Als ich an diesem Morgen erwachte, wusste ich noch nicht, dass sich mein Leben von heute an grundlegend ändern sollte. Wie üblich schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel durch die Fenster unseres Appartementhauses und kitzelte mit ihren warmen Strahlen all jene aus ihren Träumen, die um diese Uhrzeit noch schliefen. Vorsichtig öffnete ich die Augen und blinzelte dem neuen Tag entgegen. Der Geruch von frisch gebackenen Brötchen und Kaffee hing in der Luft. Ich setzte mich noch etwas schlaftrunken auf und lauschte in die Stille dieses Sonntagmorgens.
Von draußen drang nur das Gezwitscher der Vögel und das leise Rauschen des Ozeans durch das gekippte Fenster herein. Ich rieb mir die Augen und suchte mit den Zehen nach den Flip-Flops neben meinem Bett. Während ich hineinschlüpfte, musste ich herzhaft gähnen. Ich streckte mich noch einmal ausgiebig, bevor ich aufstand und dann langsam zur Balkontür schlurfte.
Als ich sie öffnete, streichelte mich eine leichte Brise und strich mir die Müdigkeit aus dem Gesicht. Ich trat hinaus ins Freie. Die Sonne wärmte meine Haut und der zarte Wind wirbelte durch mein Haar. Vor mir erstreckte sich der tiefblaue Atlantik, wohingegen auf der Uferpromenade unter mir die ersten Jogger ihre Runde drehten und die Besitzer der Strandhäuschen sich auf das Tagesgeschäft vorbereiteten. Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete die frische Morgenluft ein. Sie roch salzig. Begierig sog ich den Duft des Meeres in mich auf und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ein weiterer Tag im Paradies war angebrochen.
Am nächsten Morgen war Inga glücklicherweise nicht im Bus. Ich lehnte den Kopf gegen die Scheibe und starrte hinaus in die Dunkelheit. Der erste Morgen in dieser Woche, an dem ich weder verschlafen hatte noch irgendwelche Schnürsenkel auseinanderknoten musste oder mir jemand das Ohr abkaute. Ich genoss die himmlische Ruhe und nutzte die Zeit, um noch ein wenig vor mich hin zu träumen.
Als ich die Augen wieder öffnete, war es bereits hell geworden und der Bus hielt an einer Haltestelle, die mir völlig unbekannt war. Erschrocken fuhr ich hoch. Ich musste eingeschlafen sein und meine Haltestelle verpasst haben. Eilig schnappte ich mir meinen Rucksack und stieg aus. Erst als der Bus wieder losgefahren war, ging mir auf, dass es vielleicht ratsam gewesen wäre den Busfahrer zu fragen, wo genau ich mich hier befand. Ich versuchte die Hallgrímskirkja ausfindig zu machen, doch der Turm, der sonst so unverkennbar über den Häusern emporragte, war nirgends zu sehen. Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und schaltete meine Navigations-App ein. Erschrocken stellte ich fest, dass ich ziemlich weit von der Innenstadt entfernt war. Schnell sah ich auf dem Busfahrplan an der Haltestelle nach und bemerkte zu meinem Entsetzen, dass der nächste Bus erst am Nachmittag kam. Ich sah auf die Uhr. Es war halb neun. In einer halben Stunde begann der Unterricht. Bis dahin würde ich es niemals zu Fuß in die Stadt schaffen. Ich seufzte. Vielleicht gab es ja irgendwo ein Taxi. In dieser Hoffnung marschierte ich los, den Blick auf mein Handy gerichtet.
Wenig später hatte ich mich trotzdem verlaufen, denn die Karte in der App schien veraltet zu sein. Ich versuchte mich an der Hauptstraße zu orientieren und folgte ihr ein Stück, bis ich in der Ferne endlich den Kirchturm erblickte. Ich atmete innerlich auf, obwohl ich noch einen beträchtlichen Fußmarsch vor mir hatte.
Plötzlich hielt jemand neben mir an.
»Brauchst du vielleicht eine Mitfahrgelegenheit?«, hörte ich eine weibliche Stimme fragen.
Als ich mich umdrehte, traute ich meinen Augen nicht. Am Straßenrand saß Elín auf ihrem Motorrad und grinste mich an.
»Was machst du hier?«, fragte ich verwundert.
»Ich hatte noch etwas in der Gegend zu erledigen. Hab heute erst später Schule. Die Frage ist eher, was du hier machst.«
»Ich hab meine Bushaltestelle verpasst«, gab ich kleinlaut zu.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte Elín.
Beim Gedanken an Jareks Warnung, was Elíns Fahrweise betraf, zögerte ich.
»Du kannst natürlich auch laufen«, sagte sie und grinste schelmisch.
Ich sah unschlüssig zwischen ihr und dem Kirchturm hin und her.
»Also, was ist?«, fragte sie ungeduldig.
»Okay«, erwiderte ich.
Dann reichte Elín mir einen Helm, den sie unter ihrem Sitz hervorgezaubert hatte, und ich stieg hinter ihr auf.
»Halt dich gut an mir fest«, sagte sie und die Maschine startete mit einem lauten Röhren. Mit einem Satz schoss das Motorrad nach vorn und ich klammerte mich wie eine Ertrinkende an Elín fest. Doch sie ließ sich nicht beirren und fuhr immer schneller. Rote Ampeln schien sie einfach zu ignorieren. Ich schloss ängstlich die Augen.
Als wir auf dem Schulparkplatz ankamen, war ich so steif, dass ich kaum vom Sitz herunterklettern konnte. Meine Muskeln spielten verrückt und ich zitterte am ganzen Körper.
Jarek hatte recht gehabt. Mit Elín auf dem Motorrad zu sitzen war lebensgefährlich. Heilfroh, ohne einen Unfall in der Schule angekommen zu sein, ließ ich mich auf eine Bank sinken.
»Alles okay?«, fragte Elín.
»Ja, klar«, sagte ich und verdrehte die Augen. »Ich steh total auf rasante Fahrten mit ungewissem Ausgang. Sag mal, wolltest du uns eigentlich umbringen?«
»Ich wollte dich nur pünktlich zur Schule bringen«, verteidigte sich Elín mit einem Blick auf die Schuluhr.
»Ich komme lieber ein bisschen zu spät als gar nicht«, entgegnete ich.
Elín wirkte ein wenig zerknirscht.
»Trotzdem danke«, murmelte ich.
»Gern geschehen«, sagte Elín. »Du sahst so verloren aus, da konnte ich dich einfach nicht stehen lassen.«
»Was hast du eigentlich in dieser Gegend gemacht? Das ist doch sonst nicht deine Route«, sagte ich.
»Ich hab ein Ersatzteil für mein Motorrad abgeholt«, erwiderte sie, während sie die Helme unter dem Sitz verstaute. »Aber jetzt solltest du dringend in deine Klasse«, sagte Elín. »Sonst bekommst du noch Ärger.«
***
»Du bist spät«, begrüßte mich Marit, sobald ich das Klassenzimmer betrat.
»Ich weiß, ich habe verschlafen«, log ich, denn ich wollte ihr mein Missgeschick nicht auf die Nase binden. Schließlich wusste ich, dass sie wie ein Waschweib tratschte.
