Norbert Kron
Ein Zuhause in der Fremde
Was wir in Deutschland von der besten Schule für Einwanderer lernen können
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
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Umschlagmotive: Mädchen © Gagliardilmages/Shutterstock.com; Tafel © ivosar/Shutterstock.com; Globus © Chinnapong/Shutterstock.com
Alle Fotos im Inhalt stammen von Norbert Kron, © Norbert Kron.
Ausnahmen: Die Fotos »Das Leichtathletik-Team der Bialik-Rogozin-Schule in China« und »Die Schüler der Bialik-Rogozin-Schule in Auschwitz« wurden freundlicherweise von der Bialik-Rogozin-Schule, © Bialik-Rogozin-Schule, das Foto »Dr. Kurt Fleischer 1916 im Feldlazarett« freundlicherweise von Ram Orion, © Ram Orion, das Foto »Ruth Spiegel mit Familie Demçe am Tag der Ausreise« freundlicherweise von Ruth Spiegel, © Ruth Spiegel, zur Verfügung gestellt. Das Foto »Hella Felenbaum-Weiss« findet sich auf https://www.sobiborinterviews.nl/en/interviewees/2-profielen/16-hella-weiss, © Rechteinhaber.
ISBN 978-3-641-20868-4
V001
www.gtvh.de
INHALT
EINLEITUNG –
Ein Leuchtturm der Integration
1. EINE GESCHICHTE VON FLUCHT UND HOFFNUNG –
Berhe Gonetse und seine Lehrerin Devora Schlesinger
2. SCHULE DER MENSCHLICHKEIT –
Eli Nechama und die fünf Leitlinien seines Integrationstheaters
3. SELBSTFINDUNG ZWISCHEN KRIEG UND FRIEDEN –
Johnson Blay und die Einlösung der UNESCO-Werte
4. EINE WELT IM WANDEL –
Ram Orion und die abgründige Schönheit von Süd-Tel Aviv
5. DIE SCHÖNEN GESICHTER VON ISRAEL –
Elazar Friedman und die Wunder, die ehrenamtliche Helfer bewirken
6. DRAMEN ZWISCHEN ASYL UND AUSWEISUNG –
Megi Demçe und die Frage: Wer darf Deutscher sein?
7. REISE IN DIE ISRAELISCHE SEELE –
Yael Fisher Avitan und die universelle Lektion der Geschichte
8. DAS ENDE DES SCHULDGEFÜHLS –
Mohamad Loai und was die Deutschen von den Einwanderern lernen können
9. AUFBRUCH IN DIE UNABHÄNGIGKEIT –
Michelle Mombi und der Kampf um die freie Gesellschaft
SCHLUSS –
Zwölf Thesen, wie junge Zuwanderer in Deutschland besser integriert werden
Ein ganz persönliches Dankeswort
Anmerkungen
Bildteil
EINLEITUNG
Ein Leuchtturm der Integration
Sie bemalen sich die Gesichter. Tunken die Finger in cremige Farben und streichen sich dicke Linien auf die Wangen. Kriegsbemalungen entstehen, Masken, die an expressionistisches Theater erinnern, Hauttöne, mit denen sie sich ein anderes Gesicht verleihen.
Alex Rimbaris, der griechisch-indischer Abstammung ist, hat sich dunkelblaue Linien über die Backen gezogen, die ihn wie einen Footballspieler aussehen lassen. »Dunkelblau ist fröhlich und traurig zugleich. Das mag ich«, sagt er. Und der hochaufgeschossene Junge neben ihm, der aus dem Südsudan stammt, meint: »Ich male mein Gesicht schwarz-weiß.« Schon nach einem Tag hat sich eine erste Freundschaft zwischen den beiden Schülern herausgebildet. Warum? »Soni ist cool«, lächelt Alex, worauf der Dunkelhäutige – sehr cool – den Kopf schieflegt: »Wir sind die beiden Coolen in der Gruppe. Nur Tanzen muss er noch von mir lernen.«
Die Schüler der Essener UNESCO-Schule sind nach Tel Aviv gereist, um hier ihre neue Partnerschule zu besuchen, die berühmte Bialik-Rogozin-Schule, die als weltweites Vorbild für die Integration1 von Einwandererkindern gilt. Das interaktive Farbenspiel, das Kunstlehrer Adam Gilboa veranstaltet, baut sofort Brücken. Was man bei den zwanzig Jungen und Mädchen, die aus den unterschiedlichsten Ländern kommen, ohnehin nicht erkennen kann, wird durch die Bemalung der Gesichter zusätzlich akzentuiert: Man kann nicht unterscheiden, wer von der deutschen und wer von der israelischen Schule kommt. Die Schülerinnen und Schüler2, die ganz ähnliche Lebensschicksale haben, sind wie Geschwister, die sich zum ersten Mal begegnen und auf Anhieb perfekt verstehen.
