In diesem Buchladen bekommt jeder eine zweite Chance! Gerade als sich die ganze Welt gegen sie verschworen zu haben scheint, erbt Thea von einem Onkel ein Cottage in einem schottischen Dorf. Schnell merkt sie, dass das Leben hier ganz anders ist als in London: ruhiger, entspannter, freundschaftlicher. Nach und nach lernt sie die Dorfbewohner kennen – unter ihnen der charmante Lord Charles, der ein Auge auf ihr Haus geworfen hat, und sein knurriger Bruder Edward, der sich für die wertvollen Erstausgaben im Nachlass ihres Onkels interessiert. Als Edward eine Aushilfe für sein Antiquariat sucht, heuert sie kurz entschlossen bei ihm an. Schließlich braucht sie nichts dringender als einen Neuanfang … Ein Erbe zur rechten Zeit, ein schottisches Dorf und ein ganz besonderer Buchladen – ein wunderbarer Roman für alle, die Buchhandlungen und Bücher lieben
Jackie Fraser hat viele Jahre lang als freie Lektorin und Redakteurin gearbeitet, unter anderem für Reise- und Gourmetführer wie B&B Guide, Restaurant Guide und Pub Guide. Sie interessiert sich für Geschichte,Kunst, Essen, Populärkultur und Musik und liest Bücher aller Genres.
DER KLEINE
BUCHLADEN
ZUM GROSSEN
GLÜCK
ROMAN
Aus dem Englischen
von Kerstin Ostendorf
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2020 by Jackie Fraser
Titel der englischen Originalausgabe: »The Book Shop of Second Chances«
Originalverlag: Simon & Schuster
Published by Arrangement with Simon & Schuster UK Ltd, London, England
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg
Titelillustration: © shutterstock.com: Douglas Freer, Ratchat | 1000 Words, JJFarq | RUNGSAN NANTAPHUM | Nuchylee
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0997-2
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Kay Neldrett
28. 05. 1946 – 14. 02. 2001
und
Annemarie Fraser
08. 11. 1945 – 17. 12. 2010
Gestern war Valentinstag. Es ist jetzt zwei Wochen her, dass ich meine Stelle verloren habe – ich wurde betriebsbedingt gekündigt und fristlos aus dem Büro geworfen – und zehn Tage, dass mein Ehemann Chris, von nun an »dieser Mistkerl«, mich verlassen hat. Oder habe ich ihn verlassen? Vielleicht schon, immerhin war ich diejenige, die gehen musste.
Den Valentinstag habe ich damit verbracht, auf dem hässlichen und unbequemen Schlafsofa in meiner schrecklichen neuen Wohnung zu liegen und mir die Seele aus dem Leib zu heulen. Und jede Menge Gin zu trinken. Ich habe mir Die schwarze Narzisse und Mary Poppins angesehen, freiwillig, und beide Filme durchgeweint. Heute habe ich Kopfschmerzen und kann nicht einmal sagen, ob es ein Kater ist oder die Gefühlsüberdosis. Meine Lider sind geschwollen. Ich bin nur angezogen, weil Xanthe – meine beste Freundin, Vertraute und mein wichtigstes Auffangnetz – mich vorhin am Telefon so angeherrscht hat. Jetzt sitzen wir an dem winzigen Tisch in der offenen Küche und schreiben Listen. In wenigen Augenblicken, einer halben Stunde oder Stunde, werden wir zu meinem alten Haus fahren und meine Sachen packen. Das wird der nächste Schritt auf dieser gottverdammten »Reise«.
»Soll ich alleine hinfahren?«, bietet Xanthe an. »Ich kann das für dich erledigen, wenn du willst.«
Es ist seltsam, sie so ernst zu erleben. Normalerweise lacht sie dauernd und amüsiert sich über alles. Allerdings ist es schwer, irgendetwas Amüsantes an dieser Situation zu finden.
»Nein, sei nicht … Das geht nicht, oder? Du weißt ja nicht, was ich haben möchte. Ich muss das selbst machen.«
»Aber ich komme mit.« Sie mustert mich, versucht offenbar einzuschätzen, ob ich in der Verfassung dafür bin.
»Das wäre … toll. Danke.«
Die ganze Zeit zu weinen ist furchtbar langweilig. Mir wurde schon mal das Herz gebrochen, und ich habe ganz vergessen, wie ermüdend und öde das ist. Ich blinzle und schnäuze mich zum hundertsten Mal. Ursprünglich war dieses Vorhaben für gestern geplant, aber ich konnte ihn schlecht am Valentinstag treffen, oder?
Letztes Jahr um diese Zeit sind wir verreist. Wir haben ein kleines Cottage in der Nähe von Rye gemietet. Es war unser achtzehnter gemeinsamer Valentinstag. Wir tranken Champagner, saßen an einem offenen Feuer, sagten Dinge wie: »Da sind wir also immer noch« und versicherten einander, dass wir uns liebten. Ich denke, einer von uns könnte gelogen haben.
Denn jemand, der seine Frau liebt, schläft normalerweise nicht mit einer ihrer Freundinnen, oder? Aber genau das hat mein Mann – Verzeihung, ich meine, »dieser Mistkerl« – getan, mit meiner angeblichen Freundin Susanna Howich-Price (seitdem bekannt als »dieses Miststück«), und zwar seit … Nun, sie wollten mir nicht sagen, wie lange das schon geht. Aber spielt das überhaupt eine Rolle? Nicht wirklich. Fünf Jahre oder fünf Monate, das Ergebnis ist doch dasselbe.
Ich habe einen Transporter gemietet. Chris und ich hatten schon, nun, nennen wir es eine Diskussion über ein paar Beistelltische im Mid-Century-Modern-Design, die wir letztes Jahr gekauft haben. Ich habe keine Ahnung, wie wir erst Vereinbarungen über die Dinge treffen wollen, die wir beide unbedingt haben möchten.
»Stellt alles, worüber ihr euch nicht einig seid, in ein Zimmer, und dann geht ihr diese Dinge am Ende durch. Da müsst ihr dann einfach Kompromisse finden«, schlägt Xanthe vor.
Sie hat recht, aber mir ist übel vor Anspannung. Ich möchte nicht, dass er … gewinnt, aber darum geht es ja eigentlich nicht. Es ist keine Schlacht und auch kein Wettbewerb. Und ich möchte nicht kämpfen, ich bin völlig erschöpft. Manche Dinge sind mir egal. Er kann das Sofa behalten, genau wie das Sideboard, den Esstisch und die Stühle. Diese Stühle habe ich noch nie gemocht. Das ist immerhin etwas Gutes, genau wie die Tatsache, dass ich seinem Dad und seinem Bruder nie wieder bei ihren Formel-1-Gesprächen zuhören muss.
»Sag ihm aber nicht, dass es dir egal ist. Du solltest mit der Einstellung dahinfahren, dass du alles haben möchtest. Du gehst doch sowieso schon den größeren Kompromiss ein«, meint sie.
