen. Denn in dieser Situation keine Möglichkeit zu haben, die Wohnung zu betreten, geht gar nicht.
In den folgenden Tagen schaut Tom täglich bei seiner Mutter vorbei und versorgt sie mit allem Nötigen, um zu verhindern, dass sie vor die Tür geht.
Den Gedanken, dass mit ihr etwas nicht stimmen könnte, wagt er nicht zu Ende zu denken. Und doch holt er ihn Tag und Nacht ein. Er lässt keine Gelegenheit aus, Greta scheinbar beiläufig in Gespräche zu verwickeln. Egal, was für Fragen er ihr stellt, sie ist nie um eine Antwort verlegen und schlagfertig, wie sie es ihr Leben lang war. Sie kann schwierigste Kreuzworträtsel lösen, sich und ihren Haushalt versorgen und ohne Probleme das neue Handy bedienen. DEMENZ, das hält er für ausgeschlossen.
Zum Glück ist es nach der einen Pressemeldung ruhig geblieben, daher meint Tom am Ende der Woche, dass er die Zügel wieder locker lassen kann. Doch dafür muss er die Sache mit dem Auto klären. Den ganzen Samstagnachmittag hat er überlegt, wie er es angehen könnte.
Kurz bevor er aufbrechen will, spricht er es an.
»Mam, hier ist die Telefonnummer der Taxizentrale und die vom nächsten Taxistand.« Er drückt ihr eine Visitenkarte in die Hand. »Wir können die Nummer auch noch mal extra aufschreiben.«
Greta wirft die Karte hinter sich. »Brauch ich nicht. Ich will mein Auto!«, erwidert sie, offensichtlich sauer.
»Meinst du nicht, du solltest das Autofahren erst mal lassen?«
»Das wär ja noch schöner. Wie soll ich denn dann einkaufen und so?«
»Na, mit dem Taxi eben.«
»Und wer zahlt das? Du etwa?«
»Von mir aus gern.«
»Das ist doch Quatsch, Tom! Du wirfst das Geld schneller raus, als es reinkommt. Noch habe ich selbst über mein Leben zu bestimmen«, sagt sie, durchsucht den Zeitungsstapel auf ihrem Küchentisch und blättert energisch in der ›Apothekenumschau‹.
Reiß dich zusammen, denkt er und füllt den Wasserkocher. Argumente bringen nichts. Ich muss Zeit gewinnen, damit sie sich daran gewöhnt. »Fahr Taxi, zumindest bis dein Auto wieder aus der Reparatur ist, okay?«
Greta krallt sich am Kugelschreiber fest und gibt ihm keine Antwort.
Stur bis zum Gehtnichtmehr, denkt er und will nur noch weg. Er hasst es. Und wie er es hasst! Er brüht Tee auf und sieht im Licht den Staub, der sich über alles gelegt hat. »Wie oft kommt Helga eigentlich zum Putzen?«
*
Heilverfahren, liest Greta und füllt das gesuchte Wort mit den drei Buchstaben aus. »Die ist in Kur.« Sie vermeidet es, Tom anzusehen.
Er stellt ihr die Tasse Pfefferminztee vor die Nase. »Warst du eigentlich schon beim Arzt, Mam?«
»Sicher«, antwortet sie, schreibt einen Buchstaben nach dem anderen in die Kästchen. Sie hofft, dass ihr Sohn endlich zu fragen aufhört und geht. Doch das tut er nicht.
»Und? Was sagt er?«, hakt er nach.
Gretas Blick fällt auf die Überschrift des Artikels, der über dem Rätsel steht: Wenig Trinken birgt ein hohes Gesundheitsrisiko. »Ich muss mehr trinken, hat er gesagt. Sonst ist alles bestens.«
»Na schön«, sagt Tom, und endlich verabschiedet er sich. Als die Tür ins Schloss fällt, lässt Greta die Zeitschrift fallen, steht auf, geht zum Fenster, schaut, wie er einsteigt und wegfährt.
»Du hast nicht über mich zu bestimmen«, ruft sie ihm nach und weint.
*
Auf beiden Seiten des Rheins warten fast eine Million Menschen auf einen der Höhepunkte des Jahres: die Kölner Lichter. Am Tag dieses größten musiksynchronen Höhenfeuerwerks Europas findet jährlich das Sommerfest des Senders FFD statt. Eine bessere Kulisse könnte keiner erfinden.
Auf dem Dach des Studiogebäudes direkt am Rhein wird gegrillt, gezapft, getratscht, gegrölt und auf das Lichtspektakel gewartet. Tom taucht erst auf, als die Sonne längst untergegangen ist. Am liebsten wäre er überhaupt nicht hingegangen, hätte sich ins Bett gelegt und achtundvierzig Stunden am Stück geschlafen. Aber er hat sich aufgerafft, schließlich ist er das Aushängeschild des Senders.