Einen Augenblick später betrat Frau Ingridsdóttir den Raum und der Unterricht begann.
Als ich ihr nach der Stunde erzählte, dass ich nun zusätzlich einen Abendkurs besuchte, lobte sie mich. Sie bat mich darum, sie bezüglich meiner Fortschritte auf dem Laufenden zu halten, damit sie ihre Aufgaben für mich darauf abstimmen konnte. Dann wies sie mich darauf hin, dass die Direktorin mich in der nächsten Stunde in ihrem Büro erwarte.
***
Wenig später stand ich unentschlossen und ein wenig nervös vor dem Büro von Frau Guðrúnsdóttir. Was wollte die Direktorin von mir? Schließlich sammelte ich mich und klopfte an.
»Það er opið«, hörte ich eine Stimme von der anderen Seite. Zaghaft öffnete ich die Tür einen Spalt breit.
»Ah, Hannah, du bist es. Komm rein!«, sagte die Direktorin.
»Und, wie gefällt es dir bei uns an der Schule?«, fragte sie.
»Gut«, erwiderte ich und sah ihr dabei zu, wie sie ihre Unterlagen beiseite legte.
»Kommst du in deiner neuen Klasse einigermaßen zurecht?«, fragte sie weiter.
»Ja, alle sind sehr nett.«
»Und wie sieht es mit dem Lehrstoff aus?«
»Frau Ingridsdóttir hat mir Übungsblätter erstellt und hilft mir beim Isländisch Lernen. Aber ich mache zusätzlich noch mit meiner Mutter einen Abendkurs.«
»Das freut mich. Eva sagte mir schon, dass du sehr fleißig bist, und auch von den anderen Lehrern höre ich bisher nur Gutes.«
Ich lächelte erleichtert.
»Nun, dann lasse ich dich jetzt wieder zurück in den Unterricht. Ich wollte nur hören, wie es dir in deiner ersten Woche hier ergangen ist. Herr Svensson weiß Bescheid, dass du etwas später kommst.«
Damit verabschiedete sie mich und ich ging zurück in die Klasse. Auf dem Weg dorthin studierte ich die Fotos an den Wänden und betrachtete die Abschlussklassen, die darauf abgebildet waren. Je weiter ich die Stufen hinabstieg, desto aktueller wurden die Fotos. Da fiel mir etwas ein. Auf einem dieser Fotos musste auch Kristján zu sehen sein. Ich rechnete kurz zurück, wann er die Schule verlassen haben musste, und suchte nach dem entsprechenden Foto. Tatsächlich fand ich es am unteren Ende der Treppe. Auf dem Foto kniete er gleich in der ersten Reihe neben einem blonden Mädchen mit einem Bob und grinste fröhlich in die Kamera. Damals hatten seine Haare noch ein paar schwarze Strähnchen gehabt. Ich musste unwillkürlich lächeln.
Mein Blick wanderte weiter über seine Klassenkameraden und blieb schließlich an einem Jungen in der hinteren Reihe hängen. Er hatte feuerrotes kurzes Haar und ein markantes Gesicht. Das Foto war offenbar im Sommer aufgenommen worden, denn alle trugen T-Shirts und kurze Hosen. Auch der Junge mit den roten Haaren. Bei näherem Hinsehen fiel mir das Tattoo auf, das an seinem Oberarm prangte. Auf dem Bild konnte man es nur zur Hälfte erkennen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es dasselbe Tattoo war, das auch Elín besaß. Gehörte er etwa auch zu ihrer Punkergruppe?
Das Klappen einer Tür im Erdgeschoss holte mich aus meinen Gedanken zurück. Schnell sah ich auf die Uhr. Es wurde höchste Zeit, zurück in die Klasse zu gehen. Eilig ging ich die letzten Stufen hinunter und betrat den Klassenraum. Die anderen sahen kurz auf, als ich mich auf meinen Platz setzte, konzentrierten sich dann aber wieder auf den Unterricht.
Der Rest des Tages verlief weitgehend unspektakulär. Das lag vor allem daran, dass ich keinen Unterricht zusammen mit Elín hatte.
Leider bekam ich auch Jarek den ganzen Tag nicht zu Gesicht, was ich ein bisschen schade fand. Denn Jarek war von allen, die ich bisher in der Schule kennengelernt hatte, der angenehmste Sitznachbar.
Nach Schulschluss fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Auf der Fahrt wiederholte ich leise die Vokabeln aus dem Abendkurs, denn Ingrun würde sie mit Sicherheit abfragen. Ich hatte das Kinderbuch am Morgen noch schnell in meinen Rucksack gepackt und blätterte nun darin herum.
»Api heißt Affe, Blóm heißt Blume, Dúkka heißt Puppe, Epli heißt Apfel …«, murmelte ich vor mich hin. Dann kamen die Zahlen dran: »Einn, Tveir, Þrír, Fjórir, Fimm, Sex, Sjö, Átta, Níu, Tíu.«
Ich musste ein paar Mal spicken, weil ich mir nicht mehr sicher war, ob die Reihenfolge auch stimmte, aber nach wenigen Wiederholungen hatte ich mir alles richtig gemerkt. Ich fand mich gar nicht mal so schlecht. Ingrun übrigens auch nicht. Die lobte mich und meine Mutter am Abend für unsere Aussprache, auch wenn sie uns manchmal noch korrigieren musste. Heute brachte sie uns ein paar einfache Sätze bei. Dabei mussten wir uns abwechselnd Fragen stellen und sie auch gleich beantworten. Wie heißt du? Wo wohnst du? oder Wie geht es dir? Meine Mutter hatte sichtlich Spaß an diesem Spiel. Ich hingegen war nicht der Rollenspieltyp. Aber weil ich Ingrun nicht verärgern wollte, machte ich eben mit.
Als ich später mit meinen Eltern auf der Couch vor dem Fernseher saß, vibrierte mein Handy. Liz hatte mir eine Nachricht geschrieben. Sie wollte wissen, wie es mir an meiner neuen Schule ging. Ich schilderte ihr, was ich alles erlebt hatte. Als ich fertig war, hatte ich einen halben Roman geschrieben. Liz zu schreiben hatte fast eine therapeutische Wirkung. Es war ein bisschen wie Tagebuch schreiben. Nur dass dieses Tagebuch antwortete, wenn auch zeitverzögert. Ich schrieb ihr auch von meinem geplanten Ausflug mit Kristján und freute mich dabei innerlich schon auf den morgigen Tag. Das Date mit ihm war wie eine Belohnung dafür, dass ich meine erste Schulwoche erfolgreich hinter mich gebracht hatte. Meinen Eltern hatte ich noch nichts davon erzählt, weil ich befürchtete, dass meine Mutter nur wieder die falschen Schlüsse ziehen würde. Für sie war Kristján der perfekte Schwiegersohn. Und das Schlimmste daran war, dass ich mich in letzter Zeit selbst manchmal bei der Vorstellung ertappte, tatsächlich seine Freundin zu sein.