Das stimmt tatsächlich. Denn er behält das Haus, und Susanna lebt bereits dort, oder zumindest einen Teil der Zeit, auch wenn sie nicht da sein wird, wenn wir kommen. Das musste er mir versprechen. Ich will sie nicht sehen. Die Vorstellung, dass sie in meinem Haus lebt, meine Teller benutzt, Essen isst, das wahrscheinlich ich gekauft habe, mit meinem Mann schläft … Es ist keine Überraschung, aber davon wird mir schlecht.
***
Ich weiß nicht, was ich zu ihm sagen soll, als er die Tür öffnet und verlegen zurücktritt, um mich hereinzulassen. Ich musste an meine eigene Haustür klopfen. Aber diese Sicht auf die Dinge hilft mir nicht weiter. Sobald ich über den Teppich im Flur nachdenke, der neu ist, oder den Spiegel im Esszimmer, der seiner Großmutter gehörte, die ich sehr gernhatte, werde ich wütend. Es sind nur Gegenstände. Aber all diese Gegenstände stehen für unsere Beziehung. Wir haben sie beide ausgesucht oder platziert. Tausende von Entscheidungen, der Hintergrund einer Liebesgeschichte. Nein. Denk an etwas anderes, denk ganz praktisch.
Zuerst die einfachen Dinge. Xanthe und ich gehen hoch auf den Dachboden, um den Karton mit Schulbüchern und die anderen Kisten zu holen, die ich vom letzten Haus in dieses mitgeschleppt habe und vorher schon aus meiner Wohnung und davor aus meinem Elternhaus. Ich neige dazu, Erinnerungsstücke zu horten, daher sind dort oben noch Puppen und Lego und jede Menge anderes Gerümpel. Wahrscheinlich sollte ich einiges aussortieren, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ich habe bei der Lagerraumvermietung Kartons gekauft, und wir arbeiten zügig. Wer bekommt die Weihnachtsdekoration? Wir sollten sie aufteilen, oder? Doch ehrlich gesagt kümmert es mich nicht.
»Scheiß drauf«, sage ich. »Sie können es haben. Mir egal.«
»Okay«, antwortet Xanthe. »Ich finde aber, du solltest dir alle Möglichkeiten offenhalten. Falls du deine Meinung änderst.«
»Hm. Lass uns einfach weitermachen.«
Ich schaufle wahllos Gegenstände aus dem Badezimmerschrank in einen Karton. Die Dinge, die ich regelmäßig benutze, habe ich alle schon mitgenommen, aber hier liegen noch Make-up für Halloween und falsche Wimpern und – werde ich irgendetwas hiervon jemals brauchen?
»Pack es ein«, sagt Xanthe geduldig. »Du kannst entscheiden, ob du es willst, wenn du die Kisten in deinem neuen Haus durchgehst.«
»Ha. Wann auch immer das sein wird.«
Ich packe drei Wintermäntel ein, die ich seit zehn Jahren nicht getragen habe, und meine Lederjacke. Einen Karton fülle ich mit Stoffen. Chris und Susanna schlafen im Gästezimmer – eine Anwandlung von Moral, nehme ich an. Es wäre auch ein bisschen viel, wenn sie in unserem Bett nächtigen würden. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, ob sie das nicht ohnehin in den vergangenen Wochen oder Monaten oder Jahren getan haben.
Aber immerhin bedeutet das wohl, dass ich die Bettwäsche für das große Bett haben kann. Es gehört mir, oder zumindest habe ich es mit dem Geld von einem Bonus gekauft. Die Matratze hat fast tausend Pfund gekostet. Die ganzen King-Size-Bettlaken verstauen wir in einer Kiste, und wir falten die Bettdecke und stecken sie in eine Vakuumverpackung. Vier Kissen, die Hälfte der Kissenbezüge. Drei Tischdecken. Die zweitbesten Handtücher, denn sie können die neuen haben, die Chris’ Schwester uns letztes Jahr an Weihnachten geschenkt hat – wie großzügig von mir. Xanthe räumt die Kleidung aus meinem Schrank in einen Koffer und schüttet den Inhalt der Schubladen obendrauf. Strumpfhosen, Socken, Slips und Nachthemden, meine Reizwäsche, die ich vermutlich nie wieder brauche, wenn wir mal ehrlich sind. Schals und Schmuck, Haarspangen, einen Lockenstab und T-Shirts.
»Es ist so viel«, klage ich schwach.
»Komm schon. Die Hälfte ist geschafft.«
Als wir das Bett auseinanderbauen, bringen wir damit meterweise staubigen Teppich und einen Ohrring zum Vorschein. Xanthe bückt sich schnell, um etwas aufzuheben, aber nicht schnell genug, um es vor meinem Blick zu verbergen: eine aufgerissene Kondompackung. Sie steckt sie beiläufig in die Hosentasche ihrer Jeans, und keiner von uns sagt etwas.
Wir kämpfen uns mit der Matratze nach unten.
»Ich nehme den kleinen Nachttischschrank«, erkläre ich Chris, der angespannt im Esszimmer sitzt. Er nickt still.
Damit wäre alles von oben gepackt, bis auf die Bücher. Ich bin erledigt. Aber immerhin hält mich die Beschäftigung vom Weinen ab.
Er hat alle Fotos von uns in einen Karton geräumt.
»Du möchtest also keine davon?«
Wenn ich ehrlich bin, stört mich das. Aber er wirkt … gequält und sagt: »Ich kann einfach nicht – ich bin gerade nicht in der Lage, mich mit den Fotos auseinanderzusetzen, Thea. Tut mir leid.«
»Okay. Sollen wir damit warten? Wir könnten uns später damit befassen. Ich meine, bitte schmeiß sie nicht weg –«
»Ich stelle den Karton in den Schrank«, entgegnet er. »Nimm dir aber, was immer du davon haben willst.«
»Ich weiß selbst nicht, ob ich sie mir gerade ansehen kann.« Es ist leicht, die Fotoalben einzupacken, die aus der Zeit stammen, bevor ich ihn kannte, aber wer bekommt das Hochzeitsalbum? Das ist furchtbar. Ich würde fast sagen, es ist der schlimmste Tag meines Lebens, aber ich glaube, den habe ich schon hinter mir.
Wir einigen uns wegen der Beistelltische. Ich packe das Porzellangeschirr meiner Großtante ein, lasse dafür aber die Kochtöpfe, die wir zur Hochzeit geschenkt bekommen haben, und die erst im Dezember gekauften Champagnergläser zurück. Ich nehme meine Schallplatten – ja, ich habe meine Schallplatten noch – und meine CDs mit. Die Bücher überfordern mich.
Xanthe kocht Tee, und kurz darauf sitzen wir drei etwas verlegen am Küchentisch und trinken ihn. Auf dem Tisch steht eine Vase, die ich noch nie gesehen habe, voller Narzissen aus dem Garten. Meine Narzissen, die ich gepflanzt habe.
