Ostfriesland, 1948: Um den Verkauf des Familienhofs im friesischen Marschland abzuwenden, fängt die junge Gesa als Packerin in einem Teehandel an. Fasziniert von dieser für sie neuen und aufregenden Welt steigt sie bald zur rechten Hand des Juniorchefs auf, dem Kriegsheimkehrer Keno. Die beiden kommen sich näher, aber Keno ist ein verheirateter Mann. Und auch Gesas Herz ist nicht frei. Ihr Verlobter gilt als in Russland verschollen. Als böse Gerüchte die Runde machen, droht Gesa alles zu verlieren, was sie sich aufgebaut hat.
Fenja Lüders, Jahrgang 1961, ist eine waschechte Friesin. Als Jüngste von vier Geschwistern wuchs sie auf einem Bauernhof direkt an der Nordseeküste auf. Für ihr Studium der Geschichte und Politik zog sie nach Oldenburg, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Neben dem Schreiben ist klassische Musik ihre große Leidenschaft.
F E N J A L Ü D E R S
DER
FRIESENHOF
Auf neuen Wegen
Roman
L Ü B B E
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anna Hahn, Trier
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München
Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: flowersmile | Olga_C | Roman Sigaev | Conny Pokorny | PRILL; © Arcangel Images: Rekha Arcangel
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-1031-2
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Meinen ganz gegensätzlichen
und dabei wunderbaren Töchtern
Hanna und Clara gewidmet
Krummhörn, Ostfriesland, 1949
Der böige Wind, der Hanna vom Deich her entgegenwehte, war eiskalt. Er führte feine Regentropfen mit sich, die sich auf ihrem Gesicht wie Nadeln anfühlten, wenn sie die Haut trafen, und ihre Wangen begannen allmählich taub zu werden. Trotzdem behielt sie ihr Ziel fest im Auge, erhob sich im Sattel ihres Fahrrades und trat ordentlich in die Pedale, um sich dem Sturm entgegenzustellen.
Wie immer, wenn etwas sie bedrückte oder ihr einfach alles zu viel zu werden drohte, hatte sie sich davongeschlichen, als sich nach dem Mittagessen die meisten der Bewohner des Friesenhofes für eine Stunde aufs Ohr gelegt hatten. Das war die einzige Gelegenheit des Tages, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Auf neugierige oder gar mitleidige Blicke konnte Hanna weiß Gott verzichten.
Wie sollte man auch nur einen klaren Gedanken fassen, wenn man nicht einen Moment Ruhe hatte?
Besonders seit immer mehr Flüchtlinge auf dem Hof einquartiert worden waren, hatte Hanna das Gefühl, nie für sich allein sein zu können. Alle hatten zusammenrücken müssen, und so war Hannas Bett mit in die Kammer ihrer großen Schwester Gesa gestellt worden, wo es jetzt so eng war, dass man sich nicht einmal vernünftig umdrehen konnte. Früher, als sie noch Kinder gewesen waren, hatte Hanna es schön gefunden, wenn Gesa ihr erlaubt hatte, mit zu ihr ins Bett zu kriechen. Sie hatten sich eng aneinandergekuschelt, die Wärme genossen und sich flüsternd Geschichten erzählt, bis sie eingeschlafen waren.
Aber das war lange her. Jetzt waren sie beide erwachsen, auch wenn Gesa immer wieder betonte, so richtig reif werde man erst mit Mitte zwanzig, und Hanna sei bloß eine dumme Deern.
Hanna schnaubte und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab, die unablässig flossen. Gesa würde sie nie für voll nehmen, denn das Alter, in dem man in ihren Augen erwachsen wurde, war immer gerade Gesas eigenes Alter, höchstens vielleicht ein Jahr jünger. Für die große Schwester würde Hanna immer die Lütte bleiben, selbst wenn sie beide irgendwann mit über achtzig als alte Jungfern nebeneinander auf dem Sofa sitzen und Tee trinken würden.
Der Regen hatte aufgehört, und die gleißend helle Aprilsonne brach sich den Weg durch die hoch aufgetürmten Wolken, deren untere Ränder grau und schwer von Regen über Hanna hingen. Wenn die Erde nicht so nass wäre, hätte sie den Kleiweg nehmen können, der nördlich vom Dorf direkt zum Deich führte, aber jetzt war der Boden dort wahrscheinlich so aufgeweicht, dass sie das Fahrrad schieben müsste. Daher machte sie einen kleinen Umweg und fuhr die äußere Ringstraße am Dorf entlang, von der die Kiebitzstraße abging, die ebenfalls am Deich endete.
Um die Mittagszeit wie jetzt waren kaum Leute auf der Straße des kleinen Dorfes, dessen Häuser sich um die alte Kirche oben auf der Wurt drängten wie Küken um eine Glucke. Ohne es zu wollen, richtete Hanna den Blick nach links auf das gedrungene Gotteshaus, in dem sie vor fünf Jahren konfirmiert worden war.
»Morgen …«, murmelte sie, und wieder liefen die Tränen.
Morgen würden sie sich alle dort versammeln; die Familie, die Nachbarn, die Bekannten … Alle Männer würden dunkle Anzüge mit schwarzen Krawatten tragen, die Frauen ihre guten schwarzen Sonntagskleider oder doch wenigstens einen Trauerflor am Ärmel. Morgen würden sie Onno de Fries, den Bauern des Friesenhofes, ein Stückchen außerhalb des Dorfes zu Grabe tragen, Hannas Vater.
Hanna war schon auf vielen Beerdigungen gewesen. Zuletzt vor vier Jahren, gleich nachdem der Krieg vorbei gewesen war, als sie den alten Heinrich Kröger zu Grabe getragen hatten, den Altbauern drei Höfe weiter. Es gehörte sich so, dass alle Erwachsenen der Nachbarsfamilien am Trauergottesdienst teilnahmen, um ihr Beileid zu bekunden, ob sie nun etwas für den Verstorbenen empfunden hatten oder nicht. Der alte Kröger war ein mürrischer alter Mann gewesen, der immer auf der Bank neben der Dielentür in der Sonne gesessen und auf die Kinder geschimpft hatte, die er bezichtigte, Äpfel klauen zu wollen. Kurz vor seinem Tod war er nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen, hatte sich mit Leuten unterhalten, die nur er sehen konnte, weil sie schon längst gestorben waren.
»Er wird tüddelig«, hatte Papa damals gesagt und lachend hinzugefügt, das werde ihm selbst wohl auch so gehen, wenn er erst einmal über achtzig sei.
Bei der Beerdigung des alten Kröger hatte Hanna ganz hinten in der Kirche neben Papa, Mama und Gesa gesessen, das Gesangsbuch in den Händen, und sich fürchterlich gelangweilt. Als sie irgendwann ein Gähnen nicht hatte unterdrücken können, hatte Mama sie mit dem Ellenbogen angestoßen und ihr kopfschüttelnd einen bösen Seitenblick zugeworfen.