Auf dem Heimweg piepte mein Handy erneut. Ich hatte schon Angst, es könnte Jarek sein, der unser Treffen absagen musste. Doch die Nachricht war nicht von ihm, sondern von meiner Mutter. Ingrun war krank geworden, weshalb unser Sprachkurs für den Rest der Woche ausfiel. Ein Glück, denn an den hatte ich gar nicht mehr gedacht, als ich mich mit Jarek für sieben Uhr verabredet hatte. Sie schrieb außerdem, sie habe ein Vorstellungsgespräch in Reykjavik, morgen früh um acht Uhr in einer Boutique, die der Schwester des neuen Geschäftspartners meines Vaters gehörte. Deshalb würden sie und mein Vater schon heute Abend in die Stadt fahren und dort übernachten. Ich hatte das Haus also ganz für mich allein. Das passte mir gut. So hatte ich genug Zeit, mich auf das Treffen mit Jarek vorzubereiten, und musste niemandem erklären, wo ich mitten in der Woche um diese Zeit noch hinwollte.
Tatsächlich waren meine Eltern schon weg, als ich zu Hause ankam. Ich ging hinauf in mein Zimmer und stellte meine Schultasche ab. Bis Jarek mich abholen würde, blieb noch etwas Zeit, die ich nutzte, um meinen Kleiderschrank zu durchforsten. Doch diesmal hatte ich dazugelernt. Statt stylish und schick setzte ich eher auf praktisch und warm. Meine Wahl fiel auf eine dunkle Jeans, die ich mit einem hellgrünen Strickpullover kombinierte.
Danach setzte ich mich an meine Hausaufgaben. Die Zeit verging wie im Flug und als ich mein Mathebuch zuklappte, vibrierte mein Handy.
Jarek schrieb, dass er draußen auf mich wartete. Eilig packte ich die wichtigsten Dinge in meine Handtasche und verließ das Haus.
Jarek stand unten an der Treppe und sah zu mir herauf.
»Hallo«, sagte er und lächelte mich an.
Ich erwiderte sein Lächeln.
»Wo ist Krista?«, fragte ich und sah mich suchend nach ihr um, weil ich vermutet hatte, er sei mit ihr hergekommen.
»Vermisst du sie?«, fragte er. »Sie ist zu Hause auf der Weide. Heute bin ich ausnahmsweise mit ein paar Pferdestärken mehr hier.«
Als er meinen irritierten Blick sah, schmunzelte er. Dann erblickte ich die vermeintliche Ponyherde. Sie stand am Wegesrand in Form eines schwarzen Pick-ups.
»Du hast ein Auto?«, fragte ich überrascht.
»Hab ich mir von Raul geliehen«, entgegnete er.
»Hast du einen Führerschein?«
»Klar. Wieso nicht? Elín hat schließlich auch einen«, sagte er.
Stimmt, aber so, wie sie fuhr, hatte ich das nie gedacht.
»Und Raul hat dir erlaubt mit seinem Auto zu fahren?«, hakte ich nach.
»Mehr oder weniger«, antwortete er ausweichend. »Wollen wir?« Er hielt mir abwartend die Autotür auf.
»Wo fahren wir hin?«, fragte ich, während ich auf den Beifahrersitz kletterte.
»Das ist eine Überraschung«, sagte er und ließ die Tür wieder zufallen. Einen Augenblick später setzte er sich hinter das Steuer und startete den Motor. Die Scheinwerfer beleuchteten den verschneiten Weg und ließen den Schnee wie Diamanten funkeln. Jarek hatte die Sitzheizung für mich aufgedreht. Eine geniale Erfindung, die ich erst so richtig zu schätzen wusste, seit wir auf Island waren.
»Entschuldige, dass ich mein Versprechen nicht gehalten habe. Ich wollte wirklich zur Schule kommen, aber Raul hat mich dazu verdonnert ihm und Fenja bei den Vorbereitungen für ihre Reise zu helfen.«
»Ist nicht schlimm«, sagte ich versöhnlich.
»Hast du Hunger?«
»Ja, schon. Ich hab noch nichts gegessen.«
»Okay, dann machen wir noch einen kleinen Abstecher. Ich lade dich zur Wiedergutmachung ein.«
»Das ist nett, aber das musst du nicht«, sagte ich schnell.
Er schaltete das Radio ein. Aus dem Lautsprecher ertönte klassische Musik. Ich kannte das Stück sogar. Es war ein Lied aus einer Operette, in die uns Großtante Eleonore zu ihrem sechzigsten Geburtstag geschleppt hatte.
»Nicht so deins?«, fragte er. »Wir können sonst auch gern den Sender wechseln.«
»Nein, schon okay. Ich dachte nur nicht, dass du so was hörst«, antwortete ich.
»Ich höre auch gern aktuelle Musik, aber ich finde, Klassik ist manchmal ganz angenehm. Sie berührt die Seele auf einer Ebene, die normale Popmusik nur selten erreicht.«
»Wie philosophisch«, neckte ich ihn.
»Tja, manchmal hab ich meine tiefgründigen Momente«, sagte er scherzhaft.
Wir fuhren eine Weile auf der Landstraße entlang Richtung Meer. Als wir die Abzweigung zur Hauptstraße erreichten, rechnete ich damit, dass wir nach Reykjavík abbiegen würden, doch Jarek setzte den Blinker nach rechts. Jetzt war ich verwirrt, denn die nächste größere Stadt in dieser Richtung war ein ganzes Stück entfernt. Wo wollte er mit mir hin? Ungefähr zwanzig Minuten später bog Jarek auf eine schmale Straße ab, die ich ohne das Hinweisschild wahrscheinlich gar nicht gesehen hätte.
»Wir sind gleich da«, sagte er, während sich der Pick-up durch den hohen Schnee wühlte.
Neugierig spähte ich in die Dunkelheit. Doch erst nach der nächsten Wegbiegung kam unser Ziel in Sicht: Am Ende der Straße stand ein langgestrecktes Holzhaus. Jarek parkte den Wagen neben zwei anderen Autos am Eingang.
»Das ist ein echter Geheimtipp«, sagte er, bevor er ausstieg. »Ein bisschen urig, aber die Küche ist superlecker.«
»Dann bin ich mal gespannt«, sagte ich und kletterte aus dem Auto.
Als wir das Haus betraten, fiel mir sofort die maritime Deko auf. Alte Schiffslampen hingen von den Decken, dazwischen spannten sich Fischernetze mit Fischen, Krabben und Seesternen aus Plastik. An der Längsseite des Raumes befand sich eine Bar, die mit blauem und gelbem Licht ausgeleuchtet wurde. Sie bildete das Herzstück des Restaurants. Der Barkeeper begrüßte uns freundlich. Außer uns saßen nur zwei Angler und ein junges Pärchen an den rustikalen Holztischen.
Jarek führte mich an einen abgelegenen Platz am Fenster. Von hier aus konnte man wohl direkt aufs Meer sehen. Doch jetzt erspähte ich leider nur tiefschwarze Dunkelheit.
Wenig später trat der Barkeeper an unseren Tisch und hielt uns die in Leder gebundene Speisekarte entgegen. Auf der Vorderseite war eine Krabbe eingeprägt.
»Takk fyrir«, sagte ich.
»Hvað má bjóða ykkur að drekka?«, erwiderte er.
Ich sah Jarek fragend an.
»Er möchte wissen, was du trinken willst«, übersetzte er.
»Was heißt Wasser?«, fragte ich Jarek.
»Ein Wasser für die junge Dame«, wiederholte der Barkeeper auf Englisch und zwinkerte mir zu.