»Ich glaube nicht, dass ich heute noch mehr machen kann.« Bedrückt senke ich den Blick auf meine Jeans, die von einer graubraunen Staubschicht bedeckt ist.
»Das musst du auch nicht«, versichert Chris. »Jetzt sind es ja hauptsächlich nur noch die Bücher, oder? Die kannst du durchgehen, wann immer du willst. Oder ich übernehme das, wenn du möchtest.«
»Ich schätze, ich sollte es einfach hinter mich bringen, damit es nicht länger über mir schwebt.«
»Dann gib mir doch einen Karton, und ich fange schon mal an.«
Er will mich hier raushaben, und wer könnte es ihm verdenken?
Angestrengt versuche ich, mich daran zu erinnern, was noch eingepackt werden muss. »Die Nähmaschine. Und mein Fahrrad.«
»Okay«, sagt Xanthe. »Ich hole dein Fahrrad, ja?« Dann fügt sie an Chris gewandt hinzu: »Garagenschlüssel« und streckt ihm fordernd die Hand entgegen. Er steht auf und nimmt den Schlüssel von einem Haken an der Hintertür. Den Haken haben wir in Cornwall gekauft, er hat die Form eines Pilzes. Das Haus ist voller Dinge, die mich an andere, bessere Zeiten erinnern, aber ich kann sie nicht alle einpacken, das ist unmöglich. Und würde es helfen? Wahrscheinlich nicht.
Ich ziehe ein Paar zusammengeschmolzener Glasherzen von einem Nagel neben dem Kühlschrank ab und stecke sie in meine Tasche. Dann öffne ich die Besteckschublade und verkünde: »Du wirst dir eine neue Knoblauchpresse besorgen müssen. Ich nehme diese mit, weil sie mal Polly Watsons Granny gehört hat.«
Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich in einem Haus mit Polly Watson gewohnt. Und obwohl ich ihre Granny nie kennengelernt habe, ist die Knoblauchpresse einfach ein Teil meines Lebens, und ich möchte sie haben.
Als wir endlich fertig sind, fühle ich mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen oder durch ein ganzes Land marschiert. Bei dem Gedanken, all diese Dinge in einen Lagerraum zu verfrachten und sie dann eines Tages wieder in einen Lieferwagen zu wuchten, um sie in ein mysteriöses und unbekanntes Zuhause zu bringen, würde ich am liebsten losheulen und nie wieder aufhören.
»Wenn dir noch etwas einfällt, lass es mich wissen«, sagt Chris. »Und ich gebe dir noch etwas Geld für das Sofa und die Esszimmermöbel und –«
»Gut«, unterbricht Xanthe ihn. »Vielleicht schreibst du das besser auf? Dann gibt es später keinen Ärger. Als mein Dad ausgezogen ist, haben meine Eltern gar nichts geklärt. Darüber ärgern sie sich heute noch. Weißt du, jemand anderes«, wir wissen alle, wen sie meint, »könnte dir sagen, du wärst zu großzügig. Das sehe ich nicht so, ich finde, du bist sehr vernünftig, was gut ist, aber die Dinge ändern sich. Du könntest vergessen, wie Thea ist. Du könntest missgünstig werden.«
Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Ich denke nicht –«
»Ich weiß. Aber im Ernst. Schreib es einfach auf.«
»In Ordnung.« Er holt einen Zettel und notiert:
Ich bin damit einverstanden, eine Zahlung über jeweils die Hälfte der Kosten des Sofas und der Tische etc. an Thea zu leisten.
»Okay?«
»Danke«, sage ich.
»Schon gut. Hör mal, ich möchte mich nicht wie ein Arschloch verhalten.«
»Wie ein noch größeres Arschloch, meinst du.« Xanthe lacht über seinen Gesichtsausdruck.
»Du weißt, dass ich das nie geplant hatte«, sagt er an mich gewandt.
Ich kann ihn nicht ansehen, zumindest nicht direkt. Also schaue ich immer nur kurz von der Seite zu ihm, ganz flüchtig. Doch unsere Blicke treffen sich nie.
»Ja. Ist schon okay. Oder … nein, ist es nicht … Aber ich weiß, dass du es nicht mit Absicht getan hast.«
»Nein. Das habe ich wirklich nicht.« Er wirkt erledigt, beinahe so schlimm, wie ich mich fühle.
»Na ja, ich gehe jetzt besser.«
Er nickt. »Ach, Moment, du hast einen Brief bekommen.«
»Einen Brief?«
»Er ist erst gestern angekommen. Ich dachte, da du vorbeikommst … Warte eben.« Er verschwindet kurz im Büro. »Hier. Von einem Anwalt, glaube ich. Hast du –«
»Nicht von meinen Anwälten«, entgegne ich und nehme ihm den Umschlag ab. Nach kurzem Zögern reiße ich ihn auf und überfliege rasch den Inhalt. »Oh, wie merkwürdig.«
»Was denn?«, fragt Xanthe.
»Es geht um Onkel Andrew.« Ich sehe Chris an. »Großonkel Andrew, sollte ich wohl sagen.«
»Der, der gestorben ist?«
Ich nicke. Großonkel Andrews Beerdigung fand letztes Jahr statt. Doch ich war nicht dort, denn er lebt – lebte – in Schottland, und ich habe ihn nur ein paarmal gesehen. Er war der älteste Bruder meines Großvaters und hat ihn um gut fünfzehn Jahre überlebt. Er ist dreiundneunzig geworden.
»Und?«
»Er hat mir sein Haus vererbt«, sage ich fassungslos.
»Oh, wirklich? Wo ist es?«, will Xanthe wissen. »Ein glamouröser Ort?«
»Ungefähr eine Stunde westlich von Dumfries.« Ich lache über ihre enttäuschte Miene. »Ich war noch nie dort. Es liegt am Arsch der Welt.«
»Das ist doch praktisch«, sagt Chris. »Ich meine, so kannst du es hoffentlich verkaufen und dir an einem anderen Ort ein Haus kaufen. Das ist doch viel besser, als wenn du nur das Geld von deinem Anteil an diesem hier hättest.«
Ich sehe ihm seine Erleichterung an. Wenn ich mir etwas Anständiges leisten kann, wird er sich besser fühlen. Und besser dastehen. »Ja, kann sein«, erwidere ich. In dem Schreiben ist auch die Rede von Geld, aber darüber sage ich nichts. Es handelt sich um eine beträchtliche Summe. Plötzlich merke ich, wie die meistens noch recht schwache, aber hin und wieder ernsthafte Existenzangst von mir abfällt, die mich wegen meiner Kündigung heimgesucht hat. Es ist nicht genug, um für immer davon zu leben, aber es ist definitiv eine Erleichterung.