Papa hatte zum Glück nichts davon mitbekommen, sonst wäre das sicher nicht so glimpflich ausgegangen. Er konnte richtig fühnsch werden, wenn man sich den Nachbarn gegenüber nicht respektvoll benahm. Mit Gesa und Hanna schimpfte er normalerweise nur, sie waren ja seine lütten Deerns, aber die beiden ältesten Kinder Helga und Renke hatten sich auch öfter mal Backpfeifen von ihrem Vater eingefangen, als sie noch zu Hause gewohnt hatten.
Die drei hellen Glockentöne, die vom Kirchturm herüberklangen, rissen Hanna aus ihren Gedanken. Viertel vor eins schon. Wenn sie wieder zu Haus sein wollte, bevor die Mittagsstunde vorbei war, musste sie sich beeilen.
Sie bog in die Kiebitzstraße ein und beugte sich über den Lenker, um dem stürmischen Wind nicht so viel Angriffsfläche zu bieten. Nur kurz hinter dem Dorf gab es noch Bäume, je näher sie jedoch dem Deich kam, desto stärker pfiff der scharfe Aprilwind in ihren Ohren und zerrte an ihren lockigen blonden Haaren, die sich aus ihrem im Nacken verknoteten Kopftuch gelöst hatten.
Der Deich, der zuerst in weiter Ferne gelegen zu haben schien, kam rasch näher, und dann hatte Hanna auch schon die gepflasterte Straße erreicht, die am Fuß des Deiches entlanglief. Im Gegensatz zu den Kühen, die jetzt, Anfang April, noch im Stall standen, waren die Schafe schon zum Weiden auf den Deich getrieben worden. Wegen des kühlen Windes hielten sich die Muttertiere mit ihren Lämmern auf dessen geschützter Landseite auf.
Hanna hielt an, stieg vom Fahrrad und lehnte es an den Zaun neben einem Holzgatter, das die Deichweide von der Straße trennte.
»Na, ihr?«, fragte sie ein Schaf, das den Kopf gehoben hatte und sie neugierig betrachtete. »Euch ist auch kalt, was?«
Das Schaf schien sie einen Moment skeptisch zu mustern und stieß dann ein langgezogenes »Bööööh« aus, ehe es sich wieder dem frischen Gras auf dem Deich zuwandte.
Hanna lachte leise. »Ganz deiner Meinung«, sagte sie. »Trotzdem muss ich mir mal den Kopf durchpusten lassen.«
Sie öffnete das Gatter einen Spaltbreit, schlüpfte hindurch und verschloss es wieder sorgfältig hinter sich. Der Schäfer wäre vermutlich schon nicht damit einverstanden, dass sie die Deichweide überhaupt betrat, aber wenn die Schafe ausbüxten, würde sie mächtig Ärger mit ihm bekommen.
Sie zog die dicke Wolljacke enger um sich, die sie, ohne groß darüber nachzudenken, zu Hause von der Garderobe genommen und übergeworfen hatte. Sie war ihr viel zu groß und roch noch immer nach Papas Tabak. Außerdem war sie so schwer, dass das Gewicht auf ihren Schultern sie herunterzudrücken schien.
Egal, sie wollte über das Wasser gucken, wie sie es früher manchmal mit Papa zusammen gemacht hatte. Als sie noch klein gewesen war, hatte er sie immer hochgehoben, und sie war mit dem Blick seinem ausgestreckten Arm gefolgt und hatte seiner tiefen Stimme gelauscht, wenn er ihr erklärte, was sie dort sehen konnte. Später, als sie dafür zu schwer wurde, hatte er seinen Arm um sie gelegt, wenn sie vorgegeben hatte zu frieren, und sie hatte sich warm und geborgen gefühlt.
Die Sehnsucht nach diesem sicheren Gefühl war auf einmal so groß, dass ihre Brust ganz eng wurde und zu schmerzen begann. Ein heiserer Schluchzer löste sich aus ihrer Kehle, während ihre Augen zu brennen anfingen und die Tränen wieder liefen.
Alles vorbei, dachte sie. Nichts wird je wieder so sein, wie es früher war. Papa ist tot.
Allein dieser Gedanke war unfassbar, und sie konnte es immer noch nicht glauben. Wie konnte jemand, der bis vor wenigen Tagen noch so lebendig gewesen war, plötzlich tot sein?
Er hatte sich bei der Arbeit auf dem Hof bestimmt schon hundert Mal verletzt, einige Male sogar deutlich schwerer, als sich mit der Forke selbst in den Fuß zu stechen. Ein Bulle hatte ihn einmal mit den Hörnern erwischt, da hatte er einen Monat lang kaum Luft bekommen. Damals hatte der Arzt gesagt, Papa hätte sich ein paar Rippen gebrochen und Glück gehabt, dass sich keine in die Lunge gebohrt hätte. So was würde oft schlimm enden.
»Unkraut vergeht nicht«, war stets Papas Antwort gewesen. Aber jetzt war es doch passiert. Er hatte die Verletzung am Fuß nicht ernst genommen und einfach weitergearbeitet. »Wird bestimmt bald besser werden«, hatte er im Laufe der nächsten Tage immer wieder zu Mama gesagt, auch wenn ihm vor Schmerzen schließlich der Schweiß von der Stirn gelaufen war. Dann hatte er hohes Fieber bekommen, und innerhalb von drei Tagen war er an einer Blutvergiftung gestorben, ohne dass der Arzt noch etwas für ihn hatte tun können.
Keiner hatte es glauben wollen, erzählte Helmut Frerichs, der Bauer vom Hof nebenan, der den Rest der Nachbarschaft über Onnos Tod informiert hatte, nachdem er am Abend noch einmal bei den de Fries vorbeigeschaut hatte. So ein Riesenkerl, der nie ernsthaft krank gewesen war und noch nicht einmal die fünfzig erreicht hatte, der starb doch nicht einfach so.
Aber nun lag ihr Vater in der kleinen Leichenhalle neben der Pastorei. Gestern Abend war die ganze Familie dort gewesen, um Abschied zu nehmen, ehe der Sarg geschlossen wurde. Papa hatte so fremd ausgesehen in seinem guten schwarzen Anzug, das Gesicht blass und wächsern, die Augen geschlossen und um die Lippen einen bitteren Zug. In seine Hände hatten sie ein paar Osterglocken gelegt, die schon die Köpfe hängen ließen. Dieser Mann hatte gar nicht mehr ausgesehen wie der Papa, den Hanna gekannt und über alles geliebt hatte.
Sie schüttelte den Kopf, um das Bild des offenen Sarges wieder loszuwerden, und stieg weiter den Deich hoch. Noch zehn Schritte, noch zwei, dann nur noch einer, und Hanna blieb oben auf der Deichkrone stehen. Der Wind zerrte an ihrem Kopftuch und nahm ihr für einen Moment den Atem, während sie in das Sonnenlicht blinzelte.
