Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
Herausgeber: Ulrich Eggers
ISBN 978-3-417-22846-5 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26725-9 (Lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
© 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten
Internet: www.scmedien.de; E-Mail: info@scm-verlag.de
Die Bibelverse wurden folgenden Ausgaben entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)
Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten. (NLB)
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)
Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von ’fontis – Brunnen Basel. (HFA)
Das Buch. Neues Testament – übersetzt von Roland Werner. © 2009 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten. (DBU)
Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung. Copyright © 2009 Genfer Bibelgesellschaft, CH-1204 Genf. Wiedergegeben mit der freundlichen Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)
Umschlaggestaltung: Tabea Siegel, www.pinkgepunktet.de
Titelbild: vectorstock.com/lolya1988
Satz: Christoph Möller, Hattingen
Für meine Eltern
Hannelore und Knut Ahlbrecht.
Danke für eure Liebe, euer Vorbild und euren Glauben –
und dass ihr mir ermöglicht habt, meinen Weg zu gehen!
Da ihr mit Christus zu neuem Leben auferweckt wurdet, sucht Christus, der zur Rechten Gottes im Himmel sitzt. Denkt nicht an weltliche Angelegenheiten, sondern konzentriert eure Gedanken auf ihn! Denn ihr seid gestorben, als Christus starb, und euer wahres Leben ist mit Christus in Gott verborgen. Wenn Christus, der euer Leben ist, der ganzen Welt bekannt werden wird, dann wird auch sichtbar werden, dass ihr seine Herrlichkeit mit ihm teilt.
Über den Autor
Vorwort von Manfred Beutel
Einleitung
Kapitel 1: Was ist ein gutes Leben?
Kapitel 2: Die eigene Endlichkeit erkennen
Kapitel 3: Wer will eigentlich ewig leben?
Kapitel 4: Sterben will geübt sein
Kapitel 5: Stille und Einsamkeit
Kapitel 6: Weggeben praktizieren
Kapitel 7: Abschied nehmen
Kapitel 8: Hingabe riskieren
Kapitel 9: Viele kleine Tode und ganz viel Leben
Kapitel 10: Liebe üben – und der Lieblosigkeit absterben
Kapitel 11: Freude üben – und der Freudlosigkeit absterben
Kapitel 12: Frieden üben – und der Unzufriedenheit absterben
Kapitel 13: Geduld üben – und der Ungeduld absterben
Kapitel 14: Freundlichkeit üben – und dem Zorn absterben
Kapitel 15: Großzügigkeit üben – und der Kaltherzigkeit absterben
Kapitel 16: Treue üben – und der Untreue absterben
Kapitel 17: Bescheidenheit üben – und der Selbstüberschätzung absterben
Kapitel 18: Selbstbeherrschung üben – und der Maßlosigkeit absterben
Schlusswort
Texte für das Abendgebet
Dank
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Jörg Ahlbrecht ist Referent für Willow Creek, Pastor, Sprecher und Buchautor mit den Schwerpunkten geistliches Leben und geistliches Wachstum. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Marburg.
Als Jörg mir zum ersten Mal auf einem wunderschönen Weinbergspaziergang von seinem neuen, gerade fertig gewordenen Manuskript erzählte und wir über die Bedeutung geistlicher Übungen, des Sterbens, Loslassens und das Geheimnis alter geistlicher Traditionen sprachen, weckte es sofort mein Interesse. Und da gab es dann im Laufe des Gesprächs ganz spontan viele Erinnerungen und die Entdeckung, wie viel sein Thema mit meinem Leben zu tun hat.
Seit vielen Jahren gibt es für mich eine sehr tiefe Lebensweisheit, die mich geprägt hat und immer wieder neu leitet: Es gibt einen tiefen Zusammenhang zwischen Loslassen und Gelassenheit. Wer etwas los-gelassen hat, ist gelassen. Das hat immer mit Schmerzen zu tun, aber ist sogleich, und das ist Jörgs großes, herausragend erarbeitetes Thema, der Start in ein neues Leben. Es ist eigentlich wie bei einer Geburt: Sie ist gefährlich, sie schmerzt sehr und doch ist sie der Vorgang, bei dem neues Leben das Licht der Welt erblickt. Ich habe werdende Väter erlebt, eingefleischte Atheisten, die bei der Geburt ihres Kindes neben allen Begleitgefühlen ernsthaft anfingen, über Gott nachzudenken. Loslassen ist die Geburt der Gelassenheit. Die Herausforderung ist, die eigene Vergänglichkeit und das Sterben ganz tief anzunehmen.