»Wie kommt es, dass er es dir vererbt hat? Hat er keine Kinder?«, fragt Xanthe.
»Er hatte eine Tochter. Dads Cousine. Aber sie ist schon vor vielen Jahren gestorben«, antworte ich und versuche, mich daran zu erinnern, was damals geschehen ist. »Ich glaube, sie ist ertrunken, aber sicher weiß ich es nicht. Allerdings ist es komisch, dass er sein Haus nicht Dad vererbt hat oder Tante Claire.«
»Wie aufregend«, sagt sie. »Musst du hinfahren und seine Sachen aussortieren? Du bist ja gerade bestimmt in genau der richtigen Stimmung, um noch mehr Kisten durchzusehen, oder?«
Das bringt uns alle zum Lachen, und die Spannung löst sich ein wenig.
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, aber wahrscheinlich schon.« Ich schaue wieder auf den Brief in meinen Händen. »Offenbar ist alles schon geklärt, und jetzt hat dieser Typ –«, ich drehe das Stück Papier um, »Alastair Gordon von Smith, Gordon und Macleod, die Schlüssel und einige Unterlagen für mich. Lassen Sie mich wissen, wann Sie das Grundstück in Besitz nehmen möchten. Ich bringe Sie gerne zum Haus. Und ja, der Hausrat wird auch erwähnt, und hier steht, dass er Bücher gesammelt hat. Der Wert der Bibliothek – ha, Bibliothek – wurde wohl vor einigen Jahren geschätzt, sollte vermutlich aber neu geschätzt werden und von einem seriösen Händler verkauft werden, falls ich entscheide, dass ich sie nicht behalten möchte.«
»Wow«, stößt Xanthe aus. »Das Haus hat eine richtige Bibliothek?«
»Ich denke nicht. Dafür ist es bestimmt nicht groß genug. Es heißt West Lodge. Aber das können wir später noch nachgucken. Armer Onkel Andrew. Jetzt fühle ich mich mies, weil ich nicht zu seiner Beerdigung gegangen bin.«
»Ist das sein Testament?«, fragt Chris, als ich eine dicke Kopie auseinanderfalte.
»Ja. Oh, er erklärt: … und an meine Großnichte Althea Lucy Mottram, geborene Hamilton, bla, bla, die ich nur viermal getroffen habe, die aber jedes Mal lieber lesen wollte, als sich zu unterhalten, was ich persönlich auch schon immer bevorzugt habe. Wow. Da siehst du mal, Mutter, so viel dazu, dass das für nichts gut wäre.«
Es dauert fast sechs Wochen, bis ich alles für meine Reise nach Schottland organisiert habe. Dabei bin ich nicht einmal besonders beschäftigt, wenn man vom Im-Bett-Liegen und Weinen einmal absieht.
Ich habe mehrere Telefongespräche mit Alastair Gordon geführt, der einen bezaubernden Akzent hat und sehr nett klingt. Er sagt, die West Lodge sei vollkommen bewohnbar, obwohl vorher gelüftet werden müsse, wenn ich dort schlafen wolle. Das Grundstück ist noch an die Stromversorgung angeschlossen, und die Telefonleitung ist ebenfalls noch aktiv, also wird mein Aufenthalt kein Campingurlaub. Das ist auch gut so, da in vier Tagen erst der April beginnt. Wir besprechen, wie lange ich bleiben möchte, und er bietet an, vor meiner Ankunft einmal hinzugehen und zu überprüfen, wie es im Haus aussieht. Ich vermute, dass das über seine Pflichten weit hinausgeht, aber darüber beschwere ich mich sicher nicht. Als ich ihn frage, ob dieser Gefallen mich dreihundert Pfund pro Stunde kosten würde, verneint er schockiert. Großonkel Andrew sei ein guter Freund gewesen, erzählt er. Ich muss zugeben, dass ich das recht enttäuschend finde, da es bedeuten muss, dass er mindestens fünfundsechzig ist. Selbst dann wäre er noch gut dreißig Jahre jünger als Andrew.
Nicht, dass sein Alter eine Rolle spielt. Doch die Vorstellung, einen charmanten schottischen Anwalt zu treffen, klang durchaus verlockend. Wahrscheinlich ist er verheiratet. Die meisten Leute sind schließlich verheiratet, nicht wahr?
***
»Ich komme mit«, bietet Xanthe an. »Wie lange bleibst du dort?«
Wir sitzen in der unteren Etage unseres Lieblingscafés zwischen Secondhandbüchern und Krimskrams. Hier ist es immer ruhiger, denn man erreicht diesen Teil des Cafés nur über eine steile gusseiserne Wendeltreppe, die junge Mütter und alte Menschen abschreckt. Draußen strömt der Regen unablässig aus den Wolken hinab und verhüllt die ersten Frühlingsanzeichen.
»Keine Ahnung, vielleicht zwei Wochen. Es sollte nicht allzu lange dauern, seine Sachen durchzugehen. Und dann kann ich das Haus zum Verkauf anbieten und ein wenig die Gegend erkunden. Zumindest, wenn es warm genug für Sightseeing ist.«
»Was gibt es denn da zu sehen?« Xanthe wirkt nicht überzeugt.
»Burgen. Und Strände. Es sieht ganz hübsch aus, ein bisschen wie in Cumbria. Nicht so spektakulär wie die Seen des Lake District, aber auch nicht so touristisch.«
»Klingt gut. Ich glaube nicht, dass ich zwei Wochen bleiben kann, aber ich könnte ja für eine Woche mit hochkommen?«
»Das wäre großartig. Es könnte sogar ganz lustig werden, wenn du da bist.«
Die Aussicht, allein nach Schottland zu fahren, hat mir bereits Sorgen bereitet. Es ist eine weite Reise, wenn man allein ist und niemanden kennt. Ich weiß, dass es albern ist, so zu denken, immerhin bin ich erwachsen und werde von jetzt an alles allein tun, aber trotzdem finde ich es schöner, Gesellschaft zu haben.
Vielleicht sollte ich einen Lieferwagen mieten. Ein paar der Möbelstücke möchte ich bestimmt behalten, und sicherlich muss ich auch einige kleinere Sachen aus Onkel Andrews Nachlass hertransportieren und in meinem Lagerraum unterbringen. Aber mit dieser Entscheidung warte ich besser, bis ich dort bin. Schließlich möchte ich nicht auf Verdacht einen Lieferwagen bis nach Schottland fahren. Und eigentlich spielt es keine große Rolle, ich habe genug Zeit und – wie aufregend – vierzigtausend Pfund auf meinem Hauptkonto. Ich habe weitere fünfundvierzigtausend Pfund auf verschiedene Sparkonten aufgeteilt und der Versuchung widerstanden, mir etwas vollkommen Unsinniges zu kaufen. Dafür habe ich mir einige neue Kleidungsstücke geleistet, auch wenn ich im April in Schottland wahrscheinlich keine Sommerkleider brauche. Vor allem, wenn ich die meiste Zeit nur zum Secondhand-Laden oder zur Mülldeponie fahre.