»Für mich auch«, sagte Jarek.
Der Barkeeper, der offenbar gleichzeitig als Bedienung arbeitete, nickte und verschwand wieder.
»Da hat er so eine gut ausgestattete Bar und dann bestellen wir nur Wasser«, sagte ich. »Bestimmt hält er uns für spießige Touristen.«
Jarek schüttelte den Kopf. »Das ist gar nicht so ungewöhnlich«, sagte er. »Alkohol ist hier auf der Insel ziemlich teuer. Außerdem darf er ihn sowieso nicht an Minderjährige ausschenken.«
Bisher hatte ich gar nicht darüber nachgedacht, aber wenn Jarek einen Führerschein hatte, musste er doch bereits volljährig sein.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte ich.
»Achtzehn«, antwortete er und sah von seiner Karte auf.
Ich sah ihn mit hochgehobenen Brauen an.
»Glaubst du mir etwa nicht?«, fragte er schmunzelnd.
»Doch, aber ich dachte, du wärst in Wirklichkeit vielleicht schon viel älter.«
»Du meinst, wie einer dieser unsterblichen Vampire aus dem Kino?« Er grinste. »Nein, wir Lichtmahre sind nicht unsterblich. Wir werden genauso alt wie Menschen. Aber es gibt andere magische Wesen, wie zum Beispiel die Elfen oder die Zwerge, die mehrere Jahrhunderte leben können.«
Der Barkeeper kam auf unseren Tisch zu und stellte unsere Wassergläser vor uns ab.
»Habt ihr schon was zu Essen ausgesucht?«, fragte er.
Eilig schlug ich die Karte auf. Doch die Gerichte waren alle auf Isländisch aufgelistet. Hilflos suchte ich nach irgendetwas, das mir bekannt vorkam.
»Zwei Mal Fish and Chips«, sagte Jarek und rettete mich damit aus meiner peinlichen Lage. »Oh, und vorweg einmal Hákarl und ein kleines Glas Brennivín.«
»Alles klar«, sagte der Barkeeper mit einem kleinen Seitenblick auf mich und schmunzelte.
Einen Augenblick später kam er mit einem kleinen Teller und einem Schnapsglas zurück, in dem sich eine dunkelbraune Flüssigkeit befand.
»Wohl bekomm's!«, sagte er und stellte beides auf dem Tisch vor uns ab. Auf dem Teller lagen kleine graue Stücke, die aussahen wie gelierter Speck.
»Was ist das?«, fragte ich leicht angewidert und versuchte den Geruch mit der Hand zu vertreiben.
»Fermentierter Haifisch«, sagte Jarek und lachte. »Jeder Neu-Isländer muss das probiert haben. Traust du dich?«
»Nur, wenn du das auch isst.«
»Na gut«, sagte er und nahm sich eines der stinkenden Fischstücke vom Teller. Ich sah, wie er es in den Mund steckte und das Gesicht verzog. Ich musste lachen, weil es so ulkig aussah.
»Und jetzt du«, forderte er. Zögerlich pikste ich eines der Fischstücke mit der Gabel auf und begutachtete es von allen Seiten. Dann machte ich die Augen zu und steckte es mir in den Mund. Augenblicklich schüttelte ich mich vor Ekel. Das Zeug stank nicht nur wie die Pest, es schmeckte auch widerwärtig. Deshalb kaute ich auch nicht lange, sondern schluckte es gleich herunter. Jetzt lachte Jarek.
»Igitt, das war widerlich!«, sagte ich.
»Hier, zum Nachspülen.« Jarek hielt mir das kleine Glas hin. Der Inhalt roch alkoholisch.
»Ich dachte, Minderjährige dürfen hier keinen Alkohol trinken«, sagte ich.
»Sie dürfen ihn nicht bestellen und das hast du ja auch nicht getan, oder?« Jarek grinste schelmisch.
Ich nahm probehalber einen kleinen Schluck. Eine weise Entscheidung, wie sich herausstellte, denn das Zeug hatte es in sich. Es war furchtbar bitter und brannte im Hals. Dafür neutralisierte es den Fischgeschmack.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Branntwein«, sagte Jarek grinsend. Dann gab er dem Barkeeper ein Zeichen, der mit einem wissenden Grinsen an unseren Tisch kam und den stinkenden Fisch wieder mitnahm. Kurz darauf brachte er unser Essen und ich stürzte mich hungrig auf meine Pommes. Eine Weile herrschte Stille. Ich ließ den Blick durch den Gastraum schweifen und blieb an dem Pärchen hängen, das ein paar Tische weiter saß und sich gegenseitig mit Pommes fütterte. Plötzlich fiel mir wieder ein, was Elín gesagt hatte, und mein Blick wanderte zurück zu Jarek.
»Alles okay?«, fragte er, als er es bemerkte.
»Ja«, sagte ich nervös und nahm einen großen Schluck aus meinem Wasserglas. Dann verfiel ich wieder in Schweigen, bis ich es schließlich doch nicht mehr aushielt. Die Frage beschäftigte mich.
»Ist das hier eigentlich ein Date?«, fragte ich zögerlich.
»Nein«, sagte er und knabberte an einer Pommes.
»War auch nicht ganz ernst gemeint«, entgegnete ich schnell und zwinkerte ihm zu. Dennoch versetzte mir seine Antwort einen kleinen Stich. Aber womit hatte ich eigentlich gerechnet? Ich wusste doch, dass Jarek nichts von mir wollte. Es war Elin, die mir diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Seitdem suchte ich nach Anzeichen, die ihre Theorie bestätigten.
»Zu einem Date würde ich dich nicht hierher schleppen. Dafür würde ich mir etwas ganz Spezielles ausdenken. Etwas, das dir in Erinnerung bleibt. Keine Fish and Chips in einer Hafenkneipe.« Er lächelte breit und ich spürte, wie ich rot wurde.
»Ähm, die Pommes sind ziemlich gut, oder?«, fragte ich, um vom Thema abzulenken.
»Hm … ganz okay«, sagte er.
»Was genau wolltest du mir eigentlich zeigen?«
»Jetzt sei doch nicht so ungeduldig«, erwiderte er amüsiert und tauchte seine Pommes in die Mayonnaise. »Ich verspreche dir, es wird dir gefallen.«
***
Nach dem Essen fuhren wir noch ein Stück weiter nördlich. Irgendwann bog Jarek in einen kleinen Feldweg ein.
»Da wären wir«, sagte er und stellte den Motor ab. Das Licht ließ er an.
Ich stieg aus und er hielt mir seine Jacke hin. »Hier, damit du nicht frierst.«
Ich zog sie über meine Weste. »Und was ist mit dir?«
Jarek trug nur einen dünnen Pullover.
»Keine Bange. Mir wird nicht so schnell kalt«, sagte er.
Er holte mehrere Decken und einen Rucksack von der Rückbank und ich nahm ihm die Hälfte des Deckenstapels ab.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich.
»Ich sag doch – das ist eine Überraschung«, entgegnete er. »Komm!«
Ich folgte ihm neugierig und wäre beinahe in ihn hineingerannt, als er urplötzlich stehen blieb.