Vor ihr breiteten sich die Salzwiesen aus, hinter denen die Ems in den Dollart floss, die große Bucht, an der der Emder Hafen lag. Hier schien die Welt zu Ende zu sein. Am anderen Ufer war schon Holland, und wenn sie sich nach Norden wandte, konnte sie dort vage die Nordsee erkennen.
»Ach, hier bist du!«, hörte Hanna eine helle Stimme rufen. »Als ich gesehen habe, dass dein Rad nicht da ist, habe ich mir schon gedacht, dass ich dich hier finde.«
Hanna drehte sich um und schaute zur Straße hinunter, wo Gesa gerade dabei war, ihr Fahrrad neben ihr eigenes an den Zaun zu stellen. Sie schirmte die Augen gegen das Licht ab, während sie zu Hanna hochblickte. Dann schlüpfte sie durch das Tor und lief leichtfüßig den Deich hinauf.
»Ich hab mir Sorgen gemacht«, sagte Gesa. »Darum bin ich dir nachgefahren. Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
Hanna drehte sich wieder zum Wasser um.
»Wie soll es mir schon gehen?«, fragte sie, ohne den Kopf zu wenden. »Genauso wie dir vermutlich.«
»Na ja, ich bin nicht gestern Abend fast umgekippt.«
»Umgekippt?« Hanna blickte ihre Schwester an. »So schlimm war es nun wirklich nicht.«
»Du wurdest auf einmal kreidebleich um die Nase, als du am Sarg gestanden hast. Wenn ich dich nicht untergehakt hätte, dann …«
»Du übertreibst!« Hanna schnitt ihrer Schwester verärgert das Wort ab. »Wie immer.«
»Was du wieder hast! Ich mach mir eben Gedanken um dich.« Gesa zuckte mit den Schultern.
»Niemand muss sich gleich Sorgen um mich machen, nur weil ich mal für eine Stunde allein an den Deich fahren will. Ich fall schon nicht ins Wasser.«
»Darum geht es doch gar nicht, Hanna.« Gesa warf ihr einen schnellen Blick von der Seite zu. »Aber du hast nun mal von uns allen am meisten an Papa gehangen, und es ist das erste Mal, dass du jemanden beerdigen musst, der dir so nahestand. Und nach gestern …«
»Danke, ich komme schon zurecht.«
»Das weiß ich doch. Aber wenn man so jung ist wie du und so eine Trauer nie erlebt hat, ist das nicht so einfach. Glaub mir, ich weiß, wie das ist.«
Beinahe wäre Hanna ein Satz herausgerutscht, den sie sicher später bereut hätte. Sie biss sich auf die Lippen und verschränkte die Arme, während sie über das Wasser zum anderen Ufer hinüberstarrte, ohne erkennen zu können, was sich dort befand.
Fast hätte sie gesagt, Gesa solle sich nicht so aufplustern, Papas Tod sei nicht mit dem zu vergleichen, was Gerold zugestoßen sei. Sie sei ja nicht einmal richtig mit ihm verlobt gewesen.
Hanna war froh, es nicht ausgesprochen zu haben, es wäre gehässig gewesen und grausam dazu. Was konnte Gesa denn dafür, dass Gerold nicht von der Front in Russland zurückgekommen war? Vermisst hieß es, aber alle wussten, was das bedeutete. Von den Vermissten kehrte kaum je einer wieder nach Hause zurück.
Gerold Weers war der jüngere Sohn des Dorfschmieds, von dem er sein Handwerk gelernt hatte, ehe er sich in Emden Arbeit auf einer Werft gesucht hatte. Gesa und er waren gerade erst ein paarmal miteinander zum Tanzen ausgegangen, als er eingezogen worden war, und Gesa hatte Hanna das Versprechen abgenommen, den Eltern nichts davon zu erzählen, dass er sie bereits gefragt hätte, ob sie ihn heiraten würde, wenn er zurückkäme. Er wolle selbst um die Erlaubnis bitten, das gehöre sich so. Wenn der Krieg irgendwann vorüber sei, würden sie nach Emden ziehen, hatte Gesa erzählt, in eines der kleinen Siedlungshäuser am Stadtrand, da, wo alle Werftarbeiter und ihre Familien wohnten. Gerold würde gut für sie und die Kinder sorgen, die dann kommen würden. Und Gesa müsste nie wieder zum Melken halb unter eine dieser tückischen Kühe kriechen, die nichts anderes im Kopf hatten, als nach dem Melker zu treten, und vor allem würde sie sich nie wieder von einem der Pferde beißen lassen.
Hanna wusste, dass Gesa Angst vor den Kühen und ganz besonders vor den Pferden hatte und dass sie davon träumte, eines Tages nicht mehr auf dem Hof der Eltern helfen zu müssen.
Aber Gerold war nicht zurückgekommen, und so war alles beim Alten geblieben. Jeden Morgen standen Hanna und Gesa zusammen auf, frühstückten mit den Eltern und den Knechten, bevor sie ihre täglichen Aufgaben verrichteten: Tiere füttern, Kühe melken – im Winter im Stall, im Sommer draußen auf der Weide. Und jeden Tag aufs Neue bemerkte Hanna die kleinen Schweißperlen, die sich an Gesas Haaransatz bildeten, wenn sie den Melkschemel zwischen die Kühe schob und vorsichtig darauf Platz nahm. Hanna sorgte dafür, dass Gesa immer nur die lammfrommen Kühe zum Melken bekam, nie diejenigen, die den Kopf hoben, sobald man hinter ihnen am Melkstand vorbeiging, und die einen böse anfunkelten, um dann blitzschnell nach einem zu treten.
Hanna hatte keine Angst vor den großen Stalltieren, sie kannte dieses Gefühl einfach nicht. Schon als kleines Mädchen hatte sie die meiste Zeit im Kuhstall zugebracht, hatte sich eine der alten Pferdedecken geholt und sich damit auf den leeren Platz neben der Leitkuh gelegt. Von dort aus hatte sie ihr beim Wiederkäuen zugesehen und die Wärme genossen, die von dem riesigen Tier ausging, das sie aus seinen seelenvollen Augen anblickte, während es gemächlich kaute.
»Du hättest der Junge werden sollen«, hatte Papa manches Mal zu ihr gesagt. »Dann wäre so vieles einfacher.«
Aber so etwas konnte man sich nun einmal nicht aussuchen. Hannas einziger Bruder Renke hatte sich nach dem Wehrdienst freiwillig zur Marine gemeldet und war gleich zu Beginn des Krieges gefallen. Acht Jahre war das jetzt her, und die Erinnerung an ihn begann allmählich zu verblassen. Egal wie sehr sich Hanna auch bemühte, seine Stimme konnte sie sich nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen.