Noch nie in meinem Leben musste ich so viele Entscheidungen auf einmal treffen. Ich erinnere mich nicht einmal, ob ich jemals irgendeine Entscheidung ganz allein treffen musste. Wahrscheinlich schon, doch das alles ist für mich … beinahe überwältigend. Aber nur beinahe. Denn andererseits ist es schön, über Dinge nachdenken zu können, die nichts mit Chris zu tun haben.
***
Am Abend vor unserer Abreise nach Schottland ruft mich meine Freundin Angela an, um mir zu erzählen, dass sie von Chris und Susanna zum Abendessen eingeladen wurde. Sie fragt, ob es mich stören würde, wenn sie hinginge.
»Es ist so seltsam, dass es in deinem Haus stattfindet«, sagt sie. »Natürlich möchte ich dich nicht verärgern. Ich fühle mich furchtbar, aber irgendwie finde ich, dass ich hingehen sollte. Was meinst du dazu? Ich mag Chris.« Sie schnalzt mit der Zunge. »Ich dachte auch, ich würde Susanna mögen, aber jetzt, na ja, jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«
Die Angelegenheit amüsiert mich beinahe. Eigentlich finde ich, sie hätte Xanthe nach ihrer Meinung fragen sollen, nicht mich, aber Angela ist nicht besonders taktvoll. »Du solltest hingehen, wenn du möchtest, mach dir meinetwegen keine Gedanken.«
»Aber es ist so furchtbar. Ich kann gar nicht glauben, dass sie –«
»Ja, es ist furchtbar. Aber …« Ich dachte, ich könnte es ohne dieses leichte Schwindelgefühl des Kummers und ohne die aufsteigenden Tränen sagen, doch offenbar war das ein Trugschluss. Ich räuspere mich. »Aber Susanna, also sie beide … So ist es jetzt nun mal. Das Haus gehört mir nicht mehr. Es ist ihres.« Ich frage mich, ob ich das jemals wirklich glauben werde.
»Ich wäre so wütend, Thea. An deiner Stelle.«
Ich lache. »Ich bin auch ziemlich wütend. Und wahrscheinlich werde ich noch wütender, bevor ich mich besser fühle. Aber ich kann es nicht ändern, oder? Und es macht keinen Unterschied, ob ich wütend oder unglücklich bin oder … was auch immer. Wenn du mit ihnen befreundet sein möchtest, dann … ist das okay. Geh zu ihnen nach Hause, iss ihr Essen und … Erzähl mir einfach nicht von ihnen.« Ich halte kurz inne, während ich nachdenke. »Es sei denn, ich frage nach.«
»Okay.«
»Und selbst wenn ich frage, solltest du mir wahrscheinlich nichts erzählen, um ehrlich zu sein.«
***
Ich habe gepackt und bin bereit. Nun muss ich nur noch Xanthe einsammeln, die zweifellos gerade hektisch umherirrt und Rob auf die Woche vorbereitet, in der er allein mit den Kindern ist, und dann geht es los. Es ist Sonntag, und ich hoffe, dass die Straßen leer sein werden. Wir sollten gegen halb fünf nachmittags in Gretna sein.
Sechs Stunden im Auto. Es regnet während der ganzen Fahrt. Wir essen Süßigkeiten und singen eine umfangreiche Playlist mit, die Xanthe zusammengestellt hat, ausschließlich mit Liedern aus der Zeit, bevor ich Chris kennengelernt habe, Liedern aus unserer Jugend. Ein Roadtrip mit einer Freundin ist immer ein Riesenspaß, zumindest, solange keiner erschossen wird und niemand von einer Klippe fahren muss wie bei Thelma und Louise.
In Gretna übernachten wir in dem schönsten Hotel, das ich finden konnte, da ich funktionale, nichtssagende Low-Budget-Hotelketten leid bin. Meinen Anforderungen entsprechend gibt es hier Cocktails (wenn auch nicht viele), ein King-Size-Bett und schicke Chenille-Sofas. Es ist auf zurückhaltende, moderne Weise glamourös. An der Bar prosten wir einander zu und denken uns Geschichten über die anderen Gäste aus. Wir gehen früh ins Bett, weil wir alt und erschöpft sind. Ich liege noch eine Weile wach und lausche Xanthes leisem Schnarchen. Dabei versuche ich zu zählen, wie viele Betten wir uns schon geteilt haben, komme aber Mitte der Neunziger durcheinander, und als ich schließlich einschlafe, habe ich einen dieser verblüffend komplexen und angstgetriebenen Träume, nach denen man nicht viel erholter ist, als wenn man wach geblieben wäre.
***
Laut Plan werden wir um elf in Baldochrie ankommen, eine vernünftige Zeit für einen Termin mit einem Anwalt. Ich bin nervös, auch wenn ich eigentlich nicht weiß, warum. Schließlich ist es ja nicht so, als könnte er entscheiden, dass ich ungeeignet für das Erbe bin. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich erkenne, dass ich vielleicht gar nicht nervös bin, sondern aufgeregt.
Dumfries and Galloway ist einer dieser großen, zusammengelegten Verwaltungsbezirke. Im Vergleich zur Westküste weiter im Norden kann man die Landschaft hier nicht als auffallend schön oder wild bezeichnen. Die Gegend ist recht ländlich – soweit das Auge reicht, sieht man Rinderweiden und Schafe. Die Ortschaften sind klein, und die A75 führt an den meisten vorbei, von denen ich schon mal gehört habe. Wir passieren Dumfries, Castle Douglas und Kirkcudbright. Manchmal erhaschen wir einen kurzen Blick aufs Meer. Es regnet jedoch immer noch, draußen ist es grau und nass, und ein scharfer Wind weht. Auf der Straße sind viele Lastwagen unterwegs, die aus Stranraer kommen oder dorthin wollen. Vielleicht wäre es hübsch hier, wenn es nicht regnen würde, das lässt sich schwer einschätzen. Wir fahren an kleinen Cottages und großen viktorianischen Villen vorbei, an unaufgeräumten Bauernhöfen und Campingplätzen. Wir sehen Burgen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Der Wind peitscht über die Felder und lässt alles eisig kalt wirken. Es fühlt sich komisch an, durch diese fremde Landschaft zu fahren und zu wissen, dass Teile von ihr einem später vertraut sein könnten, aber noch nicht zu wissen, welche Teile es sein werden. So geht es mir auch immer im Urlaub. Ich frage mich dann oft, welche der Straßen ich am häufigsten befahren werde, in welche Geschäfte ich gehe oder wo ich wohl tanke.