Jeder Gemeindewechsel, die Aufgabe von Lebenszielen, das Scheitern von Beziehungen, das Nichterreichen von Zielen und Träumen und schließlich der Verlust unseres jüngsten Sohnes – Loslassen ist immer schwer und doch die Geburt der Gelassenheit. Manches gibt es da noch einzuüben, und doch hat das Loslassen immer wieder zu dem geführt, was ich „Leben mit leichtem Gepäck“ nenne.
Kürzlich brannte es in unserer Küche und wir verabschiedeten uns von vielen Büchern, Möbeln und anderen liebgewonnenen Dingen, die wir sowieso entsorgt hätten. Loslassen hatte da etwas Schockierendes, doch heute sind wir froh, dass wir all unsere Sachen in einem 2,50 m Ikea-Wandschrank unterbringen können. Das ist wirklich schön, mit so leichtem Gepäck unterwegs zu sein, gelassen eben.
Warum ich das alles schreibe? Ein guter Freund sagte mir, nachdem ich einige Bücher herausgebracht hatte: „Das nächste Buch schreib jetzt aber bitte erst, wenn es wirklich gebraucht wird.“ Auf Jörgs neues Buch trifft dies zu. Es wird gebraucht. Ich freue mich auf den Moment, wenn ich das Manuskript als Buch vor mir liegen habe und es dann „erkennend“ (siehe Kapitel 2) noch einmal lesen werde. Es ist eine Sammlung mit vielen Wegweisern, so nenne ich jetzt einmal die geistlichen Übungen, zu denen das Buch sehr tief begründet einlädt. Wegweiser, die einladend in eine Richtung weisen: Leben pur.
Dies ist kein Buch über den Tod, sondern über das Leben. Es handelt von dem Leben, das wir finden, wenn wir der Tatsache unseres Todes nicht mehr ausweichen. Es handelt von wahrem Leben – tiefem, wertvollem, bewusstem, genießendem, zutiefst befreitem und ansteckendem Leben. Nicht der Tod fasziniert mich, sondern das Leben. Aber das Leben ist bedroht. Das Leben ist nicht sicher. Das Leben ist umkämpft. Und heute mehr denn je verschüttet, vergraben, tief verborgen unter der Oberfläche unserer Zerstreutheit und unseres permanenten Beschäftigtseins. Es ist bedroht durch unser Getriebensein, unseren Drang nach Konsum und Unterhaltung. Das wahre Leben ist zutiefst unsicher geworden.
Was dagegen sicher ist, ist der Tod. Er wird hundertprozentig eintreffen. Mit dem Tag unserer Geburt steht nur das Eine fest: Wir werden sterben. Diese Tatsache ist nicht verhandelbar – sie liegt nicht in unserem Einflussbereich, sie ist gesetzt. Auch wenn die Wissenschaft in zunehmendem Maße davon träumt, dass man eines Tages den Alterungsprozess des Menschen ausschalten oder sein Gehirn komplett auf einen Computer übertragen kann1, so sind diese Visionen doch bislang reine Utopie. Der Tod ist sicher, er erreicht jeden Menschen. Und damit hat er dem Leben etwas voraus. Es gibt für jeden von uns eine hundertprozentige Sterbewahrscheinlichkeit – aber leider gibt es keine hundertprozentige Lebenswahrscheinlichkeit.
Sterben werden wir also in jedem Fall – aber ob wir wirklich gelebt haben, das ist ungewiss. Wie sagte der schottische Freiheitskämpfer William Wallace so treffend: „Sterben muss jeder einmal – aber wahrhaftig leben, das können nur wenige!“? Wir können das Leben verpassen. Wir können es verlieren, wie Sand, der uns durch die Finger rinnt. Wir können unser Leben zubringen wie einen Abend vor dem Fernseher. Die Zeit ist zwar vergangen, wir waren beschäftigt, unterhalten, wir haben zugeschaut. Aber wir haben nicht wirklich gelebt.