Renke war groß und schlank gewesen und dunkelhaarig, so wie Gesa. Alle Mädchen der Nachbarschaft hatten ihn angeschmachtet und sich darum gerissen, von ihm zum Tanzen ausgeführt zu werden. Hanna sah ihn noch in seiner Marineuniform vor sich, wie er ihr durch die Haare gewuschelt hatte, kurz bevor er seinen Dienst antreten musste, und sie erinnerte sich auch noch an den steifen Abschied von den Eltern. Gesa hatte ihr erzählt, dass Renke und Papa sich heftig gestritten hatten und böse Worte gefallen seien.
»Andere Eltern sind stolz darauf, wenn die Söhne ihre Pflicht für Führer und Vaterland tun«, hatte Renke gesagt. »Und ihr tut so, als wollte ich vor der Arbeit hier Reißaus nehmen.«
Papa hatte darauf offenbar entgegnet, da sei ja auch was Wahres dran. Und dann noch hinzugefügt, wenn Renke jetzt ginge, könne er auch gleich ganz wegbleiben.
Hanna war bei dieser Auseinandersetzung nicht dabei gewesen, und auch Gesa hatte den Streit nicht direkt mitbekommen, sondern die Einzelheiten von ihrer ältesten Schwester Helga gehört. Diese hatte wenig später geheiratet und war mit ihrem Mann Günther nach Moordorf gezogen, wo Günthers Eltern einen kleinen Hof bewirtschafteten.
Der Gedanke an Helga brachte Hanna schlagartig wieder in die Gegenwart zurück.
Auch Helga und Günther würden morgen zur Beerdigung kommen. Die beiden waren eine halbe Ewigkeit nicht mehr hier gewesen, weil Papa und Günther vor ein paar Jahren heftig aneinandergeraten waren und danach Funkstille geherrscht hatte.
Kurz nachdem das Schiff, auf dem Renke gedient hatte, versenkt worden war, hatten sie Onno de Fries den Vorschlag gemacht, Günther könne doch den Hof als Bauer übernehmen, wenn für Hannas Eltern die Zeit gekommen sei, sich auf das Altenteil zurückzuziehen. Das wäre schließlich für alle von Vorteil, hatte Günther behauptet. Die Nachfolge sei auf diese Weise gesichert, und bis dahin würden Helga, er und die Kinder einfach auf dem Friesenhof mitarbeiten.
»Vor allem wäre es eine Gelegenheit, endlich von dem sauren Stück Moorland runterzukommen, den du einen Hof nennst«, hatte Papa geschnaubt. »Der wirft wohl zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben ab. Meinst du, ich weiß nicht, dass Henrike euch immer wieder Geld zusteckt, wenn ihr mal da seid? Du willst ja nur den Fuß hier in die Tür kriegen. So weit kommt es noch!«
»Aber Papa …« Helga hatte die Augen aufgerissen und ihn bittend angesehen, aber er hatte sich nicht erweichen lassen.
»Du wolltest ihn unbedingt heiraten, nun sieh selbst, wie du damit fertigwirst, dass er dich und deine Kinder nicht ordentlich ernähren kann. Solange ich lebe, braucht dieser Taugenichts, den du deinen Mann nennst, sich jedenfalls nicht mehr hier blicken zu lassen, geschweige denn wird er der Bauer auf diesem Hof.«
»Solange ich lebe …« Hanna hatte die Worte nur geflüstert, während sie über das Wasser starrte, das träge in Richtung des Dollart strömte.
»Hm?«, machte Gesa.
Hanna wandte sich zu ihrer Schwester um. »Ich dachte nur gerade daran, dass Helga und Günther morgen ja auch kommen. Glaubst du, es wird Ärger geben? Ich meine, weil Papa doch gesagt hat, dass Günther auf keinen Fall …« Sie brach ab.
Gesas hellgraue Augen wurden für einen Moment schmal, dann lächelte sie. »Das soll er sich mal trauen, auch nur ein Wort in diese Richtung zu sagen.«
»Aber du weißt doch, wie Mama ist. Wenn Helga nur lange genug auf sie einredet, dann wird sie weich werden. Was ist, wenn Günther jetzt doch den Hof übernehmen will?«
»Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.« Gesa zwinkerte ihrer Schwester zu. »Und du genauso. Und selbst, wenn Mama weich werden sollte – wir werden das nicht zulassen, nicht wahr?« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Jetzt sollten wir uns aber auf den Heimweg machen, gleich gibt es Tee, und wenn wir nicht pünktlich am Tisch sitzen, müssen wir uns bloß wieder dumme Fragen anhören, wo wir gewesen sind. Außerdem ist es mir zu kalt, um hier im Wind herumzustehen, ich bin schon ganz durchgefroren. Na los, Hanna, fahren wir nach Hause.«
Sie streckte die Hand aus und strich Hanna den Arm entlang, ehe sie sich umdrehte und vorsichtig den steilen Abhang des Deiches hinabstieg.
Hanna sah Gesa hinterher, bis sie unten beim Gatter angekommen war. Dann seufzte sie und folgte ihrer Schwester zu den Fahrrädern.
Wie für die meisten Ostfriesen war auch für die Familie de Fries Tee ein wahres Lebenselixier. Das erste Koppje gab es gleich nach dem Aufstehen, bevor man mit dem Melken und den anderen Aufgaben begann, und die letzte Kanne wurde abends geleert, wenn sie alle in der Stube vor dem Radio zusammensaßen, müde von all der Arbeit.
Den ganzen Tag über blieb der gefüllte Kessel ganz hinten auf dem Herd stehen, sodass man ihn nur schnell aufs Feuer ziehen musste, um frischen Tee aufzubrühen. In der Speisekammer gleich neben der Küche, in der es kühl und dunkel war, befand sich auf dem ersten Regal vorn eine Sette mit frischer Milch. Aus dieser Steingutschüssel schöpfte Gesas Mutter mehrfach am Tag die Sahne in ein Porzellankännchen ab.
Als Gesa und Hanna die Küche betraten, kam sie gerade aus der Speisekammer heraus, das Kännchen mit dem blauen Blumenmuster in der Hand, aus dem der Sahnelöffel herausragte.
»Da seid ihr ja«, sagte Henrike de Fries. »Ich wollte gerade Tee kochen.«
Ihre Stimme hatte den gleichen Klang wie früher, aber doch war nichts mehr wie zuvor. Gesa hatte sich noch nicht an die schwarze Kleidung gewöhnt, die ihre Mutter jetzt wohl für lange Zeit tragen würde. Sie wirkte klein und schmal darin und so blass, als sei jegliche Farbe aus Gesicht und Haar verschwunden. Tiefe, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, aus denen alles Leben gewichen war.