Schüler der Bialik-Rogozin- und der UNESCO-Schule haben sich im Kunstunterricht die Gesichter bemalt.
Rabin Mariano, der philippinische Eltern hat und in Israel geboren wurde, staunt über die deutschen Gäste: »Ich hatte geglaubt, dass sie total ernst sind, nicht so lustig. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie sind wie wir.« Auch Steven Lieu, der als Sohn chinesischer Eltern in Deutschland aufgewachsen ist, ist verblüfft: »Ich war anfangs ganz schön verwirrt, weil sie die ganze Zeit tanzen.« Manuel Muflizović, halb bosnischer, halb deutsch-polnisch-mongolischer Abstammung, nickt: »Die sind sehr nett, sehr offen.« Und Simi Shresta, die mit nepalesischen Wurzeln in Tel Aviv lebt: »Wir sind schon jetzt eine Familie.«
Eine der deutschen Schülerinnen zieht bereits die ersten Vergleiche. Rumeysa Koc hat türkische Eltern, ist in Essen aufgewachsen und wollte unbedingt an der Israel-Reise teilnehmen.
»Wenn man die Schule hier mit unserer Schule vergleicht, ist klar: Da ist viel, viel mehr los. Die Leute sind viel zuvorkommender. Hier sagen die Leute einfach hallo. Da ist auch jeder mit jedem befreundet. Man merkt ihnen an, dass sie hier wie eine Familie sind. Deren Zusammenhalt wirkt viel selbstverständlicher als unser Zusammenhalt. Bei uns herrscht mehr Schulatmosphäre, bei denen wirkt es mehr wie Freizeit. Bei uns dominiert die Bildung mehr, bei denen mehr der Mensch selbst. Aber es ist hier nicht so, dass sie weniger Bildung haben.«
Die junge Frau hat auch schon eine Vorstellung, was man in Deutschland besser machen könnte: »Lernen könnte man, dass Gruppierungen mit einem bestimmten Migrationshintergrund nicht so stark unter sich zusammen sind. Hier sind alle zusammen. Bei uns sieht man das nicht so, da ist jeder mit seiner Gruppe.«
Willkommen in Tel Aviv
Es ist ein kleines Wunder, was sich an diesem Tag in Israel ereignet: Die Schüler der UNESCO-Schule in Essen sind nach langer, nicht einfacher Planung an ihrer Partnerschule in Tel Aviv eingetroffen, von der sie so viel gehört haben. Genau wie sie haben die Schüler der Bialik-Rogozin-Schule allesamt Fluchtschicksale und Migrationsgeschichten hinter sich, waren vom Tode bedroht oder sind als Kinder von Einwanderern in einem fremden Land auf die Welt gekommen. Es sind Kinder aus Darfur und Jordanien, aus Eritrea und der Ukraine, von den Philippinen und aus vielen anderen Ländern. Sie alle haben großes Glück gehabt. Nicht nur weil sie sich vor Krieg, Verfolgung und Hungersnot in Sicherheit bringen konnten, sondern weil sie hier, an diesem außergewöhnlichen Ort, ein neues Zuhause gefunden haben.