Wir haben nicht wirklich gefühlt, das Dasein genossen, unsere Zeit gestaltet und unsere Kraft eingesetzt. Wir haben nicht wirklich Träume geträumt, Risiken gewagt, Erfolge gefeiert und Niederlagen erlitten. Wir haben nicht wirklich herausgefunden, wer wir sind, was wir können und wie das zu der Fülle des Lebens passt, die uns unser Schöpfer zugedacht hat. Der Albtraum des verpassten Lebens ist, die ganze Zeit im Vergnügungspark in einer Schlange angestanden zu haben – um am Ende festzustellen, dass es die falsche war. Zu diesem Karussell oder dieser Achterbahn wollten wir gar nicht! Darum schreibe ich dieses Buch: weil der Tod sicher ist, das Leben aber nicht!
Ich schreibe ein Buch über das Leben – aber dieses Leben muss dem Tod ins Auge sehen, wenn es wirklich Leben sein will. Der Tod kann zu unserem größten Verbündeten werden, wenn es darum geht, das Leben nicht zu verpassen. Er kann eine enorme Hilfe sein, das kostbare Geschenk wirklich wahrzunehmen, es wertzuschätzen, es in wachsendem Maße auszukosten, zu genießen, wirklich zu leben. Der Tod kann uns die Augen dafür öffnen, dass die Begrenzung unseres Lebens etwas Einmaliges, sogar Positives ist. Und uns dabei unterstützen, unsere kostbare Lebenszeit nicht zu vergeuden, sondern jeden Moment auszukosten, einzusetzen, zu genießen. Wenn wir ihm denn genügend Aufmerksamkeit schenken.
Die Sicherheit des Todes, sofern wir sie bewusst erkennen, aushalten und akzeptieren, gibt uns einen neuen Blick auf die Einzigartigkeit des Lebens. Und hier ist uns etwas verloren gegangen, das wir zurückgewinnen müssen. Das Leben ist einfach zu banal geworden – weil wir den Tod verdrängen, ausblenden und vermeiden, wo es nur geht. Viele Menschen leben ihr Leben, als hätten sie ein zweites im Keller.
Um es von vornherein klar zu sagen: Niemand mag den Gedanken, dass das Leben endlich ist und dass wir einmal sterben müssen. Ich bin da keine Ausnahme. Ich habe weder Todessehnsucht, noch bin ich lebensmüde – und ich hatte auch keinen schlechten Tag, als mir die Idee für dieses Buch kam. Ich glaube nur schlichtweg daran, dass eine große Kraft darin liegt, der Tatsache der eigenen Endlichkeit nicht auszuweichen. Sondern stattdessen den Schmerz, die Angst, die Ratlosigkeit und die Verwirrung, die mit diesem Gedanken verbunden sind, auszuhalten, anzunehmen und durch sie hindurchzugehen – weil wir auf der anderen Seite feststellen, dass wir eine tiefere, dankbarere, wertschätzendere und klarere Sicht auf das Leben bekommen haben.
Meine ersten Begegnungen mit dem Tod verliefen eher unbewusst. Ich wuchs auf, ohne einen Opa zu haben. Die meisten anderen Kinder hatten so jemanden – ich nicht. Denn meine beiden Opas waren schon tot. Der eine war im Krieg gefallen (es hat Jahre gedauert, bis ich als Kind begriff, dass er nicht einfach hingefallen, sondern zu Tode gekommen war), der andere ist an einem Herzinfarkt gestorben, als ich gerade ein Jahr alt war. Den Tod dieses Opas habe ich als kleiner Junge besonders bedauert, denn er hatte wohl bei meiner Geburt gesagt: „Endlich ein Junge, dem ich eine Eisenbahn kaufen kann!“ Dazu kam es dann leider nicht mehr.