Kein Wunder, dachte Gesa. Das, was Mama in den letzten Jahren erlebt hat, machen andere nicht in einem ganzen Leben durch: zuerst Renke und jetzt auch noch Papa tot. Andere Frauen würden daran zerbrechen, aber Mama beißt die Zähne zusammen und macht weiter.
Gesa ging zu ihrer Mutter hinüber und nahm ihr lächelnd das Sahnekännchen aus der Hand. »Hanna und ich machen das schon. Setz du dich mal neben Tanti aufs Küchensofa.«
Sie drehte sich zu ihrer Schwester um. »Setzt du das Wasser auf?«, fragte sie. »Dann decke ich für alle den Tisch.«
Am Nachmittag, bevor sie zum Füttern und Melken in den Stall gingen, gab es für alle im Haus Teestunde. So war es schon immer gewesen, und so würde es auch bleiben – ob der Friesenhof nun im Moment einen Bauern hatte oder nicht.
Gesa stellte das Milchkännchen auf den Tisch und hob den Deckel des Zuckertopfes an, um nachzusehen, ob noch genügend Kluntjes drin waren. Zum Glück schienen die Zeiten endgültig vorbei zu sein, in denen Zucker absolute Mangelware gewesen war. Während des letzten Kriegsjahres und der Monate danach hatte sie ihren Tee nur mit Sahne trinken müssen – eine bittere Erfahrung in mehr als einer Hinsicht.
»Wo wart ihr denn?«, hörte sie eine Frauenstimme fragen und schaute auf, direkt in die Augen von Tanti, die sie durch die Gläser ihrer Hornbrille neugierig betrachtete.
Die alte Frau hatte ihr Strickzeug in den Schoß sinken lassen und lächelte Gesa zu.
»Hanna wollte sich ein bisschen frische Luft um die Nase wehen lassen, also haben wir einen kleinen Ausflug zum Deich gemacht«, antwortete Gesa.
»Zum Deich … Soso …«, erwiderte Tanti und nickte wissend. Diese Antwort konnte von »Was für eine schöne Idee« bis hin zu »Ich glaube dir kein Wort von dem, was du sagst« alles heißen.
Tanti – eigentlich Tante Alma – war die jüngste Schwester von Gesas und Hannas Großmutter mütterlicherseits. Während alle vier Großeltern bereits seit vielen Jahren tot waren, erfreute sich Tanti trotz ihres Alters von inzwischen über siebzig Jahren einer robusten Gesundheit und vor allem eines messerscharfen Verstandes. Auch wenn sie nicht mehr so gut sehen konnte wie früher und sie sich jetzt die Zeitung vorlesen lassen musste, entging ihr nichts, besonders nichts, was sie eigentlich nicht erfahren sollte.
Bei den de Fries lebte Tanti nun schon seit ungefähr zwanzig Jahren, und Gesa konnte sich nicht mehr an eine Zeit erinnern, in der Tanti nicht im Haus gewesen war. Wenn sie nicht gerade mit ihrem Strickzeug auf dem Küchensofa saß, half sie beim Kochen und Einmachen, beaufsichtigte die Mägde und hütete die Kinder.
Vielleicht liebte sie Kinder deshalb so sehr, weil sie selbst keine hatte. Geheiratet hatte sie nie und betonte immer, diese Tatsache auch in keinster Weise zu bedauern. Gesa erinnerte sich vage daran, dass Mama einmal erzählt hatte, Tanti sei in ihrer Jugend verlobt gewesen, aber der junge Mann sei auf See geblieben, und einen anderen habe sie nie haben wollen. So war sie zur alten Jungfer geworden, die bei der Familie de Fries ein Zuhause gefunden hatte, der Bäuerin zur Hand ging und dafür Kost und Logis erhielt. Zuerst war das Henrikes Mutter gewesen, und nach deren Tod war sie bei ihrer Nichte untergekommen.
Jetzt nahm sie die angefangene Socke wieder zur Hand, und das vertraute Klappern der Nadeln ging weiter. Gleichzeitig schweifte Tantis Blick über den Tisch zu Gesa hinüber. Socken vermochte Tanti blind zu stricken.
»Gab es was Interessantes zu sehen?«, fragte sie.
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Gesa. »Höchstens, dass Reins schon die Kühe auf die Weide getrieben haben.«
Tanti zog die rechte Augenbraue hoch. »Und die hast du erkannt?«
»Hanna hat gesagt, dass es die Kühe von Reins sind.«
»Dachte ich es mir doch«, murmelte die alte Frau, nickte und wandte den Blick wieder ihrem Strickzeug zu.
Gesa unterdrückte ein Lächeln, während sie Tassen und Teller auf dem Tisch verteilte. Dann holte sie Brot und den Rest des Rosinenstutens, den Mama gestern gebacken hatte, aus der Speisekammer. Während sie den Stuten aufschnitt und die Scheiben dünn mit Butter beschmierte, sah sie, dass Hanna die gefüllte Teekanne mitsamt Stövchen auf den Tisch stellte. Ihre Schwester steckte den Kopf zur Tür hinaus und rief: »Tee ist fertig.«
Auch wenn sie gar nicht laut gerufen hatte, war binnen Sekunden Getrappel auf der Treppe zu hören. Das waren die Kinder der Flüchtlinge, die im Hof untergebracht waren. Sie rissen sich immer um die Aufgabe, den Knechten draußen Bescheid geben zu dürfen, weil sie dafür ein Extrastück Zucker bekamen, das sie nach der Teezeit wie einen Bonbon lutschen konnten.
Die Küchentür wurde aufgerissen, die fünf Kinder drängelten herein, hüpften vor Hanna auf und ab und riefen aufgeregt durcheinander. »Ich, ich, ich …«
Hanna hielt sich die Ohren zu, aber Gesa bemerkte das amüsierte Blitzen in ihren Augen. »Da gellen einem ja die Ohren! Nicht so laut, Kinners«, sagte sie. »Wer war gestern dran?«
»Käthi!«, sagte Heiner, der größte der Jungs. »Heute bin ich an der Reihe.«
»Du hast dich aber an Manfred vorbeigedrängelt«, sagte Gerda vorwurfsvoll. Sie war elf Jahre alt, das älteste der Flüchtlingskinder auf dem Hof und so etwas wie die Anführerin der Kinder. »Ich hab es genau gesehen. Er wäre fast hingefallen.«
»Dann ist heute wohl Manfred dran.« Hanna griff in den Zuckertopf und drückte dem kleinen Manfred, Heiners sechsjährigem Bruder, einen haselnussgroßen Kristall in die Hand. »Siehst du, Manfred, da ist dein Kluntje, und jetzt lauf schnell nach draußen und sag den Knechten Bescheid.«
Einen Augenblick lang betrachtete der kleine Junge den schimmernden Kristall in seiner Hand, dann umklammerte er ihn fest mit den Fingern und nickte strahlend. Er machte kehrt und rannte zur Tür, wo er beinahe mit den Flüchtlingsfrauen zusammengestoßen wäre, die inzwischen auch heruntergekommen waren.