Und dann kommen wir in Baldochrie an. Wir finden einen Parkplatz vor dem recht imposanten viktorianischen Rathaus auf einem kleinen Platz, der von vielen gepflegten Steinhäusern umgeben ist. Der Ort hat eine Kirche, ein Kriegerdenkmal mit einem Soldaten im Kilt und richtige Geschäfte: einen Co-op-Supermarkt, ein Antiquitätengeschäft, zwei Cafés, eine Apotheke. Auf dem Kirchhof tanzen noch Narzissen in den stürmischen Böen, deren Blütezeit zu Hause längst vorbei ist. Es ist nett hier, altmodisch. Nichts Aufregendes natürlich, aber ich habe schon einige traurige kleine Städte gesehen, in denen alle Geschäfte zum Verkauf stehen, und so ist es in Baldochrie nicht. Immerhin gibt es noch einen Metzger und einen Bäcker und einiges mehr.
»Meine Güte«, sagt Xanthe. Sie späht durch das Autofenster und die Regentropfen auf der Scheibe. »Stell dir mal vor, hier zu leben.«
»So schlimm ist es nicht. Auch wenn Jugendliche vermutlich nicht allzu viel unternehmen können.«
»Oh ja. Der nächste Nachtclub ist wahrscheinlich achtzig Kilometer weit weg.« Wir erschaudern beide. »Und ich werde etwas dringend nötige Diversität ins Dorf bringen«, fügt sie hinzu. »Bestimmt haben einige der Leute schwarze Frauen bisher nur im Fernsehen gesehen.«
»Ach, komm schon.«
»Ich wette darauf.«
»Na ja. Das ist jedenfalls die Anwaltskanzlei.« Ich deute auf ein großes, quadratisches georgianisches Gebäude mit dem obligatorischen Messingschild und einer Schmutzfangmatte vor der Eingangstür, zu der vom Bürgersteig drei Stufen hinaufführen.
»Aufregend. Bist du aufgeregt?«
»Ich weiß nicht. Glaube schon. Es ist seltsam.«
»Während du bei dem Termin bist, gehe ich einen Kaffee trinken. Ich muss ja nicht mit reinkommen, oder?«
Ich zögere. »Nein, ich denke nicht.«
»Es ist fast elf. Na los.«
Eine Böe drückt den Nieselregen gegen die Windschutzscheibe. Ich ziehe mir die Jacke an und streiche meinen Rock glatt, der von der zweistündigen Autofahrt zerknittert ist.
»Du siehst sehr schick und verantwortungsbewusst aus«, versichert Xanthe mir. »Schreib mir, wenn du fertig bist. Ich bin in –«, sie sieht über die Straße, »dem Café da. The Lemon Tree.«
***
Eine sympathisch wirkende Dame mittleren Alters sieht von ihrem Schreibtisch auf, als ich die Tür hinter mir schließe.
»Guten Morgen«, grüßt sie. »Sie sind sicher Mrs Mottram?«
Ich nicke bestätigend. Ein kleines Schild auf ihrem Schreibtisch verrät mir, dass sie Mrs McCain heißt. Neugierig sehe ich mich in der großen Eingangshalle mit dem Boden aus schwarz-weißen Marmorfliesen um. Hier ist es vielleicht ein wenig kühl für Mrs McCain. Der Geruch eines elektrischen Heizgeräts steigt mir in die Nase, und ich vermute, dass es unter ihrem Schreibtisch steht und ihr die Beine wärmt. Eine eindrucksvolle Treppe aus poliertem dunklem Holz windet sich ins nächste Stockwerk, und der Schreibtisch fügt sich passend daneben ein. An der Wand hinter Mrs McCain hängt ein großes und recht finsteres Porträt einer jungen Frau in weißem Satin, die sich kunstvoll auf einem Sofa ausstreckt.
Drei weiße, elegante Türen gehen von der Eingangshalle ab, eine links von mir und zwei rechts. Eine große Vase mit Narzissen schmückt den Schreibtisch, neben einem Telefon und dem Computer. Zwischen den beiden Türen auf der rechten Seite steht eine Bank ohne Rückenlehne, aber dafür mit Kissen, die Platz für zwei oder drei Personen bietet. Darüber hängt ein riesiger, gefleckter Spiegel, der sich wahrscheinlich schon dort befindet, seit das Haus gebaut wurde.
Mrs McCain lächelt mich an. »Ich lasse ihn wissen, dass Sie hier sind. Setzen Sie sich doch.«
Dafür bleibt mir jedoch keine Zeit, da sich die Tür zu meiner Linken öffnet und Alastair Gordon heraustritt. Er streckt mir seine Hand zur Begrüßung entgegen. »Mrs Mottram. Schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«
Er ist viel jünger als erwartet. Tatsächlich ist er vermutlich sogar jünger als ich. Und er hat mich gerade daran erinnert, dass ich meinen Namen vielleicht ändern müsste. Soll ich das wirklich? Ich werde nicht viel länger Mrs Mottram sein. Wie funktioniert das? Wie entscheidet man so etwas?
Als wir uns die Hände geben, bin ich durcheinander und bringe kein Wort über die Lippen. Ich folge ihm in sein Büro, und mir rutscht heraus: »Ich dachte, Sie wären alt. Ich meine, verzeihen Sie, aber Sie sagten, Sie wären mit Onkel Andrew befreundet gewesen.«
»Wir sind nicht zusammen zur Schule gegangen oder so«, erwidert er amüsiert.
»Nein, ich … Selbst wenn Sie alt wären, könnten Sie nicht so alt wie er sein und trotzdem noch arbeiten. Ich habe einfach erwartet, dass Sie älter wären. Nicht, dass es eine Rolle spielt. Ach Gott, jetzt fange ich an … Bitte entschuldigen Sie.« Ich lache. »Es kam alles ziemlich unerwartet.«
»Setzen Sie sich doch.« Er bietet mir etwas zu trinken an und erkundigt sich nach der Anreise. Wir sprechen über den Verkehr und die Baustellen, und er öffnet kurz seine Bürotür und bittet Mrs McCain, Tee aufzusetzen. Ich habe mich schon immer gefragt, wie es ist, eine persönliche Assistentin zu haben. Doch ich bezweifle, dass ich es je selbst herausfinden werde. Fast frage ich ihn danach, kann mich aber gerade noch zurückhalten. Also wirklich, ich muss dieses Verlangen unter Kontrolle bekommen, einfach alles auszusprechen, was mir in den Sinn kommt.
Ich bin etwas verlegen, auch weil Xanthe einen beträchtlichen Teil der Reise damit zugebracht hat, über Mr Gordon zu fantasieren, und wir viel über ihre Vorstellungen gelacht haben, meistens, weil wir davon ausgingen – oder vielmehr überzeugt waren –, dass er in Wirklichkeit ganz anders wäre als in ihren Tagträumen. Und das ist er in gewisser Weise auch, da wir ihn uns als dunkelhaarig vorgestellt haben, er aber blond ist. Trotzdem sieht er gut aus, wenn man auf Männer steht, denen man ihre vornehme Herkunft ansieht, was ich für meinen Teil offiziell immer abstreite. Aber mal ehrlich, sie haben eine gute Knochenstruktur und sind meist sehr attraktiv, da stecken Jahrhunderte der zielgerichteten Vermehrung hinter. Allerdings ist er geschätzt erst etwa fünfunddreißig.