Als ich elf Jahre alt war, starb mein Onkel Klaus, der jüngste Bruder meines Vaters. Herzversagen – er war gerade einmal 38 Jahre alt. Es folgten die Begegnungen mit dem Tod meiner Großmutter bis hin zum Tod meines Schwiegervaters. Er starb, kurz nachdem ich meine Frau kennengelernt hatte. Die Auseinandersetzung mit der Trauer, dem Verlust und dem Schmerz hat in den ersten Jahren unserer Beziehung und anschließenden Ehe einen nicht unerheblichen Raum eingenommen. Später als Pastor begann ich dann quasi professionell mit dem Tod umzugehen. Ich habe mehr als 100 Menschen beerdigt, viele andere in ihrer Trauer begleitet und immer wieder mit dem Sterben zu tun gehabt. Der Tod ist in meinem Leben eine reale Größe.
Als ich anfing, stärker über dieses Buch nachzudenken, fiel mir auf, dass ich in relativ kurzer Zeit eine erstaunliche Anzahl von Geschichten hörte, in denen Menschen sich auf intensive Weise mit Tod und Sterben auseinandersetzten. Die Geschichten begegneten mir in Talkshows, in Büchern, im Freundes- und Kollegenkreis. Überraschend oft berichteten Menschen davon, wie sie auf dramatische Weise mit dem Sterben und ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert worden waren. Da war die ZDF-Fernsehmoderatorin Susanne Conrad zum Beispiel, die erst die Mutter verloren hatte und dann selbst Krebs bekam. Lange Zeit war nicht klar, ob sie ihre Krankheit überleben würde.2 Oder der junge Leistungssportler Samuel Koch, der in der Samstagabendshow „Wetten, dass …“ über Autos springen wollte, dabei auf tragische Weise schwer verunglückte und bis heute mit schwersten Lähmungen an einen Rollstuhl gefesselt ist.3 Da war die schwere Krankheit und der frühe Tod der Frau eines Studienkollegen, die mit Anfang vierzig ihren Mann und ihre drei Kinder zurücklassen musste – oder der dramatische Überlebenskampf eines Pastorenkollegen, der lange Zeit nicht wusste, ob es sich lohnen würde, noch einen weiteren Pullover zu kaufen. Und da war der plötzliche Herzstillstand der Frau eines Freundes und Mentors – der glücklicherweise nicht mit dem Tod endete, sondern nach fünf Tagen Koma auf wunderbare Weise überwunden wurde.
In all diesen Schicksalen kam der Tod entweder gefährlich nahe oder brach einfach ins Leben ein – und konnte darum nicht länger ignoriert werden. Und jedes Mal berichteten die Betroffenen etwas sehr Ähnliches: Ihr Leben hatte sich nach dieser Begegnung mit dem Tod verändert – und zwar nicht nur zum Negativen. Neben der Trauer, dem Schmerz und dem Schrecken hatte das Leben überraschenderweise an Intensität, an Qualität und an Konzentration gewonnen. Die meisten erzählten davon, sich weniger Sorgen zu machen, mehr in Beziehungen zu investieren, mutiger zu sein und jeden Tag wie ein kostbares Geschenk anzunehmen. Sie hätten klarer vor Augen, was ihnen wichtig sei und was nicht. So wie Jutta zum Beispiel. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sie sich zweimal mit einer lebensbedrohenden Krebserkrankung auseinandersetzen müssen. Sie sagt heute: „Ich lebe viel intensiver. Ich freue mich an den Frühlingsblumen. Die Freude, das Leben ist mir viel bewusster. Ich bin mutiger geworden. Früher war ich eher schüchtern. Aber heute stehe ich vor Menschen und sage mir: Was können mir Menschen schon anhaben – ich habe den Krebs überlebt. Ich bin viel selbstbewusster. Wenn ich zum Beispiel mal übersehen werde, dann hat mir das früher etwas ausgemacht. Heute sage ich mir: Jutta, du hast den Krebs überlebt – da kannst du so etwas doch locker wegstecken. Ich bin sehr viel dankbarer für das Leben – und ich lebe sehr viel mehr im Hier und Jetzt.“
All diese Menschen sprachen davon, dass sie mehr Lebensfreude hätten, besser genießen könnten, mehr Fokus auf das Wesentliche besäßen, vielen einst drängenden Problemen nun sehr viel gelassener begegneten. Was natürlich nicht heißt, dass die Tragödien, die sich abgespielt haben, ihre Tragik verloren haben. Niemand würde sich wünschen, noch einmal einen ähnlich furchtbaren Schicksalsschlag durchmachen zu müssen. Aber durch die Auseinandersetzung mit der Katastrophe ist dennoch etwas Gutes passiert. Die Konfrontation mit dem Tod und der Endlichkeit des Lebens hat sich auf seltsame Weise als ein wesentlicher Schlüssel zu einer tieferen Perspektive auf das Leben – und damit zu einer größeren Lebensqualität – erwiesen.