»Guck mal, Mama«, rief er und hielt seinen Schatz vor den drei Frauen hoch. »Heute bin ich dran!«
»Dann lauf mal schnell los und ruf die Männer rein.« Seine Mutter Paula, die die dreijährige Traudel auf dem Arm trug, streckte eine Hand aus und strich dem Jungen über die blonden Locken. Manfred nickte strahlend und schlüpfte zwischen ihr und den beiden anderen Frauen hindurch. Schon auf dem Flur begann er zu rufen: »Dierk! Tomek! Tee ist fertig!«
Die Tür zur Dreschdiele fiel ins Schloss, und das Rufen wurde gedämpfter.
»Da müssten die zwei schon auf der hintersten Weide sein, um dieses Geschrei zu überhören«, stellte Tanti trocken fest, ohne den Blick zu heben.
Gesa biss sich auf die Lippen, beinahe hätte sie laut losgelacht. Als sie sich auf den Stuhl gegenüber des Küchensofas an die lange Seite des Tischs setzte, traf ihr Blick Tantis Augen. Es war unverkennbar, dass die alte Frau ihr schelmisch zublinzelte. Gesas Blick wanderte weiter und blieb an ihrer Mutter hängen, die mit ernster Miene dasaß. Ihr Lächeln gefror sofort.
Auch wenn sich alle sehr bemühten, dass alles seinen gewohnten Gang lief, dies war ein Trauerhaus, und an der Stirnseite des Tisches, wo Papas Platz gewesen war, blieb der Stuhl nun leer, keine Tasse und kein Teller standen mehr dort. Das zu sehen, gab Gesa einen Stich ins Herz.
Vieles würde sich in Zukunft hier auf dem Hof verändern, das stand fest. Aber in Gesas Augen wäre es nichts als Zeitverschwendung, sich jetzt schon den Kopf darüber zu zerbrechen. Sorgen konnte sie sich machen, wenn abzusehen war, was auf die Familie zukam. Denn erst dann wäre Gesa in der Lage, Pläne zu schmieden, wie man der Veränderung begegnen und mit ihr fertigwerden konnte. Sich wie Hanna die Zukunft in düsteren Farben auszumalen und dann vor Angst wie gelähmt zu sein entsprach nicht Gesas Charakter.
Abwarten und Tee trinken, das war schon immer ihr Motto gewesen. Alles andere überließ sie ihrer jüngeren Schwester, die zwischen ihr und den drei Flüchtlingsfrauen am Tisch saß. Die jungen Witwen wohnten mit ihren Kindern mit im Haupthaus. Sie halfen gegen Kost und Logis im Stall und im Haushalt und bekamen dazu auch noch ein paar Mark Lohn. Alle drei waren gleich nach dem Krieg bei ihnen einquartiert worden, nachdem sie die Flucht vor der anrückenden Roten Armee aus Ostpreußen überlebt hatten.
Es waren noch zwei weitere Flüchtlingsfamilien aus Schlesien auf dem Hof untergebracht, aber die blieben lieber für sich in ihrer Unterkunft in der Remise, wo sie sich auch selbst kochten. Nur bei besonderen Gelegenheiten, wie der Heuernte oder wenn das Vieh auf die Weide getrieben wurde, bat man sie um ihre Mithilfe.
Die Küchentür öffnete sich und die beiden Knechte des Hofes kamen herein. Der jüngere der beiden Männer, der hochgewachsene Tomek, trug den kleinen Manfred auf dem Arm, dem er seine Schiffermütze auf den Kopf gesetzt hatte. Weil sie Manfred viel zu groß war, hielt er sie mit einer Hand fest. Er nahm sie ab und schwenkte sie über seinem Kopf.
»Moin, tosomen!«, rief er, wie er es von Dierk gehört hatte, dem alten Knecht, der schon seit vierzig Jahren auf dem Friesenhof arbeitete.
Alle am Tisch lachten, und sogar Henrike lächelte, wie Gesa zufrieden feststellte.
»Ich habe Dierk und Tomek im Pferdestall gefunden«, sagte Manfred gewichtig, als Tomek ihn auf dem Boden absetzte. Seine Mutter winkte den Jungen zu sich, aber der Kleine schüttelte den Kopf. »Tomek hat gesagt, ich darf bei ihm sitzen. Außerdem zieht Traudel immer an meinen Haaren.«
Weil keine weiteren Stühle mehr an den Tisch passten, mussten die jüngsten Kinder bei ihren Müttern auf dem Schoß sitzen, eine Tatsache, die besonders Manfred widerstrebte, der jede Gelegenheit ergriff, bei jemand anderem zu sitzen.
Die Knechte hängten ihre Arbeitskittel und Mützen an die Haken an der Wand und setzten sich auf ihre Plätze am Tischende.
»Nun gib doch den Männern mal den Teller mit dem Stuten rüber«, sagte Tanti zu Hanna. »Und dann schenk endlich Tee ein. Ich hab schon einen ganz trockenen Hals von der langen Warterei.«
Damit griff sie nach dem Zuckertopf, holte einen Zuckerkristall heraus und bugsierte ihn vorsichtig in ihre Tasse, ehe sie den Zuckertopf an Henrike weitergab.
Als der angeschlagene Porzellantopf schließlich bei Gesa ankam, bediente auch sie sich und hielt Hanna, die mit der Kanne um den Tisch ging, ihre Tasse hin.
Tee mit Kluntje und Wulkje …
Niemand, der nicht von Kindesbeinen an damit aufgewachsen war, konnte nachvollziehen, mit welcher Feierlichkeit und Andacht diese Zeremonie von den Ostfriesen vollzogen wurde. Ein Koppje Tee zu trinken war etwas Heiliges: Bedeutete es doch, für einen Augenblick seinen Gedanken nachzuhängen und vom Alltag befreit mit allen Sinnen bei sich selbst zu sein.
Der Zucker knisterte und schien Gesa etwas zuzuflüstern, als der heiße Tee ihn bedeckte und der Kristall sich auflöste. Sie hob den mit Sahne gefüllten Löffel, der einer Suppenkelle in Miniaturform ähnelte, aus dem Krug und freute sich am gelblichen Glanz der cremigen Flüssigkeit, die sie ganz vorsichtig in die Tasse rinnen ließ – stets gegen den Uhrzeigersinn, wie um die Zeit anzuhalten. Die Sahne bildete in dem goldbraunen Tee helle Wölkchen, die sich auftürmten wie die Regenwolken, die im April über den Deich zogen und in deren Betrachtung man sich gut für eine Weile verlieren konnte.
Ganz allmählich drangen die Stimmen der Menschen zu ihr durch, die um den langen Tisch in der Küche des Friesenhofes versammelt saßen, ihren Tee tranken und Stuten aßen.
