Anthoni und ihre Mutter ziehen mit einem Bienenmobil quer durchs Land, um Honigkosmetik zu verkaufen. Das Problem dabei ist: Wie soll man da jemals eine beste Freundin finden? Doch dann quartieren sich die beiden in einem alten Hotelschiff am sagenumwobenen Thunder Lake ein, einem Ferienresort, »wo wahre Freunde sich begegnen« – wie der Werbeprospekt großspurig verheißt. Nur: Anthoni und ihre Mutter sind die einzigen Gäste, der See ist unheimlich und die alte Hotelbesitzerin total verschroben. Und dann ist da noch dieser komische Junge, der Anthoni auf Schritt und Tritt verfolgt …
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Vita
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Für Kevin,
der mich zum Lachen bringt,
bis mir der Bauch wehtut,
und immer zur Stelle ist,
wenn ich ihn brauche.
An meine erste Fahrt im Bienenmobil erinnere ich mich gut. Ich war sieben und das Bienenmobil das schönste Auto, das ich je gesehen hatte: ein knallgelbes Hybridfahrzeug mit schmalen schwarzen Streifen an der Seite und flauschigen Wackelantennen. Am Rückspiegel hing ein Lufterfrischer in Form eines Honigtopfes, und mit dem ersten Hauch des süßlichen Dufts wurde mir klar, dass alles, was meine Mutter mir je erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Wenn man sich ein Ziel setzt, hart arbeitet und sich an den Plan hält, dann kann man ein Auto gewinnen, das aussieht wie eine Biene.
In dem Sommer, als Mom und ich das Bienenmobil gewannen, durften wir mit dem Flugzeug von Chicago bis nach St. Louis zur Mitarbeiterversammlung von »BienenBeauty«« fliegen. Die Preisverleihung fand in einem Hotelsaal statt, an dessen Decke sich goldene Blumen rankten. Mom und ich trugen die gleichen gelben Kleider und warteten hinter der Bühne, während die Firmenchefin eine Lobrede auf Moms Durchhaltevermögen hielt, das ihr geholfen habe, mehr honigbasierte Kosmetikprodukte zu verkaufen als irgendwer sonst im Mittleren Westen. Im Zuschauerraum erspähte ich fünfhundert Menschen, die sich Luft zufächelten, und bekam ganz weiche Knie. »Entscheidend ist nicht, ob du dich mutig fühlst«, flüsterte Mom, »entscheidend ist, dass du mutig handelst.«
Sie nahm mich an die Hand und gemeinsam gingen wir auf die Bühne, langsam, einen Fuß vor den anderen. Dabei winkten wir ins Publikum, so, wie wir es geübt hatten. Moms Hand war feucht und zitterte, aber ihr Haar glänzte im Scheinwerferlicht wie das eines Superstars.
Als wir das Rednerpult erreichten, hielt die Firmenchefin einen klimpernden Schlüsselbund in die Höhe.
»Junge Dame«, wandte sie sich an mich, »deine Mutter wurde zur Oberflugbiene befördert. Weißt du, was das bedeutet?«
Ich brachte keinen Ton heraus, aber das machte nichts, denn schon riefen alle fünfhundert Zuschauer wie aus einem Mund: »EIN … NEUES … AUTO!«
Da gab es für Mom und mich kein Halten mehr. Wir fingen an zu jubeln und hüpften vor Freude auf und ab. Der Tag war einfach perfekt.
Nach der Beförderung saßen Mom und ich aber nicht etwa herum und sonnten uns in unserem Ruhm. Wir machten uns direkt an einen neuen Fünfjahresplan und füllten Moms Whiteboard mit Verkaufszielen, Strategien und Terminen. Wir erstellten eine Liste mit den nächsten Stationen, zu denen wir ausschwärmen wollten, und ich markierte sie mit Reißzwecken auf der Landkarte: Indianapolis, Cleveland, Grand Rapids, Milwaukee. Die Orte klangen fremdartig und aufregend und versprachen lauter neue Freunde und Abenteuer.
Als der Plan stand, durfte ich auf einen Stuhl steigen und das Wort »Oberflugbiene« wegwischen. Ganz langsam diktierte Mom mir unser neues Ziel, Buchstabe für Buchstabe, sodass ich es in meiner Krakelschrift aufschreiben konnte: »BIENENKÖNIGIN.« Das Wort knisterte förmlich vor Verheißung.
Mom und ich wussten, dass man ein Ziel am besten erreicht, wenn einen etwas besonders anspornt. Eine Belohnung, die man so sehr haben möchte, dass man sich dafür richtig ins Zeug legt. Die Firma BienenBeauty belohnte ihre allerfleißigsten Mitarbeiterinnen mit einer diamantbesetzten Honigbiene mit goldenen Flügeln. Sie strahlte und funkelte so sehr, dass auf der Mitarbeiterversammlung in St. Louis eine Dame im roten Hosenanzug in Tränen ausgebrochen war, als man sie ihr ans Revers gesteckt hatte.
Doch Mom klebte kein Bild von der Diamantbiene neben ihren Fünfjahresplan, sondern eine leicht vergilbte Postkarte. Darauf war inmitten einer Wiese voller Gänseblümchen ein weißes Gebäude in Form eines Ausflugsdampfers abgebildet. Es hatte einen schwarzen Schiffsschornstein und Bullaugenfenster, und im Hintergrund glitzerte ein blauer See.
Auf dem Deck stand ein kleines Mädchen mit Zöpfen. Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und winkte lächelnd in die Kamera. Über ihrem Kopf verkündeten bunte Buchstaben:
Das spektakuläre Showschiff-Resort: Wo wahre Freunde sich begegnen.
Das gefiel mir. Der Slogan klang altmodisch, aber magisch. Ein bisschen wie aus einem Märchen. Ich bekam eine Gänsehaut.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Das soll uns dieses Mal anspornen«, antwortete Mom. »Ich habe die Hälfte angezahlt. Damit wir unser Ziel nicht aus den Augen verlieren.«
Ich nickte. Eine Investition in Motivation ist eine Investition in Erfolg.
»Werden wir dort wohnen?« Das klang nach der besten Idee aller Zeiten, doch Mom schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Aber in fünf Jahren, sobald ich zur Bienenkönigin befördert werde, verbringen wir dort die Sommerferien. Genau wie früher, als ich klein war.«
»Auf dem Schiff?«
»Auf dem Showschiff.«
Damals gab es eine Menge Dinge, die ich nicht wusste.
Ich wusste nicht, dass die Bienenantennen mit der Zeit ihre Flauschigkeit verlieren, oder dass der Duft des Orangen-Honig-Lufterfrischers verfliegen würde. Ich wusste nicht, dass man auch mit Autos und Fünfjahresplänen manchmal vom Weg abkommen konnte. Oder dass es irgendwann kein aufregendes Abenteuer mehr wäre, alle paar Monate in eine andere Stadt zu ziehen und die Neue an der Schule zu sein.
Aber mit meinen sieben Jahren war ich mir sicher, dass ich in diesem magischen Hotel-Schiff von der Postkarte wahre Freundschaft finden würde. Und mir wäre im Traum nicht eingefallen, dass das Umherfahren mit dem Bienenmobil je seinen Reiz verlieren könnte.
Mom schlug mit den Händen aufs Lenkrad. »Marshmallow-Sandwiches!«, rief sie. »Ich kann nicht glauben, dass ich die vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gegessen habe!«
Wir waren seit dreieinhalb Stunden unterwegs und Mom plauderte nonstop über das »Showschiff«, das Ferien-Resort für Familien in Eagle Waters. Dort hatte sie »den Sommer ihres Lebens« verbracht – sechs Jahre in Folge. Sie berichtete, wie ihre Wasserski-Truppe einmal einer Neuen einen Streich gespielt und ihren Badeanzug in die Gefriertruhe gesteckt hatte. Und wie ihre allerbeste Freundin Mary Pepper sich bei einer Geschichte am Lagerfeuer mal vor Angst in die Hose gemacht hatte.
»Habe ich dir erzählt, dass wir mal ein Stinktier in der Badewanne gefunden haben?«, fragte sie mich. »Ein waschechtes Stinktier! Ich habe so laut geschrien, dass irgendwer sogar die Feuerwehr gerufen hat.«
»Marshmallow-Sandwiches habe ich noch nie probiert«, sagte ich und blätterte in meinem Wolverine und die X-Men-Comic eine Seite weiter. Ich konnte nicht aufhören zu grinsen, seit meine Mom auf dem Parkplatz der Milwaukee-West-Schule aufgetaucht war, ihren Kopf zum Fenster herausgestreckt und aus vollem Hals gerufen hatte: »Auf zu neuen Abenteuern!« Die halbe Schule musste es gehört haben.
Ich war so glücklich gewesen, die fünfte Klasse endlich hinter mich gebracht zu haben, dass ich beim Einsteigen kaum Notiz von der Countrymusik nahm, die aus dem Autoradio schallte. Was mir aber auffiel, war die Rückbank des Bienenmobils, die bis zur Decke mit unseren Habseligkeiten vollgestopft war. Ich schlang die Arme um den Rucksack auf meinem Schoß und starrte Mom an. »Ziehen wir um?«, fragte ich. »Heute? Jetzt?«
Mom stupste mich vergnügt an, gab Gas und steuerte den Wagen vom Parkplatz. »Überraschung!«
Ich zuckte mit den Achseln. Wo auch immer wir hinfuhren – einsamer als in Milwaukee konnte es nicht werden. Ich war schon seit März hier, und trotzdem wusste kaum jemand, wer ich war. Sogar Mr Smith hatte den Blick bei der Anwesenheitskontrolle immer noch suchend über die Jungs schweifen lassen, wenn er »Anthoni Floss« aufgerufen hatte.
Ich versuchte, mich an die nächste Station auf unserer Liste zu erinnern. »Fahren wir nach Minneapolis?«, fragte ich. Ich hoffte, wir würden endlich in eine Wohnung mit einer Dusche ziehen, die nicht leckte. Und einen Vermieter haben, der nicht alle paar Tage vorbeikam, um mit meiner Mom über die Miete oder den Strom zu diskutieren.
»Nein.«
»Duluth?«
Mom versuchte, ein Pokerface aufzusetzen, aber ihre Mundwinkel zuckten. »Ich dachte eher an das Showschiff-Resort«, sagte sie so beiläufig, als handelte es sich dabei um eine stinknormale Stadt wie Akron in Ohio oder Grand Rapids in Michigan. »In etwa vier Stunden sollten wir da sein.«
Mir klappte der Unterkiefer herunter und Mom prustete los, als hätte es sie vorher schier umgebracht, sich so lange zusammenzureißen.
»Du hast es also geschafft?«, fragte ich. »Du wurdest zur Bienenkönigin befördert? Wie denn das?«
Ich war zwar nicht besonders pessimistisch, aber soweit ich wusste, waren wir dem Ziel »Bienenkönigin« in letzter Zeit kein Stückchen nähergekommen. Wir hatten wenig verkauft und monatelang keine neue Arbeitsbiene mehr unter Vertrag genommen. Mom war so verzweifelt gewesen, dass sie sich auf irgendwelche Konferenzen geschmuggelt und in den Pausen versucht hatte, neue Mitarbeiterinnen anzuheuern.
Ich musste grinsen. »Hat das was mit dieser Klimaanlagen-Konferenz zu tun?«
Mom atmete tief ein und lächelte. Ihre Augen sahen müde und geschwollen aus, obwohl sie letzten Monat zwei Töpfe der BienenBeauty-Augencreme (mit Gelée royale! – »für königliches Strahlen«) aufgebraucht hatte.
»Ich habe doch gesagt, das war eine gute Idee«, sagte sie. »In der Klimaanlagenbranche legt man genauso viel Wert auf sein Äußeres wie überall sonst auch.«
Mir lagen tausend Fragen auf der Zunge. Wie viele Arbeitsbienen hatte sie angeworben? Fünfzig? Uns hatten noch fünfundvierzig gefehlt, um den Status der Bienenkönigin zu erreichen. Was hatte die Chefin von BienenBeauty dazu gesagt? Würden sie uns wieder nach St. Louis einfliegen lassen, um Mom die Diamantbiene zu verleihen?
Bevor ich allerdings irgendeine Frage stellen konnte, spürte ich auf einmal eine Riesenerleichterung in mir und lachte einfach drauflos. Es war wie im Comic. Monatelang hatten wir in der Klemme gesessen – genau wie Wolverine, als er von einem Kerl, dem seine Metallklauen nichts anhaben konnten, in die Ecke gedrängt worden war und dem Tod geweiht schien. An dieser Stelle fragt man sich dann, ob das nun wirklich das Ende ist. Aber ich hätte es besser wissen müssen! Harte Arbeit zahlt sich eben immer aus. Und im aussichtslosesten Moment taucht Storm auf und schickt einen Tornado, um ihren Freund zu retten und den Feind über den Seitenrand zu pusten.
Die Klimaanlagen-Konferenz war unser Tornado.
»Wir können endlich wieder Pizza bestellen«, rief ich und lachte noch ein bisschen mehr, weil mir überhaupt nicht bewusst gewesen war, dass mir das gefehlt hatte. »Ich kann die Salami schon schmecken!«
Mom spielte an ihrem Ohrring herum und ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Ja, klar! Es ist nur … ich bin einfach überwältigt.«
»Das versteh ich«, sagte ich. »Du hast ja auch hart dafür gearbeitet.«
Mom drückte mein Knie. »WIR haben hart dafür gearbeitet.«
»Auch wieder wahr.« Ich vollführte einen Robotertanz auf meinem Sitz, um sie zum Lachen zu bringen. »Ich bin eben die beste Produktpröbchenpaketpackerin der Welt.«
»Yeah!« Mom drehte das Radio zu ohrenbetäubender Lautstärke auf. So wie wir es mochten.
Aus voller Kehle sang sie mit: »When the going gets tough, the tough get going!« Der Song passte zu uns: Wenn es hart auf hart kommt, legen wir erst richtig los. »Und jetzt fahren wir zum Showschiff«, rief Mom, »und verbringen dort den Sommer unseres Lebens!«
Die Internetseite des Showschiff-Resorts hatte sich, seit ich sie mit sieben zum ersten Mal angeschaut hatte, kein bisschen verändert. Viel gab es darauf nicht zu sehen – nur das Postkartenmotiv und vier Zeilen Text, die Mom und ich in- und auswendig kannten. Sobald wir an dem Schild Willkommen in Eagle Waters vorbeigefahren waren, setzten wir unsere besten Frühstücksradio-Stimmen auf und riefen abwechselnd:
»Das SPEKTAKULÄRE Showschiff-Resort: Wo wahre Freunde sich begegnen!«
»Genießen Sie die reine Kiefernluft – eine WOHLTAT für Ihre Lunge.«
»Das Resort Ihrer TRÄUME – FERNAB des neumodischen Schnickschnacks.«
Da blitzte zwischen den Bäumen ein Streifen blauen Wassers hindurch.
»Das ist der Thunder Lake!«, rief Mom, und ihre Augen strahlten, als wäre schon Weihnachten.
Wir fuhren an einer gelben Kirche vorbei, dann an einer Tankstelle und an einem kleinen blauen Haus, das ein Schild als Annas Lädchen auswies. Voller Inbrunst gaben wir im Chor den letzten Satz von der Internetseite zum Besten: »Wählen Sie 5554433 – und schon sind Sie auf dem Showschiff dabei!«
Mom deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Das ist der öffentliche Badestrand. Wenn es hier immer noch kostenlosen Schwimmunterricht gibt, melde ich dich direkt dafür an.«
»Das soll ein Strand sein?« Ein kahler Sandstreifen, etwa von der Länge eines Schulbusses, zog vorbei, dann kamen wieder Bäume. Immer dichter und dichter standen sie, sodass vom Thunder Lake bald nichts mehr zu sehen war.
»Wo ist der Rest der Stadt?«
»Das wars schon. Ist es nicht idyllisch?«
Mich überkam ein Anflug von Enttäuschung, aber ich schüttelte ihn schnell wieder ab. Im Resort würde es so viel zu unternehmen geben – wer brauchte da eine Stadt?
Nach anderthalb Kilometern meldete sich das Navi. Am linken Straßenrand verkündete ein Holzpfeil mit schwarzen, handgemalten Buchstaben: ZUM SHOWSCHIFF-RESORT.
Mom setzte den Blinker und zwinkerte mir zu.
»Ach, da fällt mir ein … Erinnerst du dich noch an Maddy Quinn? Mary Peppers Tochter aus Chicago? Ihr zwei wart mal …«
Sie lenkte das Bienenmobil auf einen Schotterweg und das Knirschen der Steinchen unter den Reifen übertönte ihre Stimme. Doch ich wusste eh ganz genau, von wem sie redete. An vieles aus der Zeit in Chicago konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber Maddy Quinn hatte ich nicht vergessen. Zusammen hatten wir Kissenburgen gebaut und uns vor Opa versteckt, wenn er so tat, als wäre er ein Feuer speiender Drache.
Ein weiteres Schild führte uns nun auf einen Lehmpfad, der so schmal war, dass Kiefernzweige gegen das Auto schlugen. Mom brüllte gegen das Getöse an, als wäre es das Normalste von der Welt, mitten ins finstere Herz dieses Waldes zu fahren. »Ich hab gehört, die Quinns verbringen ihren Sommerurlaub immer noch in Eagle Waters. Meinst du, Maddy weiß noch, wer du bist?«
»Vielleicht.« Ich zögerte. »Ist ganz schön lange her.«
Es war lange her, und doch machte sich ein verheißungsvolles Kribbeln in mir breit. Nach Chicago waren Mom und ich neunmal umgezogen. Ich hatte stapelweise Briefe an Mädchen verschickt, die ich kennengelernt hatte, und nicht eine hatte zurückgeschrieben. Noch nie war ich neu an einen Ort gekommen, wo ich schon jemanden kannte.
Nach der nächsten Biegung musste Mom im Schneckentempo weiterfahren, um nicht mit dem Wagen aufzusetzen.
»Floss-Mädels kennen kein Vielleicht. Wenn sie sich nicht an dich erinnert, musst du sie erinnern.«
Da war was dran. Schnell griff ich in meinen Rucksack, zog mein Notizbuch heraus und blätterte zu einer mit Eselsohr markierten Seite in der Mitte:
Kriterien für wahre Freundschaft:
Wahre Freunde …
… vertrauen dir ihre Geheimnisse an.
… halten ihre Versprechen.
… haben die gleichen Interessen wie du.
… verbringen ihre Zeit am liebsten mit dir.
… bringen dich zum Lachen, bis dir der Bauch wehtut.
… sind immer zur Stelle, wenn du sie brauchst.
… halten dir die Treue bis zum bitteren Ende.
Ich fügte der Liste einen weiteren Punkt hinzu. Durch den holprigen Untergrund verwackelten die Buchstaben:
… vergessen dich nicht, wenn du wegziehst
Plötzlich hielt Mom an. Mir rutschte der Stift ab und zog das t geradewegs über den Seitenrand. Ich sah auf. Schon wieder eine Weggabelung, doch diesmal gab es kein Schild, das uns die Richtung wies. Und weit und breit kein See. »Route wird neu berechnet …«, sagte die Stimme aus dem Navi, und auf Moms Handy erschien eine Nachricht: Mobilfunknetz ist nicht verfügbar.
Mom lachte. »Fernab des neumodischen Schnickschnacks – wie versprochen.«
Wir stiegen aus. Mom lief weite Kreise und hielt ihr Telefon auf der Suche nach Empfang mal hierhin, mal dorthin. Die Internetseite hatte nicht gelogen – selbst die Luft roch genau wie die Nadelwald-Duftmischung, die Mom in jedes neue Badezimmer stellte.
Gerade fuchtelte sie wild mit den Händen. »Das mit den Mücken hatte ich wohl verdrängt.«
Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, herrschte im Wald Dämmerlicht. Das dichte Geäst ließ nur so viel Sonne hindurch, dass es gerade mal für ein paar hellere Flecken auf dem Boden reichte. Wann immer ich mir die Zeit im Showschiff ausgemalt hatte – einen düsteren Wald hatte ich dabei nie vor Augen gehabt. Mom hatte immer bloß von Wasserski und Sonnenbaden erzählt. Nicht von Überlebenstraining in der Wildnis. Beunruhigt blickte ich mich um – womöglich lauerten im Dickicht wilde Tiere.
Da raschelte es. Ich zuckte zusammen und griff nach Moms Hand. Im Schutz dreier struppiger junger Kiefern kauerte eine Gestalt. Im Zeitlupentempo zog sie sich zurück.
»Hallo?«, rief Mom.
Die Gestalt erstarrte, einen Fuß in der Luft. Ein Junge! Allerdings schienen ihm Zweige aus Ärmeln und Hosenbeinen zu wachsen.
»Wir wollen zum Showschiff-Resort«, erklärte Mom.
»Übrigens können wir dich sehen«, fügte ich hinzu und schlug nach einem Moskito, der soeben durch mein Sweatshirt gestochen hatte.
Der Junge ließ das Bein sinken, ordnete die Äste neu an und kauerte sich noch weiter zusammen. »Und jetzt?«, fragte er. »Könnt ihr mich immer noch sehen?«
Die Mücken mussten Wind von Moms Honigglanz-Shampoo bekommen haben, denn ein ganzer Schwarm umkreiste ihren Kopf.
»Wir würden wirklich gern wissen, wie wir zum Showschiff kommen«, sagte sie und hüpfte mit den Armen wedelnd von einem Bein aufs andere.
Der seltsame Junge erhob sich und trottete zu uns herüber, während er die Zweige unter seinem T-Shirt hervorzog. Als er näher kam, sah ich, dass er sich die Haare, das Gesicht und den rechten Arm mit Schlamm beschmiert hatte. Um den linken trug er einen Gipsverband.
»Menno, nie klappt das mit der Tarnung«, murmelte er frustriert.
Ich starrte ihn an. Entweder musste man sich im Wald vor irgendetwas Furchterregendem verstecken, oder Tarnübungen galten in Eagle Waters als beliebte Freizeitbeschäftigung.
Mom hatte sich mittlerweile vor den Moskitos auf den Fahrersitz geflüchtet und alle Fenster fest verschlossen. Langsam schlich der Junge einmal um das Bienenmobil herum.
»Cooles Auto!«
»Wir werden hier bei lebendigem Leib gefressen«, rief Mom durch die Scheibe.
Der Junge fischte einen letzten Kiefernzweig aus dem Hosenbund und zeigte in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »An der Gabelung da vorne müsst ihr rechts. Aber …« Er zog die schlammverkrustete Nase kraus. »Was in aller Welt wollt ihr denn im Showschiff?«
»Na, übernachten.«
»Wie, so richtig, um Urlaub zu machen?«
»Ja, klar.« Komischer Vogel. Wozu sollten wir sonst in ein Resort fahren?
Ich stieg zu Mom ins Auto und wir fuhren los. Den ganzen Weg bis zur Abzweigung sah uns der seltsame Junge nach – matschverschmiert, mit Blättern und Zweigen in den Haaren – und winkte uns mit einem Ast. Dabei lag ein Ausdruck auf seinem Gesicht, als wären wir hier die Freaks.
In gewisser Hinsicht war das Showschiff genau wie auf der Postkarte: Das Gebäude hatte die Form eines Ausflugsdampfers. Es hatte Bullaugenfenster, einen schwarzen Schiffsschornstein, und im Hintergrund glitzerte ein blauer See.
Auf der Wiese davor wuchsen allerdings keine Gänseblümchen, sondern Löwenzahn und Unkraut.
Die Fassade war vielleicht einmal weiß gewesen, jetzt aber war sie schmutzig grau und die Farbe blätterte ab, und zwei der runden, schmierigen Fensterscheiben waren gesprungen.
Auch stand auf dem Deck kein lächelndes, winkendes Mädchen mit Zöpfen. Stattdessen hing ein Schild von der ramponierten Reling:
BETRETEN VERBOTEN –
Oberdeck wegen Renovierungsarbeiten
vorübergehend geschlossen
Zog man jedoch in Betracht, wie verwittert und verblichen das Schild war, schien »vorübergehend« ein dehnbarer Begriff zu sein.
Über dem Haupteingang blinkte eine rote Lampe mit der Aufschrift Zimmer frei. Darauf wären wir auch so gekommen. Bis auf einen rostigen, netzlosen Basketballkorb und das Bienenmobil war der Parkplatz nämlich komplett leer.
Mit einem Mal verpuffte die ganze kribbelige Vorfreude, die mich auf der Fahrt hierher erfüllt hatte, als wäre in mir ein Luftballon geplatzt. Mom hielt den Blick stur auf das Hotel gerichtet, und beinahe hörte ich die Rädchen in ihrem Kopf rattern. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie gerade alle Möglichkeiten durchging. Die schlechten wurden verworfen, die vielversprechenden sortiert und auf etwaige Schwachstellen überprüft. Wir würden so lange hier im Bienenmobil ausharren, bis sie einen neuen Plan ausgetüftelt hatte, einen, der genauso gut war wie der alte, wenn nicht sogar besser.
Doch je länger wir dort saßen, desto greifbarer wurde die Stille. Mom hatte noch keine einzige Alternative in den Raum geworfen.
»Können wir uns nicht einfach ein anderes Hotel suchen?«, fragte ich.
Mom schüttelte den Kopf. »Wir bekommen das Geld nicht zurück. Ich habe schon angerufen und gefragt.«
»Echt?« Das war mir neu. »Warum?«
In diesem Moment flackerte in dem großen verglasten Erker Licht auf. Jemand im Hotel tat so, als müsste er sich intensiv mit den Vorhängen beschäftigen. Vermutlich fragte sich die Person, welcher merkwürdige Schlag Mensch auf einem verwaisten Parkplatz herumhing, noch dazu in einem Auto, das aussah wie eine Biene.
Der Schatten hinter dem Vorhang war klein und schien ein langes Kleid zu tragen. Von der Größe her schloss ich, dass es sich um ein Mädchen in meinem Alter handeln musste, vielleicht etwas jünger. Nun war es verschwunden. Doch einen Augenblick später hob sich der Vorhang ein Stückchen und auf der Fensterbank erschien ein Fernglas. Dahinter kauerte die Gestalt und beobachtete uns, wie eine Spionin.
Weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst tun sollte, winkte ich. Das Mädchen fuhr hoch. Doch dann schob es seine Hand unter dem Vorhang hindurch und winkte zurück. Dabei ließ es die Finger einzeln auf und ab tanzen. Aus irgendeinem Grund erleichterte mich das. Maddy Quinns Winken war genauso gewesen. Sie hatte mir oft zugewunken, während einer unserer »Auszeiten«. Die wurden uns meistens verordnet, nachdem Opa unsere Burg erstürmt hatte. Sobald sein Drachengebrüll ertönte, bekamen Maddy und ich so große Angst, dass eine von uns einen Schrei ausstieß, und dann mussten wir jedes Mal total lachen. Wir kreischten und kicherten, bis uns der Bauch wehtat und Mom uns zu einer Auszeit verdonnerte, damit wir uns beruhigten.
Wie schön das wäre. Noch einmal so eine Freundin zu haben.
Ich überlegte. Bei Mom und mir lief es immer dann am besten, wenn wir ein Ziel hatten und uns an den Plan hielten. In Milwaukee hatte Mom das schlimmste Verkaufsquartal ihrer gesamten Laufbahn durchlebt. Sie hätte sich die Augen ausweinen und aufgeben können, aber nichts da. Sie war zuversichtlich geblieben und hatte sich an den Plan gehalten. Hätte sie das nicht getan, säßen wir jetzt in unserer winzigen Wohnung, um das Ende des fünften Schuljahres mit billigem Reis und Bohnen zu feiern und mit Mr Li über die Mietrückstände zu diskutieren. Stattdessen parkten wir gerade im Showschiff-Resort. Entscheidend war nicht, ob es schön war. Entscheidend war, dass wir es hierhergeschafft hatten.
»Mom«, flüsterte ich, doch sie war entweder völlig in Gedanken oder von einer Mutantin wie Emma Frost per Telepathie gelähmt worden. Normalerweise brauchte sie nie so lange für einen neuen Plan.
Ich öffnete das Handschuhfach und nahm einen Honigmäulchen-Lippenstift mit Blütenhonig heraus.
»Drinnen sieht es vielleicht schon viel besser aus«, sagte ich. »Und wir können ja trotzdem Marshmallows rösten.« Ich drückte Mom den Lippenstift in die Hand und schenkte ihr mein schönstes Du-schaffst-das-Lächeln. »Floss-Mädels halten sich immer an den Plan, stimmts?«
Gedankenversunken betrachtete Mom den Lippenstift und ließ ihn von einer Hand in die andere wandern. Schließlich sah sie mich an, warf einen Blick auf das heruntergekommene Hotel und zog langsam die Kappe ab. Dann drehte sie den Rückspiegel zu sich, trug ordentlich Farbe auf und machte einen Luftkuss.
»Der Laden könnte ein kleines Make-over vertragen, was?«, sagte sie schließlich. Als bräuchte es bloß ein bisschen Volumenshampoo und einen Dreierpack natürlicher Luffaschwämme. »Aber ich hab schon Schlimmeres gesehen. Du hast recht, Anthoni. Positives Denken führt zu positiven Ergebnissen. Komm, lass uns einchecken.«
Genau. Positives Denken. Ich öffnete die Tür und ließ mich von der reinen Kiefernluft einhüllen.
Die Tür mit der Aufschrift Empfang fiel knarzend hinter uns ins Schloss und verschluckte auch das letzte bisschen Tageslicht, das von außen hereingedrungen war. Auf den ersten Blick glaubte ich zwei Frauen vor einer Bücherwand stehen zu sehen, doch als meine Augen sich an die spärliche Beleuchtung gewöhnt hatten, entpuppte sich eine davon als Stehlampe. Eine Meerjungfrauenfigur in Lebensgröße, auf deren Kopf eine Glühbirne mit rosa Lampenschirm thronte.
Im Schein ihres trüben Lichts stand eine alte Frau mit orange leuchtenden Haaren. Sie trug ein silbernes Abendkleid mit unzähligen Schmetterlingen darauf – so eins, das noch aus Zeiten Präsident Abraham Lincolns stammte und das man womöglich nur zu Anlässen wie der Oscar-Verleihung angezogen hätte – vorausgesetzt natürlich, die hätte es damals schon gegeben. Wispernd glitt das Kleid über den Boden, während die Frau auf den »Empfangstresen« zuging – einen Stapel altmodischer, mit Aufklebern übersäter Reisetruhen. Darauf standen Dinge wie Chicago: The Palace, New York: Hippodrome Theatre und San Francisco: Orpheum Opera House. Überall an den Wänden hingen gerahmte Zeitungsausschnitte, Schwarz-Weiß-Fotografien und Werbeplakate, die seltsame Dinge ankündigten: MEISTER HOMER – JUNGCHAMPION IM KUNSTPFEIFEN oder STANLEY VERKEHRTHERUM – DER MANN, DER KOPFSTEHT.
Der Raum ähnelte eher dem Eingang eines verwaisten Museums als dem eines Hotels.
»Habe ich mit Ihnen telefoniert?«, fragte Mom die alte Dame. »Ich weiß, Sie sagten, dass meine Anzahlung für die ersten sechs Wochen nicht zurückerstattet werden kann, aber ich habe mich gefragt, ob man unter besonderen Umständen …«
Besondere Umstände? Hatte Mom nicht gerade noch von »positiv denken« gesprochen? Jetzt klang es eher so, als wollte sie abreisen.
Ohne einen Ton zu sagen, drückte die Frau ihr ein Formular in die Hand. Oben auf der Seite stand in schwungvollen rosa Buchstaben: Carrie & Anthoni Floss: Sechs Wochen im Voraus bezahlt. Mit ihrem knochigen Finger tippte sie auf eine Zeile, die besagte: Erstattungen nicht möglich. Keine Ausnahmen.
Mom quittierte das mit einem Lächeln und säuselte in ihrer Oberflugbienen-Stimme: »Ich freue mich ja so, wieder im Showschiff-Resort zu sein. Mir kam dieser Ort schon immer magisch vor – als könnte hier jederzeit Unglaubliches geschehen.«
Ich entspannte mich ein wenig. Mom war wieder die Alte. Zumindest fast. Ihre Stimme klang eine Spur zu fröhlich.
»Werden in der Stadt immer noch Schwimmkurse angeboten? Anthoni war noch nie hier. Sobald sie die Grundlagen gelernt hat, könnte Mr Boulay sie vielleicht zum Wasserski …«
Als die Frau Mr Boulays Namen hörte, schüttelte sie den Kopf. Ihre Schmetterlingsohrringe schwangen wild hin und her.
»Oh nein, er ist doch nicht … Er ist nicht … fort, oder?«
Der flammend orangerote Kopf nickte bedächtig.
Darauf wusste Mom nichts zu sagen, und ein unangenehmes Schweigen erfüllte den Raum.
»Hat zufällig gerade jemand eingecheckt?«, fragte ich. »Ich habe ein Mädchen am Fenster gesehen.«
Die Schmetterlingsfrau bedachte mich mit einem zerstreuten Blick. Da erst fiel mir auf, dass sie bisher kein Wort von sich gegeben hatte.
Ich versuchte es noch einmal. »Sie hat mir zugewunken. Sie stand hinter dem Vorhang.«
Die Frau lächelte und zeigte dabei einen schiefen, mit Lippenstift beschmierten Vorderzahn. Ihre Schultern bebten, als würde sie über einen guten Witz lachen. Sie hob die Hand und wackelte mit allen fünf Fingern.
Das Mädchen hinter dem Vorhang war also überhaupt kein Mädchen gewesen, nur eine kleine alte Frau im Abendkleid und mit Lippenstift auf den Zähnen. Denk an was Schönes, ermahnte ich mich. Konzentrier dich auf das Positive.
Mom legte mir eine Hand auf den Rücken. »Es ist erst Mitte Juni. Vielleicht sind an Maddys Schule noch keine Ferien.« Sie wandte sich an die Frau hinter dem Empfangstresen. »Könnten Sie uns sagen, wann Mary Pepper eincheckt?«
Die Alte antwortete nicht.
»Mary Pepper«, wiederholte Mom leicht gereizt. Dann fasste sie sich sofort wieder und fügte etwas freundlicher hinzu: »Mary Pepper und ich sind damals in diesem Resort wahre Freundinnen geworden. Das Leben führt einen doch immer an bestimmte Orte zurück, nicht wahr?«
Ohne hinzusehen, blätterte die Frau durch einen Kalender. Dann öffnete sie zum ersten Mal den Mund, um zu sprechen. Ihre Stimme klang ausdruckslos. »Pepper? Gibts hier nicht.«
Mom ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ah, ja, natürlich. Früher hieß sie Pepper. Jetzt heißt sie Mary Quinn.«
Dieses Mal machte die Frau nicht einmal Anstalten nachzusehen. »Quinn auch nicht.«
Mom kaute auf der Unterlippe. Dann gab sie das ausgefüllte Formular ab und strahlte, als hätten wir gerade im Taj Mahal eingecheckt.
»Wir sind überglücklich, in Ihrem wunderschönen Resort sein zu dürfen!«, sagte sie noch freundlicher als zuvor. Dann holte sie einen Flyer von BienenBeauty aus der Tasche. »Im Juni haben wir übrigens alle Artikel aus dem Nektarallerlei-Faltenfrei-Sortiment im Sonderangebot!«
Ich verpasste Mom einen Tritt. Das Verkaufen der BB-Produkte war für sie mittlerweile ein natürlicher Reflex, aber diese Frau musste älter als die Sonne sein. Gegen ihre Falten würde nicht einmal ein volles Fass Einhorntränen helfen.
Die Alte betrachtete die Vorher-Nachher-Bilder einer Frau in der Mitte des Flyers. Theatralisch hob sie den Blick zur Decke. Dann – ohne Vorwarnung – rief sie: »Ein Elixier ewiger Jugend!«
Ich zuckte vor Schreck zusammen und in meiner Kehle stieg ein nervöses Lachen auf. Ich schluckte es herunter.
»Mein geliebter Großvater war zu Lebzeiten ein Meister für solchen Hokuspokus.« Die Frau deutete mit Moms Flyer auf ein Plakat an der Wand hinter ihr.
DOKTOR HERACLITUS BARNABUS BOULAY
BAUCHREDNER, MEDIZINMANN UND JONGLEUR
NUR FÜR EINEN ABEND (ZU NIEDRIGEN PREISEN!)
Mom wurde rot. »Das kann man nicht vergleichen …«
Die Frau knallte den Flyer auf den Tresen. Sie stieg auf ein Fußbänkchen, streckte ihren blassen Arm nach einer Reihe von Schlüsseln aus und nahm einen von der Wand, an dem ein schlanker Holzvogel mit langem Schnabel hing.
»Sie haben soeben ein Upgrade erhalten«, sagte sie. »Für den Kanadareiher: eine Hütte am See, ganz für Sie allein.«
»Wir schlafen nicht im Hotel?« Mom klang enttäuscht. Ich war jedoch erleichtert. Wir würden auch allein zurechtkommen. Besser sogar.
»Der Kanadareiher ist ein sehr eigenständiges Geschöpf«, sagte die Alte. »Und passt sich schnell neuen Gegebenheiten an.« Das Schmetterlingskleid knitterte, als sie wie ein Kaninchen in die Hocke ging und von dem Bänkchen heruntersprang. »Aber manchmal ersticken Reiher auch, weil sie sich an Fischen verschlucken, die für ihre engen Hälse viel zu groß sind!« Sie beugte sich über den Tresen zu mir, reckte den Hals und sog die Wangen ein. Ihre Wangenknochen zeichneten sich scharf ab und ihre Augen traten hervor, als würden sie ihr im nächsten Moment aus dem Kopf fallen und über den Boden rollen.
Mom erstarrte, ihr Lächeln gefror, und mir wurde mulmig zumute. War die Frau krank? Würde sie gleich vornüberkippen und vor unseren Augen auf den Reisetruhen eines qualvollen Todes sterben? Hier gab es wahrscheinlich im Umkreis von mehreren Meilen kein Krankenhaus.
Doch auf einmal zwinkerte sie mir zu und schluckte laut. Sie schluckte und schnappte nach Luft – wie ein in Panik geratener Reiher mit Schmetterlingshaarspangen am Kopf, der einen zu großen Fisch verschlungen hatte.
Mom keuchte erschrocken, aber ich konnte nicht anders und fing an zu lachen. Erst versuchte ich noch, es zu unterdrücken, aber je mehr ich mich anstrengte, desto mehr Gluckser quollen aus mir heraus, als hätte man zu viel Pulver in eine Spülmaschine gefüllt.
Die Alte hielt mitten in ihrer Vorstellung inne und musterte mich überrascht. »Gefällt dir das?«, fragte sie.
Hilflose Hickser mischten sich in mein Gekicher und sie grinste und entblößte dabei wieder ihren lippenstiftbefleckten Zahn. Mit einer Hand schlug sie auf den Tisch, mit der anderen stützte sie ihr Kinn auf.
»Davon habe ich noch Millionen auf Lager«, sagte sie großspurig. »Bär im Bienenschwarm zum Beispiel. Der haut die Leute jedes Mal um.«
Mom schulterte ihre Tasche und zog mich am Arm. »Ich glaube, wir haben jetzt alles«, sagte sie. »Vielen Dank, Mrs …«
»Boulay. Charlotte Boulay, so wahr ich hier stehe.«
Das erste Mal wurde ich von einem Heulen aus dem Schlaf gerissen.
Ich zog die Decke bis ans Kinn und lag wie versteinert da, mit laut klopfendem Herzen. Ein langer, schmaler Schatten hatte sich über mein Bett gesenkt. Wenn ich atmete, bewegte er sich mit.
»Mom?«, flüsterte ich.
Ich sah mich im Kanadareiher, unserer Hütte, um. Da war keine Spur von einem Bären, der sich hinter dem Kleiderschrank versteckte, oder einem Holzfäller, der mit seiner Axt die Leiter zum Schlafboden erklomm. Ich stützte mich auf den Ellbogen und drehte mich vorsichtig zu der Sitzbank am Fenster um – einem engen Plätzchen unter der Dachschräge neben meinem Bett.
Das Polster leuchtete hell im Mondschein. Auch dort war niemand. Ich entspannte mich wieder. Es war nur der Schatten einer Kiefer, der im Mondlicht durchs Fenster auf mein Bett fiel. Und das Geheul hatte ich wahrscheinlich nur geträumt.
Inzwischen hellwach wickelte ich mich in meine Decke ein und kletterte auf den Fenstersitz. Ich war froh, dass man von hier aus auf den See und nicht auf den Wald blickte. Zum Showschiff-Resort gehörten acht Privathütten, die alle Tiernamen hatten und halbkreisförmig um das Hotel angeordnet waren. Das Haupthaus stand mitten auf einer unkrautüberwucherten Wiese, die Hütten lagen jedoch weiter abseits im wohl tiefsten und dunkelsten Teil des Waldes. Ein Pfad, der die Filmkulisse von Hänsel und Gretel hätte sein können, wand sich am Rotfuchs vorbei zum Weißwedelhirsch, von da aus zum Fischadler und endete unten am Wasser.
Der Schwarzbär und der Kanadareiher waren die beiden Hütten, die am weitesten vom Haupthaus entfernt am Ufer des Sees standen. Dazwischen führte der Pfad zu einer Anordnung breiter Stufen, ähnlich einer Tribüne. Von meinem Platz am Fenster erkannte ich am unteren Ende einen ramponierten Steg, der in den Thunder Lake hineinragte. Der See selbst hatte die Form einer gekrümmten Geleebohne und war größer, als ich erwartet hatte. Das Showschiff-Resort lag in einem kleinen, entlegenen Abschnitt der Bucht. In der Dunkelheit wurden die Hütten, die Tribüne und der mondbeschienene Steg von einer Schattenwand aus Bäumen umzingelt.
Eine leichte Brise fegte durch das Fliegengitter. Ich erschauderte. Irgendetwas an diesem Resort war merkwürdig. Und das lag nicht nur an den heruntergekommenen Hütten und dem gottverlassenen Parkplatz. Es war, wie Mom gesagt hatte. Ein Gefühl. Als würde hier Unglaubliches geschehen. Für Mom schien das etwas Gutes zu sein. Ich war mir da nicht so sicher.
Da hörte ich das Heulen erneut.
Uuu-UU-uuuu.
Das Geräusch hallte über den ganzen See, wie das Wehklagen einer Frau. Hatte sich jemand verletzt? War dort draußen ein wildes Tier auf der Jagd? Kurz fragte ich mich, ob Werwölfe vielleicht doch existierten. Dann überlegte ich, ob ich nach unten ins hintere Schlafzimmer schleichen und mich zu Mom ins Bett legen sollte. Aber ich wusste genau, was sie sagen würde. Ändere deine Einstellung. Negatives Denken führt zu negativen Ergebnissen.
Ich versuchte das Fenster zu schließen. Es klemmte. Im Kanadareiher schien alles etwas lädiert zu sein. Die Arbeitsfläche in der Küche hatte Scharten und war mit Kaffeeflecken übersät, die Polster auf den Rattansesseln waren durchgesessen und die Rohre gaben ein dumpfes Klonk von sich, wenn man das Wasser aufdrehte. Nur der Schlafboden war bisher keine Enttäuschung gewesen. Die Wände liefen schräg zur Decke zusammen und vom Fußende des Bettes konnte man auf die Küche und das Wohnzimmer hinuntersehen. Es war, als würde man in einem gemütlichen Baumhaus schlafen. Zumindest solange das Heulen nicht ertönte.
Nur noch ein Mal, dachte ich. Wenn ich es noch ein Mal höre, hole ich Mom.
Ich schlang mir die Decke fester um die Schultern, lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und lauschte angestrengt.
Das zweite Mal wurde ich von einem Platschen aus dem Schlaf gerissen. Einem lauten Platschen. Wie von einem Felsbrocken, der ins Wasser plumpst. Ich schreckte auf und rutschte fast von meinem Fenstersitz.
Im Dämmerlicht bemerkte ich kreisförmige Wellen, die sich vom Steg über das Wasser ausbreiteten, als wäre von dort etwas Großes in den Thunder Lake gefallen oder gesprungen oder geworfen worden. Die Kreise wurden immer breiter, bis sie schließlich ausliefen und der See erneut wie eine gläserne Ebene vor mir lag.
»Bestimmt war es ein Seetaucher«, sagte Mom beim Frühstück. »Die sehen aus wie Enten und rufen sich nachts gegenseitig.«
»Es klang aber nicht nach einer Ente. Es klang nach einem Menschen. Oder nach einer Todesfee oder so was.«
»Ungefähr so?« Mom legte die Hände vor den Mund und stieß ein durchdringendes uuu-UU-uuuu aus.
»Was machst du da?«
»Das ist der Ruf eines Seetauchers.«
Ich bezweifelte, dass sie sich das ausdachte oder mir einen Bären aufbinden wollte. Trotzdem kam es mir seltsam vor. Warum sollten Vögel mitten in der Nacht so ein Geheul anstimmen?
»Wir besorgen dir ein paar Ohrenstöpsel. Damit wirst du schlafen wie ein Stein.«
»Ja, vielleicht.«