Ein Bild, das die ZDF-Redakteurin Susanne Conrad in diesem Zusammenhang benutzte, ist mir besonders hängen geblieben. Sie sagte in einem Interview: „Meine Perspektive hat sich radikal geändert. Ich stehe zwar noch am gleichen Fluss des Lebens wie jeder andere von uns auch, nur befinde ich mich auf der anderen Ufer-Seite.“
Als ich die Berichte und Geschichten las, Interviews verfolgte oder in persönlichen Gesprächen einfach zuhörte, kam ich mehr und mehr ins Staunen über die Auswirkungen, die die Begegnung mit dem Tod auf diese Menschen hatte. Sie waren verändert – und bei aller Tragik und bei allem Schmerz war doch auch etwas Gutes dabei herausgekommen.
Das führte zu Beobachtung Nummer zwei: Obwohl immer wieder Menschen davon berichten, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod sie weitergebracht hat, obwohl die Stimmen dazu sich weitestgehend einig sind, obwohl das alles immer wieder gesagt wird, scheint sich niemand sonderlich dafür zu interessieren! Im Gegenteil: Solche Berichte lassen die meisten Menschen etwas beunruhigt und in der Regel ratlos zurück. So faszinierend sie auch sind, sie scheinen kaum Auswirkung zu haben, zumindest wenn man selbst bisher von härteren Schicksalsschlägen verschont geblieben ist. Da empfindet man dann zwar hin und wieder ein leichtes Gruseln, wenn Menschen von ihren Tragödien erzählen, aber generell hält man sich diese Geschichten dann doch lieber vom Hals. Und niemand wünscht sich, selbst eine solche Katastrophe zu erleben, Lebensqualität hin oder her.
Es wäre ja auch verrückt. Wer will sich schon freiwillig durch eine Krebserkrankung hindurchkämpfen, einen Unfall nur knapp überleben, sich mit dem plötzlichen Tod eines geliebten Menschen auseinandersetzen müssen oder sonst eine Tragödie im Leben willkommen heißen? Mag die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit auch sinnvoll für das Leben sein – wir halten uns die Tatsache unserer Endlichkeit lieber auf Abstand. Selbst wenn die Berichte von innerer Gelassenheit, tieferem Frieden, größerer Dankbarkeit, bewussteren Beziehungen durchaus eine gewisse Sehnsucht in uns wecken – der Preis für so ein Leben scheint einfach zu hoch zu sein.
Was wäre, wenn es einen Weg gäbe, dieses Lebensglück, den tieferen Zugang zum Leben zu gewinnen, ohne zuvor durch die schwere Diagnose, den tragischen Unfall oder den Schicksalsschlag hindurch zu müssen? Was wäre, wenn wir dorthin kommen könnten, ohne dass es erst das ganz große Drama geben müsste? Was wäre, wenn es quasi einen „homöopathischen Weg“ gäbe – eine kleine Dosis Sterben und Endlichkeit, ganz verdünnt, aber regelmäßig zu sich genommen, über einen längeren Zeitraum hinweg? Bei dem aber auf Dauer das gleiche Ergebnis zu verzeichnen wäre: bewussteres, tieferes Leben, mehr Dankbarkeit, mehr Gelassenheit, mehr Frieden, eine klarere Sicht auf das, was wirklich wichtig ist – wären Sie interessiert?
Über viele Jahrhunderte hinweg kannte die alte Kirche eine geistliche Übung, die genau diesen Weg der inneren Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit zum Thema hatte. Sie hat ihn über Hunderte von Jahren immer wieder beschritten, gelehrt und bewahrt. Erst relativ spät ist er aus unserem Blickfeld verschwunden – die Gründe dafür sind vielfältig und liegen überwiegend im Dunkeln.