Er geht zurück zu seinem Schreibtisch und setzt sich. »Mein Vater war schon vor mir Andrews Anwalt. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Soviel ich weiß, kannten Sie ihn nicht sonderlich gut, oder?«
Ich schüttle den Kopf. »Kaum. Das Ganze kam sehr überraschend.«
Verstohlen sehe ich mich um und suche nach dem obligatorischen Foto von Ehefrau und Kindern, kann aber keines entdecken. Heutzutage haben die meisten Leute ja schließlich auch eher Bildschirmschoner mit Fotos von ihren Kindern als eingerahmte Fotos auf ihren Schreibtischen, oder? Dafür sticht mir ein kleines Gemälde eines Hundes ins Auge, das an der Wand neben der Tür hängt. Ein Golden Retriever.
Mr Gordons Büro hat auch einen Kamin und wunderschöne Stuckverzierungen. In den Mauernischen an der Kaminwand sind Regalbretter befestigt, auf denen fein säuberlich mit Nachnamen beschriftete Kisten stehen. Eine von ihnen, auf die in wunderschöner Handschrift HAMILTON, A F & M G geschrieben wurde, steht zwischen uns auf dem Schreibtisch. Über dem Kaminsims hängt noch ein Gemälde, Berge und Moorland, und zwischen den Fenstern ein Aquarell, ich glaube, darauf ist der Marktplatz dargestellt. Irgendwie amüsant, ein Bild aufzuhängen, auf dem mehr oder weniger die Aussicht aus dem Fenster abgebildet ist.
»Und, waren Sie schon mal in Baldochrie?« Er lehnt sich im Stuhl zurück.
»Nein, noch nie.« Ich gestehe ihm, dass mich ein schlechtes Gewissen plagt, weil ich nie zu Besuch und auch nicht auf der Beerdigung war. Dann bitte ich ihn, mir zu erzählen, wie Onkel Andrew war, und mache mir nach und nach ein Bild von ihm: unabhängig, ein Gärtner und Buchliebhaber, immer schick angezogen und laut Alastair Gordon witzig und sehr scharfsinnig.
»Er hat mich oft zum Lachen gebracht«, sagt er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich vermisse ihn.«
Gespannt biege ich hinter Alastairs BMW von der Straße auf die breite Kieseinfahrt ab, die sich neben der West Lodge entlangschlängelt. Ich kann es kaum erwarten, das Haus gleich vor mir zu sehen, auch wenn ich es schon oft auf Google Street View angeschaut habe. Es ist ein gepflegtes, einstöckiges Gebäude aus grauem Stein mit einem Schieferdach. Der Rasen vor dem Haus wird allmählich zottelig, im Vorgarten wachsen Tulpen und Primeln und an den Wänden der Lodge irgendeine Art Kletterpflanze, noch sehr nackt, also möglicherweise Blauregen, der sich um die leuchtend rote Eingangstür windet. Xanthe und ich steigen aus dem Auto und laufen knirschend über den Kies zu der Stelle, an der Alastair auf uns wartet. Es hat aufgehört zu regnen, und im Süden wird es allmählich heller. Vom Dachvorsprung tropft etwas Wasser. Alastair reicht mir zwei Schlüsselsätze und deutet dann auf das Tor und die Straße, die in Richtung des Hauses führt, für welches das Pförtnerhaus West Lodge ursprünglich gebaut wurde. Das habe ich mir auch auf Street View angesehen, ein großes und imposantes georgianisches Anwesen, das vielleicht ein Hotel oder eine Schule sein könnte. Allerdings habe ich kein Schild gesehen und auch keinen Parkplatz voller Autos, also vielleicht auch nicht. Andererseits wohnt heutzutage sicher niemand mehr in so einem großen Haus.
»Das ist die Zufahrtsstraße«, sagt er. »Sie ist privat – sofern man in Schottland von privatem Land sprechen kann –, von der Hauptstraße aus durch das Tor bis hierher. Aber Teil des Vertrags ist, dass Sie und Ihre Gäste, Geschäftsleute und so weiter freie Zufahrt haben. Das ist bloß eine Formalität.«
Das kunstvolle, schmiedeeiserne Tor ist mindestens doppelt so groß wie ich. Ich glaube nicht, dass es lange geschlossen war.
»Ihr Onkel hat dem Großvater des jetzigen Gutsherrn das Haus in den späten Fünfzigern abgekauft. Lord Hollinshaw wäre also Ihr nächster Nachbar. Das Haus – Hollinshaw House – befindet sich etwa anderthalb Kilometer weiter die Straße hoch.«
»Ein echter Lord?«, fragt Xanthe ungläubig.
Alastair nickt. »Ich fürchte ja. Einige der zum Gut gehörenden Gebäude wurden verkauft, nicht nur die West Lodge. Die Nachkriegszeit war hart für die Oberschicht«, erklärt er mit einem Hauch Sarkasmus. »Sie mussten einiges verkaufen, um sich die Instandhaltung des Hauses leisten zu können, ein unnötig großes Gebäude. Der zehnte Lord Hollinshaw hat fast alle zugehörigen Gebäude verkauft. Die East Lodge, diese hier, einige Cottages, die damals für Gärtner und Wildhüter errichtet wurden, und den zum Gut gehörigen Bauernhof. Und dann hat sein Sohn alles an Land verkauft, was nicht direkt ans Haus angegliedert war, sodass sie nur noch den Park hatten.«
Ich trete zurück und sehe zum Dach der Lodge hoch. Von hier aus sieht es gut aus. Mein Dad hat mir dazu geraten, ein Gutachten erstellen zu lassen, so wie ich es tun würde, wenn ich es kaufen würde. Wahrscheinlich hat er recht.
»Wie schrecklich für sie«, sage ich.
»Ja. Jedenfalls kauft Charles alles zurück, seit er Mitte der Neunziger den Familiensitz übernommen hat. Die West Lodge ist das einzige Gutsgebäude, das noch in fremder Hand ist. Ich kann Ihnen versichern, sollten Sie sich zum Verkauf entscheiden, wird er es Ihnen mit Kusshand abnehmen.«
»Ach, wirklich?«
Alastair ist an die Haustür getreten. Er sieht über die Schulter zu mir zurück. »Er ist sehr erpicht darauf, alle Gebäude wiederzubekommen. Die meisten vermietet er als Ferienwohnungen. Seine erste Frau war Innenarchitektin, sie haben sie sehr stilvoll hergerichtet. Die East Lodge und die Cottages wurden nach der Renovierung sogar in Zeitschriften abgedruckt. Und der neueste Artikel war erst letztes Jahr im Telegraph Magazine. Andrew hat Lord Hollinshaw standgehalten, aber davon sollten Sie sich in Ihrer Entscheidung nicht beeinflussen lassen.«
»Wie viele Frauen hatte er denn?«, fragt Xanthe, die wie immer die Details wissen möchte.