Tanti stellte Paula, die ihr schräg gegenübersaß, eine Frage, und diese antwortete mit ihrem breiten ostpreußischen Akzent. Ihre Mutter schob den Teller mit dem Zuckerzwieback ein Stückchen in Richtung der Kinder am Tisch, ermahnte sie aber, jeder dürfe sich nur einen nehmen. Dierk unterhielt sich mit Herta und Anneliese, den beiden anderen Flüchtlingsfrauen, und zu Gesas Erleichterung schien Hanna wieder lachen zu können. Irgendetwas, das Tomek zu Manfred gesagt hatte, der auf seinem Schoß saß und mit vollen Backen kaute, hatte sie offenbar erheitert. Und wenn einer es schaffte, Hanna aufzuheitern, dann war es Tomek. Die beiden hatten sich vom ersten Tag an gut verstanden und waren inzwischen ein Herz und eine Seele.
Ein warmes Gefühl durchflutete Gesa. Das hier war ihr Zuhause – der Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlte, an dem die Menschen lebten, die ihr am wichtigsten auf der Welt waren. Dieses Haus gab es bereits seit hundert Jahren, und immer hatte ein de Fries den Hof bewirtschaftet, seit es damals von Wilm de Fries gebaut worden war, wie man auf der steinernen Plakette lesen konnte, die zwischen den beiden Dielentoren in die Mauer eingelassen worden war.
Gott schütze dieses Haus und alle, die darinnen wohnen, stand in einer geschnörkelten Schmuckschrift unter dem Namen Wilm de Fries.
So sollte es auch in Zukunft bleiben – alles so, wie es schon immer gewesen war.
Gesa hatte das Versprechen gegeben, dafür zu sorgen. Und jetzt, da sie am Tisch in der Küche zwischen all den Bewohnern des Hauses saß und von einem zum anderen schaute, wuchs ihr Entschluss, dieses Versprechen um jeden Preis zu halten.
Der Tag der Beerdigung begann wie jeder andere auch.
Der Wecker klingelte um kurz vor fünf Uhr, Gesa schaltete ihn aus und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe, ehe sie sich aufrichtete und sich streckte. Sie rüttelte Hanna an der Schulter und stand dann auf. Nach einer kurzen Katzenwäsche an der Porzellanschüssel auf der Waschkommode in der Ecke des Zimmers warf sie einen kritischen Blick in den Spiegel vor sich und fuhr sich ein paarmal mit dem Kamm durch ihr kinnlanges dunkles Haar. Für mehr war jetzt keine Zeit, richtig waschen würde sie sich nach dem Melken.
Auch Hanna war aufgestanden und neben sie getreten. Sie rieb sich die Augen und gähnte herzhaft, dann trafen sich ihre Blicke im Spiegel.
»Das wird ein schwerer Tag für uns alle werden«, sagte Gesa und lächelte dem Spiegelbild ihrer Schwester zu, wie um ihr Mut zu machen. »Hast du Angst?«
»Angst nicht direkt«, antwortete Hanna nachdenklich. »Aber die Beerdigung macht alles so endgültig. So als würde man ein Buch zuschlagen, das man zu Ende gelesen hat.« In ihren Augen schwammen auf einmal Tränen.
Gesa legte tröstend den Arm um Hanna und zog sie näher zu sich heran. »Ich denke, es ist eher so, als habe man ein Kapitel beendet und ein neues beginnt.«
Hanna wandte Gesa ihr Gesicht zu. Eine Träne löste sich und rollte über ihre blasse Wange. »Meinst du?«
»Ganz sicher. Das Leben geht weiter. Es ist furchtbar, dass Papa nicht mehr bei uns ist, aber es bedeutet nicht das Ende der Welt. Nicht einmal das Ende des Friesenhofes.«
»Aber …«
»Nichts, aber … Wir werden es schon schaffen«, unterbrach Gesa ihre Schwester. »Und jetzt zieh dich an, wir müssen zum Melken runtergehen. Die anderen warten bestimmt schon auf uns.«
Gesa hatte recht. Die beiden Flüchtlingsfrauen, die beim Füttern der Tiere und beim Melken halfen, sowie die Knechte saßen bereits mit ihrem Tee am Tisch, als Gesa und Hanna die Küche betraten. Paula hatte die Teekanne in der Hand und schenkte ein, während Henrike neues Wasser aufsetzte.
»Wenn ihr aus dem Stall zurückkommt, müssen wir gleich anfangen, Butterkuchen zu backen, sonst werden wir nicht rechtzeitig fertig«, sagte sie zu ihren Töchtern. »Paula und ich fangen schon damit an, aber ihr müsst noch helfen, sonst schaffen wir es nicht, bis die Leute nach der Beerdigung zum Tee hier sind.«
Henrike hielt sich sehr aufrecht und wirkte ganz gefasst. Gesa vermutete, ihre Mutter würde die Trauer erst dann zulassen, wenn die Beerdigung vorüber war und wieder Ruhe einkehrte. Gesa wusste, wie das war. Sie hatte es selbst erlebt, damals, als ihr klargeworden war, dass Gerold nicht aus Russland zurückkommen würde. Es hatte Wochen gedauert, bis sie sich aus dem Nebel der Trauer herausgekämpft hatte, der sie von ihrer Umwelt getrennt hatte.
Gesa nickte ihrer Mutter zu und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Gesprochen wurde nicht viel, alle tranken schweigend ihren Tee. Als seine Tasse leer war, erhob sich der alte Dierk, was für alle das Zeichen zum Aufbruch war.
Gesa zog eine Arbeitsschürze über die Stallkleidung und folgte den anderen in den Stall. Die Aufgaben dort waren klar festgelegt und verteilt. Die Knechte fütterten die Kühe, während Hanna mit Herta und Anneliese das Melken übernahm. Gesa fütterte zuerst die Kälber, dann ging sie auf dem Gang hinter den Kühen auf und ab, nahm den Melkerinnen die gefüllten Eimer ab und trug sie nach draußen, wo sie die Milch vorsichtig durch ein Sieb in die Kannen goss. Sie konnte zwar recht gut melken, aber sie tat es nicht gern. Sobald sie sich zwischen den Kühen auf den Melkschemel setzte, begann die Furcht vor den Tieren in ihrem Magen zu flattern, sie konnte es nicht verhindern. Sosehr sie sich auch bemühte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, die Kühe spürten ihre Unsicherheit sofort. Selbst die lammfrommsten Tiere traten dann schon einmal nach dem Eimer oder der Melkerin.
Einen Moment lang sah Gesa ihrer Schwester zu, während sie darauf wartete, dass Hanna die alte Lotte ausgemolken hatte. Lotte, die Leitkuh der Herde, hatte ihren eigenen Kopf und ließ sich nur ungern anfassen, doch wenn Hanna sie molk, stand sie still wie eine Statue. Hannas Stirn lehnte gegen den Leib der alten Kuh, mit halb geschlossenen Augen konzentrierte sie sich ganz auf das Rauschen der Milch im Eimer. Vielleicht war sie in Gedanken auch weit weg, für den gleichmäßigen Rhythmus ihrer Hände war das jedoch nicht von Belang.