»Hier ist ein guter Platz«, befand er. Dann begann er die Decken in mehreren Lagen auf dem Boden auszulegen. Wir setzten uns darauf und Jarek holte eine Thermoskanne und zwei Becher aus seinem Rucksack hervor. Er gab mir einen der Becher und füllte heißen Kakao hinein.
»Garantiert haifischfrei«, sagte er und grinste.
»Verrätst du mir jetzt endlich, was du mir zeigen willst?«, fragte ich.
»Schau mal nach oben«, befahl er mir, während er an seinem Kakao nippte.
Ich hob den Kopf und sah zum Himmel hinauf. Abertausende Sterne glitzerten und funkelten dort oben am Firmament wie Diamanten auf schwarzem Samt. Dann zuckte plötzlich etwas wie ein Pfeil über den Himmel.
»Eine Sternschnuppe!«, rief ich überrascht.
»Du wolltest dir doch etwas von den Feen wünschen. Und ich dachte mir, da das noch nicht so gut geklappt hat, wäre das hier vielleicht eine nette Alternative. Heute Nacht ziehen eine ganze Menge davon über den Himmel.«
Fasziniert starrte ich hinauf. Ich wollte die nächste Sternschnuppe auf keinen Fall verpassen. Doch je länger ich so dasaß, desto mehr kroch auch die Kälte in mir hoch. Ich schnappte mir eine der Decken und legte sie mir über die Schultern.
»Ist dir kalt?«, fragte Jarek.
»Ein bisschen«, gab ich zu.
Er rutschte ein Stück zu mir herüber. Seine Nähe tat unheimlich gut. Ich spürte seine Wärme ganz deutlich. Selbst durch die Decke und den Stoff der Jacke. Erst jetzt realisierte ich, wie sehr sie mir in letzten beiden Tagen gefehlt hatte. Nein, wie sehr Jarek mir gefehlt hatte. Es war egal, wie oft ich mir einzureden versuchte, dass das Gefühl, das ich in seiner Gegenwart empfand, rein freundschaftlich war. Ich wusste genau, dass ich mich damit selbst belog. Die Frage war nur, was Jarek fühlte, wenn er mit mir zusammen war. Empfand er überhaupt etwas für mich?
»Das ist eine schöne Überraschung«, sagte ich und lehnte mich gegen ihn.
»Schön, dass sie dir gefällt«, freute er sich und seine silberblauen Augen leuchteten im schwachen Licht der Scheinwerfer. Ich bemerkte, wie er sich ganz langsam zu mir herüberbeugte, und mein Herz beschleunigte augenblicklich seinen Rhythmus. Ich schloss die Augen und wartete nervös auf den Moment, in dem sich unsere Lippen berühren würden. Doch es geschah nichts.
Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder. Jareks Blick ging an mir vorbei in die Ferne. Suchend drehte ich mich um und erblickte einen flackernden Streifen türkisgrünen Lichts am Horizont.
»Das ist Fenjas Licht«, sagte er. »Sie hat eine Nachricht von den Elfen.«
»Und wie lautet sie?«, fragte ich.
Jarek sah mit großen Augen zu den wild flackernden Lichtern am Himmel hinauf und dann zu mir.
»Sie wollen dich wegen Verrats am Verborgenen Volk anklagen!«
ENDE von Band 1
Weitere Titel der Autorin findest du hier:
Es war einer jener Abende, an denen Schweigen mehr verletzte als jedes gesprochene Wort.
Ich saß an unserem schäbigen Küchentisch und stocherte lieblos in meinen verkochten Spaghetti. Meine Mutter hingegen schlang ihr Essen eilig hinunter.
Warum dem so war, wusste ich sehr genau und so wartete ich nur darauf, dass sie den Mund aufmachte und der erdrückenden Ruhe endlich ein Ende setzte.
»Wie war die Schule?«, fragte sie mit wenig Interesse.
»Hm«, antwortete ich und starrte weiter auf meinen Teller.
Nein, es interessierte sie wirklich nicht, was ich in der Schule trieb. Nicht einmal, ob ich wirklich da gewesen war. Es war etwas ganz anderes, was sie mir sagen wollte. Wie immer drückte sie sich davor, offen und ehrlich mit mir zu reden.
Nein, Olivia McLaren war keine dieser Frauen, die geradeheraus sprachen. Nicht einmal mit ihrer eigenen Tochter.
Ich war siebzehn Jahre alt, eine durchschnittliche Schülerin und hatte meinen Traum, Tierärztin zu werden, schon vor Jahren begraben. Aus der niedlichen, Zöpfe tragenden Scarlett war irgendwann das aufmüpfige Mädchen geworden, das ich heute war. Aus Scarlett wurde Scar und aus meinen Träumen und denen meiner Mutter wurde rein gar nichts.
Es war meine eigene Schuld, denn schließlich musste man in der Schule anwesend sein, um gute Noten nach Hause zu bringen. Und ohne gute Noten auch kein Studium. Dass aus meiner Zukunft nichts Vernünftiges werden würde, löste bei mir nur ein Schulterzucken aus. Es schmerzte mehr, zu wissen, dass meine Mutter die Hoffnungen in mich schon lange vor mir aufgegeben hatte.
»Hör zu, wenn du nicht reden willst …«, begann Olivia.
Ich rollte mit den Augen.
»Dann was?«, unterbrach ich sie und warf meine Gabel geräuschvoll in die Tomatensoße.
Es war mal wieder so weit. Sie wagte es nicht, mit der Wahrheit herauszurücken, also provozierte sie einen Streit, um mir die Schuld an allem geben zu können. Typisch.
Olivia rückte mit ihrem Stuhl nach hinten, sah mich voller Enttäuschung an und seufzte schließlich.
»Ich sehe schon, du hast wieder eine deiner trotzigen Phasen. Weißt du was? Geh doch einfach in dein Zimmer, mach deine Aufgaben oder guck fern. Ich treffe mich heute Abend mit Bill.«
»Ach«, meinte ich nur.
Es war mir von vornherein klar gewesen, dass es darauf hinauslief. Sie verbrachte mehr Zeit in seinem Apartment als in unserem. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch nach Hause kam und etwas zu essen auf den Tisch stellte.
Bill war vom selben Schlag wie all die Typen davor und all jene, die noch folgen würden. Erst waren sie lieb und nett zu ihr, trugen sie auf Händen und überschütteten sie mit Geschenken, dann machten sie ihr klar, dass sie mit Kindern nicht so gut konnten, weswegen ich schnell abgeschrieben war, und irgendwann, wenn meine Mom glaubte, nicht mehr ohne sie leben zu können, taten sie ihr weh – seelisch oder körperlich. Oft beides.
Das war das Spiel ihres Lebens. Sie wurde betrogen und belogen und gab sich alleine die Schuld daran. Wie oft schon hatte sie weinend in ihrem Bett gelegen und war tagelang nicht in der Lage gewesen, das Apartment zu verlassen?
Schon als kleines Kind war es meine Aufgabe gewesen, sie zu trösten, ihr Mut zuzusprechen und sie mit Schokolade und heißem Tee wieder aufzubauen.
Wenn ich es recht bedachte, waren das wohl die Zeiten gewesen, in denen wir uns am nächsten gestanden hatten.