»Ach, nur zwei. Ich meine, er war zweimal verheiratet. Und zweimal geschieden.«
»Wirklich?« Xanthe sieht mich an und hebt vielsagend die Augenbraue, und ich unterdrücke ein Lachen. Sie hat entschieden, dass es »schrecklich öde« ist, zwanzig Jahre lang mit derselben Person zusammen zu sein, und dass ich noch mal »mit viel Glück davongekommen« bin, was die langweilige Langzeitmonogamie betrifft. Das ist natürlich alles ein wohlüberlegter Scherz, damit ich mich besser fühle. Leider funktioniert es nicht, aber ich weiß ihre Mühe zu schätzen.
Ich räuspere mich. »Er wollte nicht verkaufen? Oder nur nicht an Lord Wie-heißt-er-noch-gleich?«
»Hollinshaw. Sie haben sich tatsächlich nicht gut verstanden. Eigentlich ironisch, weil … Nun, es ist eine lange Geschichte, und es steht mir eigentlich nicht zu, sie zu erzählen.«
»Ach, kommen Sie schon«, bittet Xanthe. »Sie können uns doch nicht so in der Luft hängen lassen.«
Er schließt die Haustür mit einem dritten Schlüsselsatz auf, den er danach ebenfalls an mich weiterreicht, und führt uns hinein. Wir betreten einen langen Flur mit Steinplattenboden und mehreren weißen Türen auf beiden Seiten. Es riecht leicht muffig, aber nicht feucht. Mein Blick fällt auf eine schnörkelige antike Flurgarderobe mit einem Spiegel und Haken für Mäntel, in der Gehstöcke stehen und an deren mittlerer Schublade ein bunter Golfschirm lehnt. Ein Paar Gummistiefel, eine wasserdichte Jacke. Diese Gegenstände, Zeugnisse des Lebens, das hier gelebt wurde, stimmen mich leicht melancholisch. Ich erschaudere und wünsche mir erneut, ich hätte Onkel Andrew schon vor seinem Tod besucht.
Ich öffne die erste Tür links und erhasche einen Blick auf ein Wohnzimmer mit grünem Teppich und jeder Menge Möbeln. Wir bleiben aber im Flur stehen, während Alastair fortfährt: »Ihr Onkel hat sich überhaupt nicht mit Charles’ Vater James verstanden. Ich weiß nicht genau, was der Grund dafür war, um ehrlich zu sein. Jedenfalls, als Charles … Es ist etwas kompliziert. Charles ist der jüngere Bruder, verstehen Sie, Edward hat auf den Titel verzichtet.«
»Wow«, kommentiere ich. »Wie Tony Benn?«
»Ich wette, Tony Benn hat ihn inspiriert, ja. Also, Edward ist auch nicht gut mit seinem Vater ausgekommen. Er und Ihr Onkel waren übrigens gut befreundet. Wegen der Bücher.«
»Oh, ja, die Bücher. Können wir uns die Bücher ansehen?«
»Hier entlang.« Er führt uns durch den Flur und öffnet die dritte Tür auf der rechten Seite. Das Zimmer ist mit einer schweren Gardine verdunkelt. Alastair bleibt auf der Türschwelle stehen und spricht weiter. »Ja – Edward ist Händler. Buchhändler, meine ich. Er führt eine Buchhandlung im Ort, vielleicht haben Sie sie gesehen? Sie liegt an dem Platz gegenüber von meinem Büro. Sein Vater fand sie ganz furchtbar. Als James starb, nun ja, wie gesagt, da verzichtete Edward auf den Titel, der daraufhin an Charles ging. Charles hat einen größeren Geschäftssinn, könnte man sagen. Er hat in Edinburgh und Glasgow viel Geld als Immobilienentwickler gemacht. Er war fest entschlossen, wenigstens die Gutsgebäude zurückzukaufen, auch wenn das Ackerland noch einmal eine andere Sache ist. Den zum Anwesen gehörenden Hof hat er vor etwa fünf Jahren wiedererworben, aber es gibt noch viel mehr Land, das in den Fünfzigern und Sechzigern stückchenweise von verschiedenen Leuten gekauft wurde. Und wie gesagt, er hat die East Lodge und die unteren Farm-Cottages und all das gekauft.« Alastair trommelt mit den Fingern gegen die Tür und wechselt dann das Thema. »Das hier sind jedenfalls die Bücher. Edward hat den Gesamtwert Ende … nicht letzten, sondern vorletzten Jahres für Andrew geschätzt. Wahrscheinlich hat sich nicht viel daran geändert, aber vielleicht bitten Sie ihn trotzdem besser, sie sich noch mal für Sie anzusehen.«
Er schaltet das Licht an.
»Gütiger Himmel«, stößt Xanthe aus.
Das Zimmer ist von Regalen gesäumt, und diese sind bis auf den letzten Zentimeter mit Büchern gefüllt. Die meisten sind ledergebunden und haben einen Goldschnitt. Wie eine Miniatur-Schlossbibliothek. Ich entdecke Büsten von Milton, Shakespeare und Newton. Ein sehr schwacher muffiger Geruch hängt in der Luft, überlagert von einer Ledernote.
»Scheiße«, sage ich, und dann entschuldige ich mich.
»Ja, also das hier –«, er macht eine vage Geste, »sind alles Erstausgaben, glaube ich, Scott und so weiter, und es gibt eine ziemlich große Burns-Sammlung. Ich weiß zwar nicht, ob Sie sie behalten wollen, aber sie sind sehr viel Geld wert. Edward hat natürlich schon sein Interesse bekundet …«
»Also könnte ich Charles das Haus verkaufen und Edward die Bücher?«
»Wenn Sie möchten, dann schon, denke ich.«
»Praktisch.«
»Ja. Oder Sie geben die Bücher an jemand anderen. Vielleicht sind die Burns-Leute interessiert. Wie auch immer, Sie sollten sich wahrscheinlich mit Edward darüber unterhalten. Obwohl ich Sie lieber vorwarne, er ist nicht sehr umgänglich. Meine Verlobte«, Xanthe verzieht enttäuscht das Gesicht, und ich hoffe, Alastair bemerkt es nicht, »mag Charles lieber, weil sie findet, dass er wenigstens charmant ist.« Er lacht. »Aber vielleicht bin ich unfair.«
Es ist offensichtlich, dass er sich überhaupt nicht für unfair hält.
»Ja, und wie gesagt, sie verstehen sich nicht. Habe ich das gesagt? Die beiden können sich nicht ausstehen.«
»Wie in einer Soap«, kommentiert Xanthe erfreut.