Das ändert aber nichts daran, dass diese Übung heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Die Übung, von der ich rede und um die es in diesem Buch gehen wird, heißt: „Memento mori“ – es ist die Kurzform der lateinischen Aufforderung „Memento moriendum esse“, die übersetzt bedeutet: „Bedenke, dass du sterben musst!“ Diese Übung hat auf vielfältige Weise und in unterschiedlichen Formen das Leben zahlreicher Menschen begleitet und verändert.
Wenn Sie jetzt innerlich zurückzucken, bleiben Sie trotzdem dabei: Es hört sich schlimmer an, als es ist. Memento mori, das sind viele kleine Schritte, die uns helfen, eine große Wahrheit wieder stärker vor Augen zu haben: Unser Leben ist begrenzt – darum ist es wertvoll. Der Gedanke daran hilft uns, keinen Tag ungenutzt verstreichen zu lassen. Das Ziel dieser Übung ist nicht, uns niederzudrücken oder depressiv zu machen, sondern genau das Gegenteil ist der Fall: Sie hilft uns, das Leben in seiner ganzen Tiefe zu begreifen.
Um diesem Gedanken nachzugehen, und die praktische Seite von Memento mori zu entdecken, habe ich das Buch in drei Teile aufgeteilt.
Im ersten Teil „Das Sterben bedenken“ gehe ich der Frage nach, was eigentlich ein gutes Leben ist, warum wir dem Sterben heute so gerne ausweichen und wie uns der christliche Blickwinkel helfen kann, eine neue Perspektive zu gewinnen.
Im zweiten Teil „Sterben üben, um zu leben“ werde ich Wege vorschlagen, wie durch das Einüben kleiner Tode im Alltag Memento mori praktisch werden kann.
Und im dritten Teil „Auf dass wir klug werden – was uns wirklich Halt gibt“ geht es um die dauerhaften Werte, die unserem Leben Stabilität und Kraft geben. Diese Werte sind Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Großzügigkeit, Treue, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung – die Frucht des Geistes aus Galater 5,22-23. Um diesen positiven Werten Raum zu geben, müssen wir ihren entgegengesetzten Empfindungen und Verhaltensweisen absterben. Auch dazu möchte ich ein paar kleine Übungen vorstellen.
Ich habe in den vergangenen Jahren viel über geistliche Übungen geschrieben. Daher könnte man meinen, mein ganzes Leben bestehe nur noch aus einer Aneinanderreihung von Übungsprogrammen und dass es mein Ziel sei, dass Ihr Leben ebenfalls so aussieht. Ich kann Sie beruhigen, denn beides ist nicht der Fall. Übungen sind dazu da, uns zu konkreten Schritten zu verhelfen. Das Ziel ist es nicht, alle in ihrer Gesamtheit zu absolvieren, sondern die eine zu finden, die Ihnen jetzt in Ihrer spezifischen Situation am meisten hilft. Alles hat seine Zeit – auch die jeweilige Übung! Setzen Sie sich also beim Lesen der folgenden Gedanken nicht unter Druck, sondern achten Sie darauf, wo etwas in Ihnen reagiert, wo Sie Lust verspüren, etwas auszuprobieren, oder wo Sie auf eine Sehnsucht in sich stoßen – und gehen Sie dann fröhlich ans Werk.
Dass Sie mich auf dieser Reise begleiten, ist für mich ein großartiges Geschenk und Vorrecht. Und meine ganze Hoffnung zielt darauf ab, dass Sie durch diese Gedanken einen oder auch mehrere Schritte machen, um das Leben, das uns als ein so wunderbares, einzigartiges Geschenk angeboten wird, tiefer zu ergreifen.
Ich schreibe als einer, der zusammen mit Ihnen unterwegs ist. Ich schreibe als Christ, als ein Mensch, der für sich entdeckt hat, dass in der Einladung Jesu, ihm nachzufolgen, der Weg zu ewigem Leben liegt. Auf diesem Weg sind noch lange nicht alle Fragen beantwortet. Und so schreibe ich auch als einer, der diese Fragen – gerne zusammen mit Ihnen – stellt. An Gott, an das Leben, an uns selbst! Dass auf diesem Weg etwas Fruchtbares entsteht, während wir gemeinsam unterwegs sind, ist mein Wunsch und meine Hoffnung.