Wir waren einfach zu unterschiedlich. So wie sie sich behandeln ließ, würde ich nie zulassen, dass man mit mir umsprang. Es waren ja nicht nur die Männer, auch im Job zog sie immer den Kürzeren. Überstunden, Nachtschichten und Wochenendarbeit waren für sie normal, während ihre Kollegen jeden Tag pünktlich das Büro verließen.
Ich würde denen gehörig die Meinung sagen, wenn ich als alleinerziehende Mutter deren Arbeit übernehmen müsste, während sie ihr Singledasein genossen.
Meine Mutter aber scheute jede Konfrontation. Ich hingegen legte mich auch mal mit Lehrern oder dem Direktor an, wenn es sein musste. So schnell machte mir keiner Vorschriften. Ich traf meine eigenen Entscheidungen und wenn es mal die falsche war, dann stand ich auch dazu und badete den Mist wieder aus.
Vielleicht war auch das eines unserer vielen Probleme. Vielleicht sollte ich diejenige sein, die sich von ihrer Mutter trösten ließ und nicht umgekehrt.
»Ich weiß, dass du Bill nicht leiden kannst«, seufzte Olivia und rieb sich erschöpft die Schläfen. »Aber könntest du dich nicht einmal für mich freuen?«
Da hätte ich mich eher für die Frau von Donald Trump freuen können. Die jetzt wenigstens in Geld schwamm, während Bill meine Mutter schon mehrmals angepumpt hatte.
»Ich gehe in mein Zimmer«, sagte ich trocken und stand auf.
»Hörst du mir denn überhaupt zu?«, rief Olivia mir nach.
Ich war schon im Begriff, die Küche zu verlassen, und wirbelte nun doch herum.
»Ja, ich höre dir zu! Ich höre immer zu«, schnaubte ich. »Es ist doch jedes Mal das Gleiche: Oh, er ist so toll, oh, er ist so perfekt und lieb und überhaupt! Bill hier, Bill da. Du kennst kein anderes Thema mehr. Aber soll ich dir mal was sagen? Er ist ein Schwein, wie alle anderen davor. Er wird dir wehtun und dann kommst du wieder weinend angekrochen. Es läuft immer auf das Gleiche hinaus. Tu, was du nicht lassen kannst, und geh zu deinem heiß geliebten Bill, aber lass mich damit in Ruhe!«
Ich bereute, ihr das an den Kopf geworfen zu haben, kaum dass ich es ausgesprochen hatte. Doch nun war es raus. Es war die Wahrheit und ich würde den Teufel tun, es zurückzunehmen.
»Wie kannst du es wagen?«, zischte sie. Ihre Hände zitterten vor aufgestauter Wut. »Du bist … du bist genau wie …«
»Wie wer?«, knurrte ich. Nun ging es endgültig mit mir durch. »Wie mein Vater?«
Niemals hätte sie es gewagt, das offen auszusprechen, doch gedacht hatte sie es schon oft. Das sah ich ihr jedes Mal an, wenn ihr der Gedanke durch den Kopf schoss.
Mein Vater war nicht nur einer dieser Idioten, er war obendrein noch verrückt und hockte in irgendeiner Irrenanstalt.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber gedacht«, entgegnete ich.
Als darauf nicht gleich eine Antwort kam, ließ ich sie stehen und stapfte in mein Zimmer. Die Wände vibrierten, als ich die Tür mit voller Wucht zuschlug.
Als ob es nicht ausgereicht hätte, dass wir immer wieder in Streit gerieten. Zu allem Übel hielt meine Mutter mich auch noch für verrückt. Dabei lag es schon Jahre zurück, dass ich ihr etwas von meinen Fantasien erzählt hatte.
Es war auch nicht mehr als eine ausgeprägte Fantasie. Schon als kleines Kind hatte ich mir die irrwitzigsten Dinge ausgemalt. Ich sah zum Himmel und stellte mir vor, dass da Drachen statt Schwalben flogen, blickte in eine Pfütze und sah darin einen Wal schwimmen, oder träumte davon, durch ein Loch in einer Mauer in eine andere Welt eintreten zu können. Es waren nichts weiter als Hirngespinste.
Bei einem verrückten Vater und einer hypersensiblen Mutter war es aber keine gute Idee, laut auszusprechen, was einem im Kopf herumspukte. Diese Lektion hatte ich schon früh lernen müssen und seitdem behielt ich meine Fantasien für mich.
Ich zog mein iPhone aus der Tasche – ein altes, abgewetztes Ding, das ich günstig auf Ebay erstanden hatte – und rief WhatsApp auf.
Wird nichts mit dem Filmabend mit Mom, tippte ich an Jenny.
War doch klar, dass die es vergisst, antwortete sie. Kino?
Kein Geld, tippte ich.
Bei mir?
Klar. Cu.
Ich warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel, bevor ich mir meine Jacke schnappte. Auch wenn ich nicht zu den eitlen Tussis gehörte, die täglich fünf Stunden im Bad verbrachten und in Klamotten herumliefen, in denen sie es auf dem Strich weit bringen würden, war es mir schon wichtig, nicht ganz so heruntergekommen auszusehen, wie es mein Sozialstatus vermuten ließ.
Nicht jeder musste auf den ersten Blick erkennen, dass ich in einem Schuhkarton hauste und mich von Tütensuppen und Spaghetti mit Tomatensoße ernährte.
Der Vorteil an der modernen Gesellschaft war, dass man mit Secondhandklamotten und ein bisschen Fantasie auch als bettelarme Kirchenmaus aussehen konnte, als wäre der heruntergekommene Style gewollt.
Ich zog mir das Gummi aus meinem silbern gefärbten Haar, fuhr mir mit gespreizten Fingern durch die wirre Mähne und tupfte etwas Lipgloss auf. Dann warf ich mir meine abgewetzte Lederjacke über die Schulter und machte mich auf den Weg.
Um meine Mutter musste ich mir keine Gedanken machen. Kaum war ich in meinem Zimmer verschwunden gewesen, hatte ich auch schon die Wohnungstür gehört. Unseren geplanten Filmeabend hatte sie tatsächlich vergessen oder verdrängt und ihr Vorhaben, den Abend bei Bill zu verbringen, war geglückt.
Es würde ihr nicht einmal auffallen, wenn ich die ganze Nacht wegbliebe. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass ich für ein paar Tage das Weite suchte. Etwas Abstand tat uns beiden immer ganz gut.
***
Ich verpasste dem Schloss an meiner Fahrradkette einen kräftigen Tritt. Das war die beste und einzige Methode, das rostige Ding aufzubekommen.
Wir lebten in einem Viertel, in dem alles geklaut wurde, was nicht niet- und nagelfest war, selbst wenn es sich dabei um ein altes, klappriges Fahrrad handelte. Dass meine Kette mehr der Zier diente, wusste ja niemand.
Ich schwang mich in den Sattel und radelte los. Für mich war mein Fahrrad das einzig wahre Fortbewegungsmittel in der Großstadt. Während die Autofahrer stundenlang im Stau standen, sauste ich mit rasender Geschwindigkeit durch die Karawanen, spürte den Wind in den Haaren und nahm Abkürzungen durch enge Gassen und Parks.