Die Bialik-Rogozin-Schule, die im brodelnden Süden von Tel Aviv liegt, ist ein Leuchtturm, der im aufgewühlten Meer der Migration in die ganze Welt ausstrahlt. Es ist nur ein zehnminütiger Fußweg vom eleganten Rothschild-Boulevard mit seinen Banken und Restaurants hierher, doch das Viertel ist von Armut, Obdachlosigkeit, Drogenhandel und Prostitution geprägt. Es ist ein schwieriges, sich wandelndes Umfeld, das für die Kinder, die hier zur Schule gehen, allerlei Risiken bereithält. Auch wenn der flache 70er-Jahre-Bau zwischen den heruntergekommenen Häusern nicht sonderlich ansehnlich ist, findet sich in seinem Inneren ein wahres Paradies: ein riesiger Spiel- und Bildungsplatz für zugewanderte Kinder von der ersten bis zur zwölften Klassenstufe. 1.300 Schüler aus über fünfzig Nationen kommen hierher, und wer die Schule betritt, will unbedingt hinter das Geheimnis der außergewöhnlichen Atmosphäre kommen, die er sofort empfindet.
Tatsächlich ist der Ruf der Schule mittlerweile um die ganze Welt gegangen. (Ausgesprochen wird ihr Doppelname übrigens so: Biàlik-Rogòsin. Wer Genaueres über die beiden Männer wissen will, die ihre Namensgeber sind, findet alles hierzu im Anhang in einer Fußnote3.) Die Leitlinien und Methoden, die die Lehrer hier für ihre Schüler entwickelt haben, gelten als unübertroffenes Vorbild für alle, die es mit Kindern aus fremden Ländern gut meinen. Aufsehen erregte schon vor einigen Jahren ein bewegender Dokumentarfilm, der über die Schule gedreht wurde. Strangers No More erzählte so eindringlich von der erfolgreichen Aufnahme der Zuwandererkinder, dass er 2011 in Hollywood den Oscar für die beste Kurzfilmdokumentation gewann4. In ihm kann man sehen, wie die Schüler auf der Basis einer neuen gemeinsamen Sprache eine Heimat finden und die Traumata, die sie von ihren schwierigen Migrationsgeschichten nach Flucht und Vertreibung mitbringen, überwinden.
Einige Jahre sind seither vergangen, und die Situation hat sich auf der ganzen Welt verschärft. Mit Hunderttausenden von Einwanderungswilligen5, die aus Krisengebieten kommen, stellt die Flüchtlingsbewegung heute auch die deutsche Gesellschaft vor riesige Herausforderungen. Das betrifft gerade den Zuzug junger Menschen, auf die manche Wirtschaftsexperten ihre Hoffnung bei der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland setzen, um der wachsenden Überalterung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Doch wie beheimatet man Zuwandererkinder aus ganz anderen Kulturkreisen? Wie können Schulen den Grundstein für eine gelungene Integration legen? Wie schafft man es, dass die jungen Menschen sich mit unseren Werten identifizieren, damit sie die Sozialsysteme erfolgreich stärken und nicht den sozialen Frieden im Land stören?
Israel ist ein sehr gastfreundliches Land, in dem Reisende mit großer Offenheit und Wärme empfangen werden. Die Herzlichkeit der Menschen ist in der jüdischen Kultur verankert. Gleichzeitig ist das politische Umfeld, das nichtjüdische Einwanderer vorfinden, genauso kompliziert wie das in Europa. In dieser Situation hat in den letzten zehn Jahren keine andere Schule so gute Antworten auf die vielfältigen Integrationsfragen gefunden wie die Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv.
Genau deshalb hat die UNESCO-Schule in Essen eine Schulpartnerschaft mit der Tel Aviver Schule aufgebaut. Auch sie ist eine Ausnahmeschule, eine Schule, die in Deutschland eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Integration innehat. Trotzdem glauben die Lehrer, dass auch sie noch eine Menge von der Bialik-Rogozin-Schule lernen können.