Hanna war die schnellste der Melkerinnen, sie kannte jede Kuh, jede Färse und jedes Kalb auf dem Hof und wusste genau, wie sie jedes einzelne Tier zu behandeln hatte. Papa hatte mal zu Gesa gesagt, an Hanna sei ein Bauer verloren gegangen. Anschließend hatte er seufzend den Kopf geschüttelt. Mehr hatte er zu dem Thema nicht gesagt, aber Gesa war auch so klar gewesen, was er ausdrücken wollte: sein tiefes Bedauern darüber, dass Hanna kein Junge war.
Wäre sie als Sohn geboren worden, hätte sie den Hof übernommen, daran bestand für Gesa kein Zweifel.
Sie hatte ihren Bruder Renke gut genug gekannt, um zu wissen, dass er sich nicht darum gerissen hätte, das Erbe des Friesenhofes anzutreten, wenn es jemand anderen gegeben hätte, der dafür infrage gekommen wäre. Ihm war die Welt der Marschbauern mit ihren ungeschriebenen Regeln und Gesetzen viel zu eng gewesen. Das Leben auf dem Hof schnüre ihm die Luft zum Atmen ab, hatte er oft gesagt. Er wolle etwas von der Welt sehen und etwas erleben, ehe Papa und Mama sich aufs Altenteil zurückziehen würden und er gezwungenermaßen den Hof übernehmen müsse.
Gesa mutmaßte, dass diese vage Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren Welt jenseits des Horizonts der Grund dafür war, dass Renke sich sofort nach Kriegsbeginn freiwillig zur Marine gemeldet hatte.
Acht Jahre war das jetzt her, und der scharfe Schmerz des Verlustes war immer mehr einer wehmütigen Erinnerung gewichen. Gesa vermisste ihren großen Bruder sehr, aber die Lücke, die er hinterlassen hatte, war nicht mehr so groß wie damals, als die Nachricht seines Todes ein Loch in die Familie gerissen hatte.
Ob das mit der Trauer um Papa auch so geschehen würde?
Gesa zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte.
»Nimmst du mir die Milch bitte ab?« Hanna hielt ihr den halb vollen Eimer hin. »Was ist los? Träumst du?«
Gesa griff nach dem Henkel des verzinkten Eimers. »Nein, ich war nur in Gedanken.«
»Ja, das kenne ich.« Hanna lächelte dünn. »Mir graut schon vor der Beerdigung.« Sie richtete sich auf dem Melkschemel auf und drückte das Kreuz durch, dann klopfte sie der alten Lotte die Flanke. »Gutes Mädchen«, sagte sie und schob sie ein Stückchen von sich weg. »Mach mir mal ein bisschen Platz.«
Gehorsam trat die alte Kuh einen Schritt zur Seite, worauf Hanna den Schemel zurechtrückte und sich dem Euter ihrer Nachbarin zuwandte. Gesa reichte ihr den leeren Eimer, und Hanna bedankte sich mit einem kurzen Nicken, bevor sie wieder zu melken begann und damit in ihrer eigenen Welt versank.
Gesa sah ihr noch einen Augenblick lang zu, dann riss sie sich los und trug den Eimer nach draußen. Neben der Tür leerte sie die Milch durch ein Sieb in eine Milchkanne, die bereits auf dem Handkarren stand, mit dem Tomek die Kannen nach dem Melken zur Straße bringen würde, wo sie vom Pferdewagen der Molkerei des Nachbarortes abgeholt werden würden.
»Kommt noch viel?«, fragte Tomek, der vor der Tür zur Viehdiele stand und eine Zigarette rauchte. Er deutete in Richtung der Milchkanne.
»Nein. Hanna hat gerade mit der letzten Kuh angefangen, und Herta und Anneliese sind auch schon fast fertig.«
Tomek nickte. »Gut. Müssen heute schnell machen. Haus kommt voll Besuch zur Beerdigung. Alles saubermachen und fegen, sagt Dierk.«
»Stimmt«, erwiderte Gesa. »Das Haus wird heute wirklich voll werden. Alle Nachbarn kommen zum Teetrinken. Und die Männer werden sicher nachher durch den Stall gehen, um sich das Vieh anzusehen.«
Tomek legte den Kopf leicht schräg, wie er es immer tat, wenn er etwas nicht richtig verstanden hatte oder sich den Sinn des Gesagten erst ins Polnische übersetzen musste. Er bewegte die Lippen, dann lächelte er und nickte.
Er war schon seit sechs Jahren auf dem Friesenhof. Nachdem die zwei jungen Knechte eingezogen worden waren und Renke gefallen war, hatte Gesas Vater Kriegsgefangene als Hilfe bekommen. Tomek war einer der ersten gewesen, und er war hiergeblieben, auch als der Krieg längst vorbei war und die beiden Russen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Papa hatte ihn gefragt, ob er nicht auch lieber wieder zurück nach Hause wolle, aber Tomek hatte gesagt, sein Zuhause sei nicht mehr da, und niemand würde in Polen auf ihn warten. Weil Tomek immer zuverlässig und fleißig gewesen war, hatte Papa ihn daraufhin als Knecht eingestellt.
Gesa mochte den großen jungen Mann mit den dunklen welligen Haaren, dem ruhigen Wesen und den warmen braunen Augen gern leiden. Er redete nicht viel, aber das hing vielleicht auch damit zusammen, dass er noch immer nicht perfekt Deutsch konnte und keine Fehler machen wollte. Trotzdem war Gesa sich sicher, dass er jedes Wort verstand. Er war ein kluger Kopf, und sie war froh, ihn auf dem Hof zu haben. Wo genau er herkam, was er vor dem Krieg gemacht hatte oder wo und warum er in Gefangenschaft geraten war, wusste sie nicht, und wenn sie ehrlich war, interessierte es sie auch nicht wirklich. Das wäre bei einem Knecht aus der Gegend aber kaum anders gewesen. Die Hauptsache war, der Knecht war umgänglich und arbeitete ordentlich, alles andere war nebensächlich.
»Sobald wir mit dem Melken fertig sind, solltet ihr mit dem Ausmisten anfangen«, sagte sie.
»Wenn Milchkannen abgeholt sind, mache ich sofort«, erwiderte Tomek, dann hob er den Kopf und sah über Gesas Schulter hinweg zur Auffahrt hinüber, die zur Straße führte. »Auto kommt«, sagte er.
Gesa dreht sich um und folgte seinem Blick.
Tomek hatte recht. Ein dunkler Opel Olympia war gerade von der Straße abgebogen und rumpelte gemächlich die Auffahrt entlang.