Tom weiß, wie man sich plaudernd auf jeden einstellen kann – vom Intendanten bis zum Beleuchter. Er weiß auch, wie man in jeder Umgebung unbefangen flirtet – mit der Maskenbildnerin und mit der Gattin des Fernsehchefs. Sein jahrelanger Aufenthalt in den USA war die beste Schule für diesen Parcours.
»Und? Läuft alles?«, fragt der Chefredakteur und haut ihm auf die Schulter.
Tom kippt sein erstes Kölsch und spricht die Einschaltquoten an. Doch das ist es ausnahmsweise nicht, was den Chef interessiert.
»Das ist ja ein Ding mit Ihrer Mutter. Die alten Herrschaften, oje. Was bin ich froh, dass ich das hinter mir habe.«
Das freut mich ja für dich, denkt Tom, grinst ihm ins Gesicht und sagt: »Alles halb so wild!« Zweites Kölsch.
Auch Gisbert Wehrle, der Intendant samt Gattin, gefolgt vom Fernsehchef gesellen sich zu ihnen, und innerhalb von Minuten überbieten sie einander mit lustigen Geschichten von ihren alten Herrschaften. Tom hätte es nicht für möglich gehalten, dass es auch zu diesem Thema ein Höher-Größer-Weiter gibt. Drittes Kölsch. Die Intendantengattin erzählt, dass sie ihren Vater entmündigen lassen musste, nachdem eine Pflegerin ihm den Kopf verdrehte und er drauf und dran war, ihr das gesamte Vermögen zu überschreiben.
»›Die Genitalien sind der Resonanzboden des Gehirns‹«, schiebt ihr Gatte nach und lacht über den Schopenhauer-Spruch, während die anderen noch grübeln.
Tom kippt das vierte Kölsch und überlegt, wie er hier galant den Abflug machen kann.
Da holt der Fernsehchef aus: »Mein Vater hat das gleiche Ziel wie einst Billy Wilder – mit hundertvier Jahren, kerngesund, von einem Ehemann erschossen zu werden, der ihn bei seiner jungen Frau inflagranti ertappt.«
»Auf Ihren Vater!« Tom prostet allen zu und checkt verstohlen die Lage. Überall stehen Grüppchen, die laut und wild durcheinanderreden. Inmitten der Technikcrew steht Lars, der Aufnahmeleiter – wie immer zu laut, zu schrill, zu sehr auf Wirkung bedacht –, und sucht Blickkontakt zu Tom. Der grinst kurz höflich und sieht sich weiter um. Etwas abseits sitzt Jenny. Allein. Sie hat die Füße auf die Brüstung gelegt und schaut in den Nachthimmel. Als der nächste Kellner vorbeikommt, schnappt Tom sich zwei Gläser Kölsch vom Tablett und entschuldigt sich bei den Chefs.
»Du schaust so, wie ich mich fühle«, sagt er zu Jenny, reicht ihr ein Bier und prostet ihr zu.
»Ach!« Sie stellt das Glas neben sich auf den Tisch.
Tom bereut auf der Stelle, sie überhaupt angesprochen zu haben, und überlegt, ob sie noch eingeschnappt sein könnte. »Das war ’ne gute Woche, also, ich meine, deine Arbeit war okay.«
Jenny schweigt, blickt weiter in die dunkle Nacht.
»Was?«, will Tom wissen.
»Wie? Was?«, herrscht sie ihn an. »Lass mich doch einfach hier sitzen. Ich habe offensichtlich keine Lust zu reden.«
»Hab ich dir was getan, Jenny?«
»Tom, akzeptier doch einfach, dass es ausnahmsweise mal nicht um dich geht, okay?«
Ein Kanonenschlag kündigt das Feuerwerk an und lässt alle Gespräche verstummen.
Was für eine hysterische … Tom ist froh, dass die Zusammenarbeit mit ihr und auch dieser Abend bald zu Ende sein wird.
Die ersten Feuerwerkskörper explodieren, und roter Funkenregen verzaubert über dem Dom den Nachthimmel.
»Sorry«, sagt sie. »War blöd von mir eben. Aber es hat wirklich nichts mit dir zu tun.«
»Ist schon okay.«
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Gut«, sagt Tom, sieht die Raketen, die in die Luft geschossen werden, und denkt: Ich hab keine Ahnung.
*
In Köln-Porz schreckt ein Kanonenschlag Greta aus dem Schlaf. Ihr Herz pocht bis zum Hals. Sie hält die Luft an, horcht. Erneut böllert und knallt es. Die Vierundachtzigjährige springt aus dem Bett, eilt zum Fenster und sieht durch die Lamellen ihres Rollladens Lichtblitze. Sie zittert am ganzen Körper.
»Jetzt ist KRIEG!«
»Jetzt ist KRIEG!«, schrie Rektor Schleifer.
Greta Schönaich, die für ihre acht Jahre recht klein war, stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Erstklässlerinnen hinwegzusehen.
Eben noch hatte sie im Klassenzimmer gesessen und in Sütterlinschrift Freitag, der 1. September 1939