Zwei der Verantwortlichen, die den Schüleraustausch zwischen beiden Schulen mit auf den Weg gebracht haben, haben sich ebenfalls beim interaktiven Farbenspiel von Kunstlehrer Adam Gilboa beteiligt. Klaus Kirstein von der UNESCO-Schule hat sich für eine gelb-rote Indianerbemalung im Gesicht entschieden und betont die Verwandtschaft der Schüler: »Wenn man in die Augen der Tel Aviver Kinder blickt, sieht man, dass sie sich an ihrer Schule wohlfühlen, dass die Schule ihnen ein Stück Zuhause gibt. Das ist etwas, was uns unsere Schüler auch oft als Rückmeldung geben: dass sie ein Stück Gemeinschaft erleben, auch ein Stück Frieden bei ihrer Vielfalt.« Und sein Gegenüber, Eli Nechama, der mit den blau-beigen Kreisen auf der Wange wie sein israelischer Blutsbruder wirkt, grinst: »Es ist, als ob wir unseren Zwillinggeschwistern begegnet wären. Ich kann überhaupt keinen Unterschied zwischen ›unseren‹ und ›den anderen‹ Schülern spüren.«
Der Mann mit dem kurz rasierten Haar und dem Dreitagebart, der immer ein Lachen im braungebrannten Gesicht trägt, ist der bekannte Schulleiter von Bialik-Rogozin, der mit seiner unerschöpflichen Energie einen unkonventionellen pädagogischen Stil geprägt hat und deshalb zu einem der hundert einflussreichsten Tel Aviver gewählt wurde6. Es ist ein Schulstil, von dem nicht nur die UNESCO-Lehrer, sondern auch die Essener Schüler schon Fabelhaftes gehört haben. Eli Nechama ist sich sicher, dass sich die Schulen in diesen aufgewühlten Tagen, in denen viele vor den Flüchtlingsbewegungen kapitulieren, gegenseitig viel zu geben haben: »Wir stehen vor denselben Herausforderungen und können viele Erfahrungen teilen.«
Ein Geschichtenbuch zur aufgeladenen Debatte
Um welche Herausforderungen handelt es sich? Welche Erfahrungen haben Schüler und Lehrer auf ihrem Weg gemacht?
Dieses Buch beruht auf intensiven persönlichen Begegnungen und vielen stundenlangen Interviews. Es ist kein theoretisches und kein akademisches Buch, sondern ein Geschichtenbuch, das sich mit dem Erfahrungsschatz der Schüler und Lehrer in eine erhitzte Diskussion einbringen will. Das Buch beruht auf der Überzeugung, dass sich die Fragen, die die aufgeladene Debatte über Migration und Integration beherrschen, nicht abstrakt beantworten lassen, sondern nur indem man Menschen erzählen lässt, die auf besondere Weise in das Thema involviert sind.
Wie viel Einwanderung verkraftet eine Gesellschaft? Bedeutet Integration Assimilation? Müssen Einwanderer die Identität des Landes annehmen oder zeichnet sich eine offene Gesellschaft gerade durch ihr multikulturelles Klima aus? Wie sehr sollen Zuwanderer ihre tradierten Wertvorstellungen bewahren? Wie weit muss die Gesellschaft in die Erziehung, die die zugewanderten Eltern ihren Kindern geben, mit hineinreden?
In Deutschland hat sich die Debatte seit dem »Wir schaffen das« von Angela Merkel und durch den Aufschwung der rechten Parteien sehr verschärft. Dabei schwingt in vielerlei Hinsicht die deutsche Geschichte mit und spitzt die Fragestellungen zu. Dürfen wir vor dem Hintergrund dieser Geschichte Flüchtlinge abweisen? Muss es Obergrenzen geben bei Zuwanderern, die aus Kulturen stammen, die ein kritisches Verhältnis zu demokratischen Grundeinstellungen und zu Israel haben? Auf welche Weise müssen sich Zuwanderer mit dem Holocaust auseinandersetzen? Bedarf es, um die hierzulande geltenden Wertestandards durchzusetzen, schärferer Gesetze und stärkerer Polizeipräsenz? Worin besteht »das Deutsche« in diesem Land: in den Werten des Grundgesetzes oder in einer Leitkultur mit bestimmten Tugenden?
Schulen kommt bei diesen Fragen eine besondere Verantwortung zu. Eine Statistik besagt, dass mehr als ein Drittel derer, die 2016 in Deutschland Asyl beantragt haben, unter 19 Jahre alt sind. Fast zwei Drittel von ihnen sind männlich7. Sie alle müssen, wenn sie hier bleiben dürfen, in das Schulsystem eingegliedert werden.
Wie dies der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv gelingt, wie sie Kindern ein Zuhause und eine Zukunft gibt – davon erzählt dieses Buch. Es ist ein Porträt der Menschen, die die Schule zu dem machen, was sie ist. Zwischen die sechs Kapitel, die Geschichten aus Tel Aviv erzählen, sind drei Kapitel über die UNESCO-Schule in Essen eingebunden. Auch sie liegt, südöstlich des Essener Hauptbahnhofs, in einem von vielen Zuwanderern geprägten Umfeld, das in vielerlei Hinsicht für die soziale Struktur des Ruhrgebiets und ähnlicher Ballungsräume deutscher Großstädte charakteristisch ist. Genau wie die Bialik-Rogozin-Schule haben wir die Partnerschule vor dem Schüleraustausch besucht, um dort intensiv den Erzählungen der Schüler und Lehrer zuzuhören.
Verblüffend: So wie sich viele der Einwandererkinder in Israel und in Deutschland in ihrem Aussehen gleichen, gleichen sich auch ihre Lebensgeschichten. Viele davon sind Erfolgs- und Glücksgeschichten, die die Schulen den hässlichen und widrigen Umständen der Weltlage abgekämpft haben. Es sind erschütternde und anrührende Geschichten, Geschichten von Flucht und Hoffnung, manchmal auch von Finsternis und Liebe. Es sind diese Geschichten, die wir in diesen Tagen brauchen, um zu verstehen, dass die Entwicklungen, die uns alle überfordern, keine abstrakten Massenereignisse sind, sondern dass es hier um Einzelschicksale geht, deren Herausforderung man nur mit individueller Menschlichkeit begegnen kann.
Zwölf Thesen
Aus den Geschichten lassen sich eine Reihe anschaulicher Schlüsse ableiten, die die aufgeheizte Diskussion mit klaren Argumenten bereichern können. Die zwölf Thesen, die im Schlusskapitel dieses Buches aufgestellt werden, erheben den Anspruch, all denen, die mit der Integrationsarbeit junger Menschen befasst sind, entscheidende neue Anregungen zu geben. Sie stehen in engem Zusammenhang mit den Leitlinien, die Eli Nechama für seine Bialik-Rogozin-Schule aufgestellt hat, beziehen sich aber konkret auf die Situation in Deutschland, die sich aufgrund der Geschichte des Landes von der in Israel unterscheidet.
Denn natürlich: Lässt sich die Situation in beiden Ländern überhaupt vergleichen? Macht es nicht einen fundamentalen Unterschied, ob Flüchtlinge in einem Land Zuflucht suchen, dessen Volk jahrhundertelang Verfolgung erlitten hat, oder ob Zuwanderer sich auf dem Boden niederlassen wollen, von dem die Shoa ihren Ausgang nahm?
Eine Grundthese dieses Buches lautet, dass das Gegenteil der Fall ist, dass gerade der Vergleich beider Länder, die durch die gegensätzliche Vorgeschichte wie ungleiche Geschwister aneinander geschmiedet sind, uns auf neue Weise die Augen öffnen kann. Gerade der Blick nach Israel ist für uns in Deutschland ungemein erhellend. Weil auch dort eine intensive Integrationsdebatte geführt wird, schafft dieser Blick für uns einen Verfremdungseffekt, der uns das Verständnis der eigenen Situation in Deutschland erleichtert.
Wer an die Schule von Eli Nechama kommt, entdeckt eine kreative und unkonventionelle, vielfältige und menschlich engagierte Form der Integration, wie sie nur im nonkonformistischen Tel Aviv vor dem Erfahrungshintergrund der jüdischen Geschichte möglich ist. Dazu gehört vor allem auch der Einsatz unzähliger ehrenamtlicher Helfer. Auch in Deutschland engagieren sich Zigtausende von Freiwilligen8. Aber vom Erfindungsreichtum, den die Bialik-Rogozin-Schule an den Tag legt, können sich alle, die nicht tatenlos zusehen wollen, noch etwas abschauen. Hören wir ihre Geschichten und lassen wir uns von den Schlüssen, die sich aus ihnen ziehen lassen, anstecken.
Schulleben an der Bialik-Rogozin-Schule