Ich stellte mir dann immer vor, dass die kilometerlangen Schlangen auf den überfüllten Straßen aus rostigen, verbeulten Wracks bestanden, die längst von der Natur überwuchert und vereinnahmt worden waren.
Ich sah Efeu, der aus den Motorhauben und den Innenräumen der Autos wuchs, an den Fassaden der Häuser hinaufkletterte und dort zu einem Teil ganzer Urwälder wurde.
Wie Skelette längst verstorbener Giganten sahen die Wolkenkratzer für mich aus. Bäume reckten sich aus ihren geborstenen Fenstern in die Höhe, Affen schwangen sich von Ast zu Ast und huschten über Lianen zwischen den Gebäuden.
Die Tauben auf den Dächern waren goldene Phönixe, die Frau mit den Rastas und dem an der Leine zerrenden Stafford eine Medusa mit einem Feuer speienden Höllenhund an der Kette.
Mein Fahrrad flog über Risse und von wild wucherndem Unkraut zerfurchten Asphalt, wo andere Menschen nur unbeschadete Straßen sahen. Wo es Schlaglöcher gab, sah ich Tore zur Hölle, Hydranten wurden für mich zu gigantischen Würmern, die gerade aus dem Erdreich brachen und ihre Köpfe gen Himmel reckten.
Die ganze Welt um mich herum war der Spielplatz meiner Fantasie. Dinge, die mir als Kind noch Angst gemacht und Albträume bereitet hatten, waren mittlerweile zu meinem Geheimnis geworden und schreckten mich nicht mehr, sondern waren ganz im Gegenteil eine Zuflucht für mich. Die Welt, die ich sah, war wild, bunt und atemberaubend – das genaue Gegenteil zu der tristen, grauen Wirklichkeit.
Ich bog in die Brook Street ab, kreuzte die Straße und sprang mit dem Rad den Bordstein hoch, um schneller in den Park zu gelangen. Es dämmerte bereits und die Wege waren nur spärlich beleuchtet. Die hohen Bäume sorgten zusätzlich für Schatten.
Des Nachts trieben sich im Park gerne mal zwielichtige Gestalten herum, was mich bisher noch nie davon abgehalten hatte, ihn zu durchqueren, um schneller zu Jenny zu gelangen. Blieb ich auf dem Hauptweg und legte ein ordentliches Tempo vor, drohte mir kaum eine Gefahr von irgendwelchen Junkies oder Pennern. Die hatten auch wahrlich ihre eigenen Probleme.
Umso entsetzter war ich, als plötzlich ein Schatten von der Seite auf mich zuschoss und ich vom Rad gerissen wurde. Ehe ich mich versah, landete ich in einer Hecke, begraben unter dem Gewicht eines Mannes.
»Runter von mir!«, schrie ich und wehrte mich mit Händen und Füßen. »Ich warne Sie! Ich kann Karate und Juckjuckzu!«
Der Mann erhob sich nur so weit, dass sein Gewicht mich nicht mehr niederdrückte, ich aber noch immer nicht freikam.
Er war ein heruntergekommener, bärtiger Kerl Mitte fünfzig, mit schmalen, gefährlich wirkenden Augen und sonnengeerbter Haut.
»Juckjuckzu?«, fragte er höhnisch.
Sein filziger Bart kitzelte mir auf der Kehle, während er sprach, und sein Atem stank nach Alkohol und Tabak.
»Jujunkzu?«, korrigierte ich mich skeptisch.
Der Mann lachte, entblößte dabei faulige Zähne und hauchte mir seinen übel riechenden Mundgeruch entgegen.
»Jetzt gehen Sie von mir runter!«, verlangte ich und schlug ihm gegen die Brust.
Tatsächlich rollte er sich krümmend vor Lachen zur Seite, sodass ich endlich wieder frei durchatmen konnte.
»Ju-Jutsu heißt das«, prustete er, stockte aber plötzlich und sah sich hektisch um.
Ganz offensichtlich hatte der Mann einen Dachschaden. So heruntergekommen, wie er aussah, lebte er wohl auch schon seit geraumer Zeit auf der Straße, was zwangsläufig irgendwann zu mentalen Ausfällen führen musste.
Ich klopfte mir den Dreck von der Hose und wollte gerade aufstehen, um nach meinem Fahrrad zu sehen, da packte er mich am Arm. Seine fingerlosen Wollhandschuhe waren klebrig und lösten einen Brechreiz bei mir aus, den ich kaum unterdrücken konnte.
»Wir müssen hier weg«, flüsterte er und sah mich warnend an.
»Ich gehe nirgendwohin«, widersprach ich und versuchte mich loszureißen.
Der Mann zog mich mit einem Ruck zu sich und mir rutschte das Herz in die Hose, als er mir direkt in die Augen sah.
»Sie haben es auf uns abgesehen!«, sagte er in einem so bedrohlichen Tonfall, dass ich ihm fast zustimmen wollte.
Er zog mich noch näher an sich heran.
»Auf uns alle!«, betonte er und sah sich ein weiteres Mal hektisch um.
Mit einem Satz sprang er auf und zog mich einfach mit. Ich versuchte loszukommen, doch der Mann, trotz seiner mageren Statur, war zu stark für mich. Seine Finger schlossen sich wie Handschellen um mein Handgelenk.
»Sie sind doch verrückt«, schrie ich ihm vergebens nach.
Ein ohrenbetäubender Knall ertönte plötzlich hinter mir und ließ mich zusammenzucken. Es war ein lautes, hohles Fopp, als würde jemand einen gigantischen Tennisball aus einer ebenso gigantischen Ballwurfmaschine abfeuern.
Ich duckte mich instinktiv und riss die Augen auf, als ich ein Netz sah, das sich gleich neben mir um einen Baumstamm wickelte. Seine Enden waren mit Gewichten beschwert, die sich beim Aufprall umeinander gewickelt hatten. Wäre der Stamm ein Mensch, läge er jetzt gefangen am Boden.
Wieder knallte es und diesmal schlug etwas ganz nahe bei mir auf.
Das hier entsprang sicher nicht meiner Fantasie. Der Mann wurde tatsächlich verfolgt und mit ihm nun auch ich.
Ich wehrte mich nicht weiter, sondern rannte nur noch schneller. Ob seine Verfolger mich wegen meiner dunklen Kleidung und dem dämmrigen Licht nicht sehen konnten oder es ihnen egal war, dass ihre Beute nun in Begleitung war, wusste ich nicht. Das Risiko, stehen zu bleiben und mal zu schauen, mit wem ich es da zu tun hatte, wollte ich jedenfalls nicht eingehen.
Es fielen keine weiteren Schüsse. Wir hetzten durch den Park, verfolgt von den Schritten und dem Gebrüll mehrerer Männer.
Meine Gedanken rasten. Wurde der Mann von der Drogenmafia verfolgt? Dann wäre ich ein unliebsamer Zeuge, der sich auf ein Paar neue Schuhe freuen konnte. Aus Beton. Im besten Fall erwartete mich ein Zeugenschutzprogramm. Ich würde mir die Haare wieder in ein langweiliges Braun färben müssen und in irgendeinem Kaff leben, wo ich brav zur Schule zu gehen hatte, um nicht aufzufallen. Das passte so gar nicht in meine Vorstellung von einem abenteuerlichen Leben, wie ich es mir für meine Zukunft ausgemalt hatte.
Der Mann packte mich wieder fester am Arm und zog mich hinter eine Mauer.
Völlig aus der Puste, stützte ich mich auf die Knie und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Der Park war weitläufig und abseits der Wege verbarg sich so manch merkwürdiger Ort. Verlassene Spielplätze, unwegsame Moorgebiete oder heruntergekommene Toilettenhäuschen waren Anlaufstellen für Menschen, die nichts mit der Welt da draußen zu tun haben wollten und bei denen es nicht ratsam war, ihnen im Dunkeln zu begegnen.
Mein Begleiter kannte sich hier scheinbar gut aus, denn er hatte mich zielstrebig zu dieser nebelverhangenen Lichtung geführt, wo die Ruinen alter Imbissbuden uns Schutz boten.
In meiner Fantasie sah ich Grabsteine aus dem dichten Dunst ragen. Ein vergessener Friedhof, den nur noch die Krähen kannten und auf dem bei Mitternacht, wenn der Mond rund und voll am Himmel stand, so wie heute, die Toten aus ihren Gräbern stiegen, um im bläulichen Schein zu tanzen.
Ich schüttelte diesen Gedanken ab. Das hier war sicher nicht der richtige Zeitpunkt für meine Hirngespinste.
»Wer zum Teufel ist hinter Ihnen her?«, zischte ich.
»Psssst!« Der Mann presste mir seinen Finger auf die Lippen und warf einen Blick über die Mauer. »Sie kommen.«
Er ließ seinen Blick über die Lichtung wandern, dann fand er scheinbar, wonach er gesucht hatte, denn er lief geduckt los und verwand in den Schatten eines der Gebäude.
Ich zögerte, ihm zu folgen. Seine Verfolger hatten es schließlich nicht auf mich abgesehen und mich womöglich nicht einmal bemerkt. Wenn ich es geschickt anstellte, konnte ich entkommen, während sie weiter dem Mann folgten.
Doch ich konnte nicht. Ich hätte mir dafür in den Hintern beißen können, aber ich wollte diesen verlausten, geistig verwirrten und ungehobelten Penner nicht einfach sich selbst überlassen. Ich würde mich immer fragen, was sie mit ihm angestellt hatten, während ich heimlich entkommen konnte.
Es war wahrscheinlich nicht die klügste Entscheidung meines Lebens, aber sicher auch nicht die dümmste, als ich mich von der Mauer abstieß und dem Mann in die Schatten folgte.
Kaum dass ich um die Ecke gebogen war, wurde ich auch schon gepackt und gegen das Gebäude gestoßen.
»Keine Bewegung!«, brüllte jemand, doch da hatte ich schon mein Knie angezogen und dem Fremden zwischen die Beine gerammt. Erst dann erkannte ich, dass die Männer um mich herum schusssichere Westen und schwarze Uniformen trugen.
Das waren sicher keine Mafiosi. Es sah eher so aus, als würde hier jemand Krieg spielen. Waren das etwa LARPer oder Paintballer?
Ihre Waffen sahen allerdings ziemlich echt aus. Ungefähr so echt wie der Tritt in die Eier des Mannes, der sich vor mir auf die Knie hatte fallen lassen und herzerweichend stöhnte.
Zwei von ihnen hielten den Penner an den Armen gepackt. Seine Hände hatte sie ihm mit Kabelbinder gefesselt.
Er wehrte sich, doch das wirkte ebenso hilflos wie meine Versuche ausgesehen haben mussten, von ihm freizukommen.
»Die hat dich voll erwischt, Cooper!«, höhnte einer der Männer. Die anderen stimmten mit ein.
Cooper mühte sich wieder auf die Beine. Ich hob meine Hände, um mich im Falle der Fälle gegen ihn zu verteidigen, wagte es aber nicht, ihm noch einmal einen Tritt zu verpassen, ehe ich nicht wusste, was hier vor sich ging.
Coopers Blick fixierte mich argwöhnisch. Er strahlte dabei ein Selbstbewusstsein aus, wie es nur jemandem inne sein konnte, der es gewohnt war, in jeder Lebenslage die Oberhand zu behalten. Dass ich ihn soeben zu Fall gebracht hatte, schien kaum daran zu kratzen.
Ein amüsiertes Lächeln huschte ihm über die Lippen. Das Geläster der anderen ignorierte er völlig.
Ich wich zurück, als er seine Hand direkt neben meinem Kopf an die Wand lehnte und unsere beiden Gesichter sich näher kamen.
Er hatte stechend blaue Augen, dunkles, kurz geschnittenes Haar und verwegene Augenbrauen, die sich zu einer geraden Linie zusammenzogen, als er mich ansah.
»Ganz schön wehrhaft, die Kleine«, stellte er fest.
Ich fühlte mich gerade alles andere als wehrhaft. Cooper war einen Kopf größer als ich, muskulös und hatte die Ausstrahlung eines Soldaten. Unbeugsam, furchtlos, zielstrebig. Ich hingegen war verwirrt, erschöpft und verzweifelt.
»Leg dich ja nicht mit ihr an!«, brüllte der Penner, der sich noch immer vergebens, aber aus Leibeskräften gegen die Männer wehrte. »Die Kleine kann Karate!«
»Das ist nicht sehr hilfreich«, knurrte ich durch zusammengebissene Zähne.
Cooper stieß sich von der Wand ab und sah fragend von mir zu dem Mann und wieder zurück.
»Du verstehst, was er sagt, Kleine?«, fragte er.
Ich legte die Stirn in Falten. »Klar, ich bin doch nicht taub. Sag mir lieber, wer ihr seid und was das Ganze hier soll.«
Cooper dachte wohl nicht daran, mich aufzuklären. Stattdessen wandte er sich an seine Leute.
»Schaut euch das an! Uns ist da glatt ein kleiner Madhead ins Netz gegangen.«
Ich öffnete den Mund, um mich über diese herabwürdigende Bezeichnung zu beschweren, ließ es dann aber doch bleiben. Cooper hatte mir seinen Rücken zugekehrt. Ein breiter, muskulöser Rücken, doch das war es nicht, was mir in erster Linie auffiel. Es gab keine Abzeichen auf seiner Kleidung. Da war kein Polizeiwappen oder Sonstiges. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Polizei dazu verpflichtet war, deutlich sichtbare Abzeichen zu tragen oder sich zumindest als Gesetzeshüter zu identifizieren, wenn sie vorhatten, jemanden festzunehmen. Selbiges galt sicher für Eingreiftruppen des Militärs oder irgendeines Geheimdienstes.
Wenn das hier keine Polizisten oder Soldaten waren, dann hatten sie auch kein Recht, mich festzuhalten. Dann war ich vielleicht wirklich dem makabren Scherz irgendwelcher Rollenspieler auf den Leim gegangen.
Länger wollte ich mir das nicht gefallen lassen. Ich nutzte es aus, von Cooper unbeobachtet zu sein, und schlich an der Mauer entlang weg von ihm.
»Stehen geblieben!«, rief einer der Männer.
Ich wollte losrennen, doch schon hatte Cooper mich am Arm gepackt. Er zog mich mit einem Rück zu sich und ergriff auch meinen zweiten Arm.
»Wohin denn so eilig?«